Verhängnisvolle Nacht von fastcaranbethrem ================================================================================ Kapitel 6: Zurück in Paris -------------------------- I. Es war ein schöner Sommertag. Einer dieser Sommertage, an denen selbst der größte Pessimist keinen Regen erahnen konnte. Das satte Blau des Himmels spiegelte sich im Wasser und das goldene Licht der Sonne veredelte die Fassaden der Häuser. Das fröhliche Zwitschern der Vögel hallte durch die offene Tür ins Kircheninnere. Feierliches Schweigen legte sich über die Anwesenden. Während der Priester seinen Segen erteilte, war die Aufmerksamkeit eines jeden Gastes erwartungsvoll auf das Paar am Altar gerichtet. In den Sitzbänken saßen Gefühle der uneingeschränkte Freude am Glück des Brautpaares, bei einigen wenigen der Neid und bei manch einem das schwere und süße Gefühl der Wehmut. Ja, es war ein Tag geschaffen zum Heiraten. Das frisch vermählte Paar schritt unter Jubel durch die Kirche. Der Bräutigam trug erst die stolz vorgereckte Brust durch den Türbogen nach draußen, dann sich selbst. Anerkennend wurde ihm von den männlichen Gästen auf die Schulter geklopft. Die Gratulanten wussten, wie lange die Braut ihrem frischgebackenen Ehemann das Ja-Wort vorenthalten hatte. Seine Braut versuchte angestrengt die Schleppe ihres Kleides und den meterlangen Schleier in Einklang mit ihren Schritten zu bringen. Der Saum ihres weißen Kleides strich über die gestreuten Blumen am Boden. Rosenblätter, Staub und Schmutz sammelten sich unter dem weißen Seidenstoff und wurden mitgeschliffen. Einzelne Haarsträhnen im satten Goldton hatten sich aus der Blumenkrone gelöst. Obwohl sie sich, im Trubel der ungewohnten Aufmerksamkeit unwohl fühlte, strahlten ihre blauen Augen vor Glück. Bald hatte sich die gesamte Hochzeitsgesellschaft im Gasthaus zum Feiern niedergelassen. Es war an nichts gespart worden. Das Essen wurde üppig aufgetafelt und der Wein reichhaltig nachgeschenkt. Schon kamen die ersten zottigen Witze über die kommende Hochzeitsnacht und mehr oder weniger nützliche Ratschläge über das künftige Eheleben. "Auf D'Artagnan und Constance"! Dutzende von Gläsern wurden hochgerissen und klirrten schwungvoll aneinander. So mancher Gast fand seinen Wein dekorativ auf seinem Festgewand wieder. Es wurde zum Tanz aufgespielt. Porthos wippte fröhlich mit dem Fuß im Takt der Musik, während er und Athos das muntere Treiben ringsum beobachteten. Seit Stunden hatte er nicht mehr aufgehört zu lächeln. Jetzt fing er an, neben dem eigentlichen Takt der Musik, mit den Schultern zu zucken. "Oh, sieh mal! Bernard ist in einem weinroten Anzug gekommen. Nicht schlecht," sagte er an Athos gewandt. "Seit wann interessiert du dich für die Garderobe anderer?" fragte dieser abwesend. "Ich versuche NUR Konversation zu machen! Manchmal geht mir deine Wortkargheit auf die Nerven. Es wird wirklich Zeit, dass Aramis wieder zurück kommt ." Porthos seufzte im Selbstmitleid. "Du glaubst doch nicht wirklich, dass Aramis wiederkommt. Porthos, es sind mittlerweile fünf Jahre vergangen." "Er hat gesagt, dass er zurück kommt," meinte Porthos stur. "Allerdings, sich einfach gar nicht zu melden. ... Nicht einmal ein Brief ... Ich werde ihn dafür verprügeln müssen, wenn er wieder da ist." Porthos grinste über seinen eigenen Witz und zappelte wieder außerhalb jedes Rhythmusgefühls mit der Musik mit. Athos dachte auch nach einem halben Jahrzehnt oft über seinen verschollenen Freund