Stumme Sehnsucht von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 22: Verrat ------------------ Die enge Treppenstiege knirschte und knarrte bedrohlich unter ihren Füßen. Und es war dunkel, so dunkel, als hätte jemand die Schwärze der Nacht mit der Hand herausgepresst und in dieses Treppenhaus gesteckt. Finger tasteten sich langsam über die schimmlige Kalkwand, Füße suchten vorsichtig ihren Halt. Alan spürte, wie sein Fuß auf etwas weiches, lebendiges trat. Es quiekte schrill. Irgendwo miaute eine Katze triumphierend und nahm die Jagd auf. Endlich waren sie am Dachstuhl angelangt. Hier würde ihre Flucht vorerst enden. Alan stieß die Tür mit einem Fußtritt auf. Sein rechter Arm ertastete sich den Weg, sein linker Arm hielt stützend seinen verletzten Freund. Er konnte den süßlichen Geruch nach Blut riechen, der von André's Arm ausging. "André, alter Junge, du hast es gleich geschafft. Halte durch!" Der Weg war zu lang gewesen. Erst hatten sie erwogen, die Pferde der toten Wachleute zu benutzen, aber Alan befürchtete, dass die Tiere den langen Arm der Gesetzbarkeit zu ihnen führen würde. So musste der Weg zu Fuß zurückgelegt werden und mit dem hohen Blutverlust schwand André's Kraft zusehenst. Besorgt presste Oscar Stofffetzen auf die Wunde. André benötigte Ruhe und einen Arzt. Silbriges Mondlicht fiel durch vereinzelte Spalten im Dach und taucht den Dachspeicher in gespenstiges Licht. Hohe Balken stützten das schwere Dachgerüst. Es roch nach vermodertem Holz und Staub. Der größte Teil des Dachbodens war unbebaut und wurde als Rumpelkammer benutzt. Überall standen Kisten und ausrangierte Möbelstücke herum. Nur der Mittelteil, in dem das Dach nicht ganz so schräg abfiel, war eine Wohnung eingelassen worden. Es waren nur zwei kleine, spärlich möblierte Zimmer. Jemand hatte versucht in aller Eile das Nötigste herzurichten. Noch immer lag in den Ecken Staub von jahrelanger Vernachlässigung. Die staubblinden Dachfenster verbargen mit ihrer beschmierten Scheibe den Blick in die Außenwelt. Rosalie hatte für sie gesorgt, indem sie frische Decken, neue Kleidung, Kerzen, Wasser und Essen bereitgestellt hatte. Asche und Putz rieselten im breiten Kamin herunter, als die Tür ins Schloss fiel. Vorsichtig ließen sie André auf die schmale Bettpritsche nieder. Traurig sah das Bild der Muttergottes auf den Verletzten nieder und wachte über ihn. Das Rad der Zeit, hatte alle kräftigen Farben ausgeblichen. Oscar kniete vor seinem Bett und drückte besorgt André's Hand. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Die Erschöpfung grub Falten in sein Antlitz. Angst umklammerte ihr Herz. André lächelte sie tapfer und aufmunternd an, dann überließ er sich seiner Schwäche und schloss die Augen. "Wir brauchen einen Arzt!" Oscar sah bittend zu Alan hoch. "Schnell!" Dieser nickte. "Ich werde sofort jemanden holen. Jemanden, denn wir vertrauen können." Alan sah sich nach Jean-Luc um, aber dieser war im Nebenzimmer geblieben. Er beugte sich runter und legte Oscar beruhigend die Hand auf die Schulter. "Keine Angst, André wird wieder zu Kräften kommen. Ich werde auch Bernard benachrichtigen, aber du behältst besser unseren Freund im Augen. Ich traue ihm nicht!" "Ich auch nicht," bestätigte Oscar. Sie nickte Alan dankbar zu. Kurz nach Alan verschwand, war auch Jean-Luc spurlos verschwunden. Mit der fadenscheinigen Ausrede, die Gegend nach eventuellen Verfolgern abzusuchen, verließ er die kleine Wohnung. Doch Oscar war zu sehr um André besorgt, um sich über sein Verschwinden Gedanken zu machen. Wenn er sie verraten wollte, so könnten sie daran nichts mehr ändern. Oscar nutzte die Zeit, um Feuer zu entzünden und Wasser aufzusetzen, damit sie André's Wunden säubern konnte. Mit Stoffstreifen aus einem der frischen Hemden verband sie die Schulter und hoffte, dass der Blutstrom versiegte. An sich war eine Stichwunde am Schulterblatt, wenn sie die Knochen verfehlte keine lebensgefährliche Verletzung. Vorrausgesetzt der Patient bekam Ruhe und ausreichend medizinische Versorgung. Beides war André bisher nicht vergönnt gewesen. Statt dessen zwang ihn Oscar's Flucht zu einem Gewaltmarsch durch Paris, der ihm im günstigsten Fall eine steife Schulter einbrachte; im schlimmsten Fall eine Blutvergiftung durch Infektionen und das langsame Verbluten. André schlief fiebrig. Sein Atem ging stoßweise und seine Augenlider flackerten. Oscar konnte nichts mehr tun, als beten und an seinem Bett zu wachen. Sie hielt André's Hand und wartete. Eine Hand war warm und zuckte unruhig. Erst etwas später bemerkte sie, dass seine Hand ruhig in ihrer lag und sein Blick ihren unsicher suchte. André spürte einen Kloß im Hals. Unbehaglich sah er sie an. Oscar musterte ihn besorgt. Sie hatte sich, so gut es eben ging, den Gefängnisschmutz aus dem Gesicht gewaschen und Girodelle's Verkleidung gegen saubere Kleidung getauscht. Oscar