Team Rockets Plan (Gewitterwolken)
Es dauert einige Sekunden, bis ich meine Fassung wiedererlangt habe, Sekunden, in denen der Kampf unter mir weitertobt. "Ruth, ganz ruhig." Ich ziehe Hunter höher in die Lüfte, reiße im Flug mithilfe seiner Krallen einen Rocket von seinem Golbat und hoffe darauf, dass Gotts Flammenwurf auch ohne mich sein Ziel findet. "Was ist passiert?"
"Du warst im Fernsehen, oder? Du bist bei diesem Proteam. Ich… Gott, ich kann nicht glauben, dass ich dich das fragen muss, aber hier ist etwas ganz faul und ich weiß nicht, was vor sich geht."
"Ruth, ich kann dir so nicht folgen", sage ich genervt und klemme mir das Handy fester unter das Ohr. Das Head-Set, durch das eine Kakophonie aus Schreien, Attackenbefehlen und noch mehr Windrauschen dröhnt, schalte ich stumm. "Wo bist du gerade? Bist du in Gefahr?"
Ich kann hören, wie sie tief Luft holt. "Ich glaube nicht. Aber meine Mutter... irgendetwas wird passieren, Abby. Sie verhält sich schon seit Tagen komisch und jetzt telefoniert sie ständig mit irgendjemandem, sagt mir aber nicht, mit wem und mit den Bediensteten redet sie auch. Das hat sie noch nie getan, Abby, noch nie!"
"Deine Mutter?", frage ich und denke an die hochgewachsene Frau vom Indigo Plateau zurück. Wir haben kein einziges Wort gewechselt; ich kann mich kaum noch an sie erinnern. "Seid ihr in eurer Villa in Oliviana?", frage ich verwirrt und weiche dabei fast lässig einem Steinwurf aus, der über meinen Kopf dahin zischt. Priss atmet tief ein und holt ein weiteres Golbat mit ihrem Aurorastrahl vom Himmel, der immer stärker zu werden scheint. Die Fledermaus trudelt als Eisklotz zu Boden, ihr Reiter jault auf, als seine Beine Bekanntschaft mit dem Boden machen.
"Was? Wovon redest du?", fragt Ruth empört. "Wir sind auf der M.S. Love, wie hast du davon nichts mitbekommen?"
"Ich hatte ein paar andere Sachen um die Ohren, tut mir ja leid", fauche ich. Dann halte ich inne. Blinzele. Werde ganz still, so still, dass Hunters nächster Looping mich fast von seinem Rücken wirft. Etwas in meinen Gedanken macht Klick.
"Abby? Abby, bist du noch dran?"
"Moment." Ich schalte das Head-Set wieder an. "Leute, wir haben ein Problem."
"Nicht nur eins", murmelt Melissa atemlos. "Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir stecken alle bis zum Hals in der Scheiße."
„Danke, Melissa, das war mir klar. Ruth hat gerade angerufen.“
„Wer zur Hölle ist Ruth?“
„Ruth ist die Tochter der Zolwyks“, erkläre ich säuerlich. „Ihnen gehört der Hafen in Oliviana City und sie sind Besitzer der M.S. Love.“
„So gerne ich deiner Stimme auch lausche, ich bezweifle, dass das in Anbetracht unserer derzeitigen Situation von irgendeiner Bedeutung ist.“
„Ist es in diesem Falle, liebste Melissa“, sage ich. „Zufällig ist die M.S. Love gerade auf Kurs, mit einem Haufen Superreichen und ihren preisgekrönten und seltenen Pokémon aus der ganzen Welt an Bord.“
„Als wenn du das vorher gewusst hättest“, murmelt Ruth halblaut.
Zum ersten Mal in meiner bisherigen Team Shadow-Karriere erlebe ich Melissa sprachlos. Jayden ist dafür nicht im Geringsten auf den Mund gefallen.
„Sie wollen ein Schiff stehlen?“, fragt er ungläubig und Melissas Stöhnen nach zu urteilen macht sie einen ähnlichen Gesichtsausdruck wie ich.