nach. Dass Aramis nicht zurückkam, störte ihn. Es störte ihn sogar sehr. "Hast du eigentlich je näher über Aramis nachgedacht?" fragte er möglichst beiläufig. Porthos runzelte die Stirn und versuchte den genaueren Sinn der Frage zu ergründen. "Wie nachgedacht? Aramis ist Aramis." "Na zum Beispiel über sein Aussehen. Es ist nicht zu übersehen, dass etwas weiches, feminines an Aramis ist. Ja, hübsch. Hast du ihn dir nie genauer angesehen?" hakte Athos weiter nach. "Bei der schönsten Frau von Paris, bin ich schwul, dass ich mir Männer ansehe?" sagte Porthos stur gerade aus sehend. "Ja, am Anfang sah er schon ziemlich hilflos aus. Aber wir haben schon eine Menge aus ihm gemacht, einen richtigen Musketier sozusagen. Er trank richtig, er fluchte richtig, er hat sich in Duelle gestürzt und er konnte richtig lachen." Beim Zurückdenken an alte Zeiten lächelte Porthos. Von weitem sahen sie D'Artagnan auf sich zusteuern. Noch immer trug er seinen Brustkorb einen halben Meter vor sich her. "Trotzdem blieb Aramis weiterhin androgynes" behaarte Athos. "Er wirkt wie ein Hermaphrodit. Seine Stimme ist einfach zu hoch. Er ist furchtbar schamhaft und wir haben ihn nie mit einer Frau zusammen gesehen, ja er handelte sogar manchmal wie eine Frau ... Ich habe einiges darüber in Büchern gelesen .... Ja, hörst du mir überhaupt zu Porthos? Porthos?" Verärgert räumte Athos seinen Platz und nickte D'Artagnan zu. Verwundert nahm dieser den vorgewärmten Platz in Besitz und sah dem offensichtlich verärgerten Athos nach. Eine Gruppe junger Leute tanzte einen Reigen an ihnen vorbei. Jean hüpfte mit seinem schlaksigen Körper dazwischen und entschuldigte sich für jeden unbeabsichtigten Stoß, den er anderen versetzte. Neben ihnen war das aufgeregte Plappern junger Mädchen zu vernehmen. Der Reigen hatte schon längst den Raum durchquerte, als Porthos hingebungsvoll seufzte. "Sag mal, D'Artagnan, was ist ein Hermaphrodit?" Es waren zwei Wochen seit der Hochzeit vergangen. Jean wanderte durch Paris, ohne sein Ziel zu kennen. Er ließ die Schultern hängen und schlürfte missmutig die Straße entlang. Jetzt da D'Artagnan verheiratet war, fühlte sich Jean ausgeschlossen und zu niemandem gehörend. Mit seinen 12 Jahren, so schien es ihm, war er wieder alleine. Dabei mochte er Constance und freute sich über das Glück seines Freundes. Seit geraumer Zeit kickte er schon ein und den selben Stein im sicheren Abstand vor sich her. Er sah nicht hoch. Wo er sich befand, interessierte ihn nicht. Während Jean den Flug des Steinchens beobachtete, übertönten ungewohnte heftige Stimmen den gewohnten Pariser Tageslärm. Er hob den Kopf und sah schwarz vermummte Männer auf sich zukommen. Dann wurde er auch schon umgerissen. Seine Beine gaben unter der Wucht des Aufpralls nach und Jean kippte langsam nach hinten. Die Zeit drehte sich langsamer. Das Blut pulsierte durch seine Adern. Jean sah sich, als unbeteiligter Zuschauer, das Gleichgewicht verlieren. In Panik gruben sich seine Finger in den dunklen Stoff eines der Männer. Doch der Stoff gab nach und Jean stürzte den grauem harten Pflaster der Straße entgegen. Bei seinem Sturz riss er dem Mann seine schützende Maske vom Kopf und mit einer Deutlichkeit, die nur Schrecksekunden bringen können, sah er dem Mann ins Gesicht. Jede Falte, jede Furche, jede Besonderheit in dessen Gesicht brannte sich in Jeans Gedächtnis. Er schlug schmerzhaft auf. Die Wucht des Aufpralls trieb ihm die Luft aus den Lungen. Die Welt drehte