Das Licht in Deinen Augen von aprileagle (Sieger Sommer FF Wettbewerb 2003) ================================================================================ Kapitel 1: Hauptteil: Freunde? ------------------------------ Hauptteil: Freunde ? Das Klingeln seines Weckers beendete schließlich die schier unendliche Nacht. Hikaru schlug mit seiner flachen Hand gegen den kleinen Apparat und zog sich die Decke erneut über den Kopf. Die Sonne schien direkt auf sein Bett und blendete ihn ungemein. Nein, er wollte nicht aufstehen. Nicht heute. Er hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und ihm war fürchterlich schlecht. Gut, das konnte daran liegen, dass er seit gestern früh nichts mehr gegessen hatte, aber das würde er seiner Mutter nicht erzählen. Genau! Er würde ihr sagen, wie schlecht es ihm ging und dann könnte er heute zu Hause bleiben. Heute und vielleicht den Rest der Woche. Moment... gestern war doch Freitag... Hikaru runzelte seine Stirn und kniff seine Augen genervt zusammen, als sein Wecker erneut zu klingeln begann. Genervt krachte seine Hand auf die arme Apparatur nieder, die nun umfiel und wie beleidigt liegen blieb. Wenn heute Samstag ist, dann muss ich heute gar nicht in die Schule. Dieser Gedanke hellte ihn ein wenig auf, aber nur ein wenig. Samstags war er sonst in das Go-Institut gegangen. Samstags wie auch sonntags. Die zwei schönsten Tage in der Woche, für Sai und ihn. Keine Hausaufgaben, nichts zu lernen. Einfach nur Go spielen und fröhlich sein. Fröhlich sein... Es läutete erneut und Hikaru ärgerte sich, warum er den verdammten Wecker eingestellt hatte, wenn heute Wochenende und damit schulfrei war, bis er erkannte, dass es die Haustür war, die ihn geweckt hatte und sein geschundener Wecker ganz und gar unschuldig war. Was zum... Hikaru zog die Decke noch heftiger über seinen Kopf. Wer immer auch störte, seine Mutter sollte ihn abwimmeln. Er würde sich heute nicht mit irgendwelchen Vertretern herum ärgern. Sein Großvater konnte es nicht sein, der besuchte sie nur an Sonntagen, also bestand kein Grund für Hikaru aufzustehen. Seine Mutter würde schon die Tür öffnen und sich um den ungebetenen Besuch kümmern. Vielleicht war es auch nur eine von ihren Freundinnen aus dem Kochkurs, den sie einmal die Woche besuchte. Das wäre natürlich phantastisch, dann hätte Hikaru wieder den ganzen Tag für sich! Das Klingeln erstarb endlich und Hikaru seufzte wohlig auf. Na bitte, seine Mutter war doch ab und an richtig nützlich. Da es Samstag war, würde er sich noch ein paar Mützen voll Schlaf gönnen. Im Hellen gelang ihm das Schlafen irgendwie immer besser. Weniger Alpträume jagten ihn, wenn die Sonne schien. Also nutzte er die Gunst der Stunde, bevor er wieder über all den Mist nachdenken musste, den er verpraktiziert hatte! Sein Wecker schwieg, die Haustür hatte aufgehört zu läuten - statt dessen klopfte es nun an seiner Tür. Hikaru verzog verärgert seine Augen zu Schlitzen, als er sich schließlich aufrichtete. Seine Decke behielt er jedoch störrisch vor seinem Körper, seine Mutter sollte ruhig sehen, dass er noch ein wenig schlafen wollte. Sie sollte ja nicht auf die Idee kommen, dass er mit ihr einkaufen gehen würde. So weit kam es noch! Er mit seiner Mutter und einer vom Kochkurs allein auf Einkaufstour... das war doch nicht auszuhalten. Früher wäre es gegangen, da hätte mich Sai aufgeheitert. Sai... Hikaru schluckte und die Kopfschmerzen verstärkten sich. Unwirsch murrte er ein >herein< und hoffte, dass seine Mutter ihm wirklich nur sagte, dass sie jetzt weggehen würde. Umso größer war Hikarus Erstaunen, als statt seiner Mutter, einer hübschen Frau mittleren Alters, mit einem Mal ein Junge seines Alters im Türrahmen stand. Er schien sich ein wenig unwohl zu fühlen, aber seine hellblauen Augen blitzten energisch. Nein, er würde sich nicht abwimmeln lassen. Hikaru sah dies und stöhnte unterdrückt. "Touya-kun, was willst du denn hier?" "Ich wünsche dir auch einen schönen guten Morgen, Shindou-kun." begrüßte ihn Akira und trat nach kurzem Zögern ein. Er kniff seine Augen zusammen, als er sah, dass Hikaru in seiner Kleidung geschlafen hatte, verlor jedoch keinen Kommentar darüber. Auch nicht, als er über die zerbrochene Schüssel stieg, unter der die Ramen wie lange, weiße Haare hervorquollen. Statt dessen ließ er sich neben einem Go-Tisch auf einem weichen Kissen nieder. Ja, hier fühlte er sich schon wohler, selbstsicherer. Und das musste er heute besonders sein, wollte er Hikaru von seinem Plan überzeugen - oder ihn wenigstens aus seinem Zimmer zerren wollen, ohne dass jener die Polizei rief und ihn wegen Hausfriedensbruch verhaften ließ. "Morgen..." murmelte Hikaru zurück und fuhr sich über seine müden Augen. Sie lagen tief in ihren Höhlen und der Junge war sehr blass. Er wirkte, als ob er die halbe Nacht nicht geschlafen hatte. "Was willst du?" Der Tonfall zeigte Akira deutlich, dass er nicht erwünscht war, aber dieser ließ sich davon nicht beirren. Er wäre nicht einer der erfolgreichsten Nachwuchsspieler im japanischen Go geworden, wenn er sich von jedem und jeder Situation gleich hätte einschüchtern lassen. Bevor er jedoch antworte konnte, betrat Hikarus Mutter die Schlafstätte ihres Sohnes. Sie trug ein Tablett in ihren Armen und ein fröhliches Lächeln auf ihrem Gesicht. "Hier, Jungs, eine kleine Stärkung." Sie betrachtete kurz die Ramen auf dem Teppich und seufzte unterdrückt. "Unten steht noch etwas in der Küche, solltest du noch Hunger haben, Hikaru. Pass das nächste Mal besser auf, ja?" Der blonde Junge sah sie kurz an, dann nickte er, noch immer unschlüssig, was er tun sollte. Am liebsten würde er ja aus seinem Bett kriechen, Akira zur Tür hinaus werfen und wieder zurück unter seine Decke schlüpfen, um dort seinen Kopfschmerzen zu frönen, aber das ging natürlich nicht, wenn seine Mutter hier im Zimmer stand, dazu noch so gut gelaunt. "Sanaka-san hat vorhin angerufen, Hikaru. Ich treffe mich in einer halben Stunde mit ihr. Wir wollen für nächste Woche einkaufen fahren." Sanaka-san. Natürlich kannte Hikaru die korpulente Frau, die den Kochkurs führte, den seine Mutter wöchentlich besuchte. Eigentlich hätte er sich ja gefreut, dass sie shoppen ging und er damit seine Ruhe hatte, aber leider passte ein Teil nicht in sein Puzzle: Der grünhaarige Junge, der neben dem Go-Tisch saß und ihn mit seinem Blick zu durchbohren schien. Ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als Hikarus Mutter ihm eine große Tasse in die Hand drückte. Artig bedankte er sich. "Arigatou, Shindou-san." Ha! Gestern hat er >Scheiße< gesagt, ich hab's genau gehört! Hikaru seufzte leise. Ohne Sais Kichern in seinen Gedanken machten solche Sticheleien überhaupt keinen Spaß! "Gern geschehen. Hikarus Freunde sind immer willkommen." Offensichtlich freute sich seine Mutter über den Besuch, was auch kein Wunder war. Seit Wochen hatte er keine Freunde mehr zu sich nach Hause eingeladen, ja, sie sogar kategorisch gemieden. Deswegen wunderte es ihn, warum Akira, der ihn noch nie besucht hatte, ausgerechnet jetzt auftauchte. Ausgerechnet nach dem heftigen Streit, den sie erst gestern in der Bibliothek gefochten hatten. Oder gerade deswegen? "Sollte etwas sein, ich nehme mein Handy mit, Hikaru." "Ist ok, Mama." Antwortete er gespielt fröhlich. Er wollte, dass sie endlich ging, damit er sich in Ruhe, oder zumindest ungestört mit Akira befassen konnte. Ist er wirklich so verrückt nach Go, dass er sogar zu seinem ärgsten Rivalen nach Hause kommt? Hikaru strampelte die Decke ein wenig zur Seite, weil es ihm doch langsam zu warm darunter wurde. Die Sonne schien mit all ihrer hochsommerlichen Kraft durch das Fenster genau auf sein Bett, ohne seine Jalousien hätte er es sowieso nicht mehr lange auf seinem Futon ausgehalten. Kurz musterte er Akira, der vorsichtig von der Milch - Hikaru war sich sicher, dass die Becher Milch enthielten, denn das hielt seine Mutter für gesund - trank und schließlich noch ein wenig dagegen blies, weil sie ihm wohl zu heiß war. Ja, Akira war Go-süchtig. Genauso wie Sai es gewesen war. Ich hätte ihnen beiden mehr Spiele ermöglichen sollen! Schuldgefühle brachen wieder über Hikaru herein und er reagierte in der einzigen Art, die er gegenüber anderen Menschen beherrschen konnte: Er wurde wütend. "Was hast du hier verloren? So früh am morgen!" fuhr er Akira an, der ihn nur kurz musterte und einen zweiten Schluck von seiner Milch nahm. Normalerweise mochte er dieses Getränk nicht, aber der Becher wärmte angenehm seine eiskalten Hände. "Es ist schon fast elf Uhr, Schlafmütze." Erklärte er betont ruhig und setzte den Becher schließlich auf seinem Schoß ab, die Ränder ignorierend, die sich dort bildeten. "Du hast eine sehr nette Mutter." Hikaru blinzelte verwirrt ob des ungewöhnlichen Themenwechsels, dann aber kehrte sein Zorn in ihn zurück. Er sitzt dort, wo Sai immer gesessen hat. Er sitzt auf Sais Seite. Er hat kein Recht dazu!!! "Lenk nicht ab! Warum bist du hier?" Hikaru schlüpfte aus seinem Bett und hielt sich für einen Augenblick den schmerzenden Kopf. Konnte dieser Idiot nicht einfach gehen und ihn in Ruhe in seinem Selbstmitleid ertrinken lassen? In einer halben Stunde würde die spannende Dokumentation >Mein Garten und ich< anfangen und Hikaru wollte keine Minute davon verpassen. Ich will allein sein! Nein, ich will nicht allein sein. Ich will Sai um mich haben. Sai, nicht diesen Idioten. "Um zu fragen, was du heute so vor hast." antwortete Akira und sah ihn direkt an, schien ihn zu mustern. "Vergiss es! Ich werde nicht mit dir spielen! Das hab ich gestern gesagt und das habe ich auch so gemeint!" schnappte Hikaru noch bevor er weiter nachdenken konnte. "Du bist hier nicht erwünscht, kriegst du das nicht mit? Hau ab!" Normalerweise hätte er solch rüde Worte nie zu jemandem gesagt. Nicht einmal zu seinem ärgsten Rivalen, den er so gern als einen Freund angesehen hätte, wenn Akira ihn nicht ständig so kühl behandelt hätte. Ja, normalerweise hätte Hikaru anders reagiert, wäre vor Freude ganz aus dem Häuschengewesen, dass Akira sich die Mühe machte und ihn besuchte. Aber nichts war mehr normal. Nicht seit jenem Abend vor drei Wochen... "Ich weiß." Entgegnete Akira ungerührt und nahm einen weiteren Schluck Milch. Er verzog nicht einmal sein Gesicht, als er sich die Zunge verbrannte. "Aber darüber diskutiere ich erst, wenn du dich gekämmt und dir was anderes angezogen hast." "Was glaubst du, wer du bist! Mir vorschreiben zu wollen..." "Dann schau mal in den Spiegel." Akira nahm einen weiteren Schluck und hob spöttisch eine Augenbraue. "Oder willst du wirklich den ganzen Tag SO rumlaufen?" Hikaru verdrehte seine Augen und wollte etwas sagen. Dann aber überlegte er es sich anders, schnappte sich ein paar Kleidungsstücke aus dem Kleiderschrank und stürmte Richtung Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und musterte seinen seltsamen Gast. "Wehe, du rührst hier irgendetwas an!" "Die Wurstbrötchen deiner Mutter sehen aber lecker aus. Sind die auch tabu?" "ARG!" Hikaru schlug die Tür hinter sich zu und stapfte in das Badezimmer. Selten hatte er sich so schnell geduscht und umgezogen. Das gelbe T-Shirt war schon etwas älter, aber es war sauber. Nur seine Haare konnte er irgendwie nicht bändigen. In alle Richtungen standen sie fort. Hikaru gab schließlich mit einem genervten Seufzer auf und warf den Kamm in die Ecke. Ist doch egal, wie ich aussehe. Kann doch dem Idioten egal sein! Aber Sai wäre es nicht egal gewesen... Der Junge schluckte und hob den Kamm wieder auf. Vorsichtig fuhr er damit noch einmal durch seine Strähnen und starrte eine Weile in sein Spiegelbild. Sein Kinn zeigte noch keinen Bart, aber er wusste, dass er eines Tages Bartwuchs bekommen würde. Sein Vater hatte einen wunderschönen Vollbart gehabt, was so ziemlich das einzige war, woran Hikaru sich erinnern konnte. Ob Sai sich mit so etwas auskannte? Hätte er mir erklärt, wie ich mich zu rasieren habe? Hikaru wusste es nicht. Wie er so viele Sachen nicht wusste. Aber es war ihm klar, dass er seine Mutter nicht fragen konnte, wenn es einmal so weit war und er die ersten Stuppel an seinem Kinn entdeckte. Nein, es würde niemand da sein, der ihm erklärte, wie man sich rasierte. Niemand... Hikaru legte den Kamm leise beiseite und ging zurück in sein Zimmer. Dieses Mal stampfte er nicht so laut auf, denn plötzlich fühlte er sich matt und ausgelaugt. Er wollte sich nur noch in sein Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und verschwinden. So wie Sai verschwunden war. Vielleicht würde er ihn ja dort treffen, wenn er in dasselbe Nichts entschwand... Der blonde Junge öffnete die Tür zu seinem Zimmer und erstarrte, als er Akira sah, der über den Go-Tisch gebeugt saß. In der einen Hand hielt er tatsächlich ein angebissenes Wurstbrötchen, in der anderen einen weißen Go-Stein. Weiß. Sai hat immer Weiß gespielt. Hikaru ließ seine dreckige Kleidung fallen und stürmte hinüber zu Akira, der soeben den weißen Stein auf das Brett herab senkte. Er wagt es, Sais Spiel fortzuführen? Er wagt es, Sais Zug zu setzen? Er wagt es, Sais Steine zu berühren??? "Fass das nicht an!" Hikarus Stimme überschlug sich, als er Akiras Hand packte und sie vom Tisch fort zerrte. Gerade noch rechtzeitig, der Stein hatte das Brett noch nicht berührt. "Was bildest du dir ein?!" Das Brötchen fiel zu Boden und Akira, noch immer den Stein in seiner Hand haltend, schaute mit großen Augen auf zu Hikaru, der schwer atmend über ihm stand. Am ganzen Körper bebend ergriff der blonde Junge den Stein und legte ihn vorsichtig, ja beinahe zärtlich zurück in die hölzerne Schale. "Ich... ich wollte nur das Spiel fortsetzen. Weiß war doch am Zug, oder?" Akira klang nicht ängstlich, nur unendlich verwirrt. So war er wohl noch nie in einem Spiel unterbrochen worden. Aber, verdammt, das war ja auch nicht sein Spiel! "Das darfst du nicht!" flüsterte Hikaru und suchte nach einem Tuch, das er behutsam über dem Tisch ausbreitete. "Das ist nicht dein Spiel." "Wessen Spiel ist es dann?" fragte Akira, der solche Züge schon einmal gesehen hatte, sich aber an keinen konkreten Spielbericht erinnern konnte, obwohl er glaubte, so ziemlich alle schon einmal selbst versucht zu haben. Er erhielt jedoch keine Antwort. Hikaru seufzte nur und ging hinüber zu seinem Schreibtisch, um ebenfalls von seiner Milch zu nippen. Ich sollte ihm keine Vorwürfe machen, er ist so. Wenn er ein Go Spiel sieht, muss er daran teilnehmen. Natürlich muss er das, es ist ja auch seine Welt. Dennoch war Hikaru wütend. Man wühlte nicht einfach so in den Sachen der anderen! Seine Kopfschmerzen nahmen zu und erneut hielt er sich seinen Kopf. Entschlossen stellte er seinen Becher ab, wobei Milch überschwappte und auf den Teppich kleckerte. "Bei dir wäre ein Hausschwein ganz gut, man kann hier ja sprichwörtlich vom Boden