„Nein, Jayden“, erwidere ich ungeduldig. „Natürlich nicht. Aber warum haben sie wohl diese ganzen Explosionspokémon gestohlen? Ich habe hier bisher kein einziges gesehen und die Höhlen stehen auch noch. Die Löcher waren von Anfang an eine Ablenkung, ein Vorwand, die Polizisten und Trainer über zwei Regionen zu verteilen, möglichst weit weg von ihrem eigentlichen Ziel und jetzt haben sie alle Zeit der Welt, die Passagiere zu erpressen.“
„Bist du sicher?“, fragt Dark durch zusammengebissene Zähne. Ein plötzliches Rauschen und Knistern kündigt von seinem abrupten Abflug.
Ich schließe die Augen, während Hunter ohne meine Führung durch die Lüfte schießt und der Kampf unter und über mir weitertobt. Wie sicher bin ich?
„Athena“, sage ich langsam. „Sie ist für Kontakte nach außen zuständig. Wenn sie in der Lage war, die Zolwyks zu überreden, ihr zu helfen, wenn sie selbst eine Zolwyk ist, dann…“
„Abby, wovon redest du?“, fragt Ruth hysterisch. „Wer ist Athena?“
„Sie ist Vorstand bei Team Rocket“, sage ich leise. „Und wenn ich mich nicht irre, ist sie deine Tante.“
„Meine… was?“
„Kam sie dir deshalb so bekannt vor?“, fragt Dark. „Weil sie dich an Ruth erinnert hat?“
„An sie und ihre Mutter, ja. Dieselbe arrogante Art, das Gesicht, die roten Haare… Kein Zweifel.“
„Aber wie wollen sie auf das Schiff kommen?“, fragt plötzlich Ruth. „Ich hätte gemerkt, wenn eine Horde Rockets gelandet wäre.“
„Vielleicht sind sie noch nicht da“, schlägt Amy vor.
„Wir hätten sie gesehen“, sagt Chris sofort. „Louis und ich beobachten den Himmel seit Stunden.“
„Sie müssen nicht hinfliegen“, sage ich und denke mit einem Knoten in meiner Brust an meine Fahrt auf der M.S. Aqua und meine Gespräche mit den Matrosen dort zurück. Die vielen Neueinstellungen inkompetenter Seeleute erstrahlen nun in einem ganz anderen Licht. „Sie sind schon an Bord.“
Meine Worte begrüßt unbehagliche Stille. Hunter fliegt eine weite Schleife, die von seinem plötzlichen Sturzflug unterbrochen wird.
„Oh Gott, Abby, ich muss weg, bitte hilf –“ Bevor ich antworten kann, legt sie auf.
„Abby, wir gehen hier gerade ein bisschen unter!“, schreit Raphael, der hinter einem Baum vor den Schüssen der Rockets Zuflucht gesucht hat.
„Okay Leute, Planänderung“, rufe ich gegen den heftigen Wind in mein Head-Set. „Die M.S. Love befindet sich derzeit irgendwo südlich von Oliviana City im Meer. Ryan, kannst du uns die genauen Koordinaten durchgeben?“
„Ryan ist gerade beschäftigt, Abby“, erklingt Amys Stimme.
„Was soll das jetzt heißen?“, fauche ich. „Sein einziger Job ist es, uns mit seinem Scheißcomputer zu unterstützen und er ist –“
„Es tut mir so leid, Abby, aber die Spielhalle steht gerade ein bisschen unter Beschuss.“
„Die Spielhalle?“ Gotts Flammenwurf schießt an uns vorbei, während Hunter sanft zur Seite schwenkt und im Vorbeifliegen einen Rocket von seinem Pokémon reißt und schreiend in die Tiefe stürzen lässt. Ich zucke bei dem Geräusch zusammen, konzentriere mich aber wieder auf das Head-Set. „Also halten du und Ryan Stellung in Prismania?“
„Oh nein, das hast du missverstanden“, entgegnet sie fröhlich. „Ich kämpfe, Ryan hat sich verbarrikadiert und das Head-Set abgeschaltet.“
Ich blinzele. Atme tief durch. „Chris, schnapp dir Louis und flieg los. Wenn wir uns aufteilen, finden wir die M.S. Love vielleicht auch ohne Ryan. Gerard, wie sieht es bei euch aus?“
„Wir bewachen alle Eingänge. Ich kann hier nicht weg, ohne dass sie uns überrennen. Der ganze Untergrund ist voll mit ihnen. Es gibt Gerüchte, dass Craig auftauchen wird.“
„Warum sagt mir eigentlich niemand, was los ist?“, frage ich genervt.“ Wozu haben wir die Head-Sets, wenn keiner sie benutzt?“
„Es ist auch so schon chaotisch genug, verdammt.“
„Okay, okay.“ Ich reibe mir die Schläfen. „Jayden, flieg nach Azalea City. Melissa, wenn du in Ebenholz City nicht gebraucht wirst, komm nach Süden Richtung Nathan.“
„Geht klar.“
„Dark, bist du schon unterwegs?“
„Gold und ich sind losgeflogen“, stimmt er zu. „Ryan wird sich melden, sobald er in ihr Netzwerk eingedrungen ist.“
„Dann soll er sich langsam mal beeilen“, murmele ich und schalte das Head-Set leiser. Hunter folgt meinem unausgesprochenen Kommando und wirft sich mit einem Sturzflug zurück ins Getümmel.
