Verzeihen von Rabenkralle ================================================================================ Kapitel 1: Verzeihen -------------------- Verzeihen Manchmal geschahen Dinge – unangenehme Dinge –, die das Leben ganz schön aus der Bahn warfen. Mir war es dreimal passiert: Der Beinahe-Tod meines besten Freundes; der Tod meines Lehrmeisters und zuletzt, dass die Frau, die ich liebte, mit einem anderen geschlafen hatte. Das Letztere hatte den bittersten Nachgeschmack und den größten Einfluss auf mich – oder zumindest war das bis vor ein paar Tagen so, als sich meine Liste der Vorfälle, die das Leben veränderten, um einen vierten Punkt verlängert hatte. Ich hörte das regelmäßige Piepen des Gerätes, das meine Herzfrequenz überwachte. Ich erinnerte mich nur noch daran, wie mir während der letzten Mission schwarz vor Augen geworden war. Mehr nicht. Nach der Erzählung meiner besten Freunde war ich dem Tod wohl in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen. Ein Kamerad des feindlichen Shinobi, den ich verfolgt hatte, hatte versucht, meinen Hals aufzuschneiden und – zu meinem Glück! – ganz schlechte Arbeit geleistet. Er hatte die Schlagader zwar um Millimeter verfehlt, aber verblutet wäre ich trotzdem, wenn mich mein Team nicht kurze Zeit später gefunden und Ino die Blutung provisorisch gestoppt hätte. Ein Erlebnis, der mich dazu brachte, mein Leben in einem anderen Licht zu sehen. Meine Hand wanderte an meinen Hals. Ich trug einen dicken Verband darum und ich hatte den Drang, ihn abzureißen und mich zu kratzen, denn es juckte fürchterlich darunter. Ino schlug mir auf die Hand. „Finger weg!“, blaffte sie mich an. „Oder willst du die Narbe aufreißen und doch jämmerlich verrecken? Dann hätte ich es mir auch sparen können, dich zu retten.“ Chouji grinste vor Belustigung und ich seufzte nur. Sie hatte Recht, aber sie wusste auch nicht, wie schlimm es sich gerade für mich anfühlte. „Und bevor du dich beschwerst“, fuhr sie fort, „sei lieber verdammt noch mal dankbar, dass du noch am Leben bist!“ Natürlich war ich dankbar, aber musste ich mit jedem Satz betonen? „Du hast doch bestimmt Hunger, oder?“, warf mein bester Freund ein, damit mir erstmal weitere Meckerattacken von Ino erspart blieben. Hunger hatte ich tatsächlich, schließlich hatte ich vier Tage am Stück geschlafen und noch nicht mehr als ein karges Mittagessen im Magen. „Klar“, sagte ich und meine Teamkollegin verzog das Gesicht. Und um ihr noch etwas mehr auf die Nerven zu gehen, setzte ich nach: „Was mit Zucker wäre nicht schlecht.“ Eigentlich war ich nicht so der Süßigkeitenesser, aber im Moment konnte ich mir nichts Besseres als einen Schokoriegel vorstellen, um mein Leben zu zelebrieren. „Du legst es echt drauf an, das Zeitliche zu segnen“, bemerkte sie zähneknirschend. „Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ Es war nett von ihr, dass sie sich Sorgen um mich machte, aber das bisschen Zucker, das nicht auf meinem Speiseplan stand, brachte mich schon nicht um. Ich nickte Chouji zu, er stand auf und eilte aus dem Krankenzimmer. Ino ging zum Tisch herüber, auf dem ein paar Blumen standen, und sortierte die nicht mehr so frischen aus. „Hast du Temari schon gesehen, seit du aufgewacht bist?“, fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf und als mir bewusst wurde, dass sie es nicht sehen konnte, sagte ich: „Nein.“ „Sie wird bestimmt froh darüber sein, dass du es überstanden hast.“ Meine beste Freundin drehte sich zu mir um und lächelte. „Du kannst dich schließlich nicht einfach so aus der Verantwortung ziehen.