essen." Erklärte Akira und sammelte sein Brötchen wieder ein. Vorsichtig blies er über die Wurst, bevor er erneut hinein biss. "Wozu brauch ich ein Schwein, wenn ich dich habe?" konterte Hikaru ironisch und nahm sich selbst ein Brötchen. Ein schwaches Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er Akiras empörten Ausdruck sah. Früher hätten Sai und ich uns halb tot gelacht... Hikaru schloss seine Augen. "Ok, Touya-kun, fangen wir noch mal von vorne an. Warum bist du hier?" fragte er leise und nahm widerstrebend einen zweiten Biss. Ihm war flau im Magen. Vermutlich lag es an den verpassten Mahlzeiten, dann war es gut, wenn er aß. Sollte ihm jedoch generell schlecht sein, nun, dann konnte er sich wenigstens vor Akira übergeben. Vielleicht war dann der Junge überzeugt und ließ ihn endlich allein! "Um dich zu fragen, was du heute so vor hast." "Ich spiele aber kein Go mit dir." "Wer hat etwas von Go spielen gesagt? Ich nicht!" Hikaru öffnete überrascht seine Augen und runzelte seine Stirn. Moment, hatte er das gerade richtig gehört? Sprach er wirklich mit Touya Akira, dem Touya Akira, der als jüngster Dan in die Geschichte des japanischen Gos einging und sonst eigentlich nichts weiter im Kopf zu haben schien als Go??? Dieser Touya Akira wollte nicht Go spielen??? Hikaru machte ein ziemlich dummes Gesicht. Was wollte dieser Touya Akira dann? "Hey, schau nicht so." murmelte Akira und biss rasch in sein Brötchen. "Ja, ich liebe Go über alles, aber das ist doch nicht mein einziges Hobby." "Nicht?" platzte es aus Hikaru heraus, bevor er es verhindern konnte. Für einen Moment sah Akira verletzt aus, verbarg diese Gefühlsregung jedoch rasch hinter seiner perfekten Maske der Gleichgültigkeit. "Ich mag zum Beispiel Schwimmen. Heute ist phantastisches Wetter gemeldet, Shindou-kun. Und da dachte ich, wir gehen runter zum Strand und schwimmen ein paar Runden. Ich spendier dir auch ein paar Ramen." Hikaru blinzelte. Er war zu verwirrt, um überhaupt noch ein kleines bisschen wütend zu sein. Akira fragte ihn, seinen größten Rivalen, ob er mit ihm schwimmen gehen wollte. Und er wollte ihm, der berüchtigt war, sieben Portionen Ramen auf einmal verdrücken zu können, zum Essen einladen? War etwas kaputt? Hatte er etwas verpasst? War Akira von Außerirdischen entführt worden und nun saß er hier mit einem Klon? Aber dieser Akira sah noch immer täuschend aus wie Akira. Dasselbe Glitzern in seinen hellblauen Augen, das manchmal die einzige Gefühlsregung war, die er zeigte, die er nicht verstecken konnte. Was soll ich jetzt tun? All die Jahre hatte Hikaru es kaum erwarten können, gegen Touya Akira zu spielen... und jetzt, da er Go aufgab, kam Akira, obwohl er ihn davor jahrelang missachtet hatte, und lud ihn zum Essen ein??? Ergab das einen Sinn? Konnte dies einen Sinn ergeben? Sai, hilf mir! Was soll ich tun? Aber als Hikaru sich aus reiner Gewohnheit umdrehte, war der Platz neben ihm leer. Kein Geist konnte ihm wertvolle Ratschläge geben, ihm zur Seite stehen und ihm sagen, was er für das Beste hielt. Nein, jetzt musste Hikaru selbst entscheiden - und so wie er sich kannte, würde er sowieso die verkehrte Entscheidung treffen. Hikarus Schultern sackten nach unten und er fühlte wieder den Klos in seinem Hals. So etwas Dummes, er hatte die halbe letzte Nacht geweint, er konnte keine Tränen mehr haben! Und dennoch war ihm zum Heulen zumute... "Pack deine Badesachen und komm einfach mit." Meinte Akira schließlich ruhig, nachdem er schweigend sein Brötchen beendet hatte. Er wusste nicht so recht, was mit Hikaru los war, aber er hatte beschlossen, seinen Rivalen näher kennen zu lernen. Er wollte wissen, warum Hikaru so plötzlich mit dem Spielen aufgehört hatte, und er ahnte, dass er wohl nie eine direkte Antwort auf all seine Fragen erhalten würde. Vielleicht würde er aber eines Tages aus dem merkwürdigen Verhalten Hikarus schlau. Denn Akira musste einfach wissen, warum er seinen größten Rivalen - und damit zugleich einen wichtigen Aspekt im Go - verloren hatte! Außerdem sah Hikaru aus, als bräuchte er Abwechslung, und wenn es sich dabei lediglich um ein wenig Sonne, Strand, Meer und Ramen handelte. "Vergiss die Sonnencreme nicht." Erinnerte ihn Akira, als Hikaru schließlich aufstand, mechanisch seine Sachen zusammen sammelte und ungeachtet in einen Beutel stopfte. "Wo sind eigentlich deine Sachen? Ich geh zu keinem FKK Strand!" Akira hatte wenigstens die Höflichkeit zu erröten, bevor er ärgerlich seine Lippen aufeinander presste. "Die stehen noch unten im Flur. Ich wollte sie nicht in dein Zimmer bringen, weil ich befürchtete, sie könnten in deinem Chaos untergehen." Erwiderte er so würdevoll wie möglich, bevor er sich erhob. Nicht jedoch, ohne einen letzten Blick auf den Goban zu werfen. Er hatte die Staubschicht auf den Steinen gesehen, dieses Spiel musste schon mehrere Wochen alt sein. Warum hat er es nicht zu Ende gespielt? "Kommst du? Oder muss ich jetzt etwa auch noch auf dich warten?" knurrte Hikaru und riss Akira aus seinen Gedanken. "Ich komm schon." Lächelte er, als er Hikarus Ungeduld erkannte. Gegen wen der Junge auch immer dieses Spiel geführt hatte und warum es auch immer nicht beendet wurde, das war eine Frage, die Akira herausfinden wollte. Wenn nicht heute, dann morgen. Aber sicherlich irgendwann. Der jüngste Dan Japans hatte Geduld und Zeit. Und verdammt viel Ausdauer. Auf die Art hatte er schon jeden Rivalen geschlagen. Jeden? Er seufzte leise als der Hikaru die Treppe hinab folgte und seinen eigenen Beutel aufnahm. Nein, ein Rivale hatte ihn besiegt, neben seinem Vater. Das war Hikaru gewesen. Vor fünf Jahren. Kurz trafen sich ihre Augen, als beide mit dem Binden ihrer Schuhe fertig waren. Ich wünschte, ich könnte wieder gegen dich spielen. Ich wünschte, ich könnte Sai wieder gegen dich spielen lassen. Schweigend verließen sie das Haus und liefen Richtung Strand. *** "Ist das nicht phantastisch?" Euphorisch ließ Akira seine Tasche in den Sand fallen, riss seine Schuhe von den Füßen und sprang bereits im Wasser herum. Dass die Hosen seiner Schuluniform nass wurden, störte ihn nicht weiter. Genauso wenig, dass ihn wohl jeder für verrückt erklärt hätte, der ihn aus seiner Schule her kannte. Touya Akira war ein gewissenhafter, guter Schüler, ein Go-Genie. Solche Leute liefen nicht lachend durch das seichte Wasser und spritzten herum! Hikaru schien ähnlich zu denken, denn er starrte ihn für einen Moment mit offenem Mund an, bevor er sich schließlich abwandte und die Decke auf dem Sand ausbreitete, die sie zusammen geschleppt hatten. Sie war alt und staubig, aber sie würde es tun. Nichts war Hikaru unangenehmer am Strand, als wenn der Sand dann an der nassen Kleidung haften blieb und fürchterlich zu scheuern begann. "Na ja, geht so..." murrte der blonde Junge und sah sich kurz um. Obwohl er Akira nicht zustimmen wollte, musste er doch zugeben, dass der junge Dan ein schönes Fleckchen herausgesucht hatte. Es war in einer Buch versteckt und keinerlei Touristen waren weit und breit zu sehen. Es schien, als ob sie diesen Strand nur für sich hatten. Was Hikaru nur all zu recht war. Er wollte hier niemanden treffen, erst recht nicht jemandem vom Institut. Diese Leute stellten nur unangenehme Fragen. Warum er ausgetreten war, warum er plötzlich aufgab. Warum er nicht mehr spielen wollte. Hoffentlich fragt Akira heute nicht noch einmal! Hikaru schielte zu der noch immer