Von unserer Scherbenwelt von Phoenix_Michie (Fortsetzung zu 'Von Dir und Mir') ================================================================================ Kapitel 6: Von Karyus Arbeitsalltag im Krankenhaus, sterbenden Patienten und einem alles beendenden Brief --------------------------------------------------------------------------------------------------------- ================================= 6. Kapitel ================================= KARYU Hastig ging er auf das Krankenhaus zu. Er freute sich darauf, in die Wärme des Gebäudes einzutauchen, denn heute war es draußen besonders kalt. Die Hände in die Taschen seines schwarzen Mantels vergraben, betrat er die Klinik über die Notaufnahme. Keine gute Idee, da es voll und laut war, aber er hatte es eilig. Des Nachts hatte er nur fünf Stunden geschlafen, weil er am Tag zuvor Überstunden gemacht hatte. Nach Hause war er nur der Katzen zuliebe gegangen. Ansonsten hätte sich das nicht gelohnt. Warme Luft schlug ihm entgegen, sobald sich die Schiebetüren geöffnet hatten, und die Hektik der Notaufnahme umfing ihn. Aus dem ganzen Stimmengewirr konnte er nur wenig heraushören. Alle schienen durcheinander zu reden, es waren zu viele Patienten und zu viele Ärzte in einem Raum. Er lief an Betten vorbei, wo Patienten noch nicht behandelt wurden und vor Schmerzen leise stöhnten. Mitfühlend glitt sein Blick über diese Menschen, aber er konnte jetzt noch nicht helfen. Erstmal musste er sich umziehen. "Dr. Matsumura, gut, dass Sie da sind!", rief ihm schon eine der jüngeren Assistenzärztinnen zu. "Volles Haus, es gab eine Massenkarambolage auf der Autobahn! Die Traumaräume sind schon voll, wir könnten Ihre Hilfe hier gebrauchen!" "Ich komme gleich!", antwortete er ihr über den Lärm hinweg und entfloh dem Chaos für einige Minuten, indem er hoch in den ersten Stock hastete, wo sich der Aufenthaltsraum für die älteren Assistenzärzte befand. Dort konnte er sich, manchmal in aller Ruhe, heute in aller Eile, umziehen. Dennoch genoß er die Stille, die ihn hier umgab. Für einen Moment konnte er sich sammeln, bevor er sich wirklich gut würde konzentrieren müssen. Es war nicht einfach, in einer voll besetzten Notaufnahme den Überblick zu behalten. Vermutlich würde sie jeden Augenblick geschlossen werden und neue Patienten müssten an andere Krankenhäuser vermittelt werden. Sobald Karyu in seine Dienstkleidung geschlüpft war, Stethoskop, Kuli, Ausweis und alles weitere wichtige eingesteckt, umgehängt und angeclippt hatte, machte er sich sofort auf den Weg hinunter, wo er sich die Schutzkleidung überzog. In der Notaufnahme ging es häufig dreckig zu - meistens spritzte Blut, aber man wusste nie mit Sicherheit, was einen treffen konnte. Hier wurde sich nur ein erster Überblick verschafft, der Patient stabilisiert, damit man ihn weiterleiten konnte. Hier konnten noch alle Körperflüssigkeiten wild umher spritzen und fließen… Gerade als er den überfüllten Raum betrat, wurde ein neuer Patient eingeliefert, auf den er sogleich zulief. Es war ein kleiner Junge… "Kawamura Makoto, sieben Jahre alt. Saß mit seinen Eltern in einem der verunglückten Wagen. Vitalzeichen stabil, einseitiger Schlüsselbeinbruch links..." Während die Sanitäterin ihn rasch aufklärte, notierte er sich das und sah sich nach einem Traumraum um - aber es waren immer noch alle voll. Er fluchte und winkte sich einen Assistenzarzt heran. "Machen Sie eine Röntgenaufnahme und buchen Sie schon mal einen OP. Der Junge hat eine Klavikula-Fraktur." Der Mann nickte eifrig und nahm sich des Jungen an, doch unvermittelt griff der Kleine nach Karyus Hand. "Meine Eltern...", krächzte der Junge verängstigt, woraufhin er leise seufzte. "Schon gut, ich werde nach ihnen sehen, ok? Ich erkundige mich, wie es ihnen geht und komme sofort zu dir, sobald ich etwas weiß. Lass dich in der Zwischenzeit untersuchen." Der Junge nickte leicht und ließ ihn los, woraufhin der Assistenzarzt sich mit der Trage in Bewegung setzte. Auch wenn Karyu eigentlich gleich einen anderen Patienten hätte übernehmen müssen, begann er, die Traumaräume nach den Eltern abzuklappern. Er hielt nichts davon, kleine Kinder zu enttäuschen, vor allem nicht, wenn sie krank waren. Der Junge hatte Angst, und er konnte und wollte es nicht verantworten, ihn im Ungewissen zu lassen. Im besten Fall ging es den Eltern oder zumindest einem Elternteil gut genug, dass er oder sie sich um den Sohn kümmern konnte. "Hat jemand was von den Kawamuras gehört?", fragte er sich durch, aber erst im letzten Traumraum hatte er Erfolg: dort lag die Mutter. "Wie geht es ihr?", erkundigte er sich beim Unfallchirurgen, der sie gerade behandelte. Dieser