Stumme Sehnsucht von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 9: Namenlos ------------------- Langsam verließ Oscar die Rue de Bailleul und kehrte zu Bernard und Rosalie zurück. Der Regen war feiner geworden, aber die nasse Kleidung klebte unangenehm und kalt auf ihrer Haut. Die Stadt war dunkel und still. Keine Lichter zeigten sich hinter den zahllosen Fenstern der Hauptstadt. Bettler, die vor dem Regen in Hauseingänge oder unter Dachvorsprünge geflohen waren, zeichneten sich als dunkle, konturenlose Scheme ab. Die Armen der Ärmsten hatten kein warmes und trockenes Zuhause zu dem sie hätten heimkehren können. Oscar atmete erleichtert auf, als der Eingang zur Wohnung ihrer Freunde in Sicht kam. Müde öffnete sie die Tür. Warmes Licht flutete ihr entgegen. Bernard und Rosalie waren noch wach. Oscar straffte ein letztes Mal ihre Schultern und trat ein. Beide sahen sie fragend an, aber sie schüttelte nur erschöpft den Kopf und ging in ihr Zimmer, um den verbliebenen Rest der Nacht schlaflos an André zu denken. Reden konnte und wollte sie nicht. Wieder einmal schloss sie ihre Gefühle in sich ein. Der Morgen graute und ein neuer Oktobertag begann. Vögelschwärme flogen durch den Dunst des frühen Morgen. Bald würden sie gen Süden fliegen und Mitteleuropa mit seinem kalten Winter zurück lassen. Noch hatte die Sonne genügend Kraft, den Regen der vergangenen Nacht in den Straßen zu trocknen. Oscar betrachtete müde die Augenringe ihres Spiegelbildes. Dann zuckte sie gleichgültig die Schultern und begab sich zu Rosalie in die Küche. Ihr Aussehen spielte für sie kaum eine Rolle. Rosalie summte zufrieden vor sich hin, während sie geschäftig in ihrer kleinen Küche herumlief. "So gut gelaunt an diesem Morgen, Rosalie?" fragte Oscar, während sie sich an den Tisch setze. Ihre Hände strichen über die abgearbeitete Holzfläche. "Oh, Ihr seid schon wach, Lady Oscar. Ich habe etwas für Euch." Rosalie strahlte sie an und schob ihr ein dunkelrotes Bündel zu. Atemlos sah sie zu, wie Oscar das Bündel entfaltete. "Ein Kleid?" "Ein Kleid!" Rosalies Strahlten überschattete die Sonnenstrahlen, welche üppig durch das Fenster fielen. Sie sah, wie Oscar zögerlich lächelte und wurde unsicher. "Ich weiß, Ihr mögt keine Kleider." Zaghafter zog sie das Kleid aus deren Hand. "Nein, lass bitte! Du hast viel Arbeit dieses Kleid gesteckt. Es ist sehr schön. Ich danke dir, Rosalie, von ganzem Herzen." Oscar zog das Kleid wieder zu sich. Rosalie schien zufrieden und ließ los. Ihr Strahlten glich wieder dem eines kleinen Mädchens. "Ihr werdet wunderschön aussehen. Ich habe den Ausschnitt tiefer und die Taille enger, als bei Eurem anderen Kleid geschneidert." "Das sehe ich," erwiderte Oscar skeptisch und betrachtete kritisch ihren Neuerwerb. "Das ist derselbe Stoff, aus welchem du das andere Kleid geschneidert hast?" "Ja." Rosalie sah sich unsicher nach allen Seiten um, dann beugte sie sich verschwörerisch nach vorn. "Schwarzmarkt" "Schwarzmarkt?" "Ja, ich habe dort mehrere Ellen von diesem Stoff bekommen und hatte genügend für zwei Kleider. Man munkelt, dass die Stoffe aus Madame Bertains Geschäft stammen, welches kurz nach dem Angriff auf die Bastille zerstört und geplündert wurde." "Und nun kaufst du auf dem Schwarzmarkt geplünderte