PredElection von YourBucky ================================================================================ Kapitel 1: Part I - Genesis --------------------------- PredElection *puh* Als ich diese Geschichte begonnen habe, hatte ich noch keine Ahnung, was sich daraus entwickeln würde. Ich hatte eine Idee, ein paar mehr oder weniger verrückte Charaktere und viel zu wenig Zeit. Und dann wurde die Story länger und länger und noch ein bisschen länger... und auch jetzt ist das Ende noch lange nicht in Sicht. Deshalb habe ich kurzerhand das, was ich bisher verbrochen hatte, in Kapitel aufgeteilt und fange nun einfach mal mit hochladen an... ^^;;; Ich freue mich über wirklich jeden Commi, ich kann ein wenig Motivation sehr gut gebrauchen! Eine besondere Widmung mal wieder an meinen FF- und Co-Autor Son-Goku Daimao, deine Geschichten sind so unglaublich genial und inspirierend! ^^ Und natürlich an Tía, Picco und Marron... und alle, die das lesen! Part I - Genesis Hi! Ich hoffe, sie hatten einen schönen Abend und einen noch besseren Tag, ganz ehrlich, auch wenn wir uns noch kaum kennen. Gestatten sie, dass ich mich erst einmal vorstelle? Nun, ehrlich gesagt gibt es da nicht viel zu erzählen. Mein Name ist Jesse, Jesse Maguire, wenn sie's gern vollständig haben möchten, ach, ist ja auch egal. Ich bin vor knapp einem Monat 21 Jahre alt geworden und sie müssen wissen, ich bin nur bedingt ein Freund großer Worte, also will ich nicht lange abschweifen, sondern lieber gleich anfangen, diese Geschichte zu erzählen, nein, aufzuschreiben, wie auch immer. Bitte, hören sie nicht gleich auf zu lesen, nur weil diese Einleitung etwas unbeholfen klingt, ich mag nicht der Klügste sein, aber ich schwöre ihnen, ich kann es besser. Ich weiß nur nicht, wie ich anfangen soll. Aber sie haben mich nun einmal um diesen Bericht gebeten und ich hoffe, ich werde ihnen meine Gründe erklären können. Ich habe keine Ahnung, was genau sie von mir hören wollen, aber sie mögen mir verzeihen, dass ich diese verfluchte Rechtfertigung nicht in einer halben Seite abhandeln kann. Ich kann und, entschuldigen sie mich, ich will es auch gar nicht. Wissen sie, ich habe wirklich lange darüber nachgedacht, wie ich ihnen die ganze Sache so beibringen soll, dass sie mich - uns - verstehen. Sie glauben ja gar nicht, wie viele Nächte man wach liegen kann. Übrigens, ja, es stimmt, nach 48 Stunden fangen die Halluzinationen an, aber an die bin ich gottlob ja schon gewöhnt. Das Nachtprogramm der Privaten ist besser, da wiederholen sie die ganzen Shows vom Nachmittag. Ich bin nicht anspruchsvoll... ich schweife schon wieder ab. Das liegt daran, dass ich so verdammt aufgeregt bin, ich meine, es geht hier um viel, um wirklich viel. Der Gedanke macht mich nervös. Es ist so, nach all dem Nachdenken kam ich jedenfalls zu dem Schluss, dass es alles keinen Sinn macht, wenn ich nicht ganz von vorne anfange. Wissen sie, da waren diese beiden Menschen, Adam und Eva hießen sie, die waren im Paradies. Doch dann kam eines Tages diese fiese, hinterlistige Schlange und... nun kucken sie doch nicht so entsetzt! War ein blöder Witz, sorry, ich weiß. Wie gesagt, die Nervosität. Allerdings, um sie gleich zu warnen, ich werde sehr wohl bei einer Schöpfungsgeschichte anfangen, bei meiner nämlich. Ich sagte ja bereits, ich habe wirklich lange nachgedacht, aber wenn sie den ganzen Wahnsinn verstehen wollen, muss ich ein wenig ausholen. Was soll ich noch sagen? Setzen sie sich hin, holen sie sich was zu Trinken und entschuldigen sie mich, bitte, wenn sie der verlorenen Zeit später allzu sehr nachtrauern. Lehnen sie sich zurück - ich hoffe, sie haben es bequem? - und folgen sie mir ein paar Jährchen zurück. Genesis 1, die Erschaffung des Jesse Maguire. Nein, ich fange jetzt nicht mit Bienchen und Blümchen an, bei Gott, wir wissen doch alle, wie so etwas abläuft. Meine Mum wusste es ganz besonders gut, sie hatte sogar richtig Übung, beruflich gesehen. Wer genau jetzt eigentlich mein Vater war, weiß wahrscheinlich nicht einmal der Herr im Himmel persönlich. Nicht, dass sie jetzt etwas Falsches denken, natürlich wusste Mum sehr wohl über Schwangerschaft und Verhütung bescheid, aber Unfälle passieren nun einmal. Nehmen wir doch mal die Sache mit den Flugzeugen. Der beste Pilot des ganzen Planeten könnte mit einer tausendfach prämierten Crew zum abertausendsten Mal die ungefährlichste Strecke seit Anbeginn der Zeiten abfliegen - was glauben sie, passiert mit ihm, wenn er einen akuten Triebwerkschaden hat? Eben! Gegen technisches Versagen ist selbst der moderne Mensch immer noch vollkommen hilflos. Bei Mum lief dieser technisch bedingte Unfall zugegebenermaßen etwas weniger spektakulär ab, ehrlich gesagt, sie merkte es nicht einmal. Zumindest nicht sofort. Ich glaube nicht, dass sie es einfach nur nicht wahrhaben wollte, sonst wäre sie sofort zu einem Arzt gerannt und hätte die unliebsamen Folgen ganz sauber wieder beseitigen lassen. Nein - sie bemerkte das ganze Unglück erst, als es schon längst zu spät war. Was soll ich sagen, sie war frustriert und ich kann sie verstehen. Stellen sie sich doch mal vor, in ihrem Beruf und dann mit so einer dicken Kugel vor den Hüften... mal abgesehen davon, dass