“ Ich antwortete ihr darauf nicht. Ich hatte nie vorgehabt, das zu tun, aber mein vorzeitiges Ableben hatte auch nie auf meinem Plan gestanden. „Sie ist jeden Tag hier“, sagte sie. „Das hat zumindest die Schwester gesagt.“ Ich zuckte die Achseln und wandte meinen Blick ab. Es überraschte mich nicht, dass Temari herkam, um nach dem Rechten zu sehen. Ich war schließlich der Vater ihres Kindes und trotz der Trennung vor gut zwei Jahren verstanden wir uns immer noch sehr gut. Zu gut, dachte ich mir manchmal, wenn andere wieder die eine Frage stellten. So wie Ino jetzt. „Sag mal“, begann sie, „warum seid ihr beide nicht zusammen?“ Ich schwieg und hörte das Seufzen meiner Teamkollegin, das folgte. „Im Ernst: Warum habt ihr euch überhaupt getrennt? Egal, wie lange ich darüber nachdenke, es ergibt einfach keinen Sinn.“ Natürlich ergab es für sie keinen Sinn. Ich hatte ihr nie den Grund, der zur Trennung geführt hatte, erzählt. Ich hatte ihn niemandem erzählt. Es ging nur Temari und mich etwas an. Sie hatte ihre Brüder, ihre beste Freundin und ihre Heimat aufgegeben, damit ich jeden Tag mein Kind sehen konnte. Da wollte ich ihr das Leben mit dem Getratsche der Leute nicht unnötig schwer machen. „Wir funktionieren als Paar einfach nicht“, antwortete ich und hoffte, dass sie sich mit der Aussage zufriedengab. „Und das hast du zufälligerweise erst gemerkt, als du sie schon geschwängert hattest?“ Ino glaubte mir natürlich kein Wort. „Wie lange willst du diesen Schwachsinn noch behaupten?“ „Wenn du mir nicht glaubst, frag sie doch selbst“, resignierte ich. Es nervte mich, wenn sich andere in meine Privatangelegenheiten einmischten. „Meinst du, dass ich das noch nicht getan habe?“, erwiderte Ino. „Sie sagt dazu noch weniger als du.“ Umso besser, dachte ich. Es war nur verständlich, dass sie über den tatsächlichen Grund nicht reden wollte. Erst recht nicht mit Ino. „Ihr beide habt eine süße Tochter zusammen und sogar ein Blinder kann sehen, dass ihr euch immer noch liebt“, redete sie weiter. „Also was zur Hölle ist euer Problem?“ „Kannst du nicht einfach mal den Mund halten?“, gab ich tonlos zurück und hielt mir demonstrativ den Kopf. „Ich war vier Tage bewusstlos.“ „Entschuldige“, murmelte sie. „Ich würde es nur so gerne verstehen.“ Das konnte ich mir vorstellen, aber für sie gab es in dem Punkt absolut nichts, das sie verstehen musste. --- „Was machst du denn für Sachen?“ Die Umarmung meiner Mutter schnürte mir die Luft ab und einen Moment lang hatte ich Schiss, dass die Naht an meinem Hals wieder aufriss. Dann ließ sie mich los. Gerade noch rechtzeitig, hatte ich das Gefühl. „Du bist mit deinen gerade mal dreiundzwanzig Jahren viel zu jung zum Sterben!“, quasselte sie weiter. „Du kannst doch deinem Vater jetzt noch nicht ins Jenseits folgen und mich alleine lassen.“ Gedanklich rollte ich die Augen. Das Argument musste ja kommen. „Alleine?“, wiederholte ich und runzelte die Stirn. „Was ist mit der Kleinen?“ Ich hatte es kaum ausgesprochen, da bereute ich meine Worte auch schon. Sie sprach von meinem toten Vater und ich tat es als Nebensächlichkeit ab, dass ich beinahe auch den Löffel abgegeben hatte. Davon einmal abgesehen, dass Temari auf gar keinen Fall in Konoha blieb, wenn mein Tod tatsächlich eingetroffen wäre. Warum sollte sie auch, wenn der einzige Grund, warum sie hier war, nicht mehr existierte? Anstatt mich anzuschreien, warum ich so etwas Unsensibles zu ihr sagte, sank meine Mutter auf den nächsten Stuhl und brach in Tränen aus. --- Gedankenverloren