sah auf. "Hirnblutung. Fukuyama kommt gleich und wird ihn operieren." Fukuyama war der Neurochirurg ihres Krankenhauses. "Ok, wir bringen sie hoch, alles bereit machen." Karyu legte dem Unfallchirurgen eine Hand auf die Schulter. "Halt mich bitte auf dem Laufenden, Ken, ok?" Dieser nickte und verließ mit ihm zusammen den Schockraum. "Hast du was von ihrem Mann gehört?" Der Andere schüttelte den Kopf. "Nein, tut mir leid. ich weiß nichts, aber ich halt die Augen offen." Karyu nickte und begann weiter zu suchen. In der Notaufnahme befand sich der Vater nicht, stellte sich schnell heraus. Möglicherweise war er schon in einem OP - oder tot. Bereits an der Unfallstelle oder im Krankenwagen verstorben... Daran wollte er aber lieber nicht denken. Jetzt konnte er den Mann jedenfalls nicht weitersuchen, er wurde in der Notaufnahme gebraucht. Das erledigte er jetzt besser schnell, damit er weitersuchen konnte. "Matsumura, können Sie diese Patientin übernehmen? Ich wurde zu einem dringenden Konsil gerufen!", rief ihm die Orthopädin aus der Mitte der Notaufnahme zu. Er nickte nur und ging zu dem Bett, auf welchem die Patientin lag. Sie war schwanger. "Hallo, ich bin Dr. Matsumura", stellte er sich vor und lächelte ihr beruhigend zu, bevor er sie sich ansah. Sie hatte eine unschöne offene Fraktur am rechten Bein. "Ich werde mich um Sie kümmern. Wir machen ein Röntgenbild." "Mein Baby..." "Für das Baby besteht kein Risiko, machen Sie sich keine Sorgen. Es geht nur um Ihr Bein. Ein Gynäkologe kommt auch gleich und schaut nach Ihrem Baby", versprach er und besah sich kurz die Aufnahmeakte - in der so gut wie nichts stand. Die Orthopädin war wohl nicht weit gekommen. Er seufzte innerlich und machte ein paar Untersuchungen. Sie brauchte auch ein Schädel-CT. Er sah sich kurz in der Notaufnahme um und beschloss, das selbst zu machen. Alle waren beschäftigt, und er konnte froh sein, überhaupt einen Assistenzarzt zu finden, der ihm behilflich sein würde bei den Untersuchungen. Mit ihm und der Patientin zusammen ging er hinauf, um die Aufnahmen zu machen. Er war froh, der Hektik für eine Weile zu entkommen, und so konnte er sich auch besser auf die Patientin konzentrieren. Mütter und solche, die es bald wurden, waren ähnlich verunsichert wie Kinder und brauchten häufig besondere Aufmerksamkeit. Er versuchte, sie in ein ruhiges Gespräch zu verwickeln, was sie hoffentlich auch von ihrer Angst ablenken würde. „In der wievielten Woche sind Sie denn?“, erkundigte er sich lächelnd, während er ihr auf die Bahre half. „29. Woche“, antwortete sie sofort und strich sich über den deutlich sichtbaren Bauch. „Oh, dann ist es bald soweit“, erwiderte er, woraufhin sie nickte. „Wissen Sie schon, was es wird?“ Sie schüttelte den Kopf und sah ihn linkisch an. „Wir wollen uns überraschen lassen. Aber ich habe da so eine Ahnung…“ Er lächelte nur und konzentrierte sich dann auf die Aufnahme. Das Röntgenbild machte deutlich, dass die Fraktur komplizierter war, als sie ausgesehen hatte. "Ok, piepen Sie Chiba an, sie muss das operieren." Den Fall würde die Orthopädin so schnell nicht loswerden. Er beruhigte die schwangere Frau, sagte ihr, dass der Eingriff häufig gemacht wurde und der Bruch wieder in Ordnung käme. „Und jetzt müssen wir noch ein Schädel-CT machen. Sie brauchen sich keine Sorgen machen, es ist nichts Schlimmes.“ Kurz erklärte er ihr, wie das ablaufen würde. Man hatte weniger Angst, wenn man wusste, was auf einen zukam. Gerade wollte er sie in die Röhre schieben, als sie ihn ansah. "Mein Mann… Bitte rufen Sie meinen Mann an, ja?", bat sie ihn leise, woraufhin er nickte. "Aber natürlich", versicherte er ihr und drückte auf den Knopf. Langsam fuhr die Bahre in die Röhre, doch unvermittelt begann die Frau unkontrolliert zu zucken. "Was ist los?", meldete sich der Radiologe über die Sprechanlage, während Karyu den Knopf losließ und die Patientin packte. "Sie hat einen Krampfanfall!", rief er und hatte Mühe, seine Stimme nicht panisch klingen zu lassen. Fest hielt er sie in den Armen, nachdem er sie auf die Seite gedreht hatte. Dann sah er das Blut. "Sie hat vaginale Blutungen. Holen Sie mir jemanden von der Pädiatrie und der Gyn, ich fürchte, wir müssen das Baby holen!" Er fluchte innerlich und machte sich mit dem heran eilenden Assistenzarzt daran, die Frau in einen bereitstehenden OP zu bringen. Das würde ein langer Tag werden, das hatte er schon erkannt, als er die Notaufnahme betreten hatte. Bei der Not-OP half er, das Baby zu entbinden, dann kümmerte sich die Pädiatrie darum. Dem Gynäkologen konnte er mit der Patientin nicht mehr helfen, da deren Ehemann im Krankenhaus angekommen war. Es war Zeit, ihn zu informieren. Besorgte Ehemänner neigten schnell dazu, aggressiv zu werden, wenn sie nicht wussten, wie es um Frau und Kind stand. Hasebe, so der Name des Mannes, schien gefasst mit der Situation umzugehen. Er stand ruhig auf, als er Karyu sah. "Guten Tag, ich bin Dr. Matsumura. Wir mussten bei Ihrer Frau einen Not-Kaiserschnitt durchführen. Dem Baby geht es gut, Ihre Frau wird derzeit noch operiert. Mehr wissen wir in einer Stunde." Hasebe nickte langsam. "Okay, also... Sie ist außer Lebensgefahr?" Karyu zögerte. "So sieht es aus. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Momentan ist sie stabil, und das ist ein gutes Zeichen", antwortete er vage. Hasebe setzte sich und sah zu ihm hoch. "Geben Sie mir Bescheid, wenn..wenn Sie etwas neues wissen?" Er nickte. "Natürlich. Sie werden es sofort erfahren." Er ging zurück zum OP und gab Bescheid, dass der Ehemann nach der OP informiert werden musste. Die Frau war jetzt nicht mehr seine Patientin. Er war Allgemein-Chirurg und bisher hatte es nur Spezialfälle gegeben. Es war bereits Mittagszeit, und da er nun ein wenig Luft hatte, suchte er weiter nach dem Vater von Makoto. Der Junge war sicher schon mit dem Röntgen fertig und lag vielleicht schon im OP. Wenn er aufwachte, wollte Karyu gute Nachrichten für ihn haben. Er musste unbedingt den Vater finden und dann schauen, wie es um die Mutter stand. Eigentlich fiel das nicht unbedingt in seinen Aufgabenbereich. In diesem Moment wurde ihm heiß und kalt. Er hatte vergessen, den Sozialdienst zu benachrichtigen. Jemand musste sich um Makoto kümmern, während die Eltern operiert wurden und nicht in der Lage waren, sich mit dem Kind zu beschäftigen. "Hey, Misato, können Sie für mich den Sozialdienst verständigen?" Er hatte sich seine Assistenzärztin heran gewunken. Sie nickte. "Kawamura Makoto, siebenjähriger Junge. Er muss behandelt werden, ebenso wie seine Eltern. Ich brauche jemanden, der auf ihn aufpasst, bis die Eltern wieder gesund sind oder ein Verwandter informiert ist, der das übernehmen kann." Sie lief gleich los, ohne weitere Fragen zu stellen. Dann war das schon mal erledigt. Er ging auf die Intensivstation, um nach der Krankenakte des Vaters zu suchen. Er hatte Glück, dass der Mann tatsächlich dort lag. Er hatte eine gebrochene Rippe, und der Knochen hatte sein Herz tamponiert. Sein Zustand war äußerst kritisch, auch nach der OP. Nun konnte man nur noch abwarten, wie sich sein Zustand entwickelte. Seufzend erkundigte er sich nach der Mutter, aber diese wurde noch am Hirn operiert. Auf den ersten Blick sah das alles nicht besonders gut aus. Noch hatte er keine guten Nachrichten für den Jungen, also schob er einen Besuch hinaus. Karyu atmete durch und ging auf die Station. Es musste ja noch Visite machen. Und er hatte einen traurigen Fall dabei, um den er sich lieber Tage oder Wochen später gekümmert hätte. Er hatte versucht, sich innerlich darauf einzustellen, aber es blieb schwierig. Er nahm sich die Akte und suchte Chiyo Miura auf. Sie war erst zweiunddreißig Jahre alt, aber sie hatte nicht mehr viel Lebenszeit. Bei ihr war ein Lungenkarzinom diagnostiziert worden. Karyu hatte eine Chemotherapie eingeleitet und eine explorative OP durchgeführt, bei der klar geworden war, dass er den Tumor nicht restlos entfernen konnte. Er hatte der jungen Frau nur Zeit verschaffen können. Das lag schon fünf Monate zurück. Der Tumor war wieder gewachsen und zog ihre Lunge so in Mitleidenschaft, dass ihr das Atmen und Reden schwer fiel. Man konnte nicht mehr viel für sie tun und sie hatte nur noch etwa zwei Monate zu leben - eine Zeit, die sie mit Schmerzen und vielen Medikamenten im Bett verbringen würde. Das wollte sie so nicht. "Dr. Matsumura...", begrüßte sie ihn und rang sich ein Lächeln ab. "Schön, Sie zu sehen... „Hallo Chiyo.“ Er setzte sich auf den Bettrand und betrachtete bekümmert ihr blasses Gesicht. „Wo ist Ihr Freund?“ „Er ist…kurz raus, runter in den Kiosk. Er soll uns…etwas zu trinken holen. Ich denke…das braucht er…“, antwortete sie langsam. Er nickte verständnisvoll. „Heute ist ein schwieriger Tag.“ „Ja….das ist es.“ „Wie fühlen Sie sich?“ Sie dachte kurz nach. „Bereit…ich fühle mich…bereit“, antwortete sie und legte sich die Sauerstoffmaske für ein paar Sekunden auf Mund und Nase zurück, um tief durchzuatmen. In diesem Moment betrat der behandelnde Oberarzt, Dr. Nishimura, das Zimmer. „Guten Tag, Miura-san. Sie sind sich also sicher?