Stoffe?" "Warum denn nicht. Nicht nur die adligen Frauen haben das Recht sich gut zu kleiden," verteidigte sich Rosalie. "... aber sagt Bernard nichts davon. Er heißt das nicht gut." "Und das von dem ehemaligen schwarzen Ritter," murmelte Oscar. "Oh, ich könnte für Euch günstig ein Korsett erwerben. Vielleicht fühlt Ihr Euch mit einem Korsett wohler." Oscar schob eine Augenbraue nach oben. "Ganz sicher nicht. Wie dumm von mir. Verzeiht!" Sie musste lachen. "Ein Korsett, ein Kleid mit einem tiefen Ausschnitt ... Rosalie? Wie sollen die Menschen in mir eine Bürgerliche sehen?" "Ha ... dass glaubt Euch doch sowieso niemand, egal was Bernard sagt," erwiderte die junge Frau und kramte geschäftig in einer großen Truhe. "Ich habe noch einige andere Dinge günstig erstanden." ertönte es gedämpft aus der Holztruhe. Rosalies Oberkörper war fast gänzlich verschwunden. "Wir müssen mehr auf unser Geld achten. Bernard sagt, dass der Staat bald Geld in Papierform herausgegeben will. Aber er denkt, das diese Maßnahme unseren Staat nicht weiterhelfen wird. Die Preise steigen schon jetzt ins unermessliche." Bernard sollte recht behalten. Am 2. November 1789 wurde der gesamte Kirchenbesitz verstaatlicht, um die Staatskassen aufzufüllen. Dabei scheffelten sich viele Revolutionäre das Geld in die eigene Tasche und bereicherten sich mit den Gütern des Klerus. Als das neue Papiergeld, die sogenannten Assignaten herauskam, unterlagen sie einer ungeheuren Inflation. Ja, wir müssen mehr auf das Geld achten. Der letzte Satz von Rosalie kam Oscar in den Sinn und sie senkte Schuldbewusst die Augen. Ihr wurde bewusst, wie selbstverständlich ihr Stand Geld ansah und es mit vollen Händen herauswarf. Auch sie war dagegen nicht gefeilt. Da lebte sie schon wochenlang mit Rosalie und Bernard zusammen, ohne einen einzigen Gedanken darüber zu verschwenden, dass ihr Essen, ihre Kleidung, die Kerzen, das Brennholz den Beiden Geld kostete. Nicht einen Sou hatte sie gegeben, während sich der Sold von 20 Jahren treue Dienste als Offizier der Königin auf ihrem Bankkonto sammelte. "Was habt Ihr heute vor, Lady Oscar?" Rosalie war aus ihrer Schatztruhe wieder aufgetaucht. "Geht Ihr zu Madam Merman?" "Nein. Ich werde die Banquede France aufsuchen." "Gut, ich begleite Euch, da ich auch dorthin in die Nähe muss." "Lass mich raten! In der Nähe befindet sich der Schwarzmarkt?" Rosalie nuschelte eine unverständliche Antwort und verschwand mit rotem Gesicht in ihrer Kiste. Die Sonne schien an diesem Tag erstaunlich warm. Mit Rosalie und Oscar war halb Paris unterwegs. Kinder rannten lachend durch die Straßen, Marktfrauen riefen laut ihre Waren aus, dass über mehrere Gassen schallte, Männer eilten geschäftig ihren Besorgungen nach und einige wenige Adlige bahnten sich mit ihren Kutschen den Weg durch die Menge. Missmutige Blicke folgten ihnen, aber niemand hob einen Stein oder die Faust. Rosalie beschattete ihre Augen mit der flachen Hand, um das gleißende Sonnenlicht abzuwehren, als sie zu ihrer schweigsamen Freundin hochblickte. Wie versprochen trug sie das neue Kleid. Und wie sie es trug. Rosalie lächelte. Vergessen war die Zeit, in der sie es bedauerte, dass in der eleganten Uniform eine Frau steckte. Der Stoff lag eng am Oberkörper an. Ärmel und