Der Wind peitscht durch mein Haar und Priss krallt sich schmerzvoll in meinem Arm fest. Zwei Rockets kreisen lachend über dem Waldstück, in dem ich Raphael zuletzt gesichtet habe. Grypheldis scheint angeschlagen, Blut tropft aus dem Gefieder ihres linken Flügels und ihre Finsteraura wabert nur noch als schwacher Schein auf ihre Gegner zu.
Superschalle und Kreideschreie füllen die Luft mit schrillen Tönen und Vibrationen, die mir die Haare zu Berge stehen lassen und zusammen mit dem Gegenwind in meinen Ohren wiederhallen. Obwohl ich nicht Zielscheibe der beiden Golbat bin, spüre ich merkwürdige Gedanken in meinem Kopf aufkeimen. Wäre ich nicht auch Hunter geritten, hätte ich vielleicht genau dasselbe getan wie Raphael, der in dem Moment zwischen den Bäumen heraustorkelt und sich selbst wieder und wieder gegen den Schädel schlägt. Wie benommen beobachte ich das Geschehen unter mir, die Rockets, die ihre Pistolen ziehen, Kai, der sich die Ohren zuhält und versucht, Raphael zurückzuzerren und warum lässt er ihn nicht einfach gehen?
Mein Griff um Priss lockert sich. Sie faucht, tritt nach Hunter, um Halt zu finden und krallt ihre Vorderpfoten in meinen Arm. Der Schmerz weckt mich aus der Verwirrung und ich schüttele desorientiert den Kopf.
Plötzlich trifft mich etwas Schweres von hinten und reißt mich von Hunters Rücken. Schmerz explodiert an der Stelle, irgendwo zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt, während ich kopfüber in die Tiefe stürze. Das Skorgla, das mich mit seiner Akrobatik von Hunters Rücken gerissen hat, trudelt unterdessen als Eisklotz an mir vorbei. Priss´ panisches Fauchen hallt in meinen Ohren wieder, als ich zu Boden rase.
Instinkt lässt mich mein Gewicht verlagern, gerade genug, dass ich mich in der nächsten Drehung nicht mehr kopfüber befinde. Die Welt rauscht konturlos an mir vorbei, ein Ruck geht durch meinen Körper und im nächsten Moment finde ich mich in Gotts Armen wieder, die er vorgestreckt hat, um mich vor einem sicheren Tod zu bewahren.
Erleichtert atme ich aus und presse mich so eng wie möglich an seine Brust. „Flammenwurf“, befehle ich und spüre fast augenblicklich die Feuersbrunst, die über meinen Kopf davon schießt und meine Haarspitzen ansengt.
Die Rockets schreien. Als ich den Kopf hebe, entdecke ich ihre Golbat, die mitsamt hilflos fluchenden Trainern auf dem Rücken brennend und schrill kreischen herabstürzen. Rauchfahnen folgen ihrem Fall.
„Volltreffer“, stelle ich zufrieden fest und springe aus Gotts Armen. Mein Blick gleitet müde über das Schlachtfeld. Team Rocket hat sich etwas zurückgezogen und kreist träge in der Luft, eindeutig unsicher, wie sie ihre verbliebenen Streitkräfte einsetzen wollen. Von der Käferarmee haben nur etwa zwei Dutzend Gotts Flammenmeer unbeschadet überstanden und Hunter ist bereits dabei, zusammen mit Priss ein Smettbo aus der Gruppe zu reißen und es in den nächstbesten Gegner hinein zu schleudern.