biss ich ein Stück von meinem Schokoriegel ab. Der letzte Besuch hatte mich durch und durch ernüchtert und irgendwie wünschte ich mir, dass ich noch einen Tag länger geschlafen hätte. Ich zerknüllte das Papier und schaute nach draußen. Außer dem Ast des Baumes, der direkt neben meinem Fenster stand, und dessen Blätter im Wind sanft hin und her wogen, war nur das Blau des Himmels zu sehen. So ganz ohne Wolken war es ein äußerst langweiliger Anblick für mich. Und Langeweile kam in nächster Zeit genug auf, denn so, wie ich es verstanden hatte, dachte kein Arzt daran, mich in den nächsten Tagen zu entlassen. Das Piepen des Geräts drang wieder an mein Ohr. Ich konnte es kaum erwarten, das Teil loszuwerden und mit ihm dieses nervende, penetrante Geräusch. Die Tür ging ein Stück auf und ich wandte mich um. Ein rundes Gesicht umrahmt von glatten dunklen Haaren und mit großen dunkelgrünen Augen strahlte mich an. „Jetzt geh schon“, flüsterte eine Stimme. Meine Tochter bewegte sich nicht von Fleck. Sie schaute mich weiter an und lächelte dabei wie ein Honigkuchenpferd. Nun sah ich auch Temari. Sie nahm Ari auf den Arm und schloss die Tür. „Wie geht’s dir?“, fragte sie. „Ziemlich gut“, erwiderte ich. „Eigentlich sogar großartig.“ Das stimmte sogar. Trotz der schweren Verletzung fühlte ich mich so gut wie schon lange nicht mehr. Ich glaube, ich war noch nie so froh darüber, am Leben zu sein, wie in diesem Moment. Und das nur, weil ich meine Tochter sehen konnte. Denn nichts in der Welt bedeutete mir mehr als sie. „Großartig?“ Temari blickte mich skeptisch an. „Ich bitte dich, du hängst verkabelt an einer Gerätschaft. So großartig kann es dir nicht gehen.“ „Der Kram kommt heute Abend ab“, sagte ich. „Die Ärzte sind hier ein bisschen übervorsichtig.“ Sie seufzte, äußerte sich aber nicht weiter dazu. Ich betrachtete sie etwas näher. Sie sah ziemlich bleich aus und – „Hast du etwa geweint?“, fragte ich. „Nein“, meinte sie nüchtern, „natürlich brech ich in Jubelschreie aus, wenn das Leben des Vaters meines Kindes auf der Kippe steht.“ Heute hatte ich wirklich ein Gespür dafür, genau das Falsche zu sagen. „Sorry“, setzte ich nach, „war wohl ’ne blöde Frage.“ Und eine blöde Entschuldigung noch dazu. „Schon gut“, sagte sie. „Du solltest vielleicht mal fragen, was in dem Schmerzmittel drin ist. Sonst redest du nämlich nicht so ’nen Unsinn.“ Ich stieß ein Lachen aus, doch mein frisch geflickter Hals protestierte dagegen und ich fluchte. „Entschuldige, das wollte ich nicht sagen“, murmelte ich mit Blick auf unsere Tochter. Temari tat es mit einem Achselzucken ab und setzte sie neben mir auf dem Bett ab. Ich strich die Haarsträhne, die ihr fast in den Augen hing, beiseite und sie quietschte vor Freude. Dann klammerte sie sich an meiner Schulter fest, zog sich zum Stehen hoch und versuchte mir in die Nase zu beißen. Ich wich ihrem Versuch aus und sie lachte. „Sie hat dich ganz schön vermisst“, sagte meine Exfreundin und ich bekam ein schlechtes Gewissen. „Wie kannst du dich nur auf so dämliche Weise von einem drittklassigen Chuunin übertölpeln lassen?, fuhr sie fort. „Ich meine, der Typ war sogar zu doof, um …“ Sie brach ab und senkte betreten den Blick. „Ich hab wohl einen Moment nicht aufgepasst“, erklärte ich. „Dumm gelaufen. Es ist ja nichts passiert.“ „Es ist nichts passiert?“, wiederholte sie mich. „Bist du irgendwie bescheuert, oder was?“ Die Frage war absolut berechtigt. Langsam fragte ich mich echt, ob mir irgendein Witzbold Drogen ins Mittagessen gemischt hatte. Oder wie lange der Schokoriegel im Automaten gesteckt hatte. „Es tut mir leid.