Beyblade N. G. von KradNibeid (Aktuell: Kapitel 15 - Garys Galzzly) ================================================================================ Kapitel 4: Adios, Bladebreakers! -------------------------------- - 08. April, Tokyo – Unruhig trommelte Kenny mit seinen Fingern auf den Tisch des Coffeeshops, in dem er sich mit Hilary verabredet hatte. Er war zwanzig Minuten zu früh gekommen, und jede weitere Sekunde Wartezeit kam ihm vor wie Stunden. Das Telefonat, das er mit ihr geführt hatte, war kurz gewesen – offensichtlich war Hilary für zwei Wochen quer durch Europa unterwegs gewesen (wie hatte sie sich das leisten können?) und sehr beschäftigt – doch sie hatte zugestimmt, sich einmal zu treffen, sobald sie wieder in Japan wäre. Zum Reden und Wiedersehen. Vielleicht auch zum neu anfangen… Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es noch immer zehn Minuten bis zu ihrer eigentlich verabredeten Zeit waren, und er verfluchte sich innerlich, dass er nicht einfach pünktlich gekommen war (denn es hätte seinen Nerven eindeutig besser getan). Warten war keine seiner Stärken, und ohne Dizzi fühlte er sich allein, fast schon schutzlos; doch in der Öffentlichkeit erregte ein sprechender Laptop zu viel Aufmerksamkeit, und er wollte zunächst alleine mit Hilary reden (so sehr er Dizzis offene Art schätzte, im Umgang mit Hilary würde sie ihn wohl eher behindern als hilfreich sein). In Gedanken versunken bemerkte er nicht die junge Frau, die auf seinen Tisch zukam, und mit einem amüsierten Grinsen räusperte sie sich. „Entschuldigung – ist hier noch frei?“ Erschrocken zuckte Kenny zusammen und blickte dann auf – nur um vor Schreck zu erstarren. Vor ihm stand Hilary, doch er konnte sie kaum wiedererkennen. Sicher, sie hatte sich schon immer körperbewusst angezogen, doch ihre figurbetonten Tops und Röcke von damals waren nichts gegen das, was sie in diesem Moment zur Schau trug: eine knappe Bluse in Aquamarin mit Rüschen, darüber eine hellblaue Unterbrustcorsage. Das Ensemble wurde komplettiert von pinken Hotpants und farblich zur Bluse passenden Overknees. Einige der anwesenden Gäste im Shop hatten sich zu ihr umgewandt – denn Hilary sah verdammt heiß aus (und Kenny fragte sich, ob sie bei den aktuell herrschenden Temperaturen nicht fror mit so wenig Bekleidung), und ihre ganze Ausstrahlung ließ sie besinnlich und betörend wirken. Kenny musste schlucken. Mit so einem Wandel hatte er nicht gerechnet – und plötzlich kam er sich mit seinem Hemd und der Krawatte unglaublich banal vor. „Na-Natürlich. Setz‘ dich doch“, nuschelte er verlegen und deutete auf den zweiten Stuhl, der am Tisch stand. Hilary schüttelte lächelnd den Kopf und setzte sich. „Auf eine gewisse Art und Weise ist es beruhigend zu sehen, dass du dich noch immer nicht geändert hast, Kenz. Auch nach drei Jahren bist du immernoch das gleiche unbeholfene Mauerblümchen wie damals“, kommentierte sie amüsiert, doch Kenny konnte den schalen Unterton ihrer Bemerkung hören, und es versetzte ihm einen Stich. „Wenn ich so ein Mauerblümchen bin, warum warst du dann überhaupt mit mir zusammen? Du hättest auch andere haben können“, meinte er bitter, und trotzig blickte er in ihr Gesicht. „Aber das hattest du ja auch.