Rock liefen weich und weit aus. Der Rock schwang leicht bei jedem Schritt. Oscar war weit fort in ihren Gedanken. Immer wieder rief sie sich ihre Begegnung mit André in Erinnerung. Sie durfte nichts übersehen. "Er konnte wieder sehen." Rosalie blinzelte erstaunt. "Was habt Ihr gesagt?" "Was?" Oscar schreckte auf. "Ihr hab gerade gesagt >er konnte wieder sehen< Was meint Ihr damit?" "Kurz bevor André angeschossen wurde, war die Pupille seines verbliebenen Auges extrem geweitet, weil er kaum noch etwas sah. Gestern war sie aber klar und normal. Das heißt, dass sich sein Auge gebessert haben muss, wenn nicht gar geheilt ist. Und ich vermute, dass dies ärztlicher Hilfe zu verdanken ist." "Was, Ihr habt André also wirklich gesehen?" Rosalie drückte aufgeregt Oscars Hand. "Ja," sagte diese, nachdem sie sanft ihre Hand befreite. "Aber er verschließt sich vor mir." "Warum?" "Genau das versuche ich herauszufinden und bei meiner Seele, ich werde es." Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von Rosalie und betrat das elegante Bankgebäude. Hohe Säulen stützten die mit malerischen Fresken versehende Decke. Große Fenster ließen verschwenderisch Licht ein. Ihre Schritte hallten auf den blanken Marmorfliesen wieder, als sie zielgerichtet durch den Saal schritt und den nervösblinzelnden Sekretär ignorierend stehen ließ. Mit anerzogenem Selbstbewusstsein steuerte sie auf einen der höheren Bankangestellten zu. Sie setzte sich ihm gegenüber an seinen Schreibtisch und blickte ihn so lange unverwandt starr und streng an, bis dieser sich bequemte von seinen Unterlagen hochzusehen und sie zu mustern. "Mein Name ist Oscar Francois de Jarjayes. Erhebliche Geldbestände meines Vermögens befinden sich auf Eurer Bank. Ich möchte einen Teil davon ausgezahlt bekommen!" "Ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor, Madam." Seine näselnde Stimme ließ seinen Unmut durchhören. "Das bezweifle ich. Ihr kennt mich! Ich habe diese Bank schon einige Male aufgesucht." Sein Blick glitt unnahbar über ihre Gestalt. Je tiefer er glitt, des do höher hob sich Oscars Kinn. Sie merkte, dass ihr Aufzug ihn irritierte, aber sie konnte Kleider tragen, wann immer es ihr passte. Eigentlich passte es ihr überhaupt nicht, ihre Autorität in einem Kleid verteidigen zu müssen, aber sie trug es Rosalie zuliebe. Ein zweiter Angestellter trat unauffällig aus dem Schatten und reichte ihrem Gesprächspartner ein Schriftstück. Beide flüsterten miteinander, dann richteten sich ihre Blicke wieder kalt und abweisend auf Oscar. "Ich fürchte, hier liegt doch ein Missverständnis vor, Madam." Er zog jede Silbe unnötig lang. Das "Madam" bekam die dreifache Länge, der übrigen Wörter. "In wie fern? Erklärt mir das!" Oscar sah in fragend an. "Wir haben hier ein Schreiben, welches erklärt, dass besagte Tochter des General de Jarjayes, seit dem 14. Juli 1789 für tot erklärt wird. Ohne beglaubigter Bestätigung Eurer Person, als die angegebene Madame Jarjayes kann ich Euch keine Einsichten in die besagten Konten gewähren, geschweige denn, eine Auszahlung bewilligen. Zudem benötigt Ihr eine Bestätigung Eures Vormunds oder Ehegatten bei Wertaushändigungen! Au revoir, Madame!" Steif und mit all ihrer Würde erhob sich Oscar und verließ mit einem letzten