tanzenden Gestalt, bevor er sich seiner Sachen entledigte und sich, nur in seiner grünen Badehose bekleidet, auf die Decke legte. Die Sonne schien noch immer heiß vom Himmel herab, aber es ging ein leichter Wind, der alles viel erträglicher machte. Müdigkeit drohte, Hikaru zu übermannen und gähnend erinnerte er sich daran, dass er eigentlich vorgehabt hatte, noch ein wenig zu schlafen, als Akira plötzlich in seinem Zimmer gestanden hatte. Pah, konnte er doch allein Baden gehen, Hikaru würde hier einfach liegen bleiben und ein kleines Nickerchen machen. Am Tag gibt es keine Alpträume, ich sollte diese Gelegenheit nutzen, sie ist günstig. Schlaftrunken nahm er kaum die Schritte neben sich wahr und verstand auch nicht, was Akira zu ihm sagte. Er brummte nur müde und erschrak fürchterlich, als er plötzlich einen eisigen Schauer spürte, der seinen Rücken herunter jagte. "Was soll das?" schrie er und saß im nächsten Moment, obwohl die Landschaft ein wenig schwankte. "Dich eincremen. Oder willst du heute Abend aussehen wie ein Krebs?" Akira hielt die Sonnencreme in der Hand, die Hikaru vor einer halben Stunde erst aus dem untersten Schubfach seines Schrankes hervor gekramt hatte. Der blonde Junge brauchte ein paar Momente, um den tieferen Sinn zu verstehen. Erst hatte er ja geglaubt, dass Akira ihn heimlich und rücksichtslos mit kaltem Meereswasser vollgespritzt hatte, aber jetzt sah er, als er seinen Kopf ein wenig drehte, dass weiße Sonnenmilch auf seinen Schultern lag, die schon leicht gerötet waren. "Oh.." murmelte er nur und ließ sich von Akira wieder zurück auf die Decke drücken. "Daran hast du wohl überhaupt nicht gedacht, was? Wie kommt es dann, dass du die letzten Sommer nie im Krebslook herumgelaufen bist?" scherzte Akira, während er großzügig die Creme auf Hikarus Rücken verteilte. Besser ein wenig mehr, als zum Schluss Schmerzen erleiden. Akira hatte sehr empfindliche Haut, er wusste, wovon er sprach. "Ich bin sonst nie am Strand." Gestand Hikaru nach einer Weile und seufzte wohlig auf, als Akira nach dem Eincremen seines Rückens dazu überging, vorsichtig seine Schultern zu massieren. Hikaru war gar nicht bewusst gewesen, wie verspannt er gewesen war. Aber, war es denn ein Wunder? Seit Wochen schlief er nicht mehr richtig, schleppte sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Da reagierte natürlich auch sein Körper dementsprechend. "Meine Güte, du bist ja der reinste Knoten." Witzelte Akira und Hikaru wollte gerade etwas Passendes erwidern, hielt es dann aber doch für klüger zu schweigen und dem anderen Jungen seinen Hohn zu lassen. Nicht, dass Akira mit dem Massieren aufhörte, das war doch so entspannend! "Wieso bist du sonst nie am Strand? Ist doch schön hier. Ich mein, selbst ich hab manchmal genug vom Institut." "Nimmst du da deinen Goban mit?" "Normalerweise ja..." gab Akira nach einigem Zögern zu und Hikaru musste grinsen. Ja, das wäre bei ihm wohl ähnlich gewesen, wenn er mit Sai zum Strand gegangen wäre. Ohne Goban wäre der Geist wohl auch nicht aus dem Haus gegangen. Sai. Warum bin ich mit ihm nie zum Strand gegangen? Hikaru ließ seine Schultern hängen und zuckte leicht zusammen, als Akira in seiner neuen Haltung einen verkehrten Muskel erwischte. "Halt still, sonst bringt das nichts!" erhielt er auch prompt die Warnung. Normalerweise wäre Hikaru nun wieder wütend in die Luft gegangen, was sich Akira denn einbildete, ihn herum zu kommandieren, aber wieder riefen ihn seine verspannten Muskel zur Vernunft. Also brummelte er nur etwas Unverständliches und kehrte zurück in seine alte Pose. Ja, warum bin ich nie mit Sai zum Strand gegangen? Wegen der Erinnerungen? Und warum bin ich dann jetzt hier mit Akira? "Ich war früher oft mit meinem Vater hier. Im Sommer. Er hat mir auch das Schwimmen beigebracht." murmelte Hikaru schließlich nach einer ganzen Weile, in der Akira schweigend seinen Rücken bearbeitet hatte. "Und jetzt kann er wohl nicht mehr mit dir herkommen?" fragte der junge Dan, der vermutete, dass Hikarus Vater beruflich unterwegs war. Bei seinem Vater war es ja so ähnlich gewesen. "Hat er viel in seinem Job zu tun?" Erneut breitete sich Schweigen aus, nur das Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen am Himmel waren zu hören. Aber Akira hatte es nicht eilig. Geduldig wartete er ab und massierte still weiter, obwohl er mehrfach merkte, wie sich Hikaru erneut verspannte, so als kämpfe er mit sich selbst. Schließlich schien er aufzugeben. "Nein. Er ist vor über fünf Jahren gestorben." Hikarus Stimme hatte noch immer denselben schläfrigen Ton, aber Akira ahnte, dass dies nur Schein war. Seine Augen waren geschlossen, vermutlich hätten sie zu viel preis gegeben. Warum erzähl ich ihm das? Was geht ihn das an? Für einen Moment ärgerte sich Hikaru über sich selbst, dann aber zuckte er mental mit den Schultern. Spielt das überhaupt eine Rolle? Spielt irgendetwas noch eine Rolle? "Er erlitt einen Herzinfarkt, als wir hier am Strand waren, und ertrank." Murmelte der blonde Junge. Es war ein einfacher Satz, den er schon so oft gesagt hatte. Zu Bekannten, zu trauernden Verwandten, zu einigen Klassenkameraden, die seine Familiensituation gut genug kannten. Es waren nur ein paar Worte, die nie das ausdrücken konnten, was er wirklich empfunden hatte. Damals - wie heute. Akira beendete seine Massage und Hikaru fragte sich bereits, ob er den jungen Dan mit seiner rührseligen Geschichte vertrieben hatte, als er plötzlich kalte Finger spürte, die sanft durch sein Haar fuhren. Sanft, beruhigend, tröstend. Verstehend. Ja, es war nur ein einfacher Satz, der niemals das ausgedrückt hätte, was Hikaru empfunden hatte - und noch immer empfand - aber Akira verstand ihn. Vor einigen Monaten, als Hikaru und Akira ihr eigentliches erstes Spiel gegeneinander fechten sollten, erlitt Akiras Vater einen Herzinfarkt und beschloss darauf hin, als Profispieler zurück zu treten und nur noch aus Spaß Go zu spielen, um seine Gesundheit zu schonen. Hikaru hoffte zumindest, dass dies der wahre Grund war und nicht das Spiel, das Akiras Vater gegen Sai über das Internet verloren hatte. Ja, Akira wusste genau, wovon Hikaru sprach. Beinahe hätte er seinen Vater ebenso verloren... Hikaru öffnete seine Augen und sah direkt in Akiras Gesicht. Sah das stumme Verständnis dort. Akira leiere keine Phrasen herunter wie >Es tut mir leid.< oder >Schlimm zu hören.< oder gar >Das wird schon wieder.