“ Eisern hielt er den Augenkontakt zu Hilary, die keine Miene verzog. Die Bombe war geplatzt. Bleiernes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, und er konnte es in der Luft knistern hören. Er hatte dieses Gespräch nicht in diese Richtung führen wollen; doch es war wohl unumgänglich gewesen. Vor drei Jahren hatte er es nicht gewagt, den Mund aufzumachen, und nun hatte er endlich den Mut gefunden, sie mit der Wahrheit zu konfrontieren, die die ganze Zeit in ihm gebrodelt hatte. Minutenlang saßen sie einfach nur da und starrten sich an; schließlich fasste sich Kenny ein Herz und seufzte laut. „Tut mir Leid, dass ich das jetzt hoch bringe; ich weiß, dass das nicht angebracht war. Eigentlich wollte ich über etwas ganz anderes reden – aber es kam einfach wieder hoch. Du hast mich damals zutiefst verletzt, Hilary, und ich verstehe bis heute nicht, warum. Wenn ich dir nicht genug war, dann hättest du etwas sagen können. Wenn du die Trennung gewollt hättest, dann hätte ein Wort genügt, und wir hätten eine Lösung gefunden. Aber mich nach zweieinhalb Jahren derart zu hintergehen… und dann auch noch mit dem Bruder meines besten Freundes. Deines Exfreundes.“ Mit den letzten Worten wurde Kennys Stimme brüchig, und er räusperte sich. Nachdem Hilary immer noch beständig schwieg setzte er seine Ausführungen fort. „Ich meine, das wirklich Schlimme war nicht, dass du von mir weg wolltest; das tat weh, und ich habe dir lange nachgeweint, doch ich hätte es überwunden. Das Schlimme war, dass du mich angelogen hast, und das über Wochen, wenn nicht sogar Monate. Das ist es, was mich wirklich verletzt hat.“ Erwartungsvoll blickte er sein Gegenüber an, und frustriert stöhnte er auf, als Hilary noch immer keine Anstalten machte, ihm zu antworten. „Was soll das, Hilary? Hast du denn gar nichts dazu zu sagen? Nicht einmal jetzt, nach drei Jahren?!“ „Was erwartest du von mir?!“, fauchte sie ihn auf einmal giftig an, und überrascht schreckte er zurück. „Dass ich mich jetzt hier vor dir auf den Boden werfe und mich winselnd mit einer Dogeza entschuldige? Vergiss es, Kenz. Vergiss es einfach“, so heftig ihr Ausbruch begonnen hatte, so schwach wurde ihre Stimme am Ende, und wieder spürte Kenny den altbekannten Schmerz in der Brust. Mit traurigen Augen sah er sie an. „Ich will keine Entschuldigung, Hilary. Das wollte ich nie. Was passiert ist, ist passiert, und darüber, dass es passiert ist, bin ich hinweg. Ich möchte nur eines von dir wissen: Wieso?“ Beschämt wandte Hilary ihren Blick ab und ballte ihre Hände in ihrem Schoß zu Fäusten. Für eine Weile herrschte wieder Schweigen, und Kenny erwartete schon keine Antwort mehr, als Hilary seufzte. „Ich… ich dachte, du hättest eine andere“, murmelte sie schließlich leise. „Und… ich dachte, wenn du das kannst, dann kann ich das auch.“ Entsetzt starrte Kenny sie an. „Du dachtest… aber… warum? Ich habe nie etwas anderes getan als dich und dich allein zu lieben!“ „Du warst den ganzen Tag auf der Arbeit, Kenz, und wenn du nach Hause gekommen bist, dann hast du mich kaum angesehen! Und als es mit der Zeit immer später wurde, und du immer abweisender, da dachte ich, dass du deine Arbeit vielleicht als Ausrede benutzt, um dich mit einer anderen zu treffen.“ Bedrückt verschränkte sie die Arme vor ihrem Bauch und meinte dann kleinlaut: „Ich habe dann erst bei deiner Beförderung gesehen, dass ich falsch lag, und warum du so viel gearbeitet hast. Aber da war es schon zu spät.“ Stumm blickte Kenny sie an, und mit einem Mal ergab alles Sinn. Mit einem Mal fügte sich alles zusammen, und durch das Verstehen konnte er endlich verzeihen. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er spürte, wie diese Last, die die letzten drei Jahre auf seinen Schultern gelegen hatte, von ihm abfiel. Er wollte gerade dazu ansetzen, seinen Standpunkt zu erklären, als sie ihn unterbrach. „Bitte, Kenz… lass es. Es ist vorbei. Ich werde mich nicht entschuldigen, denn was ich getan habe, habe ich mit voller Absicht getan, und auch wenn ich mich rückblickend anders entschieden hätte – ich bereue es nicht. Daher, bitte, lass das Thema ruhen. Für uns beide.“ Kurze Zeit blickte er sie an, dann nickte er knapp. „In Ordnung, Hilary. Und trotzdem… danke.“ Still saßen sie beieinander (schon wieder) und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich war es Hilary, die das Schweigen mit einem leisen Lachen brach. „Wer hätte gedacht, dass diese Sache nach drei Jahren so einfach aus der Welt zu schaffen ist?“, scherzte sie, und Stück für Stück kehrte ihre selbstsichere Ausstrahlung zurück. Sie war wieder zu der jungen, begehrenswerten Frau geworden, die die Blicke der Männer auf sich zog. Verlegen kratzte sich Kenny am Kopf, und es überraschte ihn selbst, wie schnell er mit der Situation ins Reine hatte kommen können – ein Zeichen dafür, dass dieses Gespräch schon längst überfällig gewesen war (oder dafür, dass er später noch einen Zusammenbruch erleiden würde, sobald der Schock ihn verlassen hatte). Seine Miene verfinsterte sich jedoch, als ihm der eigentliche Grund für das Treffen wieder in den Sinn kam, und nun, da sie ihre persönliche Leidensgeschichte überwunden hatten, war es an der Zeit, sich damit zu befassen. „Nachdem wir jetzt also darüber hinweg sind, was in der Vergangenheit passiert ist, komme ich endlich zu dem Grund, aus dem ich dich angerufen habe: Tyson ist verschwunden.“ Bedeutungsschwer hingen die Worte im Raum, und Hilary zog die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du mit verschwunden?“ „Er ist weg, seit fast drei Wochen, ohne jede Spur. In seinem Haus ist nichts zu finden außer verdorbenen Lebensmitteln, und bisher hat sich die Polizei noch nicht wieder bei mir gemeldet, was heißt, dass sie auch noch keine wirklichen Hinweise haben“, klärte Kenny sie über die Situation auf, und nachdenklich legte sie den Kopf schief. „Das klingt in der Tat sehr merkwürdig – aber was habe ich damit zu tun?“ „Nun ja, nachdem Tyson ja mit den meisten noch Kontakt hat und ihr ja auch einige Zeit ein Paar wart dachte ich, ihr würdet euch vielleicht noch austauschen und du wüsstest vielleicht was – dass er dir gegenüber etwas erwähnt haben könnte.“ Hoffnungsvoll blickte Kenny sie an, doch Hilary zuckte nur entschuldigend mit den Schultern. „Ich enttäusche dich nicht gerne, Kenz, aber ich weiß leider von nichts. Tyson hat mir zwar in den letzten Jahren regelmäßig Karten geschickt, aber- ich habe ihn weitgehend ignoriert. Es war mir einfach so peinlich, verstehst du? Ich meine, meine Trennung von ihm war friedlich, aber nachdem ich seinen besten Freund mit seinem älteren Bruder betrogen hatte, habe ich einfach etwas Abstand gebraucht“, sie seufzte schwer, „daher tut es mir wirklich Leid, aber ich kann dir nicht weiterhelfen. Wenn ich etwas höre, dann rühre ich mich gerne bei dir, aber eigentlich habe ich mit keinem aus der alten Truppe noch sonderlich viel zu tun, deshalb ist es eher unwahrscheinlich.“ „Oh.“ Ernüchterung lag in Kennys Tonfall, und er sackte etwas zusammen. Hilary war – abgesehen von der Polizei und Tysons Familie, die er noch immer nicht erreicht hatte – seine beste Hoffnung gewesen, etwas zu erfahren. Dass auch sie alle Bande gekappt hatte und ihm nicht helfen konnte war ein herber Rückschlag. „Tut mir wirklich Leid“, wiederholte sie, und eine Weile saßen sie wieder schweigend beieinander. Schließlich seufzte Kenny ergeben auf. „Es macht nichts, es hat ja keinen Zweck. Aber immerhin danke, dass du dich mit mir getroffen hast – trotz unserer Vorgeschichte“, er bedachte sie mit einem schiefen Lächeln, als ihm etwas einfiel. „Aber sag, was mich wundert: Du hast am Telefon erwähnt, dass du zwei Wochen in Europa geschäftlich unterwegs warst. Was hast du denn aktuell für eine Stellung, die dir solche Chancen bietet? Vielleicht kann man sich da ja das ein oder andere von dir abschauen.