Broken Genius von caladriuss ================================================================================ Kapitel 24: Entscheidungstag ---------------------------- Ich hatte in der Nacht so verdammt wenig geschlafen. Wie sollte man denn zur Ruhe kommen, wenn alles auf der Kippe stand? Mir blieb kaum noch Zeit, Seto von mir zu überzeugen und der Abgang am Abend war da eher ein ziemlicher Rückschlag. Unruhig wälzte ich mich im Bett und dachte darüber nach, was ich denn noch tun konnte. Wenn alles nichts half, blieb mir am Ende nur die direkte Konfrontation. Zumindest würde ich nicht lockerlassen, bis ich alles versucht hatte. Nachdem ich doch noch zumindest ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte, quälte ich mich ein wenig zerknirscht aus dem Bett. Für Müdigkeit war an so einem entscheidenden Tag einfach keine Zeit. Schnell vollzog ich eine Katzenwäsche, ehe ich zu Setos Zimmer schlurfte. Es war recht früh, also schlief er hoffentlich noch. Allerdings sah es nicht so aus. Als ich eintrat, saß er am Schreibtisch und arbeitete an seinem Laptop. „Du bist schon wach?“, fragte ich erstaunt. „Frühes Aufstehen ist die Tugend all derer, die am Tage viel zu erledigen haben.“, murmelte er abwesend. Klang wie eine Binsenweisheit. Sein Blick haftete weiter hochkonzentriert am Laptop, als würde er mich gar nicht richtig wahrnehmen. „Was treibst du da eigentlich?“ Ich umrundete den Tisch und warf einen Blick auf den Bildschirm. Allerdings konnte ich nur erkennen, dass er irgendein Programm geöffnet hatte und darin schrieb. Vielleicht war das die Software für die Sprachsteuerung. „Ich versuche, das Programm zu optimieren, damit die Hände weniger Prozessorleistung brauchen.“ „Und du keine neuen Prozessoren einbauen musst?“ „Das wird sich kaum vermeiden lassen.“ „Wozu dann die Arbeit?“ Jetzt sah er doch auf, bedachte mich mit einem kritischen Blick. „Die Hände sind nicht so groß, dass ich da einen gigantischen Prozessor einbauen kann. Der muss schon an die Größe der Modelle angepasst sein. Dementsprechend wird auch die maximale Leistung begrenzt sein.“ „Verstehe.“ Das war mir zu hoch am frühen Morgen. Ich unterdrückte ein Gähnen, während ich nickte. „Frühstück?“ Anscheinend erkannte er, dass ich nichts von dem verstand, was er da gerade tat, denn sein Blick wirkte ein wenig resigniert, als er nickte. „Ich kümmere mich darum. Dann kannst du weiter an deinem Programm schreiben.“ Das sollte in seinem Sinn sein. Also ging ich in die Küche und bereitete Frühstück zu. Als ich es nach oben brachte, hatte er den Laptop inzwischen geschlossen und starrte nachdenklich vor sich hin. „Alles okay?“ Ich stellte das Tablett auf den Tisch, ehe ich zu ihm ging. Schnell packte ich seine Hand und hielt ihn davon ab, erneut seinen Daumen aufzukratzen. In den letzten Tagen tendierte er ungewöhnlich oft dazu. Er erwiderte meinen Blick, musterte mich nachdenklich. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er etwas sagen, aber dann schloss er den Mund wieder und nickte einfach nur. „Dann lass uns frühstücken.“ Ich war mir sicher, dass ihm etwas auf der Seele brannte, doch wenn er nicht darüber reden wollte, konnte ich ihn nicht zwingen. Besonders redselig war er heute sowieso nicht, denn auch während wir aßen, verlor er kein Wort. Seine Stimmung gefiel mir nicht. Wenn er so schweigsam war, machte es mir die ganze Sache nicht gerade einfacher. Inzwischen kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, dass ich ihm kein Gespräch aufzwingen konnte. „Soll ich dir jetzt die letzte Massage geben, bevor du deinen Gips loswirst?“ Fragen konnte man ja mal. Einen Moment lang sah er mich nur nachdenklich an, aber schließlich nickte er stumm. Wortlos zog er sein Shirt aus und setzte sich mit dem Rücken zu mir gewandt vor mich. Hier? „Ich hab hier kein Massageöl.“, meinte ich vorsichtig. Nicht, dass er es sich anders überlegte. „Ist egal.