Auf unserer Seite sieht es leider nicht viel besser aus. Ich sprinte an den paralysierten und bewusstlosen Trainern vorbei, umgehe die blutigen Pfützen im Gras und versuche, nicht zu genau über die reglosen Körper nachzudenken, die hier und da am Boden liegen, Menschen wie Pokémon. Ich presse meine Lippen aufeinander.
Das Stöhnen Verwundeter, das einheitliche Brummen der Käferpokémon und das Pulsieren von Blut in meinen Ohren begleiten mich, während ich die Strecke zu Raphael überbrücke, ihn an einem Arm packe und Kai dabei helfe, ihn zurück in den Schutz der Bäume zu zerren. Grypheldis wirft mir von ihrem Platz am Boden einen matten Blick zu. Fliegen wird sie heute nicht mehr, selbst wenn Raphael Zeit findet, sie ins Pokécenter zu bringen. Ihr Flügel sieht nicht gut aus.
„Bist du okay?“, frage ich Raphael. Kai hält seine Handgelenke fixiert und drückt ihn bestimmt gegen den Baumstamm, bis Raphaels Augen nicht mehr panisch in ihren Höhlen rollen. Langsam lässt er seine Hände sinken und schließt die Augen. Sein Kopf muss höllisch wehtun.
„Jetzt schon“, sagt er leise und reibt sich die Schläfen. „Hat sich angefühlt, als hätte ich einen Schwarm Bibor im Kopf.“
„Hast du unser Gespräch mitgehört?“, frage ich vorsichtig.
Er nickt. „Ich nehme an, du wirst dich wieder mitten ins Chaos stürzen und zu Ruth fliegen?“
„Ich muss“, sage ich. „Chris und Louis können nicht alleine ein ganzes Schiff abdecken und sich um die Explosionspokémon kümmern und Gerard kann Dukatia City nicht verlassen, ohne dass Team Rocket sich auch noch die Spielhalle unter den Nagel reißt. Der Rest ist zu weit weg.“ Ich äuge kritisch zwischen den Baumstämmen hindurch. „Jayden ist unterwegs“, füge ich hinzu. „Ihr müsst nur lange genug durchhalten, bis er hier ist. Kriegt ihr das hin?“
„Wir werden versuchen, sie hinzuhalten, bis einige der Trainer aufwachen“, stimmt Kai nach kurzem Überlegen zu. „Die Pokémon sind fast alle besiegt, aber wenn wir sie ablenken, schaffen wir es vielleicht, einige von ihnen zu heilen.“
„Oder ihr macht einen kurzen Trip ins Pokécenter“, sage ich nickend. „Apropos, was ist mit Gen?“
„Was ist mit mir?“
Erschrocken fahre ich herum, dicht gefolgt von Raphael und Kai. Im Dickicht Richtung Azalea City entdecken wir Genevieve, deren Ohr und Kopf mit dicken, weißen Bandagen verbunden sind. Erleichterung durchflutet mich. Einige rasche Schritte und schon falle ich ihr um den Hals.
"Geht es dir besser?", frage ich atemlos. "Bei dem ganzen Blut war ich nicht sicher, ob du nochmal zurückkommen kannst."
"Wofür hältst du mich?", fragt sie lachend und schiebt mich von sich weg. Ich folge ihrem Beispiel, als sie sich Raphael und Kai zuwendet.
„Also wenn ihr eine Ablenkung braucht“, beginnt sie grinsend und deutet auf die rechte Seite ihres Kopfes, „ein Ohr habe ich noch.“
Danach geht alles ganz schnell. Gen steigt auf Aeropteryx, während ich mich flüchtig von Kai und nicht ganz so flüchtig von Raphael verabschiede und versuche, nicht daran zu denken, dass es vielleicht unsere letzten Momente zusammen sein könnten. Gens Verletzung hat mich wachgerüttelt. Wäre ich eine Sekunde zu spät gewesen, hätte der Rocket etwas besser gezielt, läge sie jetzt blutig und tot neben den anderen, die in dieser Nacht ihr Leben gelassen haben.
Es macht mich nervös, aber gleichzeitig spüre ich ein Feuer in mir aufkeimen, einen Drang, diese Nacht so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Und alles zu tun, um Team Rocket ein für alle Mal auszulöschen.
Gott tritt als erster aus dem Waldstück. Sein Flammenwurf gibt uns Deckung, während wir uns in die Lüfte katapultieren, Gen in Richtung unserer Gegner, ich in die andere. Zuerst läuft alles nach Plan, doch kaum entdecken sie, dass ich versuche, das Schlachtfeld zu verlassen, lösen sich zwei Rockets aus ihrer Gruppierung und jagen mir nach.