“ Chiyo nickte und sah dem Oberarzt fest in die Augen. „Ja, ich bin soweit. Ich möchte…mein Leben beenden. Durch ärztlich assistierten…Suizid“, bat sie Dr. Nishimura erneut. Sie hatte nicht gelogen. Sie wusste genau, was sie wollte, was sie von den Ärzten verlangte. Sie wollte sterben. Karyu schluckte und senkte den Blick, während er dem Gespräch lauschte. „In Ordnung, Miura-san. Ich habe die Einschätzung und Einwilligung eines weiteren Arztes eingeholt. Der Chefarzt ist ebenfalls informiert. Ihrer...Entscheidung steht nichts mehr im Wege.“ Dr. Nishimura trat näher ans Bett. Karyu war schon längst wieder aufgestanden und in den Hintergrund gerückt. Er assistierte dem Oberarzt nur und sollte sich jetzt zurück halten. Er musste lernen, mit solchen Situationen umzugehen. Sie waren selten, aber sie kamen ein paar Mal im Jahr vor. Chiyos Freund betrat das Zimmer und sah ihn und den anderen Arzt nervös an. Er war fast genauso blass wie die Patientin. Karyu fühlte mit ihm mit. Es musste auch für ihn furchtbar sein. „Ist alles in Ordnung?“, fragte der junge Mann und stellte sich zu seiner Freundin ans Bett, jedoch sah er Dr. Nishimura an, welcher leicht nickte. „Ja, wir sind hier um mit Ihnen über den großen Schritt zu sprechen. Dem steht nichts mehr im Wege. Wir können…es heute tun.“ Karyu warf seinem Oberarzt einen kurzen Blick zu. Ihm schien das hier auch nicht leicht zu fallen. Sie beide mochten Chiyo. Sie war jung, sie war fröhlich, sie hatte noch nicht viel von ihrem Leben gehabt. Sie hatte einen Freund und eigentlich hatten die beiden noch geplant, zu heiraten, Kinder zu bekommen und in ein großes Haus zu ziehen. Aber diese Pläne waren zerschlagen worden. Karyu bewunderte Chiyos Stärke. Sie hatte es nicht leicht, seit sie von ihrer Erkrankung wusste, aber sie hatte nicht ihre Freude am Leben verloren. Sie war in kein Loch gefallen, sondern hatte sich ihre Hoffnung bewahrt. Und als auch diese gestorben war, hatte sie dennoch das Leben weiter genossen. „Doktor, wie lange…wie lange wird es dauern? Ich meine..bis die Pillen wirken…“, wollte sie leise wissen und atmete wieder durch die Sauerstoffmaske. „Das kann zwischen dreißig und sechzig Minuten dauern, bis der Tod eintritt“, antwortete der Oberarzt und räusperte sich. „Ich werde Ihnen jetzt ein Rezept dafür ausstellen. Sie müssen die Pillen selbst holen. Ihr Freund kann sie für Sie in der Apotheke im Erdgeschoss besorgen. Wenn Sie bereit sind, nehmen Sie sie ein.“ Dr. Nishimura füllte das Rezept aus und reichte es Chiyos Freund. „Bei Fragen können Sie sich jederzeit an Dr. Matsumura wenden.“ Die beiden nickten und sahen sich dann an. Die Stille im Raum erdrückte Karyu fast. Der Oberarzt verließ das Zimmer, doch Karyu blieb noch. „Was hast du uns…mitgebracht?“, erkundigte Chiyo sich bei ihrem Freund, welcher eine Flasche hochhielt. „Rotwein.“ Sie nickte. „Gut…“ Er stellte ihn ab und betrachtete das Rezept, welches er in der Hand hielt. „Dann werde ich mal…die Pillen holen“, murmelte er und sah ihr kurz in die Augen. „Das wäre nett, danke.“ Er nickte nur und verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort, woraufhin Karyu wieder an Chiyos Bett trat. „Er ist so ruhig.“ „Er hat Angst. Denke ich. Wenn ich ihn frage…bekomme ich nur ausweichende Worte von ihm…zu hören. Er will nicht…darüber reden.“ Karyu setzte sich zu ihr. „Es muss schwer für ihn sein.“ Sie nickte. „Bestimmt. Aber für mich…ist es auch schwer.“ Sie nahm einen tiefen Atemzug über die Sauerstoffmaske und starrte an die Decke. „Ich habe mir mein Leben…auch anders vorgestellt. Aber nun liege ich hier…mit einer unheilbaren Krankheit.“ Sie seufzte leise. „Ich liebe das Leben. Ich will es…in guter Erinnerung behalten. Drüben..auf der anderen Seite. Ich möchte mich nicht…an die Schmerzen und…das Dahinvegetieren erinnern. Denn das wird mich in meinen letzten…Wochen und Monaten hier erwarten. Das will ich nicht…“ Sie schloss die Augen. „Ich kann das Leben…nicht mehr genießen. Und es gibt…keine Hoffnung mehr für mich, also…gebe ich auf. Ich gehe. Und…es fällt mir so schwer. Ich liebe Ryo, und ich…ich muss ihn zurück lassen. Ich wollte ihn heiraten…viele Babys mit ihm haben…für immer mit ihm zusammen sein…“ Ihr traten Tränen in die Augen, die sie sich rasch wegwischte. „Es ist für uns beide schwer. Und es ist…traurig, dass er es mir noch schwerer macht. Er schmollt…und ich…ich sterbe heute.“ Sie lachte leise und ungläubig. „Ich sterbe und er schmollt.“ Erneut wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Karyu nahm ihre Hand und drückte sie sanft. „Er hat Angst. Wenn er sie ansieht, kann er nicht glauben, dass das nun die letzten gemeinsamen Stunden sind. Vor Ihnen möchte er stark sein. Ich glaube nicht, dass er es Ihnen schwerer machen will. Nein, im Gegenteil: er versucht sogar, es ihnen leichter zu machen. Er will sich zusammen reißen, aber er hat Angst, sich vor ihnen schwach und traurig zu zeigen. Er möchte Ihnen nicht das Gefühl geben, ohne Sie völlig verloren zu sein. Er möchte Ihnen keine weiteren Sorgen bereiten. Das ist meine Meinung.