“, murmelte er nur. Okay, dann so. Ich wärmte meine Hände noch kurz an meiner Kaffeetasse vor, ehe ich sie entschlossen auf seine Schultern legte und mit meiner Massage begann. Sein Nacken war völlig angespannt. Merkwürdig. Ob ihn die Sache mit Lauren noch so beschäftigte? Vielleicht hatte er auch Angst, dass nachher doch noch etwas schief lief und er den Gips nicht loswurde. Was auch immer es war, er wirkte deswegen sichtlich angespannt. Die Atmosphäre war generell sehr merkwürdig. Mich erinnerte es ein bisschen an dieses Gefühl des letzten Urlaubstages, bevor man den Urlaubsort verließ. Oder wenn man jemanden für lange Zeit nicht wiedersah, dann war es auch so. Herannahender Abschied, so fühlte es sich an. Das behagte mir gar nicht. Ich führte gewissenhaft meine Massage durch, doch je mehr sie sich dem Ende näherte, desto unruhiger wurde ich. Was, wenn das hier wirklich das letzte Mal war, dass ich ihm so nah kommen konnte? Was, wenn es hier endete? Kaum, dass ich seine Rückenmuskulatur aufgelockert hatte, da stand er auch schon auf und zog sich wieder an. „willst du nicht deine Übungen machen?“, fragte ich verwundert. Er schüttelte nur den Kopf. „Wird auch so gehen.“ Immer noch so defensiv. Ich probierte einfach mal einen Vorstoß. Kurzentschlossen stand ich auf und positionierte mich vor ihm. Ich suchte seinen Blick, auch wenn ihm das sichtlich nicht behagte. In seinen Augen war ein unstetes Flackern und immer wieder unterbrach er den Blickkontakt, indem er nach unten oder zur Seite sah. Dabei konnte er einen normalerweise in Grund und Boden starren. „Du machst dir Sorgen über etwas, das sehe ich dir an.“ Sofort wurde sein Blick wieder distanzierter. Er machte dicht, damit hatte ich schon gerechnet. Ungerührt und ein wenig sanfter fuhr ich fort. „Ich weiß nicht, was dich beschäftigt, aber es scheint dich sehr stark zu belasten. Und auch, wenn ich weiß, dass es dir nicht liegt, will ich, dass du weißt, dass ich dir zuhören werde, falls du doch irgendwann darüber reden willst.“ Er neigte den Kopf, als wöge er ab, wie er mein Angebot werten sollte. Dabei wollte ich doch einfach nur, dass er mir vertraute. Wenigstens rang er sich zu einem schwachen Nicken durch. „Ich werde es mir merken.“ Aber ob er wirklich darauf zurückkam? Ich konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn er ging einfach an mir vorbei. „Wir sollten los.“, meinte er nur. Naja, zumindest wollte er mich beim Arzttermin dabei haben. Immerhin etwas. Und er überließ mir sogar wieder die Ehre, zu fahren. Die ganze Fahrt über schwieg er und sah aus dem Fenster. So langsam verzweifelte ich daran. Wie sollte ich denn noch irgendetwas erreichen können, wenn er partout nicht bereit war, zu reden? Seine distanzierte Abwehrhaltung verunsicherte mich völlig. Vermutlich würde er mir nur eine reinhauen, wenn ich es wagte, ihn zu küssen. Die Situation passte einfach überhaupt nicht und ich wusste nicht, wie ich das noch drehen sollte. Wie auch, wenn ich keine Ahnung hatte, was ihn so massiv beschäftigte? Vielleicht wurde es besser, wenn der Gips abkam. Ich konnte nicht viel machen, außer ihm hinterher zu laufen und mit ihm gemeinsam auf den Arzt zu warten. Selbst als Seto schon auf dem Behandlungstisch saß und auf Dr. Hikawe wartete, wirkte er nicht aufgeregt oder nervös wie beim letzten Mal. Nein, er saß nur da, so leblos und unbeweglich wie eine Puppe und starrte nachdenklich ins Leere. Dabei war heute doch der Tag aller Tage. Erst als der Arzt den Raum betrat, erwachte er aus der Starre. „Dann wollen wir mal schauen.“, meinte Dr. Hikawe enthusiastisch. Wenigstens er war gut drauf. Geübt schnitt er den Gips auf und tastete den Knöchel ab. Dann glitt er auch zur Fußsohle und übte darauf Druck aus. „Haben Sie Schmerzen oder ist es unangenehm?“ Seto schüttelte den Kopf. Und endlich kam wieder Leben in seine Augen. Ah, langsam ergriffen ihn also doch die Neugier und die Anspannung. Er beobachtete jede Bewegung des Arztes ganz genau und sein Blick flackerte zwischen Hoffen und Bangen. „Soweit ganz gut.