sich, dann wurde sie angenehm schwarz. Unauffällig beobachtete Marie ihr Gesicht in der Spiegelfläche des Bestecks. Fasziniert von ihrer eigenen Wirkung, lächelte sie sich zu. Es raschelte leicht, als der Butler den Raum betrat und Athos hereinführte. Marie warf ihr Haar zurück und war sich des Glanzes, den der Kerzenschein auf das dunkle Haar zauberte, durchaus bewusst. Schattengleich und diskret trugen Diener das Essen auf. Athos bedachte sie mit einem warmen Lächeln, voll Zuneigung. "Du siehst heute wieder bezaubernd aus. Wie war dein Tag?" fragte Athos und Marie holte aus. Athos versank in ihren Anblick und ließ sich von den Nichtigkeiten ihres Tagesablaufes einlullen. Er wusste, dass Maries regelmäßige Besuche in der Hauptstadt ihm galten. Marie wollte, dass Athos den Musketierchor verließ, seinen Titel als Graf wieder annahm und auf seinem Schloss residierte, mit ihr als Gräfin an seiner Seite. Dies hatte sie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben. Fünf Jahre ließ Athos sie jetzt schon auf einen Heiratsantrag warten und ihm taten die nächsten Worte leid, die er an sie richten musste. "Marie, ich habe gestern einen Brief von meinem Vater erhalten. Wegen des Erfolgs seiner Investitionen in die Southwest Sea Company hat er weitere größere Anteile in ihre Expeditionen gesteckt." Marie hob alarmiert den Kopf. Natürlich hatte sie von den unglaublichen Verlusten der Gesellschaft, auf Grund von Stürmen und Piraterie, gehört. Die Börse in England und Frankreich lag brach. Die meisten Investoren hatten sich in den Ruien gestürzt. Marie schüttelte den Kopf. Ihre Lippen formten ein stummes Nein. "Doch," widersprach Athos sachlich. "Unser Verwalter hat mir den Verlust schriftlich bestätigt." Seine Stimme wurde leise und betrübt. "Mein Vater musste daran gehindert werden, sich etwas anzutun. Meine Zeit als Musketier ist nun wohl endgültig vorbei. Ich werde nach Hause zurückkehren und ich bitte dich, mich zu begleiten!" Stille legte sich über den Raum. Nur der Nachhall von Athos Worten blieb in der Luft hängen. "Marie, heiratest du mich?" *** II. Der Mann hob Jean wie eine Puppe hoch und schliff ihn mit. Rücksichtslos zehrte er Jean mit, grundlegend, direkt und notwendigerweise gewalttätig. Jeans Sinne kehrten plötzlich und mit brutaler Klarheit zurück. Er versuchte mit zu laufen und geriet mehrfach in Straucheln. Nachdem er sich dem Tempo seines Peinigers angepasst hatte, konnte er seine Umgebung wahrnehmen. Sie befanden sich am Ende einer der besseren Gegenden von Paris, aus dessen Zentrum sie gerade zu kommen schienen. Jean zählte 6 Männer, die im Laufschritt in das Hinterhofgewirr der Armengegend eintauchten. Er war unfreiwilliger Zeuge eines Überfalls geworden. Da die Diebe damit beschäftigt waren, die stattliche Anzahle ihrer Verfolger abzuschütteln, verlängerte sich Jeans Lebenserwartung einstweilig. Häuserblocks, Straßenzüge und Plätze flogen an Jean vorbei. Die Flucht geriet ins Stocken, als eine Obsthändlerin mit ihrem warenbepackten Karren die Gasse versperrte. Rüde wurde die Frau beiseite gestoßen. Ihr Wagen kippte seitlich und das Obst rollte die Straße entlang. Ohne inne zu halten liefen die Männer mit dem Jungen weiter. Unter den glatten Sohlen ihrer Stiefel verwandelte sich das zertretene Obst in rutschigen Matsch. Mehrere der zerquetschten Aprikosen wurden schließlich Jeans Peiniger zum Verhängnis. Der schwarz gekleidete Mann geriet aus dem Gleichgewicht. Bei seinem Kampf