Stumme Sehnsucht von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 26: Entscheidung ------------------------ Alan wirbelte um seine eigenen Achse, seine Faust traf einen der Männer, sein Fuß mit der Sicherheit eines Chirurgen den Schritt des Zweiten. Sechs Augenpaare tränten voller Mitgefühl. Angestachelt in ihrer Wut rannte einer auf Oscar zu. Diese trat blitzschnell zurück, streckte das rechte Bein aus und brachte ihren Angreifer ins Schleudern. 190 Pfund rohe Masse verloren das Gleichgewicht und prallten gegen einen seiner Kameraden. Nach dieser förmlichen Einleitung führte eins zum anderen und innerhalb kürzester Zeit waren alle Anwesenden am Kampf beteiligt. Zwei Stockwerke über ihnen schlossen Fensterläden und dessen Bewohner ihre Augen und Ohren. Ein einsamer Passant hörte das Ächzen und Stöhnen, das Knacken von dünnen Knochen und suchte heillos die Flucht in einer anderen Gasse. Die Prügelei endete je, als Wachen des nahe gelegenen Königspalast mit ihren Piken dazwischen gingen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Pöbel breit's erheblich an Lust verloren und so suchten sie schnell das Weite, als die uniformierten Männer auftauchten. Wenige Augenblicke später war es wieder still in der kleinen Gasse. Lediglich die Bellsuren, welche Alan's Gesicht zierten, kündete von dem Kampf, welcher vor wenigen Minuten gewütet hatte. Die zerschlagene Kraterlandschaft seines Gesichtes erinnerte an die heroischen Versuche, Oscar vor dem allgemeinen Kampfgeschehen und dessen Folgen zu schützen. "Lass ihn los!" Alan hielt sein letztes Opfer noch immer am Kragen gepackt, um ab und zuschlagen zu können. Alan's Knie traf noch ein letztes Mal mit anatomischer Genauigkeit, dann ließ er ihn los. Der Mann ergriff die Flucht. Die Schritte des Flüchtenden waren verklungen und überließen die akustische Szene dem weit entfernten Stimmengewirr und Vogelgezwitscher. "Mistkerle!" Alan betastete vorsichtig seine ramponierte Nase und verwischte den Dreck mit dem Blut in seinem Gesicht. Oscar sah betreten zu ihm auf und reichte ihm schuldbewusst ihr Taschentuch. Auch André hatte sie versucht während einer Schlägerei, die sie begonnen hatte zu schützen, ohne das sie diesen Umstand je anerkannt und gewürdigt hatte. Wie viele Jahre lag dies zurück? "Es tut mir leid, Alan. Es ist meine Schuld. Sie wollten mich treffen." "Ach, mach dir keine Sorgen, Oberst. Sie waren auf Streit aus. Wie gesagt, der Hass gärt schon zu lange in ihnen." "Es ist nicht vorbei, nicht wahr?" fragte Oscar leise. Die Tulierien kamen langsam in Sicht. Der Königspalast erstreckte sich am Seine-Ufer entlang. Die vergoldeten Speerspitzen des hohen Eisenzauns, welcher das Gelände umschloss, glänzten in der aufgehenden Sonne. Die Blau- und Grautöne der Morgendämmerungen verwandelten sich in einen breiten bronzenen Strom. "Was meinst du damit?" Nachdenklich kratzte sich Alan am Kinn. Es klang nach einem Stachelschwein, dass durch Stechginsterbüsche robbte. "Die Menschen, Frankreich sind durchtränkt von Hass, Unzufriedenheit und Gewalt, gegen die Regierung und den Adel." "Sie haben auch allen Grund dazu. Viel zu lange wurden sie unterdrückt und der Sturm auf die Bastille war nur die Quintessenz eines unterdrückten Volkes unter einer verschwenderischen, unfähigen Regierung. " "Der Sturm auf die Bastille ist kein Resümee, des Ancien Régime, es ist der Anfang. Der Anfang für eine Welle der Gewalt, die wir uns nicht einmal mehr vorstellen können." Alles beginnt irgendwo und irgendwie, obwohl die Frage nach dem Anfang immer Probleme aufwirft, wie beispielsweise die Frage, was zu erst da war; das Huhn oder das Ei und wo schlagen Autoren von Wörterbüchern die richtige Schreibweise nach? Aber wann begann die Französische Revolution? Sicher nicht erst mit jenem bedeutungsvollem Tag, als sich das Volk im Ballhaus zum Schwur erhob oder dem Sturm auf die Bastille. War es die Halsbandaffäre, die Königin mit ihrer Verschwendungssucht? Waren es die Tausenden zwangsrekurrierten Arbeiter, welche Ludwig XIV gigantisches Bauprojekt zum Opfer fielen, als dieser Versailles zur Hauptresidenz ausbauen ließ? War es der strenge Winter von 1707, der die Ernte des kommenden Jahres zunichte machte und Frankreich in den Hungertod trieb, während der König seinen Feldzug führte? Das Blut gärt, seit sich Einzelne anmaßten Herrschern aller zu sein, Menschen unterdrückt