Stumme Sehnsucht von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Leid --------------- "Welchen Auftrag hatte ich Euch erteilt?" Die Frage hallten durch die Notre Dame, eine Kirche die eines der Herzstücke von Paris darstellte und der Zufluchtsort für Robespierre und seine Anhänger war. Die Stimme, bekannt in ganz Paris, tobte bedrohlich wie ein Orkan über die beiden Männer. Überall in Frankreich war Robespierre in aller Munde, weil er die Courage besaß, sich öffentlich gegen die Herrschaft der Bourbonen auszusprechen. Die Menschen vertrauten ihm. Was jedoch bisher niemand wusste und nur wenige ahnten, war, dass er selbst die Macht über Frankreich erlangen wollte. Erst die grausamen Septembermorden, würden zeigen, dass sich Robespierre nicht nur über den König, sondern auch über Gott und Kirche stellte. Viele würde durch seinen Befehl leiden und sterben, bis sein Kopf selbst fiel. Noch schüttelten ihm die Bürger treuherzig und dankbar die Hände und gehorchten seinen Befehlen. Es waren erst wenige Wochen seit der Eroberung der Bastille vergangen. Am 4. August 1789 hatte der König die Nationalversammlung einberufen, um die Adelsprivilegien abzuschaffen. Am 26. August waren die Menschen- und Bürgerrechte erklärt worden. Das alte Feudalrecht würden vor dem Ansturm des neuen Bürgertum nicht mehr bestehen können. Grand gehörte zu den wenigen, welche die wahre Identität von Robespierre kannten. Mit jedem neuen Zusammentreffen verabscheute er ihn mehr und mehr. Grand hätte ihn längst getötet, aber Robespierre kettete seine Treue und Loyalität durch Erpressung an sich. Sollte Grand ihm nicht gehorchen, würde ein Mensch sterben. Ein Leibwächter begleitete ihn ständig und behielt ihn sorgsam im Auge. Er sollte nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen, fliehen zu können. "Ich hatte Euch aufgetragen wichtige Dokumente aus der Bastille zu sichern! Hat einer von Euch in irgendeiner Weise meine Worte nicht richtig verstanden?" Robespierres Stimme prallte an den dunklen Mauerwänden der Kirche ab und echote durch das gesamte Gebäude. "Wir hatten das Gefühl beobachtet zu werden," rechtfertigte sich Jean-Luc, Grands Begleiter. "Habt Ihr jemanden gesehen?" "Nein, Robespierre," gab er kleinlaut zu. Grand wendete sich ab. Erinnerungen an die unerwartete Begegnung in der Bastille überfluteten ihn. Ein Gesicht, vertraut und geliebt in jeder Einzelheit. Augen blau und klar, ihn ungläubig ansehend, Haut weich wie Seide, noch blass von langer Krankheit, Lippen voll und einladend und so gern von ihm geküsst. Der Jakobiner bemerkte misstrauisch die abwesende Haltung seines Spitzels. "Willst du mir irgendetwas sagen?" fragte er barsch und blickte ihn direkt an. Grand machte keine Anstalten ihm zu antworten. Seit er unter der Gewalt der Jakobiner stand, hatte er nicht mehr gesprochen, mit keiner Menschenseele. Er konnte still leiden. Über 20 Jahre vergrub er schon die Schmerzen seines verzweifelten Herzens tief in seinen Inneren. Er vertraute den Menschen nicht mehr, ganz besonders nicht denen, die in diesem Augenblick in der Kirche anwesend waren. "Du schuldest mir eine Menge, Grand! MIR hast du es mir zu verdanken, dass dein rechtes Auge nicht auch noch verloren ging, wo du doch nur noch dieses eine besitzt...," Robespierre klang höhnisch und Grand zeigte ihm seine Dankbarkeit, indem er ihn nur weiter hasserfüllt entgegenblickte. Doch es war wahr. Persönliche Ärzte Robespierres hatten sein Augenlicht vollständig gerettet. Hätte er damals geahnt, für welchen Preis, dann hätte er verzichtet, ohne Reue, ohne Bedauern. Aber es war zu spät. *** "Bernhard, du musst Lady Oscar beruhigen! Der Arzt sagt, sie soll sich unbedingt noch schonen." Rosalie lief aufgebracht hinter ihrem Mann her. Bernhard blieb an der offenen Hintertür seiner Wohnung stehen und beobachtete Oscar, wie sie einige Grundübungen des Fechtens mit ihrem Degen wiederholte. Es war noch nicht einmal eine Stunde vergangen, seit sie ihn darum bat, sie in die Gruppe von Robespierre einzuschleusen. Der