um Balance lockerte sich der stahlharte Griff seiner Riesenpranken um Jeans Oberarm. Jean fühlte, dass seine einzige Chance zur Flucht gekommen war. Er wand sich hin und her. Trat und hämmerte auf den Riesen ein. Der rutschige Boden und der sich windende Junge waren zuviel auf einmal. Der Griff lockerte sich ganz. Jean versuchte den Sprung in die Freiheit. Noch nie hatte sein Herz derart gerast. Wieder packten ihn grobe Hände und rissen ihn zurück. Jean strampelte und trat blindlings um sich. Zu seinem Glück erwischte er eine Stelle, die wirklich weh tat. Auch wenn die Tritte von einem schmächtigen Jungen kamen. Der Kampf endete für David siegreich und Goliath ging wimmernd in die Hocke. Jean hörte schon das Rufen der herannahenden Verfolger, als er über Mauervorsprung, Fenstersims und Schuppendach nach oben kletterte. Er warf einen letzten Blick zurück, auf den Mann unter sich. "Ich habe mir dein Gesicht genau eingeprägt, Kleiner. Du kannst mir nicht entkommen!" rief dieser hoch und grinste bei diesem Versprechen wie eine Scheißhausratte. Dann verschwand er mit den anderen Ganoven um die Häuserecke. Maries Miene wurde kalt. "Wie konntest du nur diesem ... deinem Vater erlauben euer Vermögen wiederholt aufs Spiel zu setzen?" "Mein Vater ist mir keine Rechenschaft schuldig. Ich verlange, dass du nie wieder derart über ihn redest!" Athos Stimme klang hart und messerscharf. Anerzogener Respekt vor der Autorität des Vaters sprach aus ihm. Maries Nasenflügel bebten vor Wut. Fünf Jahre! Fünf vergeudete Jahre, in denen sie ihre Fänge nach anderen potentiellen Ehemännern hätte ausstrecken können. "Heirate mich Marie," bat Athos erneut. "Wir werden alles wieder aufbauen. Noch besitzt meine Familie genug Grund und Boden, der verpachtet werden kann. In den letzten Jahren wurde die Landwirtschaft revolutionär verändert. Ich habe alles darüber gelesen. Ich überzeuge unsere Pächter von den neuen Methoden und wir könnten die doppelte Menge an Ernte einbringen. Mit etwas Geduld wird unser Vermögen zurück kommen." Es spielte gar keine Rolle, was er sagte, denn Marie hörte nicht zu. Marie schaffte es, sich irgendwo im Kopf den fehlenden Teil der Unterhaltung selbst zu liefern. Athos bot alles, was sich eine Frau wünschen konnte, nur eben keinen großen Reichtum. Und Reichtum war das, was Marie wollte. "Mit etwas Geduld? Mit etwas Geduld? Ich bin fast 30. Ich habe keine Geduld mehr." Marie hatte sich erhoben und funkelte auf Athos hinab. "Ich bin der Gesellschaft einen bestimmten Status meiner Person schuldig. Dieses Haus ist nur gemietet. Gemietet! Das Vermögen meines verstobenen Mannes schwindet zunehmend und ..." Athos erhob sich ruhig, ging zur Tür und schloss diese, ohne sich noch einmal umzusehen. Er wartete auf seine Reaktion, wie jemand der sich den Zeh gestoßen hat und eine Sekunde Gnadenfrist hat, bevor der Schmerz einsetzt. Als sie kam, war sie so vielfältig und unterschiedlich, dass zu seiner Verblüffung Lachen daraus wurde. Athos lachte. Lachte über Menschen, deren Leben von eine Nichtigkeit wie Geld bestimmte wurde. Und er war sich sicher, Aramis hätte mit ihm gelacht. Athos hatte nie viel von den Lebensgrundsätzen und Verhaltensregeln gehalten, die für seinen Stand üblich waren. Er war ein Ein-Mann-Feudalsystem. Nachdenklich schlenderte er zu seinem Haus zurück. Fensterläden öffneten sich ringsum, um die zunehmende Abendkühle herein zu lassen. In der Ferne nahm er Porthos wahr, der auf ihn zusteuerte. "Aramis