vernichtenden Blick das Gebäude. Hinter den riesigen Türflügeln empfingen sie lärmende Menschen und warmes Sonnenlicht. Aufgebracht schritt sie wenigen Stufen der breiten Marmortreppen hinunter. Oscar bebte vor Wut, während sie sich durch die Menge auf dem Platz kämpfte. Sie wollte nicht akzeptieren, dass ihre Selbstständigkeit von dem Wohlwollen ihres Vaters abhing. In ihrer früheren Position hätten die Beamten ihr ohne zu zögern, jeden gewünschten Betrag ausgezahlt. Eine Überprüfung ihrer Unterschrift hätte gereicht. Selten war sie derart aufgebracht gewesen. Wütend drehte sie ihr Schultertuch zwischen den Händen, bis die Handflächen heiß anliefen. >Benötigt Ihr eine Bestätigung Eures Vormunds oder Ehegatten< ... Es war ihr Vermögen! Nicht das ihres Vaters, sondern ihres, angesammelt in langen Dienstjahren und nun brauchte sie einen Mann, der bestätigte, dass sie es verwenden durfte? Ihre Freiheit begründete sich darauf, dass sie zwischen den Geschlechtern lebte. Sie nahm etwas von den Rechte des einen Geschlechtes, die es den anderen nicht zubilligte. Und nun wollte man ihr das nehmen, weswegen sie sich für das Leben eines Mannes entschieden hatte? Einige Passanten konnte nicht mehr schnell genug aus ihrem Weg springen. Oscar hätte es gern vermieden, aber sie musste ihren Vater aufsuchen und die betreffenden Dokumente von ihm verlangen. Sie murmelte eine kurze Entschuldigung, als sie den nächsten Passanten umstieß. André fühlte den nächsten Stoß in seiner Seite. Das schöne Wetter hatte die Menschen aus ihren Häusern gelockt und alle schienen sich hier versammelt zu haben. Eine dralle Frau stieß ihn rüde beiseite, während sie ein quengelndes Kind hinter sich her zog. Er drehte sich seitlich, um sich vor ihrem fleischigen Ellenbogen in Sicherheit zu bringen und stieß schon gegen den nächsten Passanten. André hob das Gesicht zu einem entschuldigenden Lächeln und erstarrte. Mitten in seiner letzten Bewegung kam sein Körper zum Stillstand. Oscar! Ihr Name hing in der Luft, aber sie hörte und sah ihn nicht. Ihr Blick war auf einen unbestimmten Blick in der Ferne gerichtet. Wegen der vielen Menschen kam sie nur langsam voran. André' s Blick streichelte ihr Gesicht. Dann glitt er ihren Körper hinunter. Verwundert registrierte er, dass sie ein Kleid trug. Es war längst nicht so raffiniert geschnitten, wie ihr Kleid für den Ballabend und aus viel schlichterem Stoff verarbeitet, aber sie trug es mit einer größeren Selbstverständlichkeit und sie trug es nicht für einen anderen Mann. Aufgebracht hob und senkte sich ihre Brust unter dem engen Ausschnitt. Ihre Hand war wütend um ein zerknülltes Schultertuch geballt. Ein sehnsuchtsvolles Ziehen ging durch Andrés Körper. Er sah ihr noch nach, als sie in der Menge verschwand. Oscar? Jean-Luc wirbelte herum. Hatte er eben seinen schweigsamen Begleiter sprechen gehört? Er sah überrascht André an. Sehnsuchtsvoll sah dieser, wie erstarrt einer hochgewachsenen Frau nach. Er konnte nur noch üppige goldglänzende Haare sehen und die Rückansicht eines langgestreckten schlanken Frauenkörper, in einem dunkelroten Kleid. Nachdenklich prägte sich Jean-Luc die Reaktion seines undurchsichtigen Begleiters auf die Unbekannte ein. *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)