werden und sich im Unrecht fühlen. Viel zu früh vergessen die Leute, dass in den ältesten aller Geschichten früher oder später Blut fließt. Später nehmen sie zwar das Blut heraus, weil sie glauben, dass es für die Schulbücher minderjähriger Schüler geeigneter sei, aber das Blut bleibt. Frankreichs Revolution war aus Blut entstanden und Blut sollte noch fließen. Oscar ließ ihren Blick über den königlichen Palast schweifen. Wie lange würde der König sich noch halten können, vom Volk gezwungen hinter hohen Eisengittern zu leben. Repräsentant seiner Königswürde, wenn er ab und zu auf dem Balkon stand, ein besorgt lächelndes Abbild königlicher Untauglichkeit. Ihre Zukunft würde weiterhin ungewiss bleiben, aber ihr Entschluss stand fest. Sie würde nicht in Frankreich bleiben. Frankreich wurde geformt und gestaltet vom aufsteigende Bürgerturm, aber für sie und André hatte es keinen Platz mehr. Robespierres Intrigen hatten ihre Abneigung gegen Frankreich geschürt und der Hass, welcher ihnen gerade entgegen gebracht wurde, nur weil sie scheinbar einen anderen Stand verkörperte, hatte diese Antipathie nicht gerade gemindert. Alan räusperte sich. Während sein blutverschmiertes Gesicht zu einem erneuten Grinsen ansetzte, holte er Luft, für weitere Ausführungen, in Bezug drauf, welche Vorteile des Militärlebens sie aufgab, um sie gegen die Freuden am heimischen Herd zu tauschen. Sein Blick fing Oscar's Gesichtsausdruck auf und sein Atem entwisch ihm zischend. Mit dem neuen Tag erwachte auch André aus seiner Bewusstlosigkeit. Das goldene Licht der aufgehenden Sonne floss langsam über die Dächer Paris und begann seinen lautlosen Kampf gegen die Nacht. André glitt in die Welt des Bewusstseins ruckartig, unter Schmerzen und mit dem deutlichen Gefühl nach Übelkeit. Die Schmerzen im linken Schulterblatt zerrissen die fieberhaften Traumbilder und weckten ihn schlagartig. Es war, als würden brennende Widerhacken im wunden Fleisch wühlen und sich immer tiefer graben. Bruchteile der vergangenen Nacht kamen ihm in den Sinn. Der Weg war lang gewesen. Der Kellergang eng, niedrig und dreckig. Irgendwann hatten ihn seine Sinne wieder verlassen. Er war erst wieder im Bett erwacht, allein mit sich und seinen Schmerzen. Gleich darauf umhüllte ihn wieder die gnadvolle Schwärze des Schlafes und ließ ihn vergessen. Vorsichtig sah er sich um. Das Zimmer war klein und lag in einem etwas baufälligerem Wohnblock. Jemand hatte die begrenzte Wohnfläche mit aller Gewalt in eine gemütliche Unterkunft verwandeln wollen. Überall lagen Dekorstücke. Die Fenster waren mit Gardinen aus üppigen Spitzenvolant behangen. Ein Liebhaber dieser Details musste Gelegenheit bekommen haben, sich hier richtig auszutoben, bis man ihn überwältigen und aufhalten konnte. Panik stieg in ihm auf, weil er nicht wusste, wo sich Oscar aufhielt. Auch sonst waren keine Anzeichen von Leben im Haus zu vernehmen. Neue Schuldgefühle gesellten sich zu den Alten, schon lange ständigen Begleiter seines Gewissens. Erneut hatte er sie in Gefahr gebracht. Warum konnte er Oscar nicht beschützen? André haderte mit sich selbst, wusste nicht was er tun sollte, nicht was noch kommen sollte. Nur in einem Punkt war sich er völlig sicher: Er bekam allmählich Kopfschmerzen. Er hoffte, dass sich seine Zweifel im entsprechenden Hirnbereich aufhielten und ordentlich litten. Das Knirschen seiner Zähne, wie grobkörniges Schmirgelpapier, durchbrach die Stille. André ignorierte den bohrenden Schmerz in seiner Wunde, stemmte sich hoch und schwang die Beine über die Bettkante. Angewidert verzog er die Nase, als ihm sein eigener Geruch entgegenschlug. In der erhabenden männlichen Fürsorge seiner Freunde, hatten sie ihn vorsorglich in seinen alten Sachen gelassen, dem allgemeinen Schrecken des Kampfes noch eine todsichere Tetanusgarantie hinzufügend. Eingetrocknetes Blut, Schmutz und Schweiß ergaben eine unschöne Mischung, die ihm die Nasenhaare kräuselte. Der Schmerz durchzog seinen gesamten Körper und ließ ihn schmerzgepeinigtes Aufstöhnen. Das Inventar des Zimmers neigte sich nach links. Geschieht dir recht André, dachte er, dann stand er auf. Er hob unsicher die Brauen und sank zu Boden. "André," Oscar eilte besorgt zu ihm und half ihm in das Bett zurück. Er rang nach Atem, bis sich die blauen und purpurnen Schlieren vor seinen Augen verflüchtigten. Seine Erleichterung Oscar