“ Und das tat es. Sehr sogar. Ihr Sorgen machen war das Letzte, das ich erreichen wollte. „Das sollte es auch“, sagte sie verdrossen. „Hast du auch nur eine Sekunde lang daran gedacht, was aus Ari wird, wenn du nicht mehr bist?“ Natürlich hatte ich daran gedacht. Es war der erste Gedanke gewesen, nachdem ich aufgewacht war. „Sie hat doch noch dich“, erwiderte ich. Temari blitzte mich wütend an und ich wusste, dass sie mir für diese Aussage am liebsten eine gescheuert hätte. Völlig zu Recht. „Wenn du weiter so eine Scheiße laberst“, zischte sie, „dann vollende ich das Werk von diesem Trottel persönlich.“ Eine leere Morddrohung. Wie nett. Es war schon immer die Art und Weise gewesen, wie sie ihrem Ärger Ausdruck verlieh. Aber das störte mich nicht. Vor allem, wenn es so berechtigt war. Da ich ihr nicht die x-te Entschuldigung auftischen wollte, um es im Anschluss nur schlimmer zu machen, nahm ich ihre Hand und drückte sie. Es war seit der Geburt unserer Tochter der engste Körperkontakt, den wir hatten. Obwohl sie versuchte, es zu unterdrücken, spürte ich ein Zittern. Ich hatte sie mit meinem gedankenlosen Gerede mehr getroffen, als ich befürchtet hatte. Sie löste sich aus meinem Griff, als die Kleine anfing, ausgelassen auf mir herumzuklettern, und setzte sie zum Spielen auf dem Boden ab. Anstatt sitzen zu bleiben, stand sie sofort wieder auf und lugte mich über die Bettkante an. „Wie du siehst, kann sie kann jetzt alleine aufstehen“, sagte Temari. In ihrer Stimme schwang nicht mehr die kleinste Spur Wut mit. „Und acht, neun Schritte schafft sie inzwischen auch ohne Hilfe.“ Ich war stolz auf mein kleines Mädchen und trotzdem hatte es einen faden Beigeschmack. Seit sie auf der Welt war, hatte ich so viel verpasst. Ihr erstes bewusstes Lächeln, ihre ersten Krabbelversuche, ja sogar das Wort „Papa“ hatte sie das erste Mal gesagt, als ich gerade fünf Minuten zur Tür raus war. Und ihre ersten freien Schritte vor fünf Wochen hatte sie am Morgen nach dem Aufstehen gemacht. Ich war nicht da, schließlich wohnte ich nicht bei den beiden. Mir kam es vor, als wäre ich nie da. Das war ein verdammt beschissenes Gefühl. Und das alles nur, weil ich es nicht schaffte, Temari noch eine Chance zu geben. Wir redeten zwar nie darüber, aber ihre Reaktion eben war mehr als deutlich gewesen. Sie liebte mich und ich liebte sie. Es tat weh, was sie getan hatte, aber an meinen Gefühlen für sie hatte sich nichts geändert. Nicht das Geringste. Ich wusste, wie sehr sie es bereute und mit der Zeit hatte sich so etwas wie ein Nebelschleier gebildet, sodass ich kaum noch daran dachte. Aber vergessen konnte ich es nicht. Nein, vergessen nicht, aber ich hoffte, dass ich ihr verzeihen konnte. Irgendwann. --- Der Krankenhausaufenthalt war noch langweiliger, als ich vermutet hatte. Alle paar Stunden schneite eine Krankenschwester herein, um nach mir zu sehen und einmal am Tag wurde der Verband gewechselt, bis er nach einer Woche ganz abbleiben durfte. Das war nach dem Jucken der letzten Tage eine ganz neue Lebensqualität für mich. Um die Zeit bis zu meiner Entlassung totzuschlagen, las ich inzwischen den zweiten Wälzer einer Buchreihe, die mich sonst null interessiert hätte. Es war immer noch besser, als vor Langeweile zu sterben und darauf war ich nach meiner Nahtoderfahrung wirklich nicht scharf. Zwischendurch schauten Chouji und Ino immer mal wieder kurz vorbei und auch Kurenai hatte es zweimal mit ihrem Sohn geschafft, obwohl sie so viel um die Ohren