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Stumme Sehnsucht

von

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Verloschen

Sie war gewarnt worden. Die Schmerzen waren da gewesen, aber sie hatte sie ignoriert.

Sie war sogar sehr deutlich gewarnt worden, doch wie bei den ersten Symptomen der Tuberkuloseinfektion hatte sie die Wahrungen ihres Körpers missachtet.
 

Jetzt stand ihr Körper in Flammen. Oscar spürte, wie tief in ihrem Inneren Schmerzen wüteten, als fließe flüssige Lava durch ihre Venen. Sie hatten gerade die Pont St. Michel verlassen, als der erste Krampf ihren Körper erschütterte. Der Schmerz kam plötzlich und heftig. Es war, als hätte man ein Stück heißes Eisen durch ihr Rückrat getrieben. Jetzt konnte sie die leichten Schmerzen der vergangen Tage nicht mehr ignorieren und bekam Angst; schreckliche Angst; fast Panik. Was war das Ungewisse, dass in ihrem Körper wütete und sie quälte?

Die Gestalt der Anderen vor ihr begann zu verschwimmen. Die Schmerzintervalle wurden heftiger und ließen das Gefühl von Ohnmacht zurück. Sie krümmte sich und begann flach zu atmen, um die Schlieren vor ihren Augen zu vertreiben. Abgesehen von einer leichten Übelkeit hatte sie sich seit dem Morgen gut gefühlt. Wieder marterte eine neue Schmerzwelle ihren Körper, schrecklicher als alle anderen. Oscar brannte, die Luft fehlte zum Atmen, der Schmerz raubte ihr die Sinne. Ihr Körper sackte zusammen und Dunkelheit umfing sie.
 

"OSCAR, OSCAR," Die Panik begann den Klang von André's Stimme zu verzerren und raubte ihm jeden klaren Gedanken. Verzweifelt fiel er vor ihr auf die Knie und schüttelte er die leblos liegende Gestalt im Schnee. Vorsichtig nahm er sie in den Arm und beugte sich über sie, um Herzschlag und Atem zu fühlen. Schwach schlug der Puls in ihrer Halsbeuge, schlaff ruhte ihr Körper an seiner Brust, das Gesicht farblos, vor Schmerzen verzehrt.

"Was ist mit ihr?" Ratlos kniete sich Alan nieder, um die reglose Gestalt vor dem Wind zu schützen. Girodelle und Bernard versuchten ihm über die Schultern zu blicken. Noch sahen sie nicht das Blut, dass unter Oscar den Schnee durchtränkte. Hilfesuchend sah André zu ihnen auf, als könnte er in ihren Augen eine Antwort finden.

"Ich weiß es nicht. Eben ging es ihr noch gut. Der Puls schlägt nur ganz schwach." Alle Farbe war aus seinen Gesicht gewichen. Er tätschelte vorsichtig Oscar's Wangen. Sie wimmerte leise.

"TUT DOCH IRGENDETWAS!" André schrie gegen den Sturm, gegen die Angst an. "Irgendetwas!" Seine Stimmbänder gerieten in Panik.

"Seht nur, ihre Lider flattern! Sie erwacht." Oscar's regte sich. Mit ihren Sinnen kehrten Schmerz und Kälte zurück. Langsam öffnete sie die Augen und sah in drei besorgte Gesichter.

"Oscar was ist mit dir?"

"Ich weiß es nicht?" Das Sprechen fiel ihr schwer. Ihre Lippen fühlten sich taub an. Die Kälte hatte sie blaugefärbt.

André beugte sich näher, um sie verstehen zu können. "Es geht mir gleich besser. Lass mich aufstehen!"

...

"Oscar?"

Der Wille aufzustehen war da, aber das Gehirn sendete nicht den entsprechenden Befehl an die zutreffenden Glieder weiter.

"Du musst mir helfen!"

Andrè zog ihren Oberkörper vorsichtig hoch. Heftiges Schwindelgefühl erfasste sie und ihr Körper gehorchte weiterhin nicht ihren Anweisungen. André versuchte sie hochzuheben, aber seine kranke Schulter konnte das Gewicht ihres Körpers nicht heben.

"Lass!" Alan nahm behutsam Oscar in seine Arme und hob sie hoch.

"Nein!"

Er schenkte ihr ein spöttisches Lächeln. "Sei, nicht albern, Oscar. Du könntest dem männlichen Geschlecht wenigstens einmal erlauben, sich als Retter aufzuspielen. Wir bringen dich jetzt zu einem Arzt," sagte er und sah auf den Boden. Das Lächeln blieb, aber der Reste des Gesichtes wollte plötzlich nichts mehr damit zu tun haben. Auch die Anderen sahen auf den rotgefärbten Schnee und ihre Gesichtszüge entglitten ihnen. Alan's lachte gekünstelt und eilte auf die Kutsche zu. Der schlaffe Arm seiner zerbrechlichen Last schlug im Gleichschritt gegen sein Bein. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust. Er konnte den blutgetränkten Mantel fühlen. Endlich hatten sie die Kutsche erreicht.

