Stumme Sehnsucht von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 11: Verloren -------------------- Zögernd betrat sie das zerstörte Haus. Fensterscheiben knirschten unter ihren Schritten. Das einzige Geräusch in einer ansonsten beängstigenden Stille. Sie erreichte die ehemals hell leuchtende Eingangshalle. Der weiße Marmorfußboden war durch unbekannte Eindringlinge verdreckt und zerkratzt. Der Kronleuchter, welcher prächtig leuchtend, bei den Besuchern immer besonders viel Aufmerksamkeit erregt hatte, lag nun zerschellt vor ihren Füßen. Die einzelnen Kristalle hatten ihren Platz in allen Ecken der Halle gefunden. Oscar wollte den Weg zu ihrem ehemaligen Zimmer einschlagen. Ihr Weg setzte sich knirschend über Glasscherben fort. Doch unter dem Geräusch von zerbrochenen Kristallen, nahm sie auch für einen kurzen Moment etwas aus den hinteren Räumen wahr. Erst glaubte sie, es sich eingebildet zu haben, doch dann erkannte sie deutliche Geräusche, die aus der Küche heraushallten. Schritte langsam, fast schlürfend. Oscar griff entschlossen unter ihr Kleid, um den Dolch, welcher mit einem Lederband um ihren rechten Unterschenkel geschlungen war herauszuziehen. Sie schlich mit dem Dolch in der Hand zum Rahmen der herausgeschlagenen Tür und warf einen Blick in das Innere der Küche. Töpfe und Pfannen lagen verstreut auf dem Boden. Der große Esstisch und einzelne Stühle waren umgestoßen worden. Schranktüren standen offen und waren zum Teil abgerissen. Und inmitten diesem Chaos hockte eine kleine Gestalt mit grauen Haaren. Ihr einstiges Kindermädchen. Oscar ließ benommen den Dolch sinken. Vor ihr saß eine Sophie, die um hundert Jahre gealtert zu sein schien. Noch hatte Sophie die Gestalt hinter sich nicht bemerkt, bis Oscar sich bewegte und sie ihre Schritte wahrnahm, als diese sich ihr näherte. Geschwind griff sie nach einem Messer, welches auf dem Boden lag und drehte sich herum. Es war ein unglaublich trauriger Anblick. Sophie schwankte von einer Seite zur anderen und schnaufte dabei laut, während die schwungvolle Bewegungen der Hand, in welchem sie das Messer hielt, bedrohlich auf Oscar wirken sollten. Das Messer zitterte in der altersschwachen Hand. "Wer seid Ihr?" fragte sie zittrig, mit röchelnder Stimme. Oscar erwachte aus ihrer Starre. Sie fiel vor Sophie auf die Knie, damit diese ihr Gesicht sehen konnte. Sophies Augen waren verschwommen und blass. Noch immer trug sie ihre Hornbrille, die zerkratzt und zum Teil gesplittert war. Ihre Haut war ein einziges Faltengebirge, ihre Kleidung zerschlissen und die wenigen Haare waren zerwühlt. Sophie starrte Oscar lange an. Mühevoll kniff sie ihre Augen zusammen, um ein etwas genaueres Bild zu sehen. Nach endlosen Sekunden dann bewegten sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln hinauf. "Oscar?" hauchte sie fassungslos. "Oscar? Oh, mein geliebter Engel, bist du es?" Ihr Blick irrte über das vertraute Gesicht ihres Schützlings. Sie streckte eine Hand aus und strich über Oscars Wange. Dicke blaue Adern zogen sich unter der, mit Altersflecken übersäten Hand lang. "Ja, Sophie. Ich bin es." "Ihr seid nicht tot? Oh, Oscar, dem Himmel sei dank. Ich danke Gott, dass Ihr noch lebt." Sie brach in haltlosem Schluchzen aus. Oscar umarmte ihr Kindermädchen vorsichtig. Sie schien zu zerbrechlich und schwach. "Meine liebe Sophie", flüsterte sie ihr ins Ohr und freute sich, sie lebend zu sehen. Kraftlos schluchzte ihr altes Kindermädchen in ihren Armen. Sie schob sie vorsichtig von sich und ließ ihre Hände auf den eingefallenen Schultern liegen, um eindringlicher zu sprechen "Sophie, sag mir, was ist hier geschehen?" Oscar wusste, dass ihrem Kindermädchen die Kraft fehlte lange Reden zu halten, deshalb musste sie ihre Fragen schnell stellen. "Es waren viele Menschen hier...," begann diese zu erzählen und wippte dabei weiter vor und zurück. "Sie haben das Tor aufgebrochen und die Fenster