trug weiterhin Männerkleidung. So fühlte sie sich sicherer. Das Haar fiel goldglänzend über die schmalen Schultern herab. "Oscar, ich habe niemals aufgehört, dich zu lieben." Seine Stimme brach. "Ich verachte mich dafür, dass ich dir Schmerzen zufügen musste. Aber du musst mir glauben, ich liebe dich mehr als alles auf der Welt! Ich musste es tun, um dich zu retten." "Das weiß ich." Oscar's Gesicht wurde sanfter. Dann wurde sie wieder ernst. "Aber warum hast du mir nicht gesagt, was Robespierre vor hat? Wir hätten uns wehren können. Wir hätten ihn bekämpft." "Das ist es ja," wandte André ein. "Du kennst keine Angst und du unterschätzt Robespierre. Glaube mir, Oscar. Das ist der größte Fehler, dem man diesem Mann gegenüber begehen kann." "Doch ich kenne Angst, André. Ich habe Angst mich umzudrehen und dich nicht mehr hinter mir zu wissen." André schüttelte heftig den Kopf. "Nein, ich werde dich nicht mehr verlassen, nie mehr!" Oscar seufzte und enthielt sich einer Antwort. In ihrem Inneren kämpften ihre Gefühle. "Ich liebe dich, André!" flüsterte sie schlicht. Obwohl sie vieles sagen wollte, fand sie keine Worte. Die Tür schwang auf und Alan kam in Begleitung eines älteren Herrn herein. Die schwere abgenutzte Tasche wies ihn als Arzt aus. Oscar trat zurück. Sie sah dem Arzt über die Schultern und beobachtete jeden seiner Handgriffe. "Alan?" flüsterte sie und winkte ihn zu sich. "Unser blonder Begleiter ist verschwunden." Alan hob fragend eine Augenbraue und sah über die Schultern. "Jetzt ist er wieder da," sagte er. Seine Abneigung und sein Misstrauen standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. "Er sitzt drüben und starrt ins Feuer." "Er wird uns verraten," flüsterte Oscar. "Oder hat es wahrscheinlich schon getan." "Das bleibt abzuwarten," erwiderte Alan. "Durch André's Verletzung sind uns ohnehin die Hände gebunden. Wir müssen hier bleiben und abwarten." Der Arzt sah sich um und warf beiden einen bitterbösen Blick zu. Sein Patient hatte Teile des Gesprächs mitgehört, weil Alan die Stimme erhoben hatte. Alarmierend setzte sich André auf. Unnachgiebig drückten ihn der Arzt auf das Bett zurück und zischte Oscar und Alan ärgerlich zu, sie sollten leiser sein oder das Zimmer verlassen. Betreten schwiegen beide, aber Sorge und dunkle Vorahnungen standen weiterhin auf ihren Gesichtern geschrieben. Angewidert betrachtete Jean-Luc sein Taschentuch. Der Versuch, die schmutzgraue Schicht auf der Fensterscheibe zu entfernen, hatte seine Spuren auf dem blütendweißen Tuch hinterlassen. Mit spitzen Fingern schmiss er das Tuch in den Kamin, strich gewohnheitsmäßig einen der blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht und trat wieder an das Fenster. Er war kurz vor Alan zurückgekommen und wusste, dass André gerade von einem Arzt untersucht wurde. Jean-Luc schnaubte verächtlich. Als ob das jetzt noch eine Rolle spielen würde. Noch immer konnte er nichts hinter der Scheibe erkennen. Die Nacht tauchte die Stadt in Finsternis. Das helle Mondlicht beschien lediglich die hohen Dachgiebel und Kirchturmspitzen. Bis in die Gassen drang es nicht, aber sie waren dort unten. Jean-Luc wusste es, denn er hatte sie gerufen. Sobald der Arzt André verließ, würde er seine Belohnung einfordern. Besaß er endlich, seine Informationen, von denen er sich soviel erhoffte, dann konnte den Rest Robespierre übernehmen. Tief im Schatten verborgen, wartete Robespierre auf sein Zeichen. Jean-Luc fühlte, wie das Gefühl der Unsicherheit sein Rückrat hoch kroch. Es war anstrengend, sich wie ein Aal durch die Intrigen zu winden, um nicht selbst in die Fallen zu tappen, die er so eifrig für andere auslegte. Er wollte nicht länger nur ein einfacher Handlanger sein. Viel zu lange übernahm er schon die Drecksarbeit für Robespierre. Vielleicht sollte er André gestehen, dass er sie an Robespierre verraten hatte? Ihnen aber die Flucht versprechen, im Austausch gegen ihre Informationen? Sie war viel wertvoller, eine enge Vertraute der Königin, was wusste schon ein ehemaliger Lakai? Doch waren sie so dumm, ihm zweimal Glauben zu schenken? Ganz sicher nicht. Robespierre musste sich ihrer annehmen ... Das Bild, wie sich die Schwertklinge in André's Schultern bohrte, als dieser sich schützend über seine Geliebte warf, stieg hinter seinen geschlossenen Lidern vor. ... er hatte Blut geleckt ... nicht, Robespierre, er Jean-Luc musste sich ihrer annehmen. Er würde sie bluten lassen. Die Frau, weil in ihren Adern adliges Blut floss, weil sie alles verkörperte, was er hasste, weil er in ihren Augen Arroganz und Hochmut zu sehen glaubte, weil sie ihn verhöhnt hatte. Ihn, weil er sie liebte, weil seine Selbstlosigkeit, sein Herz, sein Edelmut, Eigenschaften waren, die er nicht besaß und das demütigte ihn. Gierig fuhr seine Zunge über die schmalen Lippen. *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)