“ Sie nickte und weinte leise. Er blieb noch eine Weile bei ihr. Am Nachmittag sah er nach Makoto, dem kleinen Jungen. Er lag im Aufwachraum und es ging ihm soweit gut. Die OP war ohne Komplikation verlaufen. Eine Sozialarbeiterin stand schon bereit. Karyu betrat das Zimmer des Jungen. „Hallo Makoto. Du warst heute sehr tapfer. Wie fühlst du dich?“ „Mir tut alles weh“, jammerte der Kleine und sah ihn an. „Ich kenne Sie…“ „Ja, wir haben uns vorhin gesehen, als du ins Krankenhaus kamst. Ich hatte versprochen, nach deinen Eltern zu sehen“, erwiderte er mit einem ruhigen Lächeln. „Wie geht es meinen Eltern?“, wollte Makoto sofort wissen. Karyu versuchte sein Lächeln aufrecht zu halten. „Deine Mutter wurde operiert und liegt nun auf der Intensivstation. Es geht ihr gut, aber sie ist noch nicht aufgewacht. Wir warten jetzt, dass sie zu sich kommt und dann sehen wir weiter.“ Es war für ihn oft schwierig, mit den Kindern der Eltern zu sprechen. Er wusste nicht, was er wie sagen durfte. Er musste alles verständlich erklären, durfte ihnen aber keine Angst machen, musste aber dennoch bei der Wahrheit bleiben. Die Wahrheit über seine Mutter war, dass sie eventuell neurologische Schäden davon getragen hatte. Das wusste man aber erst, wenn sie aufwachte. „Dein Vater wurde am Herzen verletzt. Auch er musste operiert werden. Die OP ist vorbei, aber auch bei ihm warten wir darauf, dass er aufwacht.“ Traurig wurde Karyu angesehen. „Also…kann ich sie nicht besuchen?“ „Heute nicht. Du musst dich ausruhen. Aber morgen früh gehen wir gemeinsam zu ihnen. Und vielleicht sind sie dann ja schon wach“, meinte er aufmunternd. Makoto drehte den Kopf traurig und trotzig wirkend beiseite. Das Gespräch war wohl beendet. Er strich ihm tröstend über den Kopf. „Wenn du etwas brauchst, dann drück den Kopf hier neben dem Bett. Eine Schwester wird kommen und sich um dich kümmern. Ich komme später noch mal bei dir vorbei und erzähle dir, wie es deinen Eltern geht. Solange bleibt die nette Frau da draußen bei dir. Sie spielt ein bisschen mit dir, wenn du möchtest“, sagte er leise und verließ das Zimmer. Er wünschte, er könnte den Jungen aufmuntern. Auf dem Rückweg in die Notaufnahme wurde er plötzlich angepiept – die Frau mit dem offenen Beinbruch, deren Baby sie heute entbunden hatten. Sein Assistenzarzt forderte ihn an. Es gab einen Notfall. Fluchend rannte er los. Was war denn nun passiert? Sie hatte das Baby bekommen, dem Baby ging es gut, und der Bruch war von der Orthopädin gerichtet worden. Was hatte es nur für Komplikationen gegeben? Als er im Krankenzimmer ankam, herrschte Chaos. „Sie krampft!“, hörte er seinen Assistenzarzt rufen. Er konnte sich gar nicht mehr fragen, warum eigentlich er gerufen worden war und nicht Chiba, die Orthopädin. „Ok, beiseite!“ Karyu nahm das Stethoskop und hörte sie kurz ab, untersuchte ihre Augen und wurde dann vom Überwachungsmonitor abgelenkt. „Kammerflimmern! Ich brauch den Defi! Geben Sie ihr eine Einheit Epi, los los los!“ Während er die Paddles entgegen nahm, sah er kurz seinen Assistenzarzt an. „Sie hat wahrscheinlich eine Hirnblutung! Rufen Sie Fukuyama!“ Er wandte sich der Patientin zu und versuchte ihr Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Es dauerte eine Minute, dann war sie zurück. In diesem Moment kam auch Dr. Fukuyama, der Neurochirurg herbei geeilt, den er rasch aufklärte. Auch dieser kam nach kurzer Untersuchung zu der Feststellung, dass ihr Gehirn aufgrund einer Blutung angeschwollen war. „Wir brauchen sofort einen OP. Bringen wir sie hoch.“ Er sah Karyu an. „Sie assistieren mir.“ Karyu nickte und rollte das Bett zusammen mit zwei Schwestern aus dem Raum. Es sah nicht gut für die Patientin aus. Für Karyu schien dieser Tag immer länger und unschöner zu werden. Er musste an Chiyo denken. Sie würde die Pillen sicher schon haben... Doch er musste jetzt den Kopf für die frisch gebackene Mutter frei haben. Sie hatte gerade ein Baby entbunden, ihre Familie brauchte sie. Sie hatte ihr Kind noch nicht einmal zu Gesicht bekommen, weil sie bisher nicht aufgewacht war. Und ihr Ehemann, der wusste noch nicht einmal davon, dass sie nun wieder im OP-Saal lag. Es waren traurige Umstände… „Wieso haben Sie diese Blutung übersehen?“, wollte Dr. Fukuyama von ihm wissen, während sie sich wuschen. Entsetzt sah er ihn an. „Weil…“ Er stockte und blinzelte. „Sie müssen das doch auf dem CT gesehen haben. …Sie haben doch ein CT gemacht?