“ Der Arzt nickte zufrieden und ließ von dem Knöchel ab. „Wir werden das Ganze nochmal röntgen, aber ich denke, die Fraktur können wir als geheilt betrachten.“ Seto nickte eifrig und seine Augen begannen faszinierend zu leuchten. Ein Glück. Zuversicht riss ihn wenigstens aus dieser nachdenklichen Phase heraus. Bereitwillig ließ er das Röntgen über sich ergehen, nur um danach ungeduldig auf dem Behandlungstisch herumzurutschen, während wir auf die Aufnahmen warteten. „Es wird schon alles gut sein.“, meinte ich beschwichtigend. Er sah mich schief an. „Hast du einen Röntgenblick oder woher weißt du das?“ „Nein, aber es gibt keinen Grund, warum es nicht gut sein sollte.“ Darüber verdrehte er nur die Augen. „Das ist eine dämliche Argumentation.“ „Aber eine, die zutrifft.“ Davon war ich überzeugt. „Probier doch einfach mal, aufzutreten, dann merkst du, ob es okay ist.“ Er hob eine Augenbraue, sah mich zweifelnd an. „Wäre das nicht ziemlich riskant, ohne vorher das Resultat der Röntgenbilder abzuwarten?“ „Du wirst doch merken, ob es unangenehm ist oder wehtut. Und du musst ja nicht gleich voll auftreten.“ Entschlossen positionierte ich mich vor ihm und hielt ihm meine Hand hin. „Ich stütze dich, damit du es ganz vorsichtig probieren kannst, okay?“ Sein Blick blieb kritisch, aber nach einigem guten Zureden, ließ er sich doch dazu bewegen, es wenigstens zu versuchen. Er fand mit seinem gesunden Bein recht schnell festen Stand, ehe er an meinen Schultern Halt suchte. Sein Griff war sehr behutsam und zögerlich, aber ich genoss es, dass er mir jetzt wieder so nah war. Wirklich sehr langsam und vorsichtig ließ er den anderen Fuß sinken. Zuerst berührten seine Zehen ganz flüchtig den Boden, doch er zuckte sofort zurück. „Tut es weh?“, fragte ich besorgt. Er schüttelte den Kopf. „Ist nur ungewohnt.“ Seine Finger krallten sich fester in meine Schultern, als er es erneut probierte. Ich umfasste sicherheitshalber seine Hüfte und hielt gespannt den Atem an. Ganz vorsichtig setzte er mit dem Ballen auf. Ich spürte seinen Impuls, erneut wegzuzucken, aber diesmal riss er sich zusammen. Langsam setzte er immer weiter auf, bis er ganz auf dem Boden stand. Noch verlagerte er allerdings kein Gewicht auf das betroffene Bein. „Geht es so?“, fragte ich leise. Er nickte. „Es fühlt sich merkwürdig an. So ungeschützt.“ „Kann ich mir vorstellen.“ Ich zog ihn enger an mich, so dass ich ihn gut halten konnte. „Versuch, darauf zu stehen.“, hauchte ich leise. Seine Nähe und sein Geruch waren so angenehm. Am liebsten wollte ich mich einfach an ihn lehnen und nie wieder loslassen. Aber das hier war wichtiger. Ich spürte, wie er zögerlich sein Gewicht verlagerte. Bis er wirklich sicher auf beiden Beinen stand, hielt ich gespannt den Atem an. Hoffentlich klappte das hier und er konnte die Krücken endlich in die Ecke treten. Zum Glück ging es wirklich. Er konnte problemlos stehen, was ihn selbst zu ein bisschen zu verwundern schien. Überrascht sah er auf. „Es geht tatsächlich.“ Seine Augen strahlten mich vor Begeisterung an und sein Lächeln war einfach herzerweichend. Endlich sah er wieder glücklich aus. Und unglaublich schön. Vielleicht wäre die Gelegenheit jetzt günstig. Wir standen so nah beieinander, dass ich die Wärme seines Körpers deutlich spürte und das Blau seiner Augen wirkte ganz weich und einladend. Nur wie sollte ich vorgehen? Gleich impulsiv den ganzen Weg oder sollte ich ihm die Möglichkeit geben, mir das letzte Stück entgegen zu kommen? Verdammt, bis jetzt hatte ich nie darüber nachgedacht, wie ich die Sache überhaupt angehen wollte. Und wie sollte er darauf reagieren? Was, wenn er mich wegstieß und ich alle meine Chancen vertat, weil das Timing nicht stimmte? Immerhin war der Abschied von Lauren noch nicht lange her. So langsam bekam ich