< wie Hikaru sie vor über fünf Jahren ständig zu hören bekommen hatte. Wörter ohne Sinn. Akira sagte nichts von all dem. Schweigend sah er ihn lediglich an, während seine Hand weiterhin sanft durch Hikarus Haar fuhr. Es war der beste Trost, den Hikaru je bekommen hatte. Besonders, seitdem Sai, der ihn so oft mit seiner fröhlichen Art hatte aufheitern können, verschwunden war. "Arigatou..." murmelte Hikaru und stand schließlich auf. Damit brach er zwar den mystischen Moment, aber er ging jetzt lieber ins Wasser, bevor sich der Klos in seinem Hals noch löste und er vor Akira wirklich zu weinen begann. Das wollte er weder sich noch seinem Rivalen zumuten. Ist er überhaupt noch mein Rivale? Wir spielen ja nicht mehr gegeneinander. Oder ist er vielmehr ein Freund? Hikaru wusste es nicht. Er würde später fragen. Später, wenn seine Stimme wieder etwas stabiler war und nicht mehr zitterte. "Ball spielen?" fragte Akira und beförderte einen kleinen Ball zu Tage, der über und über mit schwarzen und weißen Go-Steinen übersät war. Hikaru sah ihn und musste gegen seinen Willen breit grinsen. "Erstens, ich bin kein Hund, ich verstehe auch ganze Sätze." Kicherte Hikaru und mit einem Mal war jede Traurigkeit verschwunden - oder zumindest verdrängt. "Und zweitens, ist bei dir alles voller Go-Steine?" Ein Bild erschien vor seinem inneren Auge und nun musste er leise lachen. "Wie sieht eigentlich dein Bettzeug aus? Und dein Handtuch? Sind da auch lauter Go-Steine drauf?" "Natürlich nicht!" würdevoll erhob sich Akira und warf Hikaru den Ball zu, den dieser geschickt auffing. Dann entledigte sich der junge Dan seiner Kleidung. Sehr zu Hikarus Enttäuschung war seine Badehose aber glatt schwarz. Kein einziger Go-Stein war darauf zu entdecken. "Meine Bettdecke ist gestreift." "Mit Markierungspunkten?" neckte Hikaru und grinste breit, als Akira ihm einen giftigen Blick zuwarf. Da fiel ihm etwas auf. Er warf den Ball zurück zu Akira und griff nach der Sonnencreme. "Brauchst du dich nicht eincremen?" fragte und betrachtete den grünhaarigen Jungen, der zum Wasser hinüber lief. "Ich verlasse im Sommer nie das Haus, ohne mich einzucremen." "Wenn du meinst..." Hikaru zuckte mit seinen Schultern und rannte durch den Sand, um den kleinen Go-Ball aufzufangen. Im Wasser hatte er sehr viel Spaß. Vor Lachen vergaß er beinahe Sai. Aber nur beinahe. *** "Warte, ich krieg dich!" Akiras grüne Haare klebten nass in seinem Nacken, als er hinter Hikaru durch das knietiefe Wasser watete. Der blonde Junge hielt den Go-Ball hoch über seinem Kopf und hüpfte rückwärts. Er wusste, dass Akira einen halben Kopf kleiner war als er und demzufolge kaum eine Chance hatte, den Ball zu erreichen. Ein breites Grinsen lag auf Hikarus Gesicht, während er Akiras fruchtlose Versuche beobachtete. "Niemals!" "Wart's nur ab." Akira näherte sich bis auf wenige Schritte. Hikaru wollte gerade wieder ein wenig fort hüpfen, als Akira auf einmal einen großen Satz machte und ihn damit umwarf. Beide landeten im Wasser und Hikaru schnappte nach Luft, als er wieder an die Oberfläche kam. Um an den Ball zu gelangen, hatte Akira ihn einfach unter Wasser gedrückt. "Dir ist jedes Mittel recht, was?" "Genauso wie dir." Sie grinsten sich für einen Moment an, als Hikarus Magen lautstark bekannt gab, dass er bis auf ein Wurstbrötchen seit einem Tag nichts Gescheites mehr gegessen hatte und gefälligst mal wieder gefüllt werden wollte. "Oh..." murmelte Hikaru und errötete leicht. "Steht die Einladung zum Essen noch?" fragte er und wirkte mit einem Mal wieder so wie der junge Hikaru, den Akira damals in dem Go-Salon kennen gelernt hatte. Einen elfjährigen Jungen, der kein Vorurteil gegen ihn gehabt, der ihn offen angelacht und mit ihm gespielt hatte. Gut, Hikaru hatte gewonnen und damit Akira mehr als nur einmal Magenschmerzen und schlaflose Nächte bereitet, aber er hatte ihn nicht aus Überheblichkeit heraus besiegt, wie das so viele andere vor und nach ihm versucht hatten, sondern er hatte einfach aus Stärke heraus gewonnen, in einem fairen Spiel. In einer angenehmen Atmosphäre eines aufgeweckten Jungen, der keinerlei Neid oder gar Hass gegen ihn, den Sohn des berühmtesten Go-Spielers Japans, gehegt hatte. Können wir noch einmal von vorn beginnen? Können wir die Jahre der Rivalität überwinden und ein gesundes Maß an Rivalität und Freundschaft von nun an walten lassen? Akira wäre dies nur mehr als recht. "Klar steht das Angebot noch." Der junge Dan ergriff sein Handtuch und trocknete sich rasch ab. Dann streifte er sich das Hemd seiner Schuluniform über den Oberkörper und suchte nach seinem Portemonnaie. "Ich kenn hier einen guten Laden, der gar nicht so weit weg ist. Pass du auf die Sachen auf, ich hol was." "Aber ohne Fisch. Ich mag keinen Fisch." Akira betrachtete Hikaru für einen Moment, der noch von dem letzen Sturz ins Wasser gerade zu triefte und lächelte amüsiert. "Verständlich. Man isst nicht seine Artgenossen." Akira sah Hikarus leicht verärgerten Gesichtsausdruck und machte sich aus dem Staub, bevor er noch wirklich mit dem Go-Ball beschossen wurde. Er ist jetzt ganz anders als noch heute früh oder gar gestern. Akira ging in Gedanken versunken die lange Straße oberhalb der Küste entlang und betrat den Shop. Er seufzte wohlig ob der Klimaanlage, erinnerte sich jedoch rasch an seine Mission und räumte ein paar Sachen, die einfach lecker aussahen, in den Einkaufskorb. Gestern und heute hat er nur so ekelig reagiert, weil ich mit ihm Go spielen wollte. Ist es wirklich wahr? Hat er wirklich keine Lust mehr dazu? Warum behauptet er dann von sich, dass er nicht gut genug wäre? Akira betrachtete die Eiskrem und fragte sich, ob er diese heil bis zum Strand bekommen würde. Schließlich entschied er sich, das Risiko einzugehen und sie landete ebenfalls im Korb. Könnte ich die Aussage eher akzeptieren, dass er keine Lust mehr hat, als dieses verworrene Nicht-Gut-Genug-Getue? Akira bezweifelte dies irgendwie. Wer einmal so weit im Go gekommen war, der verlor nicht die Lust. Nicht einfach so. Nicht einmal sein Vater, der aus gesundheitlichen Gründen zurück getreten war, hörte komplett mit dem Go auf. Nein, jemand, der dieses Spiel so lange so leidenschaftlich gespielt hatte, verlor nicht einfach so die Lust daran. Da musste mehr dahinter stecken. Viel mehr. Aber was? Akira bezahlte und verstaute seine Errungenschaften in einer Plastetüten. Sein Eis riss er sofort auf und aß es nachdenklich, während er zurück zum Strand schlenderte. Aber was? Diese Frage nagte an ihm. Was bewegte einen Menschen, etwas aufzugeben, was er so offensichtlich geliebt hatte? Er selbst könnte es sich nicht vorstellen, einfach so nicht mehr Go zu spielen. Es war sein liebstes Hobby, böse Zungen behaupteten ja, es wäre sein einziger Lebensinhalt. Fakt war, er würde sich sehr einsam fühlen ohne den Goban, die Steine, die Spannung während eines Spieles, die Gleichheit unter den Spielpartnern innerhalb des Zugs. Aber was? Akira beendete sein Eis und warf den Stiel in einen Papierkorb, bevor er zurück zu der Stelle kletterte, wo Hikaru auf der Decke lag und sich sonnte. Es war sinnlos, sich über diese Frage den Kopf zu zerbrechen. Hikaru würde sie sowieso nicht beantworten. Nicht heute, nicht morgen, vielleicht nie wirklich. Auf jeden Fall würde Akira ihn heute damit nicht noch einmal belästigen. Hikaru hatte so gute Laune bekommen, er wollte diese nicht unnötig verderben. An anderer Stelle konnte er ja weiter bohren und nerven. Akira grinste, während er an die Decke trat. Und das würde er auch machen, darauf konnte sich Hikaru verlassen! "Shindou-kun?" fragte er und stellte die Tüte auf die Decke. Erst jetzt erkannte er, dass es sich hierbei um eine Gefriertüte handelte. Sehr gut, dann bleibt das Essen frisch und Hikarus Eis könnte noch gut sein. "Shindou-kun?" Erneut erhielt Akira keine Antwort. Der blonde Junge hatte seine Augen geschlossen, seine Atmung ging regelmäßig. Vermutlich war er eingeschlafen. Er sah heute früh ziemlich müde aus. Akira stellte die Tasche mit dem Essen in den Schatten hinter einem Felsen und setzte sich neben die Decke in den Sand. Er würde Hikaru nicht wecken, sondern einfach abwarten. Nein, er würde sich schon nicht langweilen, das hatte er noch nie getan. Akira ergriff einen kleinen Stock und begann geduldig, gerade Linien in den Sand zu malen. *** Möwen schrieen, die Wellen schlugen in einem beruhigend regelmäßigen