“ Karyu hielt inne. „Ich hatte…ja, ein Schädel-CT hatte ich veranlasst, aber dann…dann hat sie in der Röhre einen Krampfanfall bekommen. Wir mussten ihr Kind entbinden…“ Dr. Fukuyama starrte ihn an. „Sie haben also kein CT gemacht?“ Seufzend schüttelte er den Kopf und trat zurück. „Sehen wir zu, dass wir sie retten.“ Er ging in den OP. Karyu brauchte einen Moment, um das zu verdauen, dann folgte er dem Neurochirurg in den Saal hinein. Wegen solcher Fehler wurden Ärzte gefeuert. Und er würde vielleicht zu ihnen gehören, sollte diese Frau sterben. Das hatte der Oberarzt ihm wohl andeuten wollen. Zwar hatte Karyu eine vage Angst um seinen Job, aber schlimmer würde das Wissen an ihm nagen, für den Tod einer jungen Mutter verantwortlich zu sein. Als er den OP betrat, wurde ihm ganz flau im Magen. Eine Stunde später war schon alles vorbei. Er hatte bei der Kraniotomie geholfen, um den Hirndruck zu verringern, aber die Blutung war schon zu weit voran geschritten – sie hätten sie zwar stillen können, doch die Schäden, die sie bereits angerichtet hatte, waren zu stark gewesen: sie war hirntot. Bestürzt stand Karyu im Waschraum und starrte durch das Glasfenster in den OP, wo die Patientin noch auf dem Tisch lag. Die Geräte atmeten nun für sie. „Wir müssen in Erfahrung bringen, ob sie Organspenderin ist“, sagte Dr. Fukuyama, der neben ihm stand und die Frau traurig betrachtete. „Sie hinterlässt einen Ehemann und ein neugeborenes Baby…“, murmelte Karyu und senkte erschöpft den Blick. „Wie soll ich dem Vater das nur erklären…“ Der Oberarzt klopfte ihm auf die Schulter. „Wir haben alles getan. Es war zu spät. Das CT konnte nicht durchgeführt werden. Sie hat sofort operiert werden müssen, und als die erste OP geschafft war, konnte man sie nicht sofort in die Röhre schieben. Sie können nichts dafür, hören Sie? Ihr erster Krampfanfall hatte einfach ein schlechtes Timing. Wäre dieser nicht gewesen, oder wäre er später gekommen, hätten wir das hier verhindern können. Aber so…“ Dr. Fukuyama seufzte. „Es hat nicht sollen sein. Ihr Mann muss nun mit dem Baby allein zurecht kommen.“ Er sah Karyu an. „Schaffen Sie das, ihm Bescheid zu geben?“ Karyu nickte nur und verließ den Waschraum langsam. Er hasste es, den Angehörigen schlechte Nachrichten überbringen zu müssen. Das war niemals angenehm. Und man wusste nie, wie die Betroffenen reagierten. Viele der Ärzte waren sogar schon einmal angegriffen worden. Aber man konnte es den wenigsten Angehörigen übel nehmen. Es war eine schwierige Situation. Karyu nahm sich ein paar Minuten, um seine Gedanken zu sortieren, dann suchte er Hasebe auf, um ihm die schlechte Nachricht zu überbringen. Dr. Fukuyama begleitete ihn, sagte aber nicht viel. Sie sprachen mit Hasebe auf der Kinderstation, wo auch die Neugeborenen untergebracht worden. Direkt neben dem Babybettchen stehend brachten sie dem Mann den Tod seiner Frau bei. Er war am Boden zerstört und konnte es kaum fassen. In dieser Situation nach dem Organspendeausweis zu fragen, fand Karyu taktlos, aber es musste sein. Die Organe konnten vielen anderen Menschen das Leben retten. Dr. Fukuyama übernahm diese schwierige Aufgabe ausnahmsweise. Hasebe reagierte entsetzt und verlangte, seine Frau zu sehen. Sie besaß einen Ausweis, aber er wollte sich angemessen von ihr verabschieden. Und das konnte Karyu nur zu gut verstehen. Er brachte den Mann zu seiner Frau, die nun auf der Intensivstation lag. Schweigend ließ er die beiden allein. Für Hasebe war die Welt zusammengebrochen. Er brauchte nicht den Arzt an seiner Seite, der dafür verantwortlich war… Als Karyu die Intensivstation entlang ging, kam er an dem Zimmer vorbei, in dem die Mutter von Makoto lag. Sie war wach, und ihr Sohn war bei ihr. Es schien also immerhin bei dieser Familie alles gut zu werden. Für einen Moment beobachtete er die zwei durchs Fenster und versuchte, sich zu beruhigen, atmete tief durch. Er wusste doch schon lange genug, dass sein Job gute und schlechte Seiten hatte. Mit letzter Kraft sah er anschließend bei Chiyo vorbei. Er rechnete damit, dass sie schon tot war, aber auch das hatte er noch vor sich. Sie saß im Bett, ihr Freund an ihrer Seite, und gemeinsam tranken sie den Rotwein. Die Pillenschachtel lag neben ihr auf dem Nachttisch. Karyu straffte sich und trat ein. „Hallo Chiyo.“ Sie ließ das Glas sinken und lächelte ihn schwach an. „Dr. Matsumura… Sie scheinen überrascht zu sein…mich noch lebend zu sehen… Es ist…nicht einfach.