für manche Menschen eben doch nicht nur die inneren Werte zählen, bei gewissen Tätigkeiten ist es einfach hinderlich. Verzeihen sie, das gehört nicht hierher. Ich will mich jetzt auch kurz fassen: ein paar Monate oder Wochen oder wie auch immer erblickte dann ein Baby das Licht der Welt, ein süßes kleines Ding, vollkommen hilflos, mit riesigen unschuldigen Augen. Es wird sie jetzt nicht groß überraschen - das Baby war ich und als Mum mich sah, war sie doch irgendwie froh. Ich glaube, sie war sogar erleichtert, dass all die Partys und Drinks und Drogenexszesse dem kleinen Ding nicht geschadet hatten. Wissen sie, Mum war nie sehr konsequent im Verfolgen ihrer Pläne und ich schien als Ungeborenes eine richtige Kämpfernatur gewesen zu sein, jedenfalls lebte ich und schrie und machte mir in die Windeln, wie alle Babys das tun. Die Krankenschwestern der Kinderstation standen oft ganz einträchtig neben meinem Bettchen und lachten in ihren weißen Röckchen und Blusen. "So ein süßes kleines Mädchen!" sollen sie angeblich oft gesagt haben, und kam irgendeine andere Schwester und klärte sie schmunzelnd darüber auf, dass dieser putzige Winzling doch eigentlich eher männlicher Natur war. "Ach nein, tatsächlich?" riefen die pferdeschwanztragenden jungen Frauen dann und schlugen sich mit der Hand gegen die Wange, so als könnten sie gar nicht wirklich glauben, was ihre glubschäugigen Kolleginnen ihnen da erzählten. Offen gesagt, ich halte diese Schwestern für dumm. Wenn man nicht zufällig selber gerade Mutter geworden ist, sehen doch alle Säuglinge gleich aus, machen wir uns nichts vor. Manche Jungen sind eben zierlicher und kleiner und süßer als andere - aber muss man deshalb gleich einen mittelschweren Herzinfarkt davontragen, wenn man erfährt, dass der winzige Glatzkopf kein goldiges Mädchen ist? Finden sie, ich reagiere zu genervt? Nun ja, das könnte damit zusammenhängen, dass es wirklich viele Schwestern gab, die mich kurzerhand dem anderen Geschlecht zuordneten. Und stellen sie sich vor: das hörte nicht etwa auf, als ich aus dem kritischen Alter heraus war, in dem man ja ohnehin von oben und unten gleich aussieht. Vielleicht lag es ja auch daran, dass ich nicht gerade in einen besonders schönen, großen, luftigen Kindergarten in irgendeiner süßen Vorstadt ging. Ich kannte die Welt von weißen Häusern und Zäunen und kitschigen pinken Flamingos im Garten sehr genau - ich habe schon immer viel Zeit vor dem Fernseher verbracht. Ich persönlich verbrachte mein bestes Alter in einem ziemlich dreckigen, versifften Loch irgendwo in der Bahnhofsgegend einer Großstadt. Wir waren wirklich viele Kinder dort und unsere Kleidung glich alten, ausgetragenen Uniformen - nicht etwa so wie die verwöhnten Bälger höherer Klassen, wo die süßen kleinen Mädchen mit Zöpflein, Rüschenrock und Kniestrümpfen durch ihr fröhliches Leben hüpfen. Ganz ehrlich, wir sahen alle mehr oder weniger gleich aus und natürlich waren unsere Erzieherinnen nicht sonderlich gut ausgebildet und genervt... Es ist überhaupt kein Wunder, dass sie mich ständig dem falschen Geschlecht zuordneten. Ständig waren andere geschundene, entnervte Aufpasserinnen da, sie konnten sich doch nicht jedes Gesicht merken! Und trotzdem reagierte ich anfangs stets mit kindlichem Trotz darauf, wenn wieder einmal eine jener übermütterlichen Frauen auf mich zugeschwebt kam und sich säuselnd zu mir herunterbeugte: "Na, waren wir heute mal wieder ein ganz wildes Fräulein?" Ja, es regte mich auf. Ich war kein Fräulein und ich war nicht wild. Es ist nicht so, dass ich Angst vor den ganzen fremden Kindern hatte - es waren nur einfach ein bisschen viele davon und ich hatte zuhause schon genug Ärger. Ich habe mich nicht mit anderen geprügelt. Zumindest nicht oft. Schön, manchmal bin auch ich ausgerastet, aber jede Geduld hat Grenzen und die sollte man nicht überschreiten. Würden sie es sich einfach so gefallen lassen, wenn man ihre Mutter als Schlampe bezeichnen würde? Schön, ich gebe zu, bei ihnen wäre das etwas anderes, aber ich begriff schon damals, dass Mum für ihr Geld hart arbeitete. Ich konnte es nicht leiden, wenn die anderen darüber lachten, nur, weil sie gar keine Ahnung hatten, wovon sie redeten. Vielleicht hatten sie es von ihren feinen Eltern gehört, aber im Gegensatz zu den meisten von denen hatte Mum wenigstens einen Job. Natürlich zog ich bei Auseinandersetzungen körperlicher Art meistens den Kürzeren, aber das war mir eigentlich ziemlich egal, einstecken konnte ich schon immer ganz gut. Außerdem kamen die meisten blauen Flecken gar nicht davon, dass ich mich wegen jedem Mist geschlägert habe, so ein Kind war ich nicht - das hatte ich nicht nötig. Mum hatte ganz einfach viele Männer, sie kamen und gingen und behandelten sie wie ein Stück Dreck, das ihnen ein wenig Befriedigung geben konnte. Die meisten von ihnen mochten mich nicht, keine Ahnung warum, ich störte sie anscheinend. Aber ich habe sie bestimmt nicht provoziert. Ich war nicht wild, nur weil ich ständig aussah wie ein Preisboxer kurz nach seinem Kampf. Und natürlich war ich kein Mädchen. Ich habe mich oft gefragt, woran es denn lag. Sicher, ich trug mein Haar verhältnismäßig lang, vorne fast bis zu den Schultern, hinten