Rhythmus gegen den Strand. Langsam, ganz langsam kehrte Hikaru aus dem Land der Träume zurück. Erst brauchte er ein paar Momente, um zu begreifen, wo er war. Gerade eben hatte er sich noch bei seinem Großvater befunden, um ihm das Bild zu zeigen, das er in der Vorschule für ihn gezeichnet hatte. Nun aber war er kein kleines Kind mehr und er befand sich... Wellen... genau, er befand sich am Strand. Leises Kratzen ließ ihn seine verklebten Augen öffnen und er wandte leicht den Kopf, um Akira im Strand neben sich sitzen zu sehen. Der junge Dan hielt einen Stock in seiner linken und einen Stein in seiner rechten Hand. Baut er Sandburgen? Hikaru setzte sich auf und gähnte herzhaft. Dann rieb er sich den Schlaf aus den Augen. Er hatte gut geschlafen, stellte er zu seiner Verwunderung fest. Sehr gut. So gut, wie er seit drei Wochen nicht mehr geschlafen hatte... seit Sai verschwunden war... Akira schien ihn gar nicht zu bemerken. Seeligenruhig legte er den Stein in den Sand und kritzelte wieder etwas mit seinem Stock. Plötzlich sah Hikaru das Bild eines Fünfjährigen vor sich, der Sandkuchen baute und dann stolz seinem Papa zu essen geben wollte. Der blonde Junge musste bei diesem Gedanken breit grinsen. Ob er damals schon Go gespielt hat? Eines Tages würde Hikaru Akira fragen. Heute hatte er den jungen Dan von einer komplett anderen Seite kennen gelernt. Und egal, was für harte Rivalen sie die letzten Jahre auch gewesen waren, Hikaru mochte diesen neuen Akira und wollte ihn besser kennen lernen. Selbst wenn sie nicht mehr Go spielen würden, vielleicht konnten sie ja trotzdem Freunde sein. So, wie Hikaru das immer gewollt hatte. Prompt erwachte auch Hikarus Magen und begann, lautstark zu knurren. Akiras Kopf fuhr herum und er legte einen anderen Stein vorsichtig beiseite. Hikaru fragte sich, warum Akira den ganz gewöhnlichen Kiesel wie einen Go-Stein hielt, verkniff sich aber einen entsprechenden Kommentar. Vermutlich war das normal und nach einer gewissen Weile fasste man jeden Stein so an. "Dein Magen ist der beste Wecker." Akira erhob sich und ging hinüber zu einem Felsen, wo er eine Supermarktüte hervor zauberte. "Na, ausgeschlafen?" "Es ist Wochenende." Verteidigte sich Hikaru und riss Akira die Tüte förmlich aus der Hand. "Lecker! Es sind zwar keine Ramen, aber das hier ist auch nicht zu verachten." Er hielt triumphierend ein fertiges Reisbällchen in die Höhe, bevor er es auswickelte und gierig zu essen begann. Wann hatte ihm das letzte Mal ein Essen so gut geschmeckt? Er wusste es nicht, aber es schien seinem Magen schon zu lange her zu sein. "Mach langsam, sonst verschluckst du dich. Eis ist übrigens auch noch drin. Ich weiß aber nicht, ob es mittlerweile geschmolzen ist." "Ja, Mama. Und ich schau mal nach." Hikaru nahm sich zwei Reisbällchen und schlenderte zu Akira hinüber, der wieder im Sand Platz genommen hatte und erneut einen Stein zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger hielt. "Was machst du da?" fragte er und hätte beinahe die Reisbällchen fallen gelassen, als er den Goban sah, den der junge Dan in den Sand geritzt hatte. Auf einigen Punkten lagen bereits Steine. Akira hatte es sogar geschafft, unterschiedlich aussehende Steine zu finden. Hikaru wusste sofort, wer Weiß und wer Schwarz war. Verärgert musste er feststellen, dass ihm wirklich die Finger zuckten und er am liebsten den nächsten schwarzen Stein gesetzt hätte. Statt dessen wickelte er sein Reisbällchen aus und aß es, während er Akira das verbleibende reichte. "Na ja, sieht man doch, oder?" Akira errötete leicht. "Ich bin aber gleich fertig, gib mir noch fünf Minuten." "Dann ist das Essen aber alle." Hikaru zog die Tüte zu sich hinüber und setzte sich gegenüber von Akira vor das gekritzelte Brett. "Ok, ich ruf dann auch die Ambulanz wegen der Magenverkrümmung." Neckte Akira und setzte, ohne weiter aufzusehen, den nächsten Stein. "Das schaffst du sowieso niemals alles allein." "Wetten?" "Lieber nicht." Wieder einen Stein gesetzt. Und den nächsten. Und noch einen. Hikaru griff nach dem nächsten Reisbällchen, entschied sich dann aber dagegen. Nachdenklich blickte er zu Akira, der schweigend da saß und einfach Stein nach Stein auf das sandige Brett legte. Ganz anders als gestern bat er ihn nicht um ein Spiel. Hatte er es tatsächlich akzeptiert? Oder gab er sich fürs erste mit diesem Nachmittag zufrieden, um später erneut zu nerven? Nervte er überhaupt? Konnten Freunde überhaupt nerven? War er überhaupt ein Freund? Ich war gestern und heute so ekelig zu ihm, aber er hat sich nicht beirren lassen und mir sogar was zu Essen gekauft. Wie könnte ich mich revangieren? Sai, was würdest du an meiner Stelle tun? Hikaru blickte hilfesuchend zum Himmel empor, aber wie die letzten Wochen auch antwortete ihm niemand. Stille herrschte für weitere Minuten, die nur von dem stetigen Rauschen der Wellen unterbrochen wurde. Würdest du noch einmal mit ihm spielen? Soll ich noch einmal mit ihm spielen? Nur, um ihm zu zeigen, dass er nicht auf mich zu warten braucht? Dass ich nicht der Rivale war, den er die ganzen Jahre gesucht hat? Dass wir einfach so Freunde sein können, ohne dabei auf das Go angewiesen zu sein? Was meinst du, Sai? Soll ich's wagen? Sai? Hikaru schluckte und richtete seinen Blick schließlich wieder auf das Spielbrett. Schwarz war wieder am Zug. Bis jetzt war es ein sehr interessantes Spiel. Welches Spiel Akira gerade nachspielte, es sah vielversprechend aus. Für beide Seiten. Noch war alles offen, noch konnten beide gewinnen. Es war ein sehr starkes Spiel und erinnerte Hikaru ein wenig an die alten Spielberichte. Es kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht mehr entsinnen, ob er diese Konstellation schon einmal irgendwo gesehen hatte. Vielleicht in einem Magazin oder bei einem der vielen Turniere. Wie auch immer. Ich muss ihm zeigen, dass ich kein Verlust für die Go-Szene bin. Nur so können wir Freunde werden und er in Frieden das Ziel verfolgen, das ich Sai immer verwehrt habe... "Touya-kun?" Hikarus Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren und Akira nickte nur, bevor er den nächsten Stein ergriff. Verwirrt blickte er auf, als Hikaru seine Hand zurück hielt und ihn ernst, sehr ernst anschaute. "Darf ich für Schwarz weiter setzen?" fragte er und räusperte sich, da seine Stimme zu versagen drohte. "Das sollte dir erklären, warum ich nicht mehr spielen werde." Akira sah ihn an und Freude sowie Trauer mischten sich zugleich in seinem Blick. Dann nickte er stumm und drückte den dunklen Kiesel in Hikarus Hand. Kurz verbeugten sie sich und wünschten einander viel Glück, dann setzte Hikaru den ersten schwarzen Stein. Seine Hand zitterte und mit einem Mal wünschte er sich, seine Reisbällchen mit mehr Bedacht gegessen zu haben. Nun lagen sie ihm wie Wackersteine im Magen. Das Spiel verlief in absoluter Stille, nur das Kratzen war zu hören, wenn ein Kiesel in den Sand gesetzt wurde. Hikaru hätte sich unsicher fühlen müssen, war es doch das erste wirkliche Spiel zwischen ihnen. Wie würde Akira reagieren, wenn er herausfand, dass er gar nicht so stark war, wie er das all die Jahre immer angenommen hatte? Wäre dies das Aus für ihre blühende Freundschaft? Drei Züge verliefen ohne Zögern, dann hielt Hikaru inne. Eigentlich hätte er in die rechte Ecke setzen müssen, um Akiras Angriff abzublocken, aber irgendwie war dies zu offensichtlich. Irgendwie passte