Stirb nicht, bitte stirb nicht, Oscar, flehte Andrè stumm. Warum nur versteckst du dich, wenn es dir Schlecht geht?

"Was ist nur mit ihr?" fragte Girodelle, während er sich neben André niederließ.

"Ich weiß es nicht." André schüttelte unverständliche den Kopf und beobachte angespannt Oscar's Gesichtszüge.

"Sie hat immer wieder betont, dass es ihr gut ginge."

"In der Rue de l'École de Mèdiccine befindet sich ein Hospital. Es ist liegt nur wenige Querstraßen von hier entfernt." erklärte Bernard. "Kutscher, in die Rue de l'Ècole de Mèdiccine, Schnell!"

Der Kutscher schnalzte mit der Zunge laut. Sie spürten, wie ein Ruck durch die Kutsche ging, als die großen Räder sich in Bewegung setzten und über das grobe Kopfsteinpflaster rollten.
 

Der weißgetünchte Gang des Hospitals roch nach süßlicher Fäulnis, vermischt mit scharfen und beißenden Gerüchen. Das Inventar und der Boden erschienen sauber, wenn auch abgenutzt. Andächtige Stille erfüllte das Gebäude. Viel Zeit war vergangen. Das Muster der Fußbodenfliesen hatte sich fest in das Gedächtnis von André gebrannt. Der zuständige Arzt trat auf den Flur und sah sie erwartungsvoll an. "Wer der Monsieurs ist der Ehegatte der jungen Dame?"

Einer trat vor, einer hielt sich raus, zwei seufzten innerlich.

"Wie geht es ihr?" fragte André und wurde vom Arzt beiseite gezogen. Leise berichtete er, was nur für André's Ohren bestimmt war. Seine Freunde könnten nicht hören, was gesprochen wurde, aber sie sahen, wie André die Gesichtszüge aus dem Gesicht rutschten. "Kann ich zu ihr?" Der Arzt bejahrte und André stürmte davon.

Die von Falten umrandeten Augen richten sich auf die Zurückgeblieben. "Wird sie wieder gesund?" fragte Alan.

"Nun, sie wird sich erholen." Der Arzt wurde nachdenklich. "Es geht mich eigentlich nichts an, aber sagt, warum trägt die Dame Männerkleidung?" Betretendes Schweigen folgte.

"Nun ja ..." begann Girodelle zögernd. "Sie ist ... exzentrisch." Der Arzt hob eine Augenbraue und sah zu dem Teil Kleid, dass Girodelle's Umhang nicht verhüllte. "Exzentrisch? Wie ist Euer Name, Monsieur?"

"Victor Clement de Girodelle. Graf Victor Clement de Girodelle," sagte Girodelle vorsichtig. "Es ist ein stolzer Name," fügte er hinzu und hielt in den Zügen seines Gegenübers nach Spott aus schau.

"Wie Ihr meint," erwiderte der Arzt unverbindlich. "Ihr habt Euch einen schlimmen Infektion zugezogen und ansehnliche Spuren im Gesicht, wollt Ihr mir folgen, Graf de Girodelle?"

"Danke" Girodelle folgte ihm.

"Und in Zukunft, Monsieur, rate ich Euch, ein etwas weniger luftiges Gewand bei diesen Temperaturen zu tragen."
 

André betrat Oscar's Krankenzimmer. Eine Helferin räumte gerade die letzten Utensilien der Untersuchung zusammen. Ihre weiße Schürze war voller Blutflecke. Auch an den weißen Unterarmen klebten noch Reste von Blut und Schleim, die sie nicht richtig abgewaschen hatte und ihr schwerer Leib umwehte der Geruch nach Schweiß. Mit den vorsichtigen Schritten übermüdeter alter Frauen tappte sie aus dem Zimmer. Oscar saß wach in den Kissen gelehnt. Ihr Gesicht war noch immer weiß vor Erschöpfung. Sie hatte inzwischen das frühe Stadium der Trauer hinter sich gebracht und jene Stille Lagune der Resignation erreicht, in der die Stimme gelassen klingt, das Gebärden ruhig und entspannt wirkt. Nur der glanzlose Ausdruck in ihren Augen verriet das innere Inferno. Wortlos sah sie André an. Das Schweigen folgte ihm, als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, einen Stuhl näher heranzog und sich zu ihr an das Bett setzte. Ihre Augen suchten ihn. Er wusste, dass Oscar keine Fragen, keine Erklärungen und vor allem kein Mitleid wollte. Sie würde ihm ihr Leid mitteilen, aber das WIE und den Zeitpunkt bestimmte sie. So stand die Stille als stummer Begleiter zwischen ihnen.

Gibst du dir die Schuld, Oscar?< dachte er gequält. >Tu, dies nicht.< Er nahm ihre kalten Finger zwischen seine warmen Hände und ließ sich die Einzelheiten des ärztlichen Ergebnis durch den Kopf gehen; staunend und überrascht. Er fing an der Perspektiven ihrer gemeinsamen Zukunft einen neuen Wahrscheinlichkeitsfaktor hinzu zurechnen. Zwei und zwei ergaben jetzt drei.