ist kein verdammter Zwitter. " Porthos blieb drohend vor Athos stehen. Sein warmer Atem blies ihm ins Gesicht. "Ich warne dich! Wehe du behauptest noch einmal so etwas in der Art." Athos beobachtete faziniert Porthos gewaltiger Zeigefinger, der beharrlich vor seinem Gesicht schwang. "Ist schon gut Porthos. Ich wollte Aramis nicht abwerten." "Wenn Aramis dich gehört hätte ..... Er hat schon Leute wegen viel weniger zum Duell gefordert." "Selbst wenn Aramis ein ...... , ich sagte, wenn er es wäre, nicht das er es ist. Nimm deinen Zeigefinger aus meinem Gesicht Porthos! Hat das nichts zu sagen. Aramis ist mir als Freund genauso wertvoll wie dir." Porthos beruhigte sich wieder. Ein paar Kollegen kamen vorbei und grüßten. Beide wendeten ihr Gespräch wieder alltäglichen Dingen zu. "... und ich sage noch... Ist das nicht Jean, dort oben? JEAN?" Porthos gewaltige Stimme halte durch die Gasse. "Komm da runter, mein Junge! Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?" Langsam kletterte Jean vom Dach. Beide Männer betrachteten das von Schürfwunden und Dreck bedeckte Gesicht des Jungen. Atemlos wiederholte Jean die vergangenen Erlebnisse. "Was hältst du davon?" fragte Porthos an Athos gewandt. "Mhm, wenn es sich um die Gruppe Diebe handelt, die ich vermute, dann haben wir mehr Ärger, als uns lieb ist." "Also hast du auch an sie gedacht." "Wovon redet ihr?" fragte Jean ungeduldig. "Die Überfälle, die sich in letzter Zeit angehäuft haben, wurden von ein und der selben Gruppe durchgeführt," erklärte Athos. "Sie gehen direkt und brutal vor. Sie sind einfach zu viele und zu gut organisiert, um sie so ohne weiteres festnehmen zu können. Die Köpfe der Gruppe scheinen den gesamten Untergrund zu kontrollieren. Das macht sie so gefährlich. Und das macht es besonders gefährlich für dich." "Wir bringen dich am besten zu Kapitän D'Treville," sagte Porthos und schob Jean sanft in die entsprechende Richtung. Der Kapitän wandte ihnen den Rücken zu und sah nachdenklich aus dem Fenster. Die Hände lagen ruhig auf dem Rücken verschränkt. Das Rot der Abendsonne hob seine Silhouette goldschwarz hervor. "Das gefällt mir nicht." Er wandte sich um und betrachtete den Jungen vor sich. Die Wangen waren dreckig und zerkratzt. Die Oberlippe aufgeplatzt und von der Nase zog sich ein getrockneter Blutfaden zum Mund. D'Treville befahl Porthos Wasser und Verbandsmaterial zu besorgen. "Wir und Richelieus Männer können sie nicht festnehmen. Wenn wir versuchen sie zu verhaften, merken wir, dass es keinerlei Beweise gibt." "Das Schlimme ist, dass diese Typen ganz Paris als Versteck nutzen. Hier gibt es wahrscheinlich keinen Platz, an dem Jean sicher ist," warf Athos ein. "Das denke ich auch. Jean wird Paris verlassen müssen." "Ich gehe nirgendwo hin. Ich bleibe bei D'Artagnan." D'Treville drückte den aufspringenden Jungen sanft auf den Stuhl zurück. "Tot bist du D'Artagnan bestimmt kein guter Freund, mein Junge. Es tut mir leid, dich als kleines Kind behandeln zu müssen, aber du wirst Paris verlassen!" Jean kannte Kapitän D'Treville nicht einmal annähernd. Seine Begegnungen mit ihm konnte er an einer Hand abzählen, aber er spürte genau, dass hier die Unterredung beendet war und Widerworte nicht geduldet wurden. Während die Pariser Bevölkerung sagte, man müsse sie von den Gaunern befreien! Und Richelieus Garde sagte, das sei schon richtig, aber nicht so leicht!. Und D'Trevilles Musketiere sagten, sie könnten es besser! Und der König