eingeschlagen, diese Wilden, diese Barbaren. Ich konnte nichts tun. Sie liefen durch Euer Haus und plünderten. Sie nahmen den Schmuck, das Essen, die Seidenstoffe, ja sogar das goldene Besteck, sie nahmen einfach alles mit. Dabei schrieen sie immer: ,Tod dem Adel! Entzug aller Privilegien! Tod! Tod dem Adel!" Sophie weinte noch heftiger und immer wieder wiederholte sie ihre Worte. Sie schien noch immer unter Schock zu stehen und Oscar befürchtete, dass die Leute ihr Leid angetan hatten. Pötzlich wurde Oscar die Wertigkeit ihrer Worte bewusst und sie hoffte, dass die Menschen ihre Drohungen nicht wahrgemacht hatten "Sophie...Sophie! Wo sind meine Eltern?" Panik überfiel sie. Doch Sophie weinte nur weiterhin ununterbrochen. "Was ist geschehen?" fragte plötzlich jemand hinter ihr und Oscar wandte sich erschrocken um. Aufgrund der Schluchzer ihres Kindermädchens, hatten sie nicht das Eintreten von Girodelle bemerkt. Ohne große Erklärungen erhob sie sich und lief an Girodelle vorüber "Bleibt bitte kurz bei ihr, Graf!" "OSCAR, geht nicht! Bleibt hier!" Angstvoll streckte die alte Frau die Hand zitternd nach ihr aus. Oscar nahm sie vorsichtig zwischen ihre warmen Hände. "Ich komme bald zurück, Sophie, versprochen. Graf de Girodelle bleibt bei ihr. Alles wird gut!" "André? Wo ist André? Der Junge sollte doch immer an Eurer Seite bleiben." "Das ist er, Sophie. André geht es gut. Alles wird gut." Oscar ließ ihre Hand los und entfernte sich langsam. "Ja, alles wird gut. Ihr seid zurück ...," murmelte sie. Schnellen Schrittes durchquerte sie die Eingangshalle und steuerte auf die Treppe zu, die sich zum ersten Stock hinauf erstreckte. Der Gestank nach Ruß nahm stark zu. Endlich erreichte sie ihr ehemaliges Zimmer. Auch hier war gewütet worden. Mit der Einrichtung schienen ihre Erinnerungen zerschlagen worden zu sein. Verbittert sah sie auf die traurigen Überreste des Klaviers. Sie stutzte. Anders als im Rest des Schlosses, war hier gründlicher gewütet worden. Die Zerstörung der anderen Räume zeugten von rücksichtslosen Plündern, aber hier war die Einrichtung gründlich, fast pedantisch zerstört worden. Was hatte das zu bedeuten? Nachdenklich suchte sie weiter. Schnell verließ sie ihre ehemaligen Räume und schritt alle Zimmer ab. Dabei reichte es, immer nur in die Räume hineinzublicken, denn alle gaben dasselbe Bild von der Plünderungen wieder. Die Hoffnung in Oscar schwand Wertgegenstände zu finden oder gar hier ihre Eltern wiederzusehen. Sie glaubte, sie seien geflüchtet ... an ihren Tod wollte sie noch längst nicht denken. Viele Adlige waren ins Auslandgeflüchtet. Vielleicht hatten es ihre Eltern derer gleich getan. Oscar erreichte die Zimmerflut ihrer Mutter. Hier existierte sogar noch eine Tür, die jedoch lose herangelehnt war. Sie schob sich vorsichtig hinein und durchquerte den Salon. Das Schlafzimmer ihrer Mutter lag im Halbdunkel. Das riesige Himmelbett hob sich schemenhaft ab. Ihr Herzschlag setzte aus. Verloren wirkend, wie ein kleines Kind, lag ihre Mutter in dem Bett. Zwischen weißen Laken ruhte ausgemergelt ihr Körper. Sie war bleich und Oscar konnte den Geruch nach Krankheit und Tod wahrnehmen. Ihre Beine fühlten sich schwer an, als sie zu ihrer Mutter hinüber ging. Sie hockte sich vor eine Seite der Bettkante und schaute lange auf das Gesicht ihrer Mutter. Sophies Zustand hatte sie erschreckt, das Bild ihrer Mutter entsetzte sie. Aus der eleganten, zurückhaltenden Lady de Jarjayes war das Leben gewichen. Tief lagen ihre rotgeränderten Augen in den Höhlen, umschattet von dunklem Blau. Die Haut spannte sich pergamentartig um ihren Schädel, Adern zogen sich sichtbar entlang der Schläfen. Das Haar lag glanz- und kraftlos auf den Kissen. Oscar spürte nicht ihre Tränen, welche unablässig ihren Weg über die Wangen hinunter fanden. Die Arme ihrer Mutter lagen etwas gestreckt von ihrem Körper. Oscar senkte ihren Kopf und legte ihn vorsichtig auf die Hand