“ Er nickte nur, während sie zur Rotweinflasche sah. „Wir beide wollen ihn komplett leeren. Und jetzt…reicht der Wein nur noch für ein einziges Glas…“ Traurig schaute sie den Rotwein an. Es war soweit. Sie seufzte und sah ihren Freund kurz an, dann nahm sie die Pillen aus der Schachtel. Karyu räuspere sich leise und senkte den Blick, während sie das tödliche Medikament einnahm und mit dem letzten Schluck Rotwein, den ihr Freund ihr eingegossen hatte, nachspülte. Sie stellte das Glas ab und legte sich hin, machte es sich bequem. Als Karyu aufsah, hatten sich ihre Augen auf das Gesicht ihres Freundes gelegt. Sie griff nach seiner Hand. „Ich weiß, dass du Angst hast. Das ist okay. Zeig mir das ruhig. Ich mache mir keine Sorgen um dich. Du wirst das schaffen, auch ohne mich.“ Doch er schüttelte den Kopf. Karyu verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Das Paar sollte unter sich sein. Sie hatten nicht mehr viele Minuten. Er blieb in der Nähe, stellte sich an die Schwesternstation und hatte die beiden so im Blick, falls sie ihn brauchen würden. Vierzig Minuten sah er der Frau zu, wie sie starb. Immerhin hatte sie keine Schmerzen dabei. Tieftraurig und deprimierend war es dennoch. Sie hielt die Augen geschlossen und ihr Freund begann zu weinen. Karyu schluckte und winkte eine Schwester heran. „Bitte haben Sie ein Auge auf ihn und geben sie der Pathologie Bescheid.“ Der Totenschein musste ausgefüllt und vieles andere geregelt werden. Etwas, woran der Freund jetzt sicher nicht dachte. Nicht denken wollte. Karyu erhob sich und wollte sich in den Umkleideraum zurück ziehen. Er fühlte sich wie betäubt. Er musste sich jetzt etwas ausruhen. Zwei Menschen waren in seiner Schicht schon gestorben. Zwei seiner Patienten, die es nicht verdient hatten, zu sterben. Er setzte sich vor seine Ablage und runzelte die Stirn. Da lag ein Brief drin. Er hatte Post bekommen. Meistens bekam er hierher nur die Gehaltchecks oder Fachzeitschriften, aber einen Brief…? Wann hatte er mal einen Brief bekommen? Langsam nahm er ihn aus der Ablage und öffnete ihn, staunte dann nicht schlecht. Er war handgeschrieben. Für einen Moment vergaß er seine Sorgen. »Karyu, Du weißt, wie gern ich Zettelchen schreibe, um Dinge abzusagen oder zu beenden. Genau darauf wird es auch jetzt hinaus laufen. In diesem Fall hätte ich gern persönlich mit dir gesprochen, aber ich sehe dich so selten. Was ich dir zu sagen habe, konnte nicht länger warten. Also entschied ich mich, dir zu schreiben. Ich liebe dich. Aber ich glaube, du liebst mich nicht mehr. Du liebst das Krankenhaus. Du liebst deine Arbeit. Darüber hast du mich vergessen. Du nimmst mich nicht mehr wahr, und dann hat es keinen Sinn mehr, dass wir uns eine Beziehung vorgaukeln. Das funktioniert nicht mehr. Du hast mir versprochen, dass wir etwas ändern. Aber es ist nie etwas passiert. Du hast immer noch genauso wenig Zeit für mich wie vor einigen Monaten. Ich halte das nicht mehr aus. Ich war lange genug allein und nun fängt es wieder von vorne an. Obwohl du eigentlich mein Freund bist. Ich denke, du kannst meine Entscheidung verstehen. Es ist aus. Ich wünsche dir viel Erfolg in deinem Job. Darin gehst du auf. In Liebe, Zero« Verständnislos und verwirrt starrte er das Papier an. Er las es sich nochmals durch. Dann starrte er wieder darauf, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwommen. Er wusste genau, was passiert war. Zero machte Schluss, weil er nicht mehr für ihn da war. Oh Gott, ja, er war sich bewusst darüber, was er dem Anderen antat. Und er wollte das gar nicht, er wollte ihm nicht weh tun. Er sah immer noch eine Chance, alles zu retten, alles zu begradigen und für ihn da zu sein. Nie hatte er für Zero Zeit gefunden und jeden Tag hatte er sich gesagt: dann morgen. Morgen rede ich mit ihm. Morgen mache ich es besser. Aber er hatte es nie geschafft. Und nun war die Zeit um. Zero hatte die Nase voll. Er verstand es. Er war ihm nicht einmal böse, dass er nur diesen Brief schrieb. Karyu erinnerte sich nicht, wann er Zero das letzte Mal gesehen hatte. Mit zitternden Händen faltete er das Papier zusammen und steckte es in den Kittel. Dieser Tag war furchtbar. Langsam stand er auf und verließ das Zimmer. Er musste arbeiten, sich ablenken. Würde er sich ins Bett legen, würde er wohl doch zu viel nachdenken müssen. Auf dem Weg zur Notaufnahme begegnete ihm seine Lieblings-Assistenzärztin, Misato. Sie wirkte nervös und hielt ihn kurz auf. „Entschuldigen Sie, Dr. Matsumura, aber haben Sie….haben Sie mittlerweile den Brief gelesen? Haben Sie ihn bekommen?“ Er starrte sie an. Sie meinte jetzt hoffentlich nicht das, was er dachte. „Haben Sie den Brief Ihres Freundes gelesen?“ Seine Mund wurde trocken. „Woher wissen Sie davon?