hatte. Ansonsten gab es in puncto Besuch genau zwei Konstanten: Jeden Mittag pünktlich um halb eins beehrte mich meine Mutter für eine Dreiviertelstunde. Da sie vom Essen im Krankenhaus nichts hielt, brachte sie immer etwas frisch Gekochtes mit und sie ging nicht eher, bis ich es aufgegessen hatte. Ich muss zugeben, dass es nett – überflüssig, aber nett – von ihr war, aber irgendwie kam ich mir dumm dabei vor. Ich war jedenfalls froh, dass man mich in ein Einzelzimmer verfrachtet hatte, denn ein Zimmernachbar hätte sich definitiv lustig darüber gemacht. Die zweite Konstante gefiel mir da schon besser. Zweimal am Tag besuchte Temari mich mit unserer Kleinen. Morgens blieben sie eine Stunde und nachmittags mindestens drei Stunden. Ich fragte mich, wo sie die Zeit und Ausdauer für so lange Besuche her nahm, aber ich hakte nicht nach. Ich wollte nicht riskieren, dass sie es als Beschwerde auffasste. Nein, dafür freute ich mich zu sehr darüber. Ich freute mich tatsächlich, beide zu sehen. Die restliche Zeit, wenn ich nicht schlief oder ich gerade keine Lust zum Lesen hatte, dachte ich viel nach. Wenn man dem Sensenmann knapp entkommen war, kam das wohl zwangsweise, glaube ich. Ich überdachte mein Leben und wenn ich zu dem Punkt kam und mir alternative Szenarien vorstellte, blieb ich letzten Endes immer an derselben Stelle hängen. Etwas, das nicht abwegig war und das definitiv so ausgesehen hätte, wenn es nicht diesen einen Vorfall gegeben hätte. Der Wunsch nach einem normalen Familienleben beschäftigte mich sehr. Besonders, seit ich diese lange Narbe am Hals trug. --- „De a de“, plapperte Ari los und ich starrte sie irritiert an. „Was hat sie gesagt?“, fragte ich. „Ich glaube, das soll Ade, ade heißen. Das ist aus einem Lied, das ich ihr öfters vorsinge“, antwortete Temari. „Gestern Abend fing sie plötzlich damit an.“ Und wieder war ich nicht da gewesen. Natürlich. Mein Blick schweifte durch den Innenhof. Bei Missionsbeginn war noch alles grün gewesen, doch inzwischen verfärbten sich die Blätter an den Bäumen rot. Mir kam es vor, als saß ich schon seit Ewigkeiten in diesem Krankenhaus fest. Zweieinhalb Wochen waren es, aber in drei Tagen durfte ich endlich gehen, wenn meine Narbe sich bis dahin nicht noch mal spontan entschloss, sich zu entzünden. Wind kam auf und wirbelte einzelne Blätter hoch. Unsere Tochter ließ die Parkbank, auf der wir saßen, los und lief unbeholfen einem Ahornblatt hinterher. Sie ging zwei Meter, dann sank sie auf die Knie und krabbelte weiter, weil es so schneller ging. Temari neben mir seufzte. „Und die nächste verdreckte Hose mit einem Loch drin“, sagte sie. „Als ob ich den ganzen Tag nichts Besseres zu tun habe als Waschen und Nähen.“ „Du wäscht doch nicht per Hand, oder?“, fragte ich. „Ich bin doch nicht verrückt!“, erwiderte sie. „Aber die Löcher im Stoff schließen sich leider nicht von selbst.“ „Ist Nähen denn so schlimm?“ „Es ist ätzend. Als Kunoichi bin ich für so einen Frimelkram einfach nicht geschaffen.“ „Du warst immer schon mehr für das Grobe zuständig“, bemerkte ich. Anstatt mir einen Nackenschlag zu verpassen, lachte sie und sagte: „Das weißt du ja am besten.“ Sie schenkte mir ein Lächeln und richtete ihren Blick wieder nach vorne auf unsere Kleine. Ari zerrupfte gerade vergnügt das Blatt. Ich grinste, wandte mich wieder Temari zu und stockte. Ihr Lächeln war verschwunden und sie starrte traurig vor sich hin. Ich ahnte, was gerade in ihr vorgehen musste. Sie bereute und verfluchte ihren Fehler. Das hatte sie unzählige Male in den vergangenen zwei Jahren getan. Ich legte eine Hand auf ihre Schulter und sie zuckte zusammen. „Das musst du nicht tun“, flüsterte sie. „Ich hab’s verdient, dass ich für den Rest meines Lebens kein reines Gewissen haben werde.