ihrer Mutter "Ma mère...", flüsterte sie "Maman". Die Hand der Mutter regte sich. Oscar blickte überrascht auf. Die Tot geglaubte hatte ihre Augen ein wenig geöffnet "Mein liebes Kind." Es war mehr ein Ächzen, aber Oscar hatte es verstanden. Ihre Mutter war nicht tot, aber der Tod wartete bereits auf sie. Die Hand gab kaum noch Lebenswärme von sich. Sie schien seit Tagen nichts mehr gegessen zu haben oder aber eine Krankheit hatte sich ihren Körper angenommen und breitete sich nun unaufhaltsam in ihr aus. "Nun weiß ich, warum Gott mir noch etwas Zeit erlassen hat...", flüsterte sie und Oscar fragte sich, woher sie nur die Kraft nahm noch vollständige Sätze zu bilden "Ich wusste, dass du noch lebst ... er hat mir erlaubt, dich noch ein letztes mal sehen zu dürfen, damit ich dich um Vergebung bitten kann." Oscar schüttelte verwirrt den Kopf "Vergebung für was?" Sie bemerkte, dass ihre Stimme kaum mehr als ein Zittern war. Ihre Mutter versuchte einzuatmen und Kraft zu sammeln, für ihre möglicherweise letzten Worte "Vergebung für meine Unfähigkeit bei deiner Erziehung. Ich habe mich deinem Vater nie wiedersetzt. Nicht als er alle meine Töchter an Ehemänner in den entferntesten Provinzen Frankreichs verkauft hat. Nicht als er dich zwang ein widernatürliches Leben zu führen. Er hat dich ins Verderben geführt und ich .... ich hätte dir den richtigen Weg weisen müssen. Ich hätte dich mehr unterstützen müssen ...Lebe dein Leben, Oscar ... und vergib mir bitte...!" Ihr Atem wurde schneller und Oscar erkannte eine einzelne Träne, die aus den Augenwinkeln herausgefunden hatte und nun einen nasse Stelle auf dem Kopfkissen zurückließ. "Nie, nie habt Ihr mich enttäuscht, ma mère. Ich liebe Euch." es waren die letzten Worte, die Madame Jarjayes von ihrer Tochter wahrnahm, bevor ihre Augen brachen und ihre Gesichtszüge schlaff wurden. Das letzte bisschen Leben war aus ihrem Körper gewichen. Doch Oscars Mutter glitt glücklich in die Schattenwelt, denn sie durfte ihre Tochter um Verzeihung bitten. Sie hörte nicht mehr den hilflosen Schrei an ihrem Todesbett, dass sie wiederkehren solle und sie sah nicht, wie Oscar unter herzzerreißenden Schluchzen über ihrem leblosen Körper zusammenbrach. In Trance verließ Oscar das Zimmer. In nur so kurzer Zeit hatte sie so vieles verloren. Sie konnte nicht sagen, ob sie atmete, sie wusste auch nicht, wo sie sich im Augenblick befand. Der Schock und die Trauer über den Verlust ihrer Mutter hatte sie erreicht und vereinnahmt. Sie musste ihre Mutter begraben. Sie musste einen Priester finden. In diesen Zeiten war kaum ein Geistlicher bereit Kirche oder Kloster zu verlassen. Ohne das es ihr bewusst war, stand sie vor Andrés ehemaligen Zimmer. Hier war für die Plünderer nicht viel zu holen gewesen. André besaß nicht viele Wertsachen. Zaghaft betrat sie den Raum. Außer ein paar umgestürzte Möbelstücke war das Zimmer unverändert. Wehmütig ließ Oscar ihren Blick umherschweifen. Sie ging zum Bett und schlug die Decke zurück. Vom jahrelangen Benutzen hatte Andrés Körper eine Kuhle in der Matratze gebildet. Zärtlich strich Oscar über das Laken, dann straffte sie mit einem Seufzer die verspannten Schultern und setzte ihre Wanderung fort. Auf ihrem Weg durch das Arbeitszimmer ihres Vaters hielt sie inne. Nachdenklich sah Oscar hoch. Hier hatte das einzige gemalte Portrait von ihr gehangen. Traurig sah sie die nackte Wand an. Es hatte gegenüber von dem Schreibtisch ihres Vaters gehangen. Überrascht sah sie herunter. Über den Boden lagen Teile des Bildes wie ein Puzzle verstreut. Alles deutete darauf hin, dass sich jemand persönlich daran zu schaffen gemacht hatte. Die Leinwand war mit einem Dolch oder einem Schwert zerschnitten worden. Sie ging zu dem prunkvollen Marmorkamin und sah, dass Teile des Rahmens angebrannt in der erkalteten Asche lagen. Oscar wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber es berührte sie