dieser Zug nicht. Irgendwie musste er hier anders reagieren. Irgendwie... Noch immer zögerte Hikaru, aber Akira sah nicht auf, zeigte mit keiner Geste, dass er ungeduldig wäre. Nein, wenn es um Go ging, konnte Akira unglaublich geduldig sein. Manchmal sogar geduldiger als ihm gut war. Nicht dort hin... Hikaru schloss für einen Augenblick die Augen und hätte beinahe aufgeschrien, als aus dem schwarzen Nichts plötzlich ein Fächer auftauchte und ihm den Weg zu deuten schien. So, wie Sai das früher immer getan hatte. Wie Sai... Hikaru schluckte hart und öffnete seine Augen wieder. Ohne weiter zu überlegen setzte er den Stein an die Stelle, die er eben noch hinter seinen geschlossenen Liedern gesehen hatte. Akiras bereits gezückter Kiesel verharrte mitten in der Bewegung. Kurz sah er zu Hikaru auf, dann konzentrierte er sich wieder auf das sandige Brett und setzte seinen weißen, oder besser gesagt, etwas helleren Stein. Jetzt hat er's gesehen. Das war bestimmt ein Fehler. Jetzt weiß er, dass ich nicht gut genug bin. Ist er jetzt wütend? Aber er spielt eben mit mir und nicht mit Sai. Sai hätte keine Fehler gemacht. Sai war ein Genie. Und ich habe ihn nicht spielen lassen! Nicht so oft, wie er das verdient hätte! Ich Egoist! Hikaru legte die nächsten Kiesel und musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass jener Zug ganz und gar nicht verkehrt gewesen war. Kurz rechnete er die Punkte durch. Gut, er würde noch immer verlieren, aber mit einem Mal sah es knapp aus. Sehr knapp. Akiras Pokerface verriet nichts, aber er zögerte immer wieder und überlegte immer länger, bevor er den nächsten Zug setzte. Nach einer Stunde war das Spiel vorbei und Hikaru bedankte sich artig für das Spiel. Akira hatte gewonnen, natürlich. Aber nur ganz knapp: Bei einem Moku! "Warum glaubst du, dass du nicht gut genug bist? Das war ein exzellentes Spiel." Akiras Stimme war betont ruhig, als er noch einmal den Ablauf in seinem Kopf rekonstruierte. "Solche Spiele will ich auch in Zukunft mit dir spielen, Shindou-kun. Gib nicht auf." Es klang beinahe wie eine Bitte, aber Akiras Gesicht verriet nichts, während seine Augen über die einzelnen Steine schweiften. Hikaru rutschte unruhig hin und her. Er hatte mit jeder Reaktion gerechnet, vom absoluten Verschließen bis hin zum wütenden Ausbruch wie gestern, aber diese Aussage traf ihn völlig unvorbereitet. "Weil es nicht gut genug ist!" beharrte Hikaru. "Erinner dich mal an unser erstes Spiel, so gut werd ich wohl niemals wieder spielen können!" Wieder warf Akira ihm einen von seinen undefinierbaren Blicken zu, bevor er sich wieder dem sandigen Brett zuwandte. "Genauso hast du heute aber gespielt, Shindou-kun." "Was?" Das nahm Hikaru nun völlig aus dem Rennen, aus all seinen vorbereiteten Ausflüchten. "Was?" "Vielleicht ist dir das nicht aufgefallen, aber ich habe unser erstes Spiel nachgespielt, bevor du aufgewacht bist. Etwa in der Mitte bist du eingestiegen. Ich muss zugeben, einige der Züge waren anders als die von damals, aber das ist normal, niemand spielt ein Spiel zweimal, das wäre langweilig." Akira deutete mit dem kleinen Stöckchen auf eben jenen Kiesel, bei dem Hikaru zuerst gezögert und dann schließlich aufgrund der Eingebung mit dem Fächer gesetzt hatte. "Aber dies hier war ein ganz wichtiger Zug. Es ist eine Falle und du hast besonnen reagiert. Viele Leute sehen das nicht und tappen natürlich hinein. Du hast das aber nicht getan. Statt dessen hast du mich dort oben..." Akiras Hand bewegte sich vorsichtig über das sandige Brett. "... angegriffen. Das war die einzig richtige Antwort. Du hast vor fünf Jahren schon richtig reagiert - und heute auch wieder." Der junge Dan seufzte leise. "Einige deiner Züge mögen anders sein, Shindou-kun, aber das ist normal. Fünf Jahre sind vergangen, jeder verändert sich. Aber die wichtigsten, die grundlegenden Züge sind noch genauso raffiniert wie damals. Also erklär mir, warum du aufhören willst." Hikaru hatte während der Erklärung Akiras die Luft angehalten und stieß diese langsam wieder aus. Für eine ganze Weile starrte er auf das gekritzelte Brett und schluckte, vermochte aber nicht, den Klos in seinem Hals herunter zu würgen. "Du hast das Können in dir, Shindou-kun. Warum also willst du aufhören? Ich glaube nicht, dass du nicht gut genug bist." Akiras Stimme war noch immer sehr ruhig, beinahe besänftigend. Für Hikaru war sie weit weg. Seine Ohren rauschten und ihm war mit einem Mal sehr schwindelig. Er griff sich an den Kopf und schüttelte diesen, was das Schwindelgefühl nur noch verstärkte. Dieser eine Zug... er war wie damals vor fünf Jahren... wie Sai... Hikaru schluckte, aber das Klos schien anzuschwellen. Sai hätte diesen Zug gesetzt. Genau. Sai. Aber ich habe ihn letzten Endes gesetzt. Weil der Fächer mir das gezeigt hat. Sicher? Hast du nicht von dir aus gezögert? Hast du nicht genau so gespielt, wie Sei es dir gelehrt hat? >Das Können ist in dir.< Das Können von Sai. Nein, nicht nur sein Können, er selbst. Sein Spiel ist mein Spiel geworden. Hikaru schluckte erneut und ballte seine Hände zu Fäusten, während das Spielbrett vor seinen Augen verschwamm. "Shindou-kun?" Bedeutet das, dass Sai nun wirklich nicht wieder kommt? Wird er gehen, nachdem er mir seine Fähigkeiten übertragen hat? Hat er bemerkt, dass ich genauso spiele wie er und ist deshalb gegangen, weil er glaubte, ich würde ihn nicht mehr brauchen? Aber verdammt! Ich brauche ihn noch!!! Selbst wenn ich Go spielen kann, wie Akira mir gerade gezeigt hat, so gibt es noch so viel andere Sachen, bei denen er mir helfen, bei denen er einfach nur da sein kann. Verdammt! Selbst wenn ich keinen Lehrmeister in Go mehr brauche, so brauche ich dennoch den Menschen Sai. Den Freund Sai. Das Familienmitglied Sai... Verdammt! "Shindou-kun?" Hikaru brauchte zwei Anläufe, bevor er begriff, dass Akira seinen Namen rief. Verwirrt schaute er auf und blickte in Akiras besorgtes Gesicht, das dem seinen plötzlich nahe war. Der blonde Junge drehte leicht den Kopf und sah, dass das sandige Brett zerstört war. Akira schien einfach durchgelaufen zu sein. "Hab ich irgendetwas falsches gesagt?" Akiras Gesicht war nun wirklich voller Sorge und Hikaru fragte sich für den Bruchteil einer Sekunde, wie viele Menschen den jüngsten Dan Japans jemals ohne seine Maske der Gleichgültigkeit gesehen hatten. "Etwas.. falsches...?" flüsterte Hikaru und bemerkte erst jetzt, dass ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Geschockt befühlte er seine nassen Wangen, gab aber dem Impuls, aufzustehen und wegzulaufen nicht nach. Akira hatte seine Schwäche bereits gesehen, weglaufen hätte einfach nur noch dämlich ausgesehen. So blieb der blonde Junge sitzen und schloss seine Augen für einen Moment. Dieses Mal umfing ihn nur Schwärze, kein Fächer war zu sehen. Kein Sai, nicht einmal eine Spur von ihm. Nichts... "Ich... ich hab nur grad erkannt, dass ich Go nicht aufgeben kann." Flüsterte Hikaru und ballte seine Fäuste härter, bis die Knöchel weiß hervor traten und seine Handgelenkte schmerzten. "Wenn ich es aber nicht aufgebe, verlier ich jemanden, der mir sehr wichtig ist." Der Junge schüttelte seinen Kopf, ein paar Tränen blieben in seinen Haaren haften. "Macht nicht viel Sinn, oder?" murmelte er bedrückt und wagte es nicht, seine Augen wieder zu öffnen. Akira musste ihn doch für einen totalen Volltrottel oder für einen Wahnsinnigen halten! Sai, warum kommst