“ „Red doch nicht so einen Unsinn.“ „Du bist derjenige, der Unsinn redet.“ Sie zog ihre Schulter zurück, doch ich dachte nicht daran, sie loszulassen. „Und du bist der Letzte, der mich trösten sollte.“ „Wen ich tröste, entscheide ich immer noch selbst“, sagte ich tonlos. Sie gab ihren halbherzigen Versuch, meine Geste abzuschütteln, auf und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mir wünsche, dass ich es rückgängig machen könnte.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich würde einfach zu dem Abend zurückspulen und zu Hause bleiben. Dann wäre alles in Ordnung.“ Das wünschte ich mir auch, aber es ging nicht. Leider. „Ich würde alles dafür geben“ – ihre Augen huschten zu unserer Tochter – „fast alles, wenn es zwischen uns wieder so sein könnte wie früher.“ „Es wird nie wieder so sein wie früher“, erwiderte ich. Ihr trauriger Blick verpasste mir einen Stich. Ich tastete mich zu ihrer linken Hand vor und setzte nach: „Aber wir können immer noch das Beste daraus machen.“ Ich versuchte, eine Reaktion von ihr auszumachen, ein Zucken, irgendetwas, doch sie blieb ruhig. „Ich glaube, das tun wir schon längst“, sagte sie. „Dass du mich nicht hasst und es trotz allem schaffst, so freundschaftlich mit mir umzugehen, ist mehr als ich jemals erwartet habe.“ Ich schwieg. Damals nach ihrer Beichte hätte ich das auch nicht für möglich gehalten. Ich hatte sofort mit ihr Schluss gemacht und während ihrer Schwangerschaft hatte ich mich ausschließlich wegen unserem ungeborenen Baby mit ihr abgegeben, doch seitdem … Ein Kind schweißte zusammen. Zumindest war es bei uns so. „Was macht dein Hals?“, fragte Temari und musterte ihn. „Sieht ganz gut aus, oder?“ Ich nickte. „In drei Tagen darf ich hier endlich raus.“ „Und dann kannst du erstmal ein paar Wochen bei dir zu Hause herumgammeln.“ Mir war klar, dass man mich erstmal eine Weile nicht auf Missionen schicken würde, aber darüber, dass man mich wahrscheinlich noch krankschrieb, hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich riss mich nicht drum, dass man mir sofort wieder langweiligen Papierkram aufhalste, aber das gefiel mir immer noch besser, als den Tag alleine in meiner Wohnung zu verbringen. Das war nicht weniger deprimierend als dieser Krankenhausaufenthalt. „Aber bevor du dich zu Tode langweilst, da dich gar keiner mehr besucht“, fuhr sie fort, „Wir kommen trotzdem jeden Tag vorbei.“ Ich sagte nichts und beobachtete weiterhin Ari. Blättern nachjagen und auseinander nehmen schien ihre neue Lieblingsbeschäftigung zu werden. Meine Mundwinkel zuckten zu einem Lächeln. So viel Zeit wie in den letzten zwei Wochen hatte ich die ganzen drei Monate davor nicht mit ihr verbracht und sie noch etwas länger so um mich zu haben war ein Lichtblick, aber … Ich hatte so viele wichtige Meilensteine von ihr verpasst und ich wollte nicht, dass sich diese Liste endlos fortführte. „Das reicht mir nicht“, sagte ich. „Was willst du machen?“, fragte Temari. „Klar, du kannst dir eine Wohnung suchen, die noch näher ist, aber sonst?“ „Dann ziehe ich eben bei euch ein.“ Diesmal spürte ich das Zittern ihrer Hand. „Das willst du doch gar nicht“, sagte sie und ich hatte Probleme, ihren Ton zuzuordnen. „Das macht alles nur schwerer, als es ohnehin schon ist.