merkwürdigerweise. Plötzlich hörte sie, dass jemand in das Zimmer getreten war. Sie glaubte, dass Girodelle ihr gefolgt war, doch als sie sich umwandte, sah sie einige Meter neben sich ihren Vater stehen. Sein Gesicht war versteinert. Oscar erschrak bei der Härte seines Ausdrucks. Sie konnte sehen, wie ihr Vater sie von oben bis unten musterte. Sein Blick wurde herablassend, als er über das Kleid glitt. Auch Oscar sah sich ihren Vater genau an. Vor ihr stand noch immer der stolze Mann von vorher. Anders als bei ihrer Mutter und Sophie, hatten sich seine Züge kaum verändert. Sie waren härter, unnachgiebiger geworden. Auch seine Kleidung und die strenge Perücke waren die eines Generals angemessen. Ihr Vater schien als Einziger unberührt durch die Plünderungen gegangen zu sein. "Jeden Tag...", sagte er unerwartet, mit seiner gewohnt tiefen Stimme, aber er brach ab. "Was jeden Tag?", hauchte Oscar kaum hörbar. Sie wusste nicht was sie jetzt zu erwarten hatte, doch sie konnte sich ein glückliches Wiedersehen mit ihrem Vater nicht vorstellen. "Jeden Tag zerstöre ich etwas mehr von diesem Schandfleck," sprach er und aus seiner Stimme war etwas ähnliches wie Genugtuung herauszuhören. Und augenblicklich verstand Oscar. Ihr eigener Vater hatte in Wutanfällen das Gemälde vernichtet und mit Schandfleck war Oscar selbst gemeint. "Mutter ist tot...", murmelte sie, um ihn an seinen Gefühlen zu erreichen, doch er zeigte weder Trauer noch sonst irgendeine Art von Regung. Er schwieg. Sie konnte nur Hass in ihm sehen. "Sie muss angemessen beerdigt werden." Er starrte sie weiterhin an. "Das soll dich nicht interessieren. Dies ist nicht mehr deine Familie. Die Königin wird für eine angemessen Bestattung sorgen." Ohne nachzudenken sagte sie zu ihm "Ich liebe Euch, Vater...". Nach weiteren endlos erscheinenden Sekunden hörte sie wieder seine Stimme "Verschwinde von hier! Oder willst du, dass ich mich vergesse?!" Er trat einen Schritt auf sie zu. "Ich habe keine Tochter mehr. Du hast unsere Ehre verraten." "Ehre? Das ist nur ein Wort. Lebt Wohl, Vater!" Oscar konnte nichts dagegen sagen. Sie wollte auch nicht, denn sie hatte geahnt, dass sie nicht mit offenen Armen von ihrem Vater empfangen werden würde. Sie wusste, dass sie ihn heute zum letzten Mal sah. Das sagte ihr Gefühl. Sie ging hinaus aus dem Zimmer, die Treppe wieder hinunter und zurück zur Küche. Dort sah sie Girodelle, dem es gelungen war, Sophie zu beruhigen. Girodelle sah ihr tränenerfülltes Gesicht "Was ist passiert?" "Meine Mutter ist tot", sagte sie nur wieder monoton und blickte auf ihr Kindermädchen, dass sich auf einen ganz gebliebenen Hocker gesetzt hatte. Sophie fing wieder laut zu jammern und zu weinen an. Müde seufzte Oscar auf. "Ich habe vergessen, nach beglaubigten Urkunden zu meiner Geburt zu suchen. Es würde ohnehin nichts nützen. Ohne Erklärung meines Vaters komme ich nicht an das hinterlegte Geld heran. Er wird wenig dazu geneigt sein, sie mir zu geben." "Das würde nichts nützen," schniefte Sophie zwischen zwei Schluchzern. "Was meinst du?" "Euer Vater hat alle Geldbestände der Familie abgehoben," erzählte sie. "Auch Euer Geld. Er hatte wohl Angst, dass das Volk die Bankhäuser stürmt. Aber der Pöbel hat alles gefunden und mitgenommen, als sie hier eindrangen. Wir haben nicht einen einzigen Sou." Oscar lachte trocken. Dann wandte sie sich besorgt an Girodelle, der schweigend abseits stand. "Graf de Girodelle, würdet Ihr Sophie aufnehmen und Euch um sie kümmern? Mir stehen nicht die finanziellen Mittel zur Verfügung um sie medizinisch zu versorgen. Ich bitte Euch...!" Es war ihr sichtlich unangenehm, ihm darum bitten zu müssen. Girodelle willigte ohne zu zögern ein. "Kann ich etwas für Euch tun?" Oscar schüttelte den Kopf. Es war Zeit nach Paris zurückzukehren. Sie blickte nicht mehr zurück. Ihr altes Leben war damit endgültig begraben worden. *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)