“ Sie senkte den Blick und rieb sich nervös über den Arm. „Ja, also…vor einer Stunde ging bei den Schwestern ein Anruf ein…ein Assistenzarzt von Ihnen wurde angefordert, kein spezieller, und ich stand gerade in der Nähe… Es war Ihr Freund. Er sagte nur, dass…falls Sie seinen Brief nicht erhalten sollten, dann solle ich Ihnen mitteilen, dass…“ Sie räusperte sich und schluckte. „Dass er die Beziehung beendet und Schluss macht. …er hat wohl noch nie etwas zum Krankenhaus geschickt und war sich nicht sicher, ob der Brief bis zu ihnen kommt… Und er meinte, sie beide würden sich kaum sehen, aber er könne nicht mehr warten..“ Für einen langen Moment starrte er die peinlich berührte Frau an, dann rauschte er ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei. Er war geschockt, einfach nur geschockt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er war sich nicht mal sicher, ob er das überhaupt wollte. Zero hatte hier auch noch angerufen? War es wirklich so schlimm? Hatte er wirklich geglaubt, der Brief würde bei ihm nicht ankommen? Vielleicht nicht rechtzeitig ankommen? Zero musste es ja wirklich eilig haben mit der Trennung. Ob er jemanden kennen gelernt hatte…? Unten in der Notaufnahme klemmte eine Akte, derer sich noch niemand angenommen hatte. Gerade als er sich diese ansehen wollte, kam Dr. Nishimura, sein Oberarzt, um die Ecke und griff danach. „Das ist meine Patientin. Yamamoto Eiki, krebskrank, ist bewusstlos aufgefunden worden. Sie können mir gern assistieren.“ Karyu nickte nur und folgte ihm in das Behandlungszimmer, wo die Frau lag. „Ich habe bei ihr einen Tumor im Darm entfernt, dann begann Chemo- und Strahlentherapie. Ich dachte, es würde ihr helfen und sie schafft es… Vielleicht Komplikationen von der Strahlenbehandlung. Machen Sie ein Blutbild, Blutchemo…das übliche eben. Geben Sie mir dann Bescheid, wenn Sie die Ergebnisse haben.“ Karyu nickte und nahm sich die Akte, dann machte er sich an die Arbeit. Dieser Fall hatte das Potential, gut auszugehen. Er hoffte inständig, heute nicht der Todesengel zu sein – der Arzt, dem für einen Tag lang alle Patienten unter den Händen wegstarben. Vielleicht sollte er sich freinehmen. Das war wohl die bessere Idee. Aber zuerst würde er die Untersuchungen abschließen, um seinen Oberarzt zufrieden zu stellen. Er nahm die Patientin auf und ließ sie auf die Station verlegen. Sie würde erstmal hier bleiben. In Ruhe nahm er ihr Blut ab. Allerdings zitterten ihm dabei die Hände. Das war ihm schon seit Jahren nicht mehr passiert! Unter großer Mühe konnte er die Untersuchung abschließen und die Wunde mit einem Pflaster abkleben, dann nahm er sich die Probe und brachte sie wankend nach unten. Irgendwas stimmte mit ihm nicht. Bekam er gerade einen Panikanfall? Da zitterte man auch. Aber er fühlte sich nicht ängstlich. Eher…allein. Total allein und verlassen. Zero hatte Schluss gemacht. Er schluckte. Vermutlich nahm ihn das so mit, dass sein Körper jetzt verrückt spielte. Nachdem er die Probe dem Labor überreicht hatte, suchte er sich einen Platz zum hinsetzen. Er schwitzte, zitterte immer noch. Er fühlte sich krank. Ja, vielleicht wurde er einfach nur krank. Er war Arzt, er sollte es wissen, aber im Moment fühlte er sich vollkommen unwissend. Nach einer Stunde fühlte er sich besser, und als Dr. Nishimura ihn rufen ließ, konnte er ohne Probleme zu ihm gehen. „Wir werden operieren. Wir müssen nachsehen, was da los ist.“ Er folgte dem Oberarzt und sie machten sich steril, auch wenn das Ergebnis der Blutuntersuchung noch nicht da war. Sie öffneten den Abdomen und sahen sich den Bereich des Darms an. „Unter Umständen ist der Krebs zurück… Oder die Chemotherapie hat Organe angegriffen“, murmelte Dr. Nishimura und besah sich die Umgebung des Darmtraktes. „Sieht soweit gut aus…“ Karyu blinzelte, dann fiel ihm die Klemme aus der Hand. „Entschuldigung, Entschuldigung!“ „Dr. Matsumura, brauchen Sie eine Pause?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein! Alles gut…Entschuldigung“, wiederholte er und atmete tief durch. Schon wieder zitterte er. Dann fiel ihm auf, dass auch Dr. Nishimuras Hände zitterten. Hier stimmte etwas nicht. Er fühlte sich furchtbar. Er legte die Klemme, die er wiederaufgenommen hatte, ab und trat einen Schritt zurück. „Dr. Nishimura….Sie sollten aufhören“, brachte er hervor und erwiderte den Blick des Oberarztes. Der Mann hatte Schweißperlen auf der Stirn. Das war ungewöhnlich. „Das Blut der Patientin…dürfte toxisch sein. Wir müssen aufhören. Sie muss zugemacht werden….“ Karyu wurde schwarz vor Augen. Er hörte, wie Dr. Nishimura mit ihm sprach, aber er konnte sich schon nicht mehr auf den Beinen halten. Er sah nicht mehr, wie nach und nach auch die restliche Belegschaft zusammenbrach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)