Wind zog die Wolken am Abendhimmel auseinander und riss sie in kleine Fetzen. "Sag Rosalie, kannst du so schnell wie möglich ein Kleid für Lady Oscar schneidern?" fragte Bernhard unerwartet. Seine Frau starrte ihn ungläubig an. Oh, er kannte diesen Blick gut und beeilte sich sie so schnell wie möglich zu beruhigen. "Keine Angst, sie wird nichts Unüberlegtes tun. Ich möchte dir aber nicht zu viel verraten. Kannst du das verstehen?" Er legte seine Hand auf ihre Schulter und sah ihr tief in die Augen "Ja, ich vertraue dir und Lady Oscar. Das Einzige was ich wissen muss ist, ob ich mir Sorgen um Euch beide machen muss?" "Das kann ich dir leider nicht versprechen, meine geliebte Rosalie." Er hasste es, seiner Frau Angst einzujagen, aber sie verlangte eine ehrliche Antwort. "Versprich mir, dass du auf Euch beide aufpasst!" "Ja," versprach Bernhard mit dem Brustton der Überzeugung und beugte sich zu ihr hinunter, um sie zärtlich zu küssen. Seine Frau erschien ihm so zerbrechlich. Er fürchtete immer, nicht sanft genug mit ihr umzugehen. Äußerlich zart, aber voll innerer Stärke, dafür liebte er sie. "Ich werde sofort an die Arbeit gehen." Sie wandte sich zum Gehen. Ein Kleid sollte schließlich fertig werden. "Ich danke dir, Rosalie," rief Bernhard seiner Frau nach. Oscar hatte sich vorgenommen wieder regelmäßig das Fechten zu trainieren. Durch die lange Bettruhe füllte sie sich zu schwach, um sich im Notfall richtig verteidigen zu können. Früher hatte sie sich nie schwach gefühlt. Früher, ein seltsames Wort. FRÜHER, hatte sie nie viele Gedanken an die Vergangenheit vergeudet. FRÜHER, hatte sie sich kaum Gedanken an ihr Gefühlsleben erlaubt. Bestimmte Gefühle gestattete sie sich, andere nicht. FRÜHER, hatte sie geglaubt das gesamte Leben noch vor sich zu haben. Das war die größte Dummheit, die sie je begangen hatte. Ein Leben konnte so schnell vorüber sein, denn die Ereignisse überstürzten sich. Ihre Krankheit brach aus und sie erfuhr, dass André dabei war, fast vollständig zu erblinden. Und jetzt? Jetzt müsste man die Zeit zurückdrehen können, um viele Dinge früher erkennen zu können und sich anders zu entscheiden. Sie sah auf ihre rechte Hand hinunter. Diese hielt ihr Schwert, welches seit Generationen in der Familie de Jarjayes weitergereicht worden war. Eigentlich hatte sie kein Recht darauf, es weiterhin zu tragen. Als die Französische Revolution ausbrach, hatte sie ihren Rang, Titel und den Namen ihres Vaters abgelegt, mit dem neuen Bewusstsein die Frau eines Mannes von bürgerlicher Herkunft zu werden. Langsam hob sie das Schwert und legte das Ende der Klinge in ihre linke Hand. Sie sah es gedankenversunken an. Von seinem Beobachtungsposten an der Tür aus, erkannte Bernhard, dass Oscar das Schwert zerbrechen wollte. Er lief ihr entgegen. "Tut das nicht, Oscar!" rief er aufgebracht, da sie scheinbar nicht davon abzuhalten war. Er ergriff ihre Hand. "Bitte Oscar, tut das nicht!" wiederholte er "Dieses Schwert ist das einzige Erbstück, dass Euch von Eure Familie und Euren Vater geblieben ist. Ihr würdet es bereuen, dass wisst Ihr selbst." "Warum tut Ihr das, Bernhard? Euch ist nicht bewusst, dass Blutschande und Verrat auf diesem Schwert geschrieben steht?" "Nein," erwiderte ihr Freund "Das ist nicht wahr! Ihr habt Unrecht. Denn Ihr habt mit diesem, EUEREM Schwert für die Freiheit des Volkes gekämpft. Euer Schwert war für die Menschen ein Zeichen, welches gekommen war, um die Bastille zu erobern. Es war das Zeichen, welches zusammen mit EUCH erschienen ist!" Schweigen legte sich über den Hof und hüllte die beiden Menschen darin ein. "Etwas sehr melodramatisch, Bernhard." "Ja, ich weiß. Ich bin Journalist und Redner vor dem Volk. Das ist eine Berufskrankheit." Bernhard zuckte die Schultern und lächelte, dann wurde er wieder ernst. "Versprecht mir, das Schwert nicht zu zerbrechen!" Sie nickte. "Es tut mir leid, Bernhard," Oscar senkte den Kopf "Ich habe nur das Gefühl die falschen Entscheidungen in meinem Leben getroffen zu haben." Bernhard sah, dass sie