“ Mit einem gezierten Hüsteln brachte sich Hilary in Pose und kicherte leise. „Wo du schon das Wort Stellung verwendest…“ - 09. April, Tokyo – Er war wütend – und enttäuscht, und frustriert, und noch mit vielen anderen unangenehmen Gefühlen beladen, die schwer auf seiner Seele lasteten. Nach Tagen vergeblicher Liebesmüh hatte er endlich Hiro und Tatsuya in Luxor erreichen können, doch das Telefonat war alles andere als hilfreich gewesen; denn die beiden hatten ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er aufhören sollte, nach Tyson zu suchen (was sie auch der Polizei mitgeteilt hatten, was diese ihm mitgeteilt hatte, woraufhin die Suche eingestellt und alle gesicherten Beweismittel zurück in das Haus gebracht worden waren). Der Grund war ein Brief, den sie von Tyson erhalten hatten, und in dem er ihnen erzählt hatte, dass er sich auf eine Reise machen wollte, um sich selbst zu finden – ausgerechnet Tyson! Tyson, der ihm schon so oft erzählt hatte, dass er glücklich mit seinem Leben war, und dass sein Weg ihm direkt vor Augen lag; Tyson, der alle anderen durch seine Offenheit und Ehrlichkeit inspirierte und ihnen vorlebte, wie man ein erfülltes Leben führen konnte; Tyson, der mit beiden Beinen festen Stand hatte und dessen Arme in den Himmel reichten – und ausgerechnet er sollte sich selbst finden wollen? Und seine Familie kaufte das auch noch ab! Nein, Kenny war sich sicher, dass der Brief eine Fälschung war; doch weder Tatsuya noch die Polizei hatten auf ihn hören wollen. Auch das Argument, dass, wenn Tyson eine Reise geplant gehabt hätte, er nicht so viele verderbliche Lebensmittel in seiner Wohnung zurückgelassen hätte, wurde von ihnen nicht angenommen. Hiro schob es darauf, dass Tyson ein spontaner Mensch sei, und hatte sogar den Nerv gehabt, ihn darum zu bitten, die Küche des Hauses zu reinigen und die Gegenstände, die die Polizei zurück gebracht hatte, wieder aufzuräumen. Und nun stand er hier. Schwungvoll kippte er die Inhalte der Obstschale in den Müllsack, der vor ihm auf dem Boden stand, und verzog angewidert das Gesicht, als die Früchte (oder das, was von ihnen übrig war) mit einem klatschenden Geräusch am Boden des Beutels ankamen. „Pass auf, wo du das Zeug hinschleuderst – Schimmel ist ganz schlecht für meine Schaltkreise“, jammerte Dizzi, die neben ihm auf dem Küchentisch stand, um ihm Gesellschaft zu leisten; außerdem lag sie ihm schon seit Tagen in den Ohren, dass er sie aktuell nur noch so selten mit aus dem Haus nahm, dass er ihr den Gefallen tun wollte (auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht all zu begeistert von seiner Idee schien). Seufzend legte er die leere Schüssel auf den Stapel mit beschmutztem Geschirr, den er aus den sterbenden Untiefen Tysons Kühlschrankes geborgen hatte, und blickte sich dann seufzend in der Küche um. „Keine Sorge, Dizzi, ich pass schon auf dich auf – ich will nicht noch einen Freund verlieren“, murmelte er geknickt und lehnte sich an die Anrichte. „Chef, du hast niemanden verloren! Tyson hat immerhin den Brief an seine Familie geschrieben, und als du auf