“ Letzteres stimmte. Das hieß, solange ich ihr nicht verzieh. „Unsere Situation ist jetzt schon absurd genug. Und diese nervige Fragerei wird dann noch viel öfter auf uns einprasseln: ›Was, ihr wohnt zusammen und habt ein Kind, führt aber keine Beziehung? Was stimmt denn bei euch nicht?‹ Was willst du darauf antworten?“ „Gar nichts“, entgegnete ich. „Darum geht’s dir doch auch gar nicht, oder?“ Sie seufzte und biss sich auf die Unterlippe. „Es tut mir leid“, murmelte sie. „Es ist nicht so, dass ich es dir nicht gönne. Ich wünsche mir fast nichts mehr, als dass du so für sie da sein könntest, wie du gerne möchtest, aber …“ Ihre Hand verkrampfte sich. „Ich weiß, ich bin an allem Schuld, aber das Ganze ist jetzt schon schwer für mich zu ertragen. Wenn du jetzt noch bei uns einziehst … Ich hab genug davon, mir falsche Hoffnungen zu machen.“ Ich hatte immer darauf geachtet, dass ich es nicht tat, doch das war wohl gründlich daneben gegangen. Nach meinem Verhalten ihr gegenüber in den letzten eineinhalb Jahren wunderte mich das nicht. Ich sog tief die Oktoberluft ein. Sie war frisch und mir kam es vor, als klärte sie nicht nur meine Lunge, sondern auch meine Gedanken. Es war Zeit, das Spiel der angekratzten Egos und verletzten Seelen zu beenden. „Vielleicht sind sie gar nicht so falsch …“, setzte ich an, doch sie brachte mich mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. „Du tust es schon wieder“, sagte sie tonlos. „Hör auf, bevor ich mich vor Verzweiflung kopfüber von den Felsen der Hokage stürze.“ Sie stieß vor Selbstironie ein Schnauben aus. „Tse, als ob ich das jemals tun würde. Wie bescheuert …“ „Das bist du wirklich“, meinte ich, doch was als Aufheiterung gedacht war, erreichte das Gegenteil. „Ja“, stimmte sie mir zu, „wenn ich das nicht wäre, hätte ich dich nicht betrogen und so unser gemeinsames Leben ruiniert.“ Ihre freie Hand grub sich in ihre Jacke. „Scheiße“, fluchte sie, „so eine verdammte Scheiße aber auch …“ Mit diesen Worten definierte sie es perfekt. Aber die Phase des Fluchens und des Selbstmitleids hatte ich hinter mir gelassen. Vielleicht hatte ich das schon länger – ich wusste es nicht –, doch in diesem Moment wurde mir klar, dass ich ihr verziehen hatte. Jetzt musste sie nur noch sich selbst verzeihen. „Der Kerl hat dich abgefüllt“, warf ich ein. „Und?“, erwiderte sie. „Dass ich betrunken war, macht es nicht besser. Kein Stück! Trunkenheit ist die beschissenste Ausrede der Welt.“ Das sah ich genauso. Wahrscheinlich hatte ich es ihr deshalb auch so lange übel genommen. Aber das war nun nicht mehr wichtig. „Komm endlich drüber hinweg“, sagte ich. „Wenn ich das schaffe, schaffst du es auch.“ Sie antwortete mir nicht. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass sie wieder ihre Unterlippe malträtierte. Und sie hielt die Augen starr geöffnet. Um den Tränen nicht nachzugeben, vermutete ich. Das tat sie schon, seit wir uns kannten, und in keinem Augenblick fand ich es so unangebracht und unnötig wie in diesem. Ich ließ ihre Hand los und legte meinen Arm um sie. Kurz sträubte sie sich noch dagegen, dann zog ich sie an mich. Ich fühlte mich ein bisschen wie im falschen Film – schließlich war ich derjenige, der nach neutraler Auffassung getröstet werden sollte –, aber das war in Ordnung. Einen Moment lang saßen wir so da, dann fuhr sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht. „Ich hab’s gar nicht verdient, dass du so nett zu mir bist“, flüsterte sie. Ich legte die Stirn in Falten. Nett? Fasste sie es tatsächlich als reine Nettigkeit von mir auf? „Du solltest aufhören, in der Vergangenheit zu leben“, entgegnete ich. „Irgendwann ist es auch mal gut. Man kann Vergangenes ohnehin nicht ändern.