wiederzusehen schwand, als er die Kratzer in ihrem Gesicht bemerkte. "Was ist passiert?" "Nichts, mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen!" "Nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste? Weißt du eigentlich, worüber du redest? Deine Lipppe ist aufgeplatz, die Verfärbung an deiner Schläfe ... du wirst ein blaues Augen bekommen, aber in seiner ganzen Artenvielfalt. Jean-Luc .... ich werde ihm...!" "Du wirst gar nichts! Du wirst gesund werden und alles erdenkliche dafür tun, dass keine bleibenden Schäden von der Stichwunde zurück bleiben!" Sanft drückte sie ihn in das Kissen zurück und streichelte liebevoll sein Gesicht, liebkoste federleicht die vertrauten Züge. "Ich brauche dich an meiner Seite und das gesund und unversehrt." "Ist das eine sinnliche Anspielung?" "Nein!" "Schade, dass bedaure ich zutiefst ... um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Oscar!" beteuerte André, verzog aber wiedererwarten, wenig heldenhaft das Gesicht, als eine neue Schmerzwelle durch seine Schulter rann. "Bewege dich nicht, André! Was kann ich für dich tun, dass es dir besser geht?" "Liebe mich!" antwortete er schlicht. Seine Augen suchten ihren Blick. "Du weißt, dass ich dich liebe? Mehr als alles andere." André schloss die Augen und genoss ihre Worte, wie eine verbale Delikatesse. Die Feder war stärker als das Schwert, die Liebe besiegt den Hass. Zärtlichkeiten heilen Wunden. "Warum folge ich dir sonst wie dein zweiter Schatten? Ich möchte nicht mehr ohne dich sein. Nie mehr!" beteuerte sie. Und dennoch, kann ich nicht in Frankreich bleiben, selbst nicht mit dir an meiner Seite und deiner Kraft, dachte Oscar. Sie wusste, dass ihr André überallhin folgen würde, aber konnte sie es verantworten, ihn aus seinem Heimatland, von seinen Freuden fortzureißen? Hatten ihn die vergangen Geschehnisse nicht auch von Frankreich und seinen Menschen entfremdet? "Oscar, was ist mit dir?" Seine sanfte Frage holte sie in die Wirklichkeit zurück. Ein Lächeln, dass beruhigen sollte, missglückte und ließ ihre Züge um so trauriger erscheinen. - Flieh mit mir, André! Lass alles zurück, schau nicht hinter dich! - Dies wollte sie ihm sagen. Die Worte krochen den Hals empor, erreichten aber die Stimmbänder nicht, ohne sich zu verändern. "Es wird ein schöner Tag werden. Der Himmel ist wolkenlos Blau." "Wundervoll," bestätigte ihr André "Sind deine Gedanken wirklich beim Wetter gewesen?" Seine Hand fand ihre. Tausende kleiner Nervenzellen, im Hautgewebe fühlten, ertasteten, sendeten ihre Signale durch das gesamte Nervensystem. "Meine Familie ist Tot, André. Mein Zuhause geplündert. Schaue ich mich um ... sehe ich Blut, metaphorisch gemeint ... sehe ich die anklagenden Gesichter, der Verfolgten, sehe ich das bleiche Gesicht meiner Mutter, die Geister der Vergangenheit. Vielleicht können wir die Hauptstadt verlassen und auf dem Land glücklich werden?" André sah sie schweigsam an und las mit dem selben Verständnis, welches er ihr beider Leben lang aufgebracht hatte, die Gefühle hinter den Worten. Oscar würde weder in Arras noch in einer anderen Provinz Frankreichs glücklich sein. Sie sagte es nicht direkt, aber er kannte sie lange genug, um ihre subtilen Zeichen zu deuten. "Was ist, wenn wir Frankreich ganz verlassen?" Oscar sah ihn überrascht an. "Mir ist es völlig gleich, wo wir leben, Oscar und wenn du in einer Bambushütte in Afrika leben möchtest. Auf dem höchsten Berg der Erde. Im einsamsten Landstrich der Welt. Es ist mit völlig gleich." "Wirklich?" "Wirklich, du musst mir nur sagen, wohin ich dir folgen soll! Soll ich es dir mit meiner Liebe beweisen?" Er zog sie mit seinem gesunden Arm näher. Oscar lachte und das Licht der hereinfallenden Sonne, tanzte in ihren Augen. "Jetzt nicht, du stinkst mein Liebster und ich auch rieche noch immer den heimischen Geruch des Gefängnisses, nach Krankheit und Verwesung an mir." Mit dem des echten Bedauerns rief er ihr hinter her: "Dann passen wir doch zusammen," während Oscar das Zimmer verließ, um Wasser und Seife zu finden. Wie schlimm kann das Leben einer Frau schon sein, dachte sie, während sie nach der hauseigenen Armee gegen den Schmutz suchte. Das ist doch lachhaft, jede andere Frau schaffte es auch. Ein wenig war das Gefühl des Bedauerns da, dass es für derartige Fähigkeiten noch keine Ausbildung gab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)