du nicht zurück? Warum tust du mir das an? Es stimmt, ich habe durch dich Go kennen und lieben gelernt. Aber ich habe auch gelernt, wie es ist, nicht mehr so allein zu sein. Besonders nach Papas Tod. Willst du mich jetzt auch im Stich lassen? Hikaru fuhr zusammen, als er plötzlich wieder diese sanften Finger in seinem Haar spürte. Zögernd öffnete er seine tränengefüllten Augen und sah direkt in Akiras verständnisvolles Gesicht. Es war genauso wie vor wenigen Stunden, als er ihm von dem tragischen Unfall seines Vaters berichtete. Stumm bot Akira ihm Trost an. Es lag an ihm, diesen anzunehmen. Zwar verstand Akira nicht so recht, was Hikaru ihm sagen wollte, aber vielleicht würde es ihm eines Tages klarer werden, wenn sie sich besser kannten, wenn Hikaru ihm die Geschichte, die hinter all dem zu stehen schien, erzählte. Jetzt im Moment sah er die Tränen, die unaufhaltsam über bleiche Wangen liefen und wusste, dass Hikaru traurig und verzweifelt war. Gefühle, die er selbst gut genug kannte. Gefühle, die niemand haben sollte. Hikaru sah den ihm angebotenen Trost und verharrte einen Moment regungslos im Sand. Sai, was soll ich tun? Sai? Sai... Noch immer fuhren diese Finger so sanft durch seine Haare. So beruhigend, so Trost spendend. Trost, den er so dringend brauchte, den ihm sonst niemand geben konnte. Ohne weiter darüber nachzudenken, lehnte sich Hikaru vor und vergrub sein Gesicht an Akiras Schulter. Das Hemd war noch ein wenig feucht und roch nach Salzwasser und Meeresluft, aber auch ein wenig nach dem jungen Dan selbst. Wieder sagte Akira keine überflüssigen Floskeln, sondern strich einfach nur durch schwarze und blonde Strähnen, vermittelte Geborgenheit und Sicherheit, während Hikaru leise vor sich hin weinte, endlich all den Schmerz aus sich heraus lies und nicht noch tiefer in sein Selbstmitleid abrutschte, wie er das die letzten Nächte immer getan hatte. Auch nachdem die Tränen längst versiegt waren und die Sonne zu sinken begann, blieben sie in dieser Pose. Hikaru hatte seine brennenden Augen geschlossen und lauschte dem Rauschen des Meeres und dem besänftigenden Schlagen von Akiras Herzen. Nach einer Weile, die wie eine halbe, aber angenehme Ewigkeit erschien, flüsterte der junge Dan schließlich. "Willst du jetzt dein Eis essen?" Hikaru brauchte einige Momente, um seine Stimme wieder unter seine Kontrolle zu bringen. "Du bist schlimmer als meine Großmutter. Die hat mir auch immer was zu Essen gegeben, wenn ich traurig war." "Danke für den Vergleich, aber dein Magen knurrt wieder." "Ich hab aber keinen Appetit." "Das scheint deinem Magen aber egal zu sein." Akira kicherte leise, als sich Hikarus Magen tatsächlich protestierend zu Wort meldete. Die zwei Reisbällchen hatten ihn noch lange nicht befriedigt, er stand immer noch knapp vor dem Hungertod. Mindestens! "Ok. Dann her mit dem Eis. Klingt ganz gut." Hikaru löste sich von Akira und beobachtete, wie dieser in der Tüte herumwühlte und schließlich ein kleines Päckchen zu Tage förderte. Tastend prüfte er es eingehend und nickte zufrieden. "Ich glaube, es hat's tatsächlich überstanden. Diese Kühltaschen von heute sind wirklich ausgezeichnet." Kurz musterte er das Eis, als ob er es selbst essen wollte, doch dann drückte er es in Hikarus wartende Hand. "Beeil dich, bevor es doch noch schmilzt." "Na klar." Hikaru riss die Verpackung auf und stockte, als ihm ein Clown aus verschiedenen Eissorten breit entgegen grinste. "Was ist DAS denn?" fragte er leicht geschockt und drehte das Eis hin und her, aber es änderte seine Form nicht. "So was hat man als Dreijähriger zum Kindergeburtstag." Vergessen war Hikarus Kummer, zumindest in dem Moment. Vorsichtig biss er in die Nase des Clowns, die aus Schokolade bestand, und hob fragend seine Augenbrauen, als er den Ausdruck auf Akiras Gesicht sah. Der junge Dan wirkte ein wenig geschockt ob seiner Art, das Eis zu essen. Da kam Hikaru ein Verdacht und obwohl seine Augen noch immer brannten und er sich innerlich immer noch traurig fühlte, musste er grinsen. "Das muss man anders essen, oder?" fragte er unschuldig und Akira, dem man auf dem Go-Goban keine Falle stellen konnte, fiel natürlich prompt darauf herein. "Ja, man fängt eigentlich von außen an. Die Nase ist für den Schluss, weil sie nicht so schnell schmilzt. Als letztes..." er verstummte und errötete. Hikarus Grinsen wurde noch breiter. "Du kaufst Kindereis? Eis, das normalerweise Kleinkinder futtern? In deinem Alter?" Er konnte kaum ein Kichern zurück halten, als Akira wieder sein Pokerface aufsetzte. Aber seine geröteten Wangen und seine feuerroten Ohren, die zwischen den grünen Strähnen hervor lugten, verrieten ihn. "Na und? Du isst es gerade!" meinte der junge Dan und Hikaru blinzelte erstaunt. Hatte er Akira gerade schmollen gesehen? Den Touya Akira? Den gefürchtetesten Nachwuchs Dan in ganz Japan, vielleicht der ganzen Welt? Dieser Touya Akira aß Kindereis und schmollte? Hikaru musste mit einem Mal lachen. Er wusste, dass es unhöflich wirkte, vielleicht sogar verletzend, aber er musste lachen, sonst wäre er explodiert. Also hielt er das Eis an dem wackeligen Stiel in der einen Hand und hielt sich mit der freien den Bauch, während er so lachte, wie er seit Sais Verschwinden nicht mehr gelacht hatte. "Gomen ne..." kicherte er nach einer ganzen Weile und leckte das erste geschmolzene Eis von seinen Fingern. "Ich wollte dich nicht auslachen, aber dein Gesichtsausdruck..." allein die Erinnerung ließ ihn wieder leise lachen. "... der war einfach zu köstlich." "Das Eis soll köstlich sein, nicht mein Gesichtsausdruck." Grummelte Akira, aber seine Stimme verriet, dass er nicht beleidigt war. Im Gegenteil. Er war froh, dass Hikaru wieder etwas fröhlicher war. Er konnte den Jungen nicht weinen sehen, das machte ihn selbst traurig. Viel lieber als Tränen sah er das Glitzern in grünen Augen, wenn Hikaru Go spielte, fröhlich war oder einfach nur lachte - so wie jetzt. Da konnte Akira ein Leuchten in Hikarus Augen, in seinem ganzen Gesicht sehen, das ihn selbst fröhlich stimmte. Ein Licht, nach dem er die letzten Jahre gejagt hatte, ohne zu erkennen, dass er es nicht in eiserner Rivalität finden konnte, sondern nur in Freundschaft... "Hast du aufgegessen?" fragte er, nachdem er Hikaru eine Weile beim Eisessen zugesehen hatte. Der Junge warf den Stiel zurück in die Verpackung und nickte. "Jap." "Dann lass und zurück gehen." "Wieso? Erhoffst du dir von meiner Mama noch ein leckeres Abendbrot?" "Na, das Angebot nehm ich dankend an." Lächelte Akira und deutete zum Horizont. "Aber erstens geht die Sonne bald unter und zweitens ziehen Gewitterwolken auf. Ich will nicht in den Regen kommen." "Na gut. Du nimmst die Decke und ich die Vorratstüte." "Glaubst du wirklich, dass das eine faire Aufgabenverteilung ist, Shindou-kun?" "Nenn mich Hikaru. Shindou klingt zu formal." "Was?" "Das klingt so alt. Ich bin noch nicht so alt." "Stimmt, du hast gerade erst ein Kindereis gegessen." "... wie dem auch sei, man nennt einen Freund nicht beim Nachnamen. Das macht man nur mit Bekannten. Aber wir sind doch Freunde, oder, Akira-kun?" Akira schwieg für einen Moment, dann nickte er, lächelnd. "Glaubst du wirklich, dass das eine faire Aufgabenverteilung ist, wenn du das Essen nimmst, Hikaru-kun?" "Für mich schon." "Gauner." Hikaru lachte nur und griff nach Decke und Proviantbeutel. *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)