dabei war sich selbst aufzugeben. Er wurde ärgerlich. Nun reichte es aber. "Ich finde nicht, dass es eine falsche Entscheidung ist, für eine gute Sache zu kämpfen. Ihr sagtet, dass Ihr Euren Rang und Titel aufgegeben habt, für den Mann den Ihr liebt und für seine Überzeugungen wolltet Ihr kämpfen. Wenn Ihr jetzt anderer Überzeugung seid, so tut es mir für André leid." Er hat recht, dachte Oscar und das gab sie äußerst ungern zu. Sie hasste es, wenn andere Recht behielten. "Nein," meinte sie überzeugt. "Es ist noch immer so" "Sehe ich da ein Lächeln?" Sie lächelte schief und zerknirscht. "Und nun hört auf, Euch selbst zu bemitleiden.... Und nehmt die Klinge aus der Hand, dass macht mich nervös! Oscar," sprach er eindringlicher auf sie ein. "Ich vertraue Euch. Und ich glaube an Euch. Wenn Ihr sagt, Ihr habt André wirklich gesehen, dann helfe ich Euch ihn zu finden. Ich schulde Euch meine Freiheit und mein Leben. Und ich bin Euer Freund." Sie sah ihn kämpferisch an. "Es ist mir wichtiger, dass Ihr mein Freund seid. Denn Euer Leben und Eure Freiheit gehören Euch. Und ich werde André finden." *** Er liebte die Stille. Aber diese Art von Ruhe in Paris stimmte ihn unruhig. Vor Jahren war es für ihn undenkbar gewesen im Zentrum der ,Stadt der Könige' zu sitzen und dabei nicht das geringste wahrzunehmen. Er hörte, wie der Wind leise durch die offenen Straßen von Paris streifte. Die Sonne ging langsam unter. Ihr Licht tauchte die Stadt in goldrote Farbe. Eine neue Zeit war angebrochen. Das Volk hatte es geschafft, die Herrschaft der Bourbonen zu beenden. Und dennoch, Armut und Hungersnot herrschte weiterhin in Frankreich. Viele Menschen waren gestorben und man hatte nicht einmal genug Geld um die eigenen Mitmenschen zu begraben. Die Plünderungen beim Bauernaufstand Ende Juli waren nur Tropfen auf dem heißen Stein. Angeheizt durch die Unruhen in Paris war die Lage auf dem Land eskaliert. Gerüchte über umherziehende Räuberbanden und einen bevorstehenden Militärputsch schwirrten wie Fliegen umher. Schließlich wurde der, durch die hohen Abgabepflichten schon lange schwelende Hass der Bauern, gegen ihre "Herren" übermächtig. Schlösser, Landsitze und Klöster wurden gestürmt und geplündert. Glaubte das Volk wirklich an ihre Rettung durch Robespierre? Er wagte nicht daran zu denken. Die Menschen kannten nicht das wahre Gesicht des Extrem-Jakobiners und er betete zu Gott, dass sie es nicht zu spät wahrnehmen würden. Das herrliche Rot der Sonne legte sich über die Dächer von Paris und zum ersten Mal seit langem konnte sich Grand an solch einem Anblick erfreuen. Was war mit ihm geschehen? Er hatte die Revolution gewollt. Er wollte für "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" kämpfen und siegen. Er wollte, dass unüberwindbare Schranken, wie Stand und Rang fielen, damit er diese eine Frau lieben konnte. Vor allen Dingen wollte er sie lieben, aber Robespierre ließ ihn nicht. Darum tat er, was ihm von Robespierre auferlegt wurde, ohne es zu wollen. Er verlor sie und mit ihr seine Seele. So schrecklich ihn die Vorstellung quälte, sie nie wieder zu sehen. So sehr er ihren Anblick, ihre Stimme, ihren Duft, ihr Lachen vermisste, sie würde nicht wiederkehren, sie DÜRFTE nicht wiederkehren! Denn das würde ihren wirklichen Tod bedeuten. Still, einsam und verlassen saß er auf der Vormauer des großen Glockenturmes der Notre Dame und beobachtete, wie die Sonne langsam hinter Paris verschwand. Niemand bemerkte, dass er hier oben saß. Weit unter ihm kümmerten sich die Anwohner von Paris nicht mehr um ihre ,lebenden' Mitmenschen. "Grand? Komm endlich runter! Ich möchte wegen dir keinen Ärger bekommen oder hast du vergessen, dass wir neue Aufträge erhalten haben?" Jean-Luc schrie sich verärgert die Kehle wund, während er zu Grand hoch starrte und ungeduldig von einem Bein aufs andere trat. Grand sprach nicht mit ihm. Er hatte nie mit ihm gesprochen und er würde ihm auch heute nicht antworten. Er konnte still leiden. *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)