Ich schaffe es gerade noch, Gott zurückzurufen, bevor Hunter außerhalb der Pokéballreichweite davon schießt und sich in die Dunkelheit schraubt. Ein lautes Pfeifen ertönt. Als ich mich umsehe, entdecke ich Gen, die schreiend ihr Ablenkungsmanöver beginnt, bestehend aus äußerst kreativen Beleidigungen und gnadenloser Offensive. Ein letzter Blick über meine Schulter bestätigt meine Vermutung. Die Rockets drehen fluchend ab, um ihren Teammitgliedern zu helfen, die jetzt unter Vollbeschuss von X´ Steinhagel stehen.
Zufrieden wende ich mich ab und presse mich eng an Hunter, während er höher und höher steigt und schließlich in einen agilitätsbeschleunigten Gleitflug übergeht. Ich schmecke bereits Salz auf der Zunge, als die Kampfgeräusche mich nicht mehr erreichen.
Die Nacht schließt sich wie eine Faust um uns, während wir die hell erleuchteten Städte hinter uns lassen. Halb blind lausche ich den Kampfgeräuschen, chaotischen Rufen und zwischenzeitlichen Flüchen durch das Head-Set und benutze einen Großteil meiner Tränke, um Sku und die anderen durch ihre Bälle aufzufrischen. Wenn ich Athena wirklich auf der M.S. Love wiederbegegnen werde, will ich vorbereitet sein.
Jaydens klare und eindeutig beunruhigte Stimme reißt mich aus meiner Trance. „Du willst doch alle superwichtigen Infos durchgegeben kriegen, richtig?“
„Schieß los.“
„Es interessiert dich vielleicht“, beginnt er, „dass sich kurz nach meinem Abflug ein Gewitter in Teak City entwickelt hat.“
„Wenn ich den Wetterbericht hören will, mache ich das Radio an“, sage ich. „Ich bin westlich von Azalea, auf der Suche nach einem Schiff mitten im Ozean, auf dem sich Explosionspokémon befinden. Ein Gewitter in Teak ist nun wirklich nicht mein größtes Problem.“
„Es wird dein Problem werden“, entgegnet Jayden ernst. „Es folgt mir schon seit einer guten halben Stunde nach Süden. Und es ist verdammt schnell.“
Jaydens Warnung erweist sich leider als zutreffend. Ich habe das Festland noch nicht hinter mich gebracht, da kann ich schon die tiefvioletten Gewitterwolken erkennen, die sich wie gewaltige Blutergüsse im Himmel zusammenballen, auftürmen und das Licht der Sterne ausblenden.
Ich drehe die Lautstärke in meinem Head-Set weiter auf und überprüfe außerdem mein Handy. Ruth hat sich seit ihrem ersten Anruf nicht mehr gemeldet. Langsam mache ich mir Sorgen. Was, wenn sie keine Gelegenheit mehr hatte, mich zu kontaktieren, wenn sie schon gefangen wurde? Würde ihre Mutter ihr etwas antun?
Ich bin nicht sicher.
"Wir haben sie gefunden."
Erschrocken horche ich auf. "Die M.S. Love?", hake ich bei Chris nach, deren Stimme mich gerade aus meinen Gedanken gerissen hat. "Wo ist sie?"
Das altbekannte Pling ertönt. Ich schnappe meinen S-Com und entdecke die Koordinaten, die Chris mir zugesendet hat. Laut der Karte bin ich noch etwa eine Stunde Flugzeit entfernt. Eine Stunde, in der Ruth ohne Hilfe durchhalten muss.
"Ich brauche noch eine Weile", sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Könnt ihr schon irgendetwas ausmachen?"
"Ausmachen? Hier ist kein Licht, ich weiß nicht, was du– hey!" Ich kneife ein Auge zu, als Chris´ Stimme leiser wird und von starken Windrauschen und lautem Knacken übertönt wird.
"Abby? Abby, ich bin´s", sagt Louis. "Ich übernehme ab hier, bevor Chris irgendwas falsch versteht."
Ich atme lachend aus und lausche Louis´ aufgeregter Stimme. Es ist Wochen her, seit wir das letzte Mal gesprochen haben. "Ich verlasse mich auf dich", sage ich grinsend und sporne Hunter gleichzeitig mit meinen Waden zu noch mehr Geschwindigkeit an.