kürzer - aber wer hätte es mir denn auch geschnitten? Schön, ich war klein, ich war zierlich, ich war blass und sah aus wie eine besonders hübsche Puppe, zerbrechlich, ein wenig so wie gerade erst verstorben... aber musste mich deshalb alle Welt für ein wildes Fräulein halten? Denken sie jetzt bitte nicht, ich hätte einen Schaden davongetragen deswegen. Ich möchte ihnen ja nur erklären, wie es zu dieser Idee kam. Sie sollen nur nicht denken, dass ich in irgendeiner Weise gestört bin. Vielleicht versetzen sie sich einmal in meine Lage - versuchen sie es zumindest. Ich war ein Kind. Es war ja nicht so, dass Mum mich nicht liebte. Sie liebte mich sogar sehr, ganz ehrlich, aber sie war eben einfach nicht so ganz in der Lage, auch angemessen für mich zu sorgen. Sie hatte ja selber kein schönes Leben und deshalb habe ich mir alle Mühe gegeben, so gut ich nur irgendwie konnte für sie dazusein, wenn sie wieder einmal mit irgendwelchem Stoff vollgepumpt in einer Ecke lag, um die böse Welt wenigstens für kurze Zeit vergessen zu können. Ich war eben noch klein, darum hat es mich schon irgendwie mitgenommen, die ganze Situation. Ich saß öfters draußen in dem dunklen Treppenhaus mit den hellgrau-braun gemusterten Stufen und den dem dünnen schwarzen Treppengeländer, das an etlichen Stellen mehr schlecht als recht zusammengeflickt war. Ich hatte damals so einen uralten Teddy, mit dem habe ich immer gespielt. Er hatte nur noch ein Auge, eines seiner Ohren war herausgerissen (dort quollen immer die verklebten Reste der Füllung aus seinem geschundenen Körper) und sein Fell war ganz räudig und struppig, aber er war eben mein Teddy und ich mochte ihn. Und eines Tages bekamen wir dann diese neue Nachbarin. Es war eigentlich nichts Ungewöhnliches, die Menschen kamen und gingen in unserem alten, halb verfallenen Hochhausbau und keiner kümmerte sich darum. Aber diese Nachbarin war anders. "Hey, meine Kleine, warum weinst du denn?" Ich erinnere mich noch heute an den Klang ihrer Stimme. Es redeten nicht oft Menschen in diesem Tonfall mit mir, so vollkommen freundlich und irgendwie... besorgt... ich glaube, ich kann das nicht beschreiben, aber es ist ein Unterschied, ob jemand mit einem Kind redet oder mit einem Tier. Ich nehme es den Kindergärtnerinnen nicht übel, sie mussten sich täglich mit verdammt vielen von uns Plagen herumschlagen und einige hatten wirklich die Manieren eines tollwütigen Kampfhundes. Aber davon einmal abgesehen sehnt sich doch jedes Kind ganz tief in seinem Innersten nach ein wenig Liebe und Zuwendung, und vielleicht war es diese tief in meiner Psyche vergrabene Sehnsucht, die mich zu einer völlig Fremden augenblicklich Vertrauen fassen ließ. "Mum geht es nicht gut!" schniefte ich und wischte mir mit meinem fleckigen Ärmel über die Augen. Ich ging nicht weiter auf die wohlbekannte Verwechslungsgeschichte ein, wahrscheinlich nahm ich an, dass sich die Sache von selbst aufklären würde. "Oh, ist deine Mummy denn krank?" Mit einer zärtlichen Geste wuschelte sie mir durch mein strähniges Haar. Ihr durch und durch vertrauenswürdiges Lächeln ließ Reihen blitzend weißer Zähne erkennen, die sich leuchtend von ihrer dunklen Hautfarbe und ihren kaffeebraunen Lippen abhoben. Sie war nicht mehr ganz jung, vielleicht war sie auch einfach nur zu schnell gealtert, aber trotz allem war sie eine sehr gut und vor allem unheimlich sympathisch aussehende Frau. "Nein, sie ist nicht krank", antwortete ich in meiner kindlichen, naiven Ehrlichkeit. "Ihr neuer Freund hat sie sitzen gelassen und deshalb geht es ihr nicht gut und sie brauchte mal wieder, na ja, sie nennt es einen kleinen Trost, aber ich glaube, das sind Drogen oder so." "Drogen?" Sie riss ihre runden Augen weit auf. Ihre Iris war beinahe schwarz, das verlieh ihrem Blick unweigerlich etwas sehr eindrückliches. Ich zog meine Beinchen fester an meinem Körper und streichelte mit einer Hand über das dünne, struppige Fell meines Teddys. "Kommt das denn öfters vor?" "Ab und zu halt... wenn es ihr schlecht geht..." Irgendetwas in meinem Gesicht musste ihr verraten, dass es Mum verdammt oft schlecht ging. Sie strich mir mit einer Hand durch mein schwarzes Haar, die andere platzierte sie in beinahe mütterlicher Besorgnis auf meiner dünnen Schulter. "Du armes kleines Ding!" Ich weiß selber nicht, warum mich dieser Satz nicht aufregte, denn bei jedem anderen Menschen, in jeder anderen Situation hätte er höchstwahrscheinlich schlichtweg meinen kindlichen Trotz geweckt. Ich hasste Mitleid. Mitleid empfand ich immer als eine schrecklich herablassende, gönnerhafte Emotion, die einen automatisch auf eine tiefere Stufe hinab degradierte. Ich weiß auch nicht, warum ich ihr dann in die Wohnung gegenüber folgte. Sie hatte mir Tee angeboten, Tee und Plätzchen. Natürlich war dieses Angebot durchaus verlockend, aber ich war ein Kind der Slums, ich folgte normalerweise keinen fremden Menschen in fremde Häuser. Man hörte ja öfters diese Geschichten, von Mum, von den Erzieherinnen... dass nette Onkel und freundliche Tanten kleine Straßenkinder mit sich lockten und dann an irgendwelche Zuhälter verkauften. Ich wusste damals nicht, was ein Zuhälter ist, aber ich stellte mir immer einen