“ „Ich weiß“, murmelte sie. „Ich weiß.“ Ari kam zu uns zurück und wedelte mit dem nächsten Blatt herum, das sie noch nicht zerpflückt hatte. Auf ihm krabbelte ein kleines, schwarzes Etwas herum. Eine Ameise. Wie passend. Temari löste sich von mir und klopfte den Schmutz von ihrer Hose ab. Ein sinnloses Unterfangen, da sich der Stoff mit feuchter Erde vollgesogen hatte. „Dämlicher Alkohol“, fluchte sie. „Wenn er irgendeinen Schaden bei ihr angerichtet hätte … Ich könnte keine Nacht mehr ruhig schlafen.“ „Du wusstest nicht, dass du schwanger warst“, sagte ich. „Und es ist nichts passiert.“ Sie seufzte. „Ich kann diesen Spruch wirklich nicht ausstehen.“ „Und ich kann dein ständiges Was-wäre-wenn nicht leiden.“ Sie lächelte matt und wandte sich wieder unserer Kleinen zu. „Und wann kann ich jetzt einziehen?“, fragte ich. „Meinst du, dass es eine gute Idee ist, wenn wir gleich zusammenziehen?“ Ich sah ihr an, dass sie es für keine gute Idee hielt. „Das sehen wir dann.“ Temari warf mir einen skeptischen Blick zu. „Versteh mich nicht falsch“, sagte sie, „aber wäre es nicht besser, wenn wir erstmal ein bisschen Ordnung zwischen uns schaffen, bevor wir so eine Entscheidung treffen?“ Sie hatte sich zwar etwas unglücklich ausgedrückt, doch ich verstand, was sie mir damit sagen wollte. Klar, es konnte schiefgehen und Vertrauen baute man nicht von jetzt auf gleich wieder auf, aber ich wollte nicht noch mehr Zeit in einer Art Schwebezustand verschwenden. Damit hatte ich mich lange genug aufgehalten. „Wenn es nach mir geht, nicht“, antwortete ich. „Aber wenn du es so möchtest, ist es natürlich in Ordnung.“ Sie stieß ein humorloses Lachen aus. Natürlich wollte sie das nicht. „Wo willst du überhaupt schlafen?“, warf sie ein. „Du weißt, dass ich kein freies Zimmer mehr habe.“ „Die Couch wird erstmal reichen“, sagte ich. „Und alles weitere gehen wir langsam an.“ Ich drückte ihre Hand und zum ersten Mal seit Langem erwiderte sie es. „Okay.“ --- Wir gingen es nicht langsam an. Am dritten Abend nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus lagen wir zusammen in ihrem Bett. Es überraschte mich selbst ein wenig, wie leicht es mir gefallen war, diesen Schritt mit ihr zu tun. Ich betrachtete sie und ihre nachdenkliche Miene erinnerte mich an den Nachmittag von vor zwei Jahren, als das Unglück seinen Lauf genommen hatte. Nur dass ich diesmal wusste, dass sie nichts vor mir zu verbergen hatte, dass alles anders als beim letzten Mal war. „Entschuldige, dass ich dich so überfallen –“ Sie schüttelte den Kopf. „Vergiss die Entschuldigung“, sagte sie und schenkte mir ein Lächeln. „Es kam vielleicht unerwartet, aber nach zwei Jahren ohne beschwere ich mich nicht.“ Diesmal war sie es, die meine Hand suchte. „Warum hast du es dir eigentlich anders überlegt?“, fragte sie weiter. Ich dachte einen Augenblick lang nach und antwortete schließlich: „Weil das Leben zu kurz und zu wertvoll ist, um von Selbstmitleid, Enttäuschung und Wut bestimmen zu lassen.“ „Dann muss ich diesem Idioten wohl auf Ewig dankbar sein, was?“ Statt ihr eine Antwort zu geben, drückte ich ihr einen Kuss auf. Natürlich hatte ich noch hin und wieder meine Zweifel, doch zwei Jahre später wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es war ein Zeitpunkt, an dem sich mein Leben wieder veränderte. Diesmal endgültig zum Besseren. Es war der Moment, in dem unser Sohn geboren wurde. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)