seiner Arbeit angerufen hast haben sie bestätigt, dass er sich kurzfristig hat beurlauben lassen; du machst dir also vollkommen unnötig Sorgen“, schalt ihn Dizzi, doch Kenny schüttelte unzufrieden den Kopf. „Ich glaube dem Frieden trotzdem nicht. Wenn er auf eine Reise gegangen ist, warum hat er mir nichts davon erzählt? Oder zumindest Andeutungen gemacht? Und warum hinterlässt er in seiner Küche eine Schimmelzuchtanlage? Tyson ist ein Chaot, aber er ist nicht dumm und er weiß, dass dieser Zustand ganz massiv mit den Ansichten des alten Ryu kollidiert wäre; das hätte er niemals zugelassen.“ „Oder es war wirklich eine spontane Entscheidung – die er eben nur mit wenigen teilen wollte“, bemerkte Dizzi vorsichtig, und Kenny spürte ein unangenehmes Ziehen in seiner Brust. „Aber dann hätte er es mir gesagt! Mir noch eher als Hiro und Tatsuya – die beiden sind nie da! Ich bin es, der ihn regelmäßig besucht, ich bin es, der mit ihm zusammen feiert, ich bin es, der ihm zuhört, wenn ihn etwas belastet. Dass er mir nichts erzählt haben soll, das- das kann ich mir einfach nicht vorstellen.“ Betrübt rieb er an einem Schimmelfleck, der auf die Hose des Schutzanzuges gekommen war, den er sich übergezogen hatte, und seufzte dann auf, als er sich daran machte, das Geschirr zu spülen. Für eine Weile füllte Schweigen den Raum, und Kenny war dankbar, dass sich Dizzi zu dem Thema zurück hielt. Wie auch schon die Polizei und Tysons Familie war sie davon überzeugt, dass er sich irrte, und dass Tyson einfach aufgebrochen war; und so war er wieder allein in der Sorge um seinen besten Freund. Schließlich brach Dizzi das Schweigen (denn es gab nichts, das sie mehr hasste – außer vielleicht Frauen, die ihr vor Kenny Konkurrenz machten). „Wo wir gerade beim Thema nichts erzählen sind… Wie war dein Treffen mit Hilary gestern? Du hast noch gar kein Wort darüber verloren. Und dabei dachte ich, wir hätten keine Geheimnisse voreinander“, meinte sie pikiert, und Kenny hielt in seiner Bewegung inne. Für einen Moment überlegte er, ihre Frage einfach zu übergehen, entschied dann aber, ehrlich zu sein. Langsam spülte er weiter, während er zu sprechen begann. „Ich habe bisher noch nichts erzählt, weil ich es am liebsten verdrängen wollte.“ „Oh je – das klingt nach reichlich Liebeskummer, mein Lieber.“ „Nein, das- das ist es nicht. Am Anfang war das Gespräch sogar ganz angenehm; ich meine, wir haben es endlich geschafft, über die Sache zu reden und einen Abschluss zu finden. Und es war unglaublich erleichternd, sich diese Last endlich von der Seele zu reden.“ „Aber…?“ „…Aber… dann habe ich einen Fehler gemacht.“ „Hast du sie geküsst? Chef, du Casanova!“, kicherte Dizzi, und Kenny wurde rot. „Dizzi, nein! Kannst du nicht einmal ernst bleiben?“ Betrübt seufzte er auf. „Ich habe sie nicht geküsst. Aber ich habe sie gefragt, was sie in ihrem Leben erreicht hat, wo sie aktuell steht, und wie es denn beruflich mit ihr aussieht.“ Kenny stockte an dieser Stelle, und missmutig stöhnte Dizzi auf. „Wenn du willst, dass ich dir ernsthaft zuhöre, Chef, dann lass dir bitte auch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“ Zögernd blickte Kenny zu Dizzi hinüber, dann zuckte er traurig mit den Schultern. „Sagt dir der Name Kawaii Escort etwas?“ „Mein Freund Google sagt, dass das eine Escort-Firma mit dem Angebot Begleitung Plus für sehr betuchte Leute ist. Aber was- oh.“ Erkenntnis klang in Dizzis Stimme mit, und trocken lachte Kenny auf (es konnte auch ein Schluchzen gewesen sein, so genau war das nicht zu sagen). „Genau das, Dizzi, genau das. Sie hat studiert, hat einen Master – und anstatt etwas aus sich zu machen arbeitet sie als besseres Callgirl.“ Bitterkeit klang in seiner Stimme mit, und Schweigen füllte wieder den Raum. Nach einiger Zeit der Stille war Kenny schließlich mit dem Spülen und Aufräumen fertig und besah sich sein Werk, während er sich aus seinem Schutzanzug schälte. Die Küche des Wohnhauses war nun endlich keine biologische Gefahrenzone mehr, und bis auf wenige Gegenstände (von denen er nicht wusste, wo sie hingehörten) war alles, was die Polizei bei der Spurensicherung mitgenommen hatte, wieder an seinem rechten Platz. Nachdenklich besah er sich die Dinge, die er auf dem Küchentisch platziert hatte. Ein Abreiß-Kalender, der als Datum den 18. März zeigte; ein Fächer mit einem blauen Drachen darauf (warum hatte die Polizei den mitgenommen?) und ein Flugticket in die USA, das als Abflugdatum den dritten Mai eingetragen hatte – Kenny vermutete, dass Tyson geplant hatte, Max zu überraschen. Nach seinem Telefonat jedoch bezweifelte er, dass dieser den Besuch positiv aufgenommen hätte. „Also hatte er doch eine Reise geplant, von der er dir nichts erzählt hat“, bemerkte Dizzi mit einem gewissen Triumph in der Stimme, und traurig schüttelte Kenny den Kopf. Das hier war etwas anderes, aber Dizzi konnte (oder wollte?) es nicht sehen. Wo waren nur alle seine Freunde hin gegangen, auf die er sich früher verlassen hatte? Wie hatten sie sich so auseinanderleben können, dass außer ihm niemand mehr da war, der sich kümmerte? Doch egal wie sehr er sich das Hirn zermarterte – er konnte einfach nicht verstehen, wo sie vom Weg abgekommen waren. - 10. April, Tokyo – Gut gelaunt betrat Kenny seine Wohnung. Die letzten Tage hatten ihm viel abverlangt; doch er hatte sich vorgenommen, sich davon nicht vollkommen unterkriegen zu lassen und einfach Schritt für Schritt weiter vor zu gehen; und zumindest für eines seiner Probleme (oder eher: Dizzis Problem) hatte er inzwischen eine Lösung parat. Schnell zog er seine Schuhe aus und ging dann mit dem Paket unter dem Arm und der Tasche mit Dizzi auf dem Rücken in sein Zimmer, wo er sich das nötige Werkzeug zurecht suchte und schnell damit begann, seinen alten Laptop auseinander zu bauen. Dizzi würde sich wundern, wenn er sie in wenigen Momenten wieder einschaltete – doch dann mit neuem Gehäuse, neuer Festplatte und neuen Prozessoren! Und dann würde hoffentlich auch endlich dieses Störsignal verschwunden sein, dass sie die letzten Wochen so belastet hatte. Mit geübten Griffen nahm er die Platine aus seinem alten Gerät, auf der Dizzi gespeichert war, und baute sie mit einem zufriedenen Summen in den neuen Laptop ein. Schließlich nickte er zufrieden, schloss das Netzkabel an und schaltete Dizzis neue Wohnung ein. In Windeseile war das System gestartet, und in ungekannter Klangqualität (er hatte sich ein paar unnötige Spielereien an dem neuen Gerät gegönnt) ertönte die vertraute Stimme seines Bitbeasts. „Huch, bin ich gestorben? Ich fühle mich auf einmal wie im Himmel“, kicherte sie, und Kenny tätschelte liebevoll die Tastatur. „Es freut mich, dass es dir gefällt, Dizzi; ich habe mir deine neue Heimat auch ein ganzes Stück kosten lassen – und jetzt hast du hoffentlich auch endlich Ruhe vor diesem merkwürdigen Störsignal.“ „Ich fühle mich von deinem finanziellen Aufgebot geehrt, Chef, aber leider muss ich dich enttäuschen“, seufzte sie theatralisch, und setzte dann hinzu: „Das Signal ist immer noch da.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)