großen, bösen Mann vor, der mit den hilflosen Kleinen unschöne Dinge anstellte. Keiner von uns ahnte natürlich, was für unschöne Dinge damit eigentlich gemeint waren, aber in meiner Fantasie war ein Zuhälter ein bisschen so etwas wie eine grausame alte Hexe in einem Märchen, die Kinder einsperrte, um sie dann als Sonntagsbraten zu verspeisen. Jedenfalls war ich wirklich vorsichtig, ich besaß mehr als nur ein gesundes Misstrauen gegenüber Fremden. Na ja, ich hatte dank Mums Freunden ja auch schon genügend Erfahrungen gemacht, die mich fest daran glauben ließen, dass es Dinge gab, die schlimmer waren als Zuhälter-Hexen. "Na, dir scheint es aber zu schmecken!" Ich weiß noch heute, wie meine Nachbarin gelacht hat, bei jedem einzelnen Plätzchen, dass ich mir an jenem warmen Nachmittag genommen habe. Ich lachte zurück. Ich fühlte mich sofort wohl in ihrer kleinen Wohnung, obwohl sie meiner eigenen sehr ähnlich war. Allerdings gab es hier eine Tapete, eine grüne Tapete mit einem Blumenmuster - ich war begeistert davon. Vielleicht hatte vor meiner Nachbarin ein altes Ehepaar in diesen engen vier Wänden gelebt. Nicht nur jener besagte Wandschmuck, auch die Möbel und sogar die Lampen wirkten irgendwie altmodisch, obwohl ich das als Kind natürlich noch nicht begriffen habe. Der recht niedrige, viereckige Tisch und die Schränkchen und Regale waren aus sehr dunkelbraunem Holz. Es gab ein Sofa und zwei ziemlich große und breite Stühle, die mit einem eher rauen Stoff bezogen waren. Er war Hellbraun und war mit ganz feinen dunkelbraunen Streifen überzogen, die sich so ein bisschen von dem Rest abhoben. Man konnte sie spüren, wenn man mit dem Finger darüber fuhr. Die Lampe über dem Tisch hatte einen Lampenschirm, ich glaube er war aus demselben Material, und ringsherum hingen hellbraune Fransen hinunter. Und es gab noch mehr faszinierende Dinge in der kleinen Wohnung. Zum Beispiel eine richtige Standuhr. Sie sah sehr alt aus, aber nicht wertvoll. Trotzdem war ich wie gebannt von den goldenen Pendeln, die sich hinter dem verglasten, gesprungenen Gehäuse bewegten. Meine Nachbarin hatte meine gebannten Blicke natürlich bemerkt und lies mich einmal sogar eines der Pendel berühren - ich schwebte im siebten Himmel. Und es ging noch weiter! Die Wohnung hatte einen Teppich! Einen echten Teppich mit ganz, ganz hellbraunen Haaren. Er war richtig weich, wenn ich mit meinen nackten Füßen darüber ging, fühlte ich mich wie ein Wolkenläufer und wollte mich am liebsten gar nicht mehr hinsetzen. Ich glaube, sie hat die Plätzchen sogar selber gebacken. Sie schmeckten wirklich köstlich und dufteten immer mit ihrem Tee um die Wette. Ich habe an dem Tee sogar noch lieber gerochen, als dass ich ihn getrunken habe, glaube ich. Aber natürlich war auch der Geschmack schlichtweg traumhaft - nach Vanille und Himbeeren. Ich hatte noch nie zuvor Himbeeren gegessen, aber weil ich den Tee so gern mochte, versprach mir meine Nachbarin, irgendwann einmal welche für mich zu kaufen. Manchmal warf ich mir zuviel Zucker in den Tee und konnte ihn dann kaum noch trinken. Das lag an den Zuckerstücken, die meine Nachbarin immer in einem grün-weiß gemusterten Schüsselchen auf dem Tisch stehen hatte. Es waren nicht einfach nur normale Zuckerstückchen, nein, sie waren in die Form von Herzen und Karos und den anderen Spielkartensymbolen gepresst. Ich war damals fasziniert davon, wie sich die glitzernd weißen Kunstwerke in meinem hellroten Tee ganz langsam auflösten. Ich war oft in der Wohnung meiner Nachbarin, und es blieb für mich bis zum Schluss so etwas wie ein Märchenland. Natürlich erzählte sie mir dort auch immer Geschichten und Märchen und ich hing wie verzaubert an ihren Lippen. Jedes einzelne Wort brachte mich weit, weit weg aus dem schmutzigen alten Hochhaus, aus dem düsteren Bahnhofsviertel, aus der ganzen, einsamen Stadt. Ich folgte großen Helden und tapferen Prinzessinnen, weisen Königen und mächtigen Magierinnen - am liebsten wäre ich gar nicht mehr zurückgekehrt. Trotzdem blieb ich nie sonderlich lange, ich hatte ja auch andere Dinge zu tun. Vielleicht bewahrte gerade das die besondere Magie dieses Ortes, die ich bis heute nicht vergessen habe. Auch als ich älter wurde und irgendwann in die Schule ging (eine Schule für Menschen, die sich eigentlich gar keine Schule leisten können), bin ich noch jeden Tag zu ihr gekommen. Und eines Tages stellte ich ihr die Frage, die mir schon so lange auf der Seele gebrannt hatte. "Warum bist du eigentlich so nett zu mir?" "Warum fragst du denn so etwas, mein kleiner Jesse?" Ihr Lächeln war betäubend. Eigentlich blieben beim Anblick dieses Lächelns keine Fragen mehr offen, es war mehr gesagt, als jemals gesagt werden musste. Und dennoch blieb ich stur und hielt ihrem Blick stand. "Weil's mich interessiert!" Irgendwie gelang es ihrem jung gebliebenen Gesicht, sogar noch ein bisschen freundlicher dreinzublicken. Sie lachte. "Ach, ich weiß es gar nicht so genau!" Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich durch ihr gelocktes Haar. "Du bist einfach unglaublich süß! Erinnerst du dich noch daran, als ich dich für ein Mädchen gehalten habe, auf der Treppe? Das kommt daher, weil du so wahnsinnig hübsch bist. Sogar noch viel hübscher als die meisten Mädchen in deinem Alter. Und außerdem kannst du dich immer so für die Dinge begeistern. Ich liebe das bei Kindern! Ich wünschte, ich hätte auch ein Kind gehabt!" Sie stieß einen halb gespielten, halb wehmütigen Seufzer aus und verstrubbelte mir mein schulterlanges Haar. Ich weiß selber nicht genau, wieso ich mich in diesem Augenblick so geschmeichelt fühlte - eigentlich hasste ich diese vollkommen an den Haaren herbeigezogenen Vergleiche. Ich war ein recht extremes Kind, entweder liebte ich etwas aus tiefstem Herzen, oder ich hasste es mit exakt derselben Emotionalität und Intensität. Das hat sich später geändert, irgendwie waren mir dann die meisten Dinge vollkommen egal, aber in meiner ziemlich kurzen Kindheit hatte ich die Gabe, mich auch für die kleinsten Kleinigkeiten zu begeistern - oder mich mit all meinem Herzblut darüber aufzuregen. Bestimmt war es irgendwie Mums Schuld. Verstehen sie mich nicht falsch, ich bin eigentlich nicht der Typ Mensch, der jedes einzelne seiner Probleme auf irgendwelche Großonkel dritten Grades abschiebt, die ihm in der Jugendzeit irgendwann einmal unbeabsichtigt gegen das Schienbein getreten haben. Ich meine nur, dass Mum aus verständlichen Gründen nicht die Zeit dazu hatte, mich an allen Ecken und Enden in den Himmel zu loben, wie kleine Kinder das nun einmal so gern haben. Mums Neuer lobte mich nur gelegentlich, dass ich nicht so viel jammern und schreien würde wie andere Plagen, wenn man ihnen eine Tracht Prügel versetzte (ich bin mir aber nicht sicher, ob er das nicht ironisch gemeint hat) und aus irgendeinem Grund hielt sich mein Stolz darüber in Grenzen. Ich gebe zu, ich war empfänglich für Komplimente und Schmeicheleien, und deshalb brannte sich diese an und für sich so unbedeutende Szene wie ein glühender Zigarettenstummel in mein kindliches Gedächtnis ein. Ein halbes Jahr später zog meine Nachbarin weg. Es gibt einen Abschnitt in meinen Leben, an den ich mich nur höchst ungern zurückerinnere. Das waren die Jahre auf meiner ersten High School. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich es dorthin geschafft hatte - ich war nie ein sonderlich intelligentes Kind gewesen. Trotzdem entwickelte ich im Laufe der Jahre einen nahezu krankhaften Ehrgeiz, obwohl mich die Schule nicht interessierte. Ich wollte es auf die High School schaffen, ich wollte gute Noten haben und irgendwann einen guten Job bekommen, um mit Mum in eine schönere Gegend ziehen zu können. Ich wollte, dass sie nicht mehr arbeiten musste und dass sie irgendwann so glücklich und zufrieden war, dass sie ihren dummen Stoff nicht mehr brauchte. Was soll man sagen? Ich kam auf eine High School für Schüler aus dem unteren sozialen Drittel unserer Gesellschaft. Ich hatte ständig Probleme mit den Lehrern, weil ich angeblich nicht wusste, was Respekt ist. Aber wie hätte ich vor diesen Lehrern Respekt haben können? Es war frustrierend! Die allgemeine Stimmung an der Schule wurde durch eine unbeschreibliche Lustlosigkeit bestimmt. Mehr als nur einmal fragte ich mich, warum sich all diese Menschen eigentlich Tag für Tag (OK, in manchen Fällen auch weitaus seltener) in dieses hässliche alte Gebäude schleppten und es mit Hängen und Würgen einige Stunden dort aushielten. Ehrlich gesagt glaube ich, sie wussten es selber nicht so genau. Was soll man sagen? Ich tat es für Mum, auch wenn mich die kollektive Langeweile einige Male fast umgebracht hätte. Es war einfach verdammt schwer, in diesem Haufen auch nur so etwas Ähnliches wie Motivation zu entwickeln. Außerdem war und blieb ich klein, zierlich und alles andere als ein Kraftpaket - kurz gesagt hilflos. Glücklicherweise hatte ich meine Strategien zur Selbstverteidigung entwickelt, ich trug meistens zerrissene Army-Hosen, Stiefel und eine Menge Nieten- und Lederarmbänder, bis ich beinahe sogar gefährlich aussah. Ich umrandete mir die Augen mit schwarz und übte stundenlang einen möglichst vernichtenden und kalten Blick vor dem Spiegel. Außerdem hatte ich schon damals eine verdammt große Klappe, und irgendwie schaffte ich es, meine gesamte Stufe davon zu überzeugen, dass ich ein klassischer böser Junge war. Ich entwickelte diesen Ruf bis zur Perfektion. Ich nahm ein Küchenmesser von meiner Mum und spielte gelegentlich in den Pausen damit herum, bis auch der letzte Idiot in der Klasse begriffen hatte, dass ich schwer bewaffnet und zu allem entschlossen war. Natürlich kam ich oft mit blauen Flecken in die Schule - Mum hatte einfach ein Talent dafür, immer wieder auf denselben Typ Mann hereinzufallen. Irgendwann gab ich mir keine Mühe mehr, sie zu verstecken, im Gegenteil. Ich dachte mir die wildesten Storys von Straßenkämpfen und Raubüberfällen aus, und aus irgendeinem Grund schien ich wirklich gut darin zu sein, die anderen Menschen Dinge glauben zu machen, die gar nicht wirklich stimmten. Scheinbar gibt es in dieser Welt ein ungeschriebenes Gesetz, dass jeder Mensch irgendeinen Talent hat, auch wenn die Hälfte von ihnen es ihr ganzes Leben lang gar nicht bemerkt. Ich glaube, ich hatte schon immer recht viel Fantasie. Natürlich setzte ich sie nicht nur dazu ein, um von meinen an und für sich viel gefährlicheren