>Es starb, bevor es zu leben begann,< widersprach Oscar ihm stumm und strich aus ihrer Rechnung den Überraschungsadditiv. Es trennten sie nur noch Tage von ihrem fünfunddreißigste Lebensjahr und der Natur waren Grenzen gesetzt. In diesem Jahrhundert galt sie als alt. Oscar holte Luft, um das Schweigen zu beenden, aber die Schatten der Gewohnheit waren zu groß. Sie zu brechen hätte einen fundamentalen Faktor ihres Wesens verletzt. So entwisch die Luft, ohne eine Chance bekommen zu haben, ein zitatfähiger Ausspruch zu werden. Der Befund des Arztes lag ihr bleischwer im Magen, wie zu fettes Essen, dass sich weigert zu verdauen. Wie konnte sie nur die Anzeichen übersehen? Fast 2 Monate lang wuchs ein neues Leben in ihrem Körper heran und sie dachte bestenfalls an eine Magenverstimmung. Sie hatte Medizin mit etwas Opium versetzt bekommen. Ihr Körper fühlte sich seltsam losgelöst an.

Viele Jahre lang hatte André Zeit gehabt zu lernen Oscar's Gefühle hinter ihren wortlose Rückzüge zu deuten, zwischen den Worten, bzw. Nichtworten zu lesen. Er bekam es langsam mit der Angst zu tun. Diese Stimmung kannte er. Wenn metaphorische Wolken aus Kummer und Trauer um Oscar schwebten, dann konnte es gut sein, dass sie beschloss, für Gefühle sei kein Platz in ihrem Leben. Als sie nach dem Bruch zu von Fersen die Ansicht vertrat, ihr Leben neu ordnen zu müssen, hieß es für André zu gehen. Was wenn sie wieder entschloss, dass Gefühle nicht zu ihrem Leben gehörten?

"Mein Körper verrät mich wieder." Andrè hob überrascht das Gesicht, als er sie sprechen hörte. Ihre Stimmung hatte sich verdüstert. Dunkel Wolken umschatteten Oscar's Antlitz, ihr Blick wanderte zum Fenster. Es hatte aufgehört zu Schneien und der Dreck auf den Straßen und Gassen begann seine Vorherrschaft zurückzugewinnen.

"Nein, dass tut er nicht." sagte André ruhig. Verständnis und Einfühlungsvermögen, waren schon immer seine größten Charakterstärken gewesen. "Oscar, sieh nur, was du durchmachen musstest. Wie hätte dein Körper nach den Strapazen der letzten Wochen die Kraft finden sollen. Er brauchte sie für dich. Auch dir sind Grenzen gesetzt."

Schweigend sagte er zu sich: >Im Gegenteil; dass Leben hat dir bewiesen, dass es auch bei dir keine Ausnahmen macht. Du, die du immer versucht hast, dein Geschlecht zu verraten. Du bist eine Frau, so vollkommen, wie eine Frau sein kann, auch wenn du es nicht wahrhaben willst.< Unsicher setzte er an. "Du beschließt doch nicht wieder, dass sich unsere Wege trennen sollten?"

"Sei nicht albern, Andrè," widersprach sie ärgerlich. "Ich war eine Närrin, dass ich die ganzen Jahre deine Liebe nicht erkannt habe. Wir haben soviel Zeit verschenkt, diesen Fehler begehe ich nicht noch einmal."

Zufrieden nagte André an seiner Unterlippe. Er lehnte sich innerlich zurück, legte metaphorisch seine mentalen Beine hoch. Vor ihnen lagen noch so viele Jahre und neuer Zuwachs ...? Er grinste lüstern. Er war bereit seinen Teil dazu beizutragen, Tag und Nacht, wenn nötig. In Sonderschichten, wenn es sein musste.
 

***



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2016-09-22T21:02:37+00:00 22.09.2016 23:02
Ha, ha, ha... Sonderschichten... ich hau mich weg! Natürlich ist Andre sofort bereit, das ultimative “Opfer“ für seine Oscar zu bringen. XD Ich mag diesen wohl portionierten und überdeutlichen Humor, den ihr immer wieder galant einzusetzen wisst. Vor allem die letzten vorausgegangenen Szenen. Alain und Girodel - einfach köstlich!

Und gleichfalls wieder diese tiefsinnige Philosophie. Wie sehr ich mir doch wünsche, dass Andre seine zurückgehalten Gedanken zum Thema ihres Körpers doch laut aussprechen möge...
Von: abgemeldet
2004-02-14T19:49:50+00:00 14.02.2004 20:49
Ein sehr schönes, stimmungsvolles Kapitel ^-^
Von:  Kajuschka
2004-02-14T18:09:31+00:00 14.02.2004 19:09
Dazu muss man nicht viel sagen. Einfach ein super Kapitel. Schöööön! Geht die Story denn noch weiter??? Schön wär's ja ^_^


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