gar nichts sagte, handelte Kapitän D'Treville und schickte Jean noch am selben Abend aus der Hauptstadt. Zusätzlich sendete er seine Männer als Beobachtungsposten durch Paris und an den Hauptausgängen der Stadt. *** III. Es war verdammt früh für einen Montagmorgen. Gemeinhin betrachtete D'Artagnan das frühe Aufstehen als Verbrechen. Er reckte sich genüsslich und scheuchte mit seinen Schritten einen Schwarm Tauben auf. Bald würden die ersten Sonnenstrahlen die angenehme Kühle der Nacht vertreiben. Sehnsuchtsvoll dachte er an seine 3 Wochen Urlaub zurück. In seiner Satteltasche befanden sich Constances liebevoll zurecht gemachten Brote. Als frischer Ehemann hatte man noch ein Anrecht auf abgeschnittene Krusten. Noch wusste er nicht, dass es in einem Jahr nur noch am Hochzeitstag abgeschnittene Krusten geben würde. Wenn es die Woche über ein und den selben Käse gibt, dann ist der Ehealltag eingezogen. Er sprang die Treppenstufen hoch, drehte sich elegant um die eigene Achse und begrüßte den kauenden Porthos. Porthos schlang die letzten Bissen herunter und eilte zu dem Neuankömmling, um diesen stürmisch zu begrüßen. D'Artagnan spürte langsam, wie sich sein Rippenkostüm verengte und die Luft aus den Lungen wich. Lächelnd befreite er sich und beantwortete alle Fragen nach seinem Eheleben. Na, fast alle. Beide Musketiere betraten Kapitän D'Trevilles Büro. Von den großen, auf Hochglanz polierten Bodenfliesen glitt der Blick zu dem riesigen Schreibtisch vor der Fensterfront. Doch nicht der Kapitän saß unnahbar auf dem Sessel, sondern Athos. Er hatte sich einem anderen Musketier zugewandt und unterhielt sich mit diesem. Bei ihrem Eintreten drehte er sich ihnen zu. Im hellen Morgenlicht stachen in seinem vertrauten Gesicht, deformierte Spuren deutlich hervor. Von zartem Blau bis zu dunklem Lila, zog sich ein großer Halbkreis um das linke Auge. Die Unterlippe hatte deutlichen Schaden an einem Fausthieb genommen. "Athos, was ist denn mit dir passiert?" fragte D'Artagnan verwundert. Athos lächelte schief bei dem Hinweis auf seine Blessuren. "Oh, das war ich," antwortete Porthos ruhig an seiner Stelle. "Warum schlägst du Athos?" D'Artagnan war restlos verwirrt, bereit, sich nie wieder in seinem Leben Urlaub zu nehmen. "Athos verlässt uns. Wusstest du das? Er muss auch KURZ wegen FAMILIENANGELEGENHEITEN NACH HAUSE." "Bonjour D'Artagnan! Ich geh nicht KURZ nach Hause. Ich verlasse die Musketiere für immer," antwortet Athos betrübt, aber mit gnadenloser Ruhe. "WAS?" "Es geht nicht anders. Ich habe keine andere Wahl." "Und genau deshalb habe ich ihn geschlagen," bestätigte Porthos. "Er hat sich nicht einmal gewehrt." "Das war aber heftig," meinte D'Artagnan. "Er musste die Prügel für Aramis mit einstecken," antwortete Porthos mit einem Schulterzucken. "Ich nehme Porthos Schläge als Kompliment. So und nun teile ich Euch für den Tag ein. Kapitän D'Treville ist krank und bat mich, seine Vertretung zu übernehmen," Athos Lächeln verstärkte sich. "Jawohl Kapitän!" D'Artagnans Hacken knallten auf einander. Athos bewegte seine vom Schreiben taube Finger. Für die Eskorte des Königs, bei dessen Jagd war gesorgt. Die Einsätze für den nächsten Tag hatte er geplant. Bernard stand neben ihm und nahm die Liste in Empfang. "Wir müssen uns noch um die Musketieranwärter kümmern, welche ein zusätzliches Training brauchen," wandte sich Athos an den Musketier neben ihm. "Ich habe überlegt, ob wir ein paar neue Degengriffe in das Trainingprogramm mit einführen. Ich habe alles in einem Buch gelesen." "Die Liste mit den Namen der Musketieranwärter müsste in einem Umschlag in einem der Schubfächer liegen. Ich kümmere mich derweil um dein Pferd ...