Panik. Ich hatte mir immer wieder eine Gelegenheit wie jetzt erhofft, aber jetzt fehlte mir der Mut, das Ganze durchzuziehen. Ich hatte einfach Angst, dass er mich abwies und aus meinem Leben verschwand. Vielleicht wäre es klüger, zu warten, bis sich eine bessere Gelegenheit bot. Nur wann sollte die kommen, wenn nicht heute? Es war so kompliziert. Mein Herz blieb fast stehen vor Schreck, als er all meine Überlegungen überflüssig machte. Mit einem Mal lagen seine Lippen auf meinen, unerwartet weich und so kurz, dass ich gar keine Möglichkeit hatte, den Kuss zu erwidern. Trotzdem war das Gefühl so überwältigend und intensiv, wie ich es bisher noch nie bei einem simplen Kuss erlebt hatte. Mein Denken war völlig lahmgelegt, jeder Gedanke ausgelöscht. Nur mein eigener Herzschlag dröhnte laut und schnell in meinen Ohren. Fassungslos konnte ich ihn nur anstarren, während er meinen Blick mit großen, schreckgeweiteten Augen erwiderte. Er hatte mich geküsst. Nach all meinen Taktiken, Planungen und Strategien, die ich mir überlegt hatte, war es schließlich er, der den ersten Schritt gemacht hatte. Nur langsam drang zu mir durch, was das hieß. Er hatte Gefühle für mich. Das bedeutete, mein sehnlichster Wunsch könnte wahr werden. Wir könnten zusammenkommen, eine Beziehung haben und glücklich sein. Wahnsinn! Erst als er abrupt von mir wegrückte, erwachte ich aus meiner Starre. Ja, er hatte mich geküsst, aber bis jetzt war von mir keinerlei Reaktion gekommen. Kein Wunder, dass er sich jetzt sichtlich unwohl fühlte. Auf seinen Wangen war eine leichte Röte, aber er schenkte mir keine Beachtung mehr, sondern kämpfte sich in den zweiten Schuh. Ich überlegte fieberhaft, was ich jetzt tun oder sagen sollte. Wie sollte ich auch klar denken, wenn ich immer noch von Glücksgefühlen überwältig war? Vielleicht sollte ich ihm einfach sagen, was ich für ihn empfand. Doch gerade, als ich auf ihn zugehen wollte, öffnete sich die Tür und Dr. Hikawe kam mit den Röntgenaufnahmen herein. Als er Seto neben dem Behandlungstisch stehen sah, wirkte er kurz irritiert, aber schließlich lächelte er. „Sie haben also schon mal probiert, ob sie wieder normal laufen können?“ Seto nickte nur stumm, vermied es weiterhin stur, in meine Richtung zu schauen. „Die Aufnahmen haben bestätigt, was ich schon vermutet habe. Die Fraktur ist vollständig verheilt. Sie können wieder ganz normal laufen.“ Wieder nur ein Nicken. Dr. Hikawe tat die Schweigsamkeit seines Patienten nur mit einem Schulterzucken ab, ehe er fortfuhr. „Die nächsten sechs Wochen sollten Sie trotzdem langsam angehen lassen. Wie wir schon beim letzten Mal besprochen haben, können Sie gerne schwimmen gehen, aber joggen und springen sollten Sie vorerst vermeiden.“ „Ich werde aufpassen.“, meinte Seto knapp. „Gut. Dann sehen wir uns in sechs Wochen zur Nachkontrolle wieder.“ „Danke Doktor.“ Wie es die Höflichkeit verlangte, gab Seto dem Arzt noch schnell die Hand, ehe er sehr zügig das Behandlungszimmer verließ. Der Arzt sah ihm verwirrt hinterher. „Da hat es aber jemand eilig.“ „Er ist nur so begeistert davon, wieder laufen zu können.“, meinte ich ausweichend. Am liebsten wollte ich ihm einfach nur hinterher. „Verständlich.“ Dr. Hikawe nickte. „Solange er daran denkt, sich weiter zu schonen, ist nichts dagegen einzuwenden.“ „Ich werde ihn daran erinnern.“ Schnell verabschiedete ich mich und eilte ebenfalls nach draußen. Ich musste Seto einholen, bevor er noch ohne mich davonfuhr und mir keine Möglichkeit gab, das Ganze zu klären. Wahrscheinlich kam es ihm so vor, als hätte ich ihn zurückgewiesen. Schließlich war von mir ja gar keine Reaktion gekommen. Ich hastete die Treppen runter, raus aus dem Krankenhaus. Zu meiner Erleichterung war Seto noch da. Doch er war nicht allein. Oh nein, keinen Meter von ihm entfernt stand Kato, dieser elende Schläger. Und er wirkte sehr sehr sauer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)