"Es tut so gut, deine Stimme wieder zu hören", lacht er heiser, räuspert sich und fährt seriöser fort. "Pass auf. Wir sehen das Schiff nur aus der Ferne, einige Rockets scheinen vor kurzem angekommen zu sein, oder sie waren schon an Bord und sind jetzt erst rausgekrochen. Sie patrouillieren den Luftraum. Wir können nicht näher ran, ohne dass sie Alarm schlagen und möglicherweise mit der Sprengung loslegen. Ruths Mutter war eben auf dem Deck und hat mit den Leuten dort geredet. Jetzt bringen sie haufenweise Pokébälle an Bord, das ganze Schiff ist wach."
"Hast du Ruth gesehen?"
"Noch nicht. Würde mich nicht wundern, wenn man sie in irgendeiner Kabine eingesperrt hat, bis alles vorbei ist."
"Was, wenn sie das Schiff wirklich sprengen?", frage ich. "Würde Ruths Mutter ihre einzige Tochter sterben lassen?"
"Ich weiß es nicht. Zuzutrauen wäre es ihr, sie hat schließlich alles mit Athena ausgeheckt, wenn du richtig liegst. Die hat kein Gewissen. Wahrscheinlich wird sie an dem Profit beteiligt, oder es ist einfach nur reine Geschwisterliebe. Die Zolwyks sind mir alle suspekt. Vertraue keinen Rothaarigen, Abby, das lernen wir daraus. Alina, Athena, Ruth, Gerard… Gefährliche Menschen."
"Was ist mit Ginger?", frage ich grinsend. "Oder Wiesel?"
"Jetzt ruinier mir nicht meine Theorie!"
Ich lache herzlich und presse mich enger an Hunter. Der Wind wird kälter, je weiter wir aufsteigen und das Gewitter zu meiner Rechten nimmt immer gewaltigere Ausmaße an. "Ihr kommt also nicht ran?"
"Nicht ohne weiteres. Chris fliegt schon die ganze Zeit Kreise. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns entdecken. Wir bräuchten irgendeinen Sichtschutz."
"Was ist mit den Explosionspokémon?", frage ich. "Wo sind sie?"
"Nicht an Deck, das hätten wir bemerkt. Vermutlich irgendwo im Buk, aber frag mich nicht, wo. Maschinenraum würde sich anbieten, oder in der Nähe der Schiffsaußenseite, damit das verdammte Ding versinkt. Ich schwöre dir Abby, wenn wir heil aus dieser Sache rauskommen, werde ich graue Haare haben."
"Das will ich sehen", sage ich und schaue wieder über meine Schulter. Hunter, der meinen Beinsignalen gefolgt ist, hat seinen Kurs etwas nach Norden verlagert. Das Festland liegt nun endgültig hinter uns, aber ich kann Johtos Küste noch gut erkennen, auch wenn der Wald durch die geschwungene Straße Richtung Dukatia City ersetzt worden ist. Die Wolken brauen sich bedrohlich über der Hauptstadt zusammen. Wie Jayden angekündigt hat, ist das Gewitter schnell – schneller noch als er, denn laut S-Com hat er Dukatia City noch nicht erreicht.
Ich will gerade zu einer weiteren Frage ansetzen, da reißt ein gleißend heller Blitz den Himmel entzwei. Erschrocken schwenkt Hunter in die Schräglage, weg von der Entladung, die nahe der Küste ins Meer eingeschlagen ist. Grollender Donner füllt meine Ohren und echot durch mein Head-Set. Der nächste Blitz schlägt weiter im Meer ein, nicht nah genug, um Hunter erneut vom Kurs zu bringen, aber in der Richtung, in die wir gerade fliegen. Richtung M.S. Love.
Ein letztes Mal wende ich mich auf meinem Sitzplatz um und spähe durch die Dunkelheit. Das Gewitter zieht weiter, an der Stadt vorbei aufs offene Meer. Blitze schlagen wie Speere in die schwarzen Wellen ein, begleitet von ohrenbetäubendem Donner. Mein Blick wandert die Küste entlang, zu der kleinen, gelb leuchtenden Silhouette.
Mein Herz setzt einen Schlag aus, mein Mund öffnet sich in perfekter Verblüffung. Am Rand von Johto, am Rand des Festlands, steht Raikou.
Und brüllt.