ähm Kapitän," sagte Bernard und wandte sich der Tür zu. Athos grinste zufrieden. Die Position eines Kapitäns brachte erhebliche Vorteile mit sich. In der vorletzten Schublade fand er den Brief und lehnte sich genüsslich im Sessel zurück, um die Liste zu studieren. Doch nicht die Liste hielt er in den Händen. Er las ein Antwortschreiben an Kapitän D'Treville, in dem die Ankunft von Jean bestätigt wurde. Athos richtete sich auf. Er studierte jeden einzelnen Buchstaben. Jede charakteristische Eigenart in der Schreibweise des Adressanten. Es gab keinen Zweifel. Diese Schrift war von Aramis. Bernard stand in der Sonne, im gedanklichen Nirgendwo verschwunden und hielt Athos Pferd am Halfter. Die Sonne brannte heiß auf seinen Rücken. Er schreckte auf, als Athos abrupt die Tür aufriss und ihm das Pferd abnahm. "Ich mache dich hiermit zum Stellvertreter des Kapitän, Bernard," sagte er, während er schon vom Hof ritt. Der aufwirbelnde Staub brannte in Bernards Lungen, während er versuchte die gesagten Worte zu begreifen. Hilflos ließ er die Schultern hängen. Er war Musketier geworden, damit andere ihm sagen konnten, was er machen sollte. Bernard war nach Weinen zumute. "In Richtung Westen sind sie geritten?" fragte D'Artagnan Porthos. "Ja, zehn dieser schwarzvermummten Typen sind vor einer Stunde durchs Stadttor geritten. Und wenn Alan nicht noch einen Abstecher nach Hause gemacht hätte, dann hätten wir früher Bescheid gewusst," ärgerte sich Porthos. "Wir können immer noch ihrer Spur folgen. Du reitest jetzt zu Athos und holst ihn. Zum Teufel mit der Vertretung. Und ich besorge Proviant." Porthos sah dem Freund nach. Am Ende der Straße stand ein für Porthos nicht unbekanntes Gasthaus. Er hielt den davoneilenden Knecht auf. "Sag bitte deinem Wirt Bescheid, dass Porthos, der Musketier etwas Proviant für eine Reise braucht. Hurtig, hurtig mein Junge!" scheuchte er ihn zurück. Wenig später trat der Knecht mit einem Paket unter dem Arm nach draußen. "Und was hat er gesagt?" fragte Porthos neugierig. "Seine Worte lauteten: O nein! Das hat mir gerade noch gefehlt." Porthos strahlte. "Ich wusste doch, er kennt mich noch." D'Artagnan stürmte ohne zu klopfen in D'Trevilles Büro. Auf einem Stuhl abseits des Schreibtisches saß einsam Bernard und sah ihm hilflos entgegen. Er hatte es nicht gewagt, auf Trevilles heiligem Stuhl platz zu nehmen. "Wo ist Athos?" "Ich weiß es nicht. Er ist einfach davon geritten." Die Tür knallte zu und Bernard war wieder allein. Porthos und D'Artagnan hatte keine Zeit mehr Athos zu suchen. Die Sorge, dass die berüchtigte Diebesgruppe Jeans Verfolgung aufgenommen hatte, trieb sie zum Aufbruch. Mit fast 2 Stunden Verspätung jagten die beiden den zehn Männern in Richtung Atlantikküste hinterher. Athos stürmte die Treppe hinunter. Sein Gesicht brannte vor Wut über das, was er eben erfahren hatte. Den Brief hielt er immer noch zerknüllt in den Händen. Die Tür erzitterte von seinem Ausbruch. Er knallte die Stiefelfersen in die schweißnassen Flanken seines Pferdes und lenkte es in Richtung Bretagne. Vom Schlafzimmerfenster aus beobachtete Kapitän D'Treville seinen Musketier besorgt. Die kommenden Ereignisse wollte er nicht einmal vorausahnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)