Klassenkameraden in Ruhe gelassen zu werden. Ich sah die Welt irgendwie immer ein bisschen anders als die anderen Menschen, und wenn mir etwas nicht gefiel, veränderte ich das störende Detail ganz einfach. Wie ich vielleicht schon erwähnt habe, ich langweilte mich schrecklich in meiner Schule, und deshalb verbrachte ich die meiste Zeit der Unterrichtsstunden damit, irgendwelche Bilder auf meine Heftränder zu kritzeln. Irgendwann reichten mir diese wenigen Zentimeter nicht mehr aus und ich begann, mir einige Stapel weißer Blätter mitzunehmen und mir damit die endlosen Stunden ein wenig zu verkürzen. Ich weiß nicht genau, warum einige Lehrer von dieser Idee weniger begeistert waren als ich - immerhin war ich doch still und störte nicht den Unterricht, wie mindestens die Hälfte der übrigen Klasse es tat. Eigentlich interessierte es mich auch nicht wirklich. Aber als dann eines Tages urplötzlich unser Mathelehrer vor mir stand und meinen Zeichenblock an sich riss, bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Ich hing wirklich sehr an diesen Bildern, und ich sah im Geiste schon vor mir, wie all meine Werke zerrissen im überquellenden Mülleimer unseres Klassenzimmers enden würden. Unser Lehrer öffnete den Mund, wie um eine seiner berüchtigten Moralpredigten loszulassen, dann jedoch stockte er und begann, ganz langsam eine Zeichnung nach dem anderen anzusehen. Er sah mich an, dann sah er die Blätter an, dann wieder mich. In seinem Blick lag ein Ausdruck von Unglauben. "Die sind von dir?" Ich zuckte mit den Schultern. "Ähm, ja klar!" Er räusperte sich und sagte gar nichts mehr. Was dann alles geschah, weiß ich nicht mehr so genau, jedenfalls nahm er trotz meines lautstarken Protestes die Zeichnungen mit und eine Woche später, glaube ich, wurde ich zum Direx gerufen. Das war an und für sich gar nichts Ungewöhnliches, aber dieses Mal lächelte er, als ich durch die leise quietschende Milchglastüre in sein kleines, dunkles Büro trat. Es ist absurd. Obwohl dies vielleicht das wichtigste Gespräch meines Lebens war, kann ich mich heute nicht einmal an die Hälfte von dem erinnern, was mir der dürre Mann mit der viereckigen Brille an diesem frühen Nachmittag mitgeteilt hatte. Ich weiß nur noch, dass es um meine Bilder ging, dass ich angeblich eine herausragende Begabung hatte und die Schulleitung nach eingehender Beratung beschlossen habe, dass mein scheinbares Talent unbedingt gefördert werden müsse. Ich war wie in Trance. Ich glaube, ich habe den Direx nur noch mit großen Augen angestarrt, als er mir irgendetwas von einem Stipendium und einer anderen High School erzählte. Irgendwie konnte ich es noch gar nicht glauben, es war wie ein viel zu schöner Traum und ich bekam von dem Unterricht an diesem Tag nichts, aber auch gar nichts mehr mit. Ich erinnere mich allerdings noch genau daran, dass ich den ganzen Heimweg gerannt bin und alle zwanzig Meter einen Luftsprung vollführt habe. Es war mir so egal wie nie zuvor in meinem Leben, dass sämtliche Passanten mich anstarrten, als ob ich nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Gott, ich war glücklich wie selten zuvor in meinem Leben, und auch wenn es vielleicht dumm war, in diesem Augenblick hatte ich das sichere Gefühl, dass ich's geschafft hatte. Etwa einen Monat später waren sämtliche Verhandlungen abgeschlossen. Von nun am war ich Schüler der Lucien-Chamberlain-Highschool. Vielleicht hatte ich es mir ja ein bisschen zu einfach vorgestellt. So schrecklich die Zeit an der heruntergekommenen Schule in den Slums auch gewesen war - irgendwie hatte ich dort hingepasst. Ich hatte mein Image, mein Küchenmesser und einen Haufen Mitschülerinnen, die mir auf dem Schulhof verstohlene Blicke zuwarfen, zu schüchtern und ängstlich ihrem Angebeteten nahe zu kommen. Dies änderte sich jetzt natürlich schlagartig. Ich kam mir schrecklich fremd und fehl am Platze vor, zwischen all diesen Mädchen in ihren niedlichen Faltenröcken, den Jungen mit den sauberen Jeans und ordentlichen Oberteilen. Sicher, es gab auch Ausnahmen, aber die hoben sich größtenteils durch etwas ältere, billigere und vielleicht nicht ganz so modische Kleidung vom erdrückenden Rest ab. Inmitten dieser glücklichen Schüler stand ich, abseits und allein mit meinem bauchfreien Oberteil, meiner ausgetragenen und teils schon zerrissenen Pseudo-Militärhöse, meinen offenen Schnürstiefeln und meinem abgewetzten Lederhalsband. Manche hielten mich vielleicht für einen Punk, andere für einen Satanisten (ich nehme an, wegen der schwarz geschminkten Augen) und der Großteil ganz einfach für einen heruntergekommenen Freak. Jedenfalls war ich ein Außenseiter, wie er im Buche stand, und natürlich entwickelte ich im Laufe der Zeit einen gewissen Trotz. Ich wollte ja gar nicht in diese schöne heile Welt dazugehören! Was kümmerte es mich, wie diese verwöhnten Kinder mich ansahen, wenn sie über mich redeten und lachten? Sie hatten doch allesamt keine Ahnung vom Leben! Natürlich liefen mir auch auf dieser Schule die Mädchen reihenweise nach, aber gleichzeitig war ihnen allen klar, dass so jemand wie ich kein Umgang für sie war und sie hielten sich - glücklicherweise - fern von mir. Doch ganz langsam begann ich mich zu fragen, ob diese Highschool wirklich die Erfüllung meiner Träume war. Mum ging es zunehmend schlechter. Sie hatte schon seit längerer Zeit keinen Mann mehr gehabt und zog sich mehr und mehr in ihre trügerische Scheinwelt zurück. Ich zweifelte manchmal, ob sie von meinem Leben überhaupt noch irgendetwas mitbekam. Ehrlich gesagt, manchmal hasste ich sie. Manchmal gab ich ihr die Schuld dafür, dass mein ganzes Leben im Eimer war, auch wenn das natürlich nicht gerecht war. Trotzdem hätte ich schreien können, wenn ich nach endlos scheinender Arbeit endlich einmal wieder eine gute Note in der Schule bekommen hatte und dann kam ich heim und sie lag mit teilnahmslosem Blick in irgendeiner Ecke, mehr tot als lebendig. Eines Abends, als ich heimkam, war der Wohnraum leer. Ich trat hastig ein, schneller als gewohnt, warf meine Schulsachen in die Ecke und rief nach meiner Mum. Ehrlich gesagt, ich war beunruhigt, da Mum um diese Uhrzeit immer ihre Lieblingssendung im Fernsehen angekuckt hatte. Fernsehen war ihre andere Droge, und normalerweise verpasste sie keine Folge dieser vollkommen unrealistischen Seifenoper, keine Ahnung, was es eigentlich war. Doch an diesem Tag war der Fernseher schwarz und tot, eine bedrückende, stickige Stille lag in dem kleinen Zimmer. Ich lief, zugegeben recht kopflos, durch unsere dunkle Wohnung und war unendlich erleichtert, als ich Mums schlanke Gestalt in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett sitzen sah. Diese Erleichterung hielt nur eine Sekunde lang an, als ich ihre schmalen Schultern krampfhaft zucken sah. "Mum! Hey, Mum, was ist los?" lief ich und sprang kurzerhand neben ihr auf die quietschende Matratze. Über Mums Wangen liefen Tränen, ihr Make up war um die Augen ganz verlaufen. Mit den schwarzen Spuren auf ihren Wangen sah sie aus wie eine Tote. "Ach Jesse, mein Jesse!" schluchzte sie und strich mir mit zittrigen Fingern über die Wange. Erst jetzt sah ich das Foto in ihrer anderen Hand, eines der seltenen Bilder von Mum und mir als Kind. Mit riesigen dunklen Augen blickte ich ein wenig erschrocken in die Kamera, die bleichen Lippen zu einem schwachen Lächeln verzogen. "Es tut mir alles so leid!" "Was ist denn passiert?" fragte ich sanft und nahm sie erst einmal für einige Augenblicke in den Arm. Manchmal kam es mir so vor, als ob ich in der Familie die Mutter war, die sich um ihr trauriges Kind kümmern musste, und nicht umgekehrt. "Jesse, ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich mache immer alles falsch. Ich habe mein ganzes Leben ruiniert!" Wie sie so dasaß, sah Mum erschreckend jung aus. Ich lächelte sie aufmunternd an und schüttelte entschieden den Kopf. "Hey, das ist nich wahr, Mum. Mach dich doch nicht fertig, OK? Schau doch mal auf die Uhr, du verpasst sonst noch die ganze Folge!" Ich wusste genau, dass ich sie anlog, aber natürlich konnte ich in diesem Augenblick nichts anderes tun. "Ach mein Junge, bitte, mach dir nicht so eine Mühe. Ich seh doch, was ich mit meinem Leben gemacht habe... ich seh's doch selber. Du hast das nicht verdient! Du bist ein guter Junge, du hast so 'ne Junkie-Schlampe wie mich einfach nicht verdient. Ich mach dir so viel Ärger!" "Hör auf mit dem Blödsinn, ja? Ich hab dich doch lieb, Mum! Das weißt du, ja?" "Oh Jesse, ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde. Ich weiß es echt nicht. Ich bin eine schlechte Mutter. Ich würd's ja so gern machen, ich würd's durchhalten, für dich. Aber wir haben kein Geld dafür. Wir haben einfach nicht das Geld dafür!" Sie vergrub ihr schönes Gesicht in den Händen. "Was denn? Wovon redest du, Mum?" Sie schwieg einige Sekunden lang. Dann blickte sie auf und sah mich ernst an. "Der... der Entzug. Im Fernsehen, da war eine Sendung, da haben sie davon geredet. Das kann man anscheinend jetzt im Krankenhaus machen und das schafft jeder Zweite, ich weiß es nicht mehr genau. Das klang alles so schrecklich einfach. Ich würd's machen, Jesse, ich schwör's dir. Wenn ich das Geld hätte, würd ich's machen!" "Vielleicht können wir das Geld ja verdienen! Wenn ich auch noch arbeiten gehe... ich meine, viele von meinen Mitschülern haben neben der Schule noch Jobs und verdienen ganz gut dabei." "Das ist sehr, sehr teuer, Jesse. Uns fehlt es an allen Ecken und Enden, und mein Geld reicht gerade mal so, dass wir über die Runden kommen. Man kann doch einfach alles vergessen!" Sie schüttelte den Kopf, dann stand sie ruckartig auf und kramte eine Zigarette aus der Schublade ihres Nachttischchens hervor. "Scheiß Leben!" "Ach Mum..." "Nein, Jesse, vergiss das Ganze einfach. Für mich ist's eh zu spät. Oh Gott, ich seh ja aus wie eine Leiche!" Sie hatte ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe erblickt, strich sich mit einer hilflosen Geste durch ihr langes, rot gefärbtes Haar und verschwand dann auf dem schnellsten Weg im Badezimmer. Ich blieb sehr, sehr nachdenklich auf dem schmalen, quietschenden Bett zurück. Mein Blick war starr auf die vergilbten Vorhänge gerichtet. In meinem Kopf arbeitete es. Ich wusste, Mum brauchte die Hilfe, sonst war es für sie wirklich zu spät, und allzu viel Zeit blieb mir nicht mehr. Ich überlegte verzweifelt, wie ich zu Geld kommen konnte, zu möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich war noch zu jung, um wirklich zu arbeiten, außerdem blieb mir neben der Schule gar nicht mehr die Zeit dazu. Aber was sollte ich sonst tun? Ich ließ meinen Kopf auf meine Knie herabsinken und stieß einen tiefen Seufzer aus. Meinen Chancen standen verdammt schlecht. Trotzdem war ich so fest entschlossen wie vielleicht noch nie zuvor in meinem Leben. Ich würde meiner Mum helfen. Mein erster Schritt zum eigenen Vermögen war ein Aushilfsjob bei einer Fastfood-Kette. Jeden Mittwoch und Freitag suchte ich meine am wenigsten zerrissene Hose aus dem Schrank, richtete mich so her, dass ich beinahe wie ein ganz normaler Teenager aussah und schenkte dann den Kunden des "Beef and Drive"-Autoschalters mein bezauberndstes Lächeln. "Vielen Dank, Guten Appetit, und kommen sie bald wieder zu Beef and Drive!" Ich war sozusagen prädestiniert für diesen Job. Mein Personalchef lobte mich oft, weil mein hübsches Gesicht die Kunden anlockte und ich war so hart im Nehmen, auch nach dem langweiligsten und eintönigsten Arbeitstag inmitten stinkenden Fettes und der glühenden Hitze der riesigen Ofen noch jedem einzelnen hungrigen Autofahrer mit professioneller Freundlichkeit begegnen zu können. Deshalb kam ich manchmal gleich nach der Schule in das Fastfood-Restaurant und bekam dort ein kostenloses Mittagessen spendiert. Es war, so weit ich mich erinnere, an einem recht warmen Freitag im Spätfrühling, als ich plötzlich bemerkte, dass ich meine Sportsachen in der Schule vergessen hatte. Für andere Schüler mochte das kein Weltuntergang sein, aber wir hatten eben nur sehr wenig Geld, und so konnte ich mir einen derartigen Verlust auf gar keinen Fall leisten. Ich beschloss kurzerhand, nach meiner Schicht noch einmal in der Schule vorbeizuschauen und mich sofort um die Sache zu kümmern. Ich musste mich beeilen. Nach Ende meiner Schicht hatte ich noch etwa eine halbe Stunde, bis die letzten Nachmittagsstunden vorbei waren, danach kamen die Putzfrauen und sammelten mit präziser Unbarmherzigkeit alles auf, was das saubere Gesamtbild unserer schönen Schule auch nur im geringsten stören konnte. Und sollte ich sogar sie verpassen, dann würde ich vor verschlossenen Türen stehen, das war mir klar. Ob ich meine Sportsachen dann noch bekommen würde, stand in den Sternen. Und natürlich war mir nur allzu klar, dass wir uns neue Kleidung, die einzig und allein dazu diente, in einer mickrigen Doppelstunde pro Woche nicht von Gott und der Welt verlacht und verspottet zu werden, schlicht und einfach nicht leisten konnten. Das letzte bisschen Anstand und Würde, dass ich im Laufe meines Lebens noch behalten hatte, trieb mich mit glühenden Eisenstangen dazu an, um Himmels Willen schneller zu laufen, obwohl sich schon nach wenigen Minuten ein hässliches Stechen in meiner Seite bemerkbar machte. Ich holte tief Luft und rannte weiter. Die Menschen wurden zu Slalomstangen auf einem viel zu lang erscheinenden Weg. Die untergehende Abendsonne tauchte die staubigen Schaufensterscheiben in ein rotgoldenes Licht, aber mir erschien das sanfte Leuchten mehr wie ein unruhiges Flackern. Ich spürte jeden einzelnen Herzschlag in meiner Brust mit der Heftigkeit eines Fausthiebes, mein Hemd klebte mir am Rücken. Ich hatte Angst. Was sollte ich nur Mum sagen? Anstatt Geld nach Hause zu bringen, sorgte ich mit meiner Vergesslichkeit prompt für weitere Ausgaben. Es war zum Verzweifeln! Mein Blick fiel auf eine runde Uhr mit dicken schwarzen Zeigern, die an irgendeinem alten Geschäft hing, ein Schmuckladen, glaube ich. Noch zwölf Minuten blieben mir, lächerliche zwölf Minuten. Ich würde es nicht mehr schaffen. Ganz ehrlich, ich habe heute keine Ahnung mehr, welcher Teufel mich an diesem Abend gejagt hat. Jedenfalls bin ich gerannt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Die Straße, meine ganze Umgebung verschwamm zu einem brennenden Rausch aus Sonnenuntergang und Farben, mehr als einmal rannte ich beinahe vor ein Auto, weil ich ohne nach Rechts oder Links zu kucken sämtliche Straßen überquerte. Ich konnte es gar nicht wirklich glauben, als ich endlich den viereckigen, grauen Schulbau vor mir auftauchen sah. Mit rasendem Puls steuerte ich auf den Haupteingang zu. Ich wagte es kaum, einen Blick auf die große Uhr über der verglasten Türe zu werfen. Irgendetwas sagte mir, dass ich zu langsam gewesen war. Jeder Muskel in meinem Körper schien von einer Sekunde auf die andere anzufangen zu zittern und ich hatte Glück, dass in diesem Augenblick zufällig eine Straßenlaterne neben mir war, sonst wäre ich wohl schlicht und einfach vornüber gekippt. Mir wurde schwarz vor den Augen, aus meinen Beinen schien jegliches Gefühl zu weichen und, offen gesagt, mir war kotzübel. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich wieder halbwegs zu Atem gekommen war. Ich wischte mir über das Gesicht und blickte auf. Ich hätte am liebsten vor Wut und Enttäuschung aufgeschrieen. Ich war um gottverdammte sieben Minuten zu spät gekommen. Trotzdem war der Schulhof schon jetzt wie leergefegt, weit und breit kein Schüler, kein Lehrer, ja nicht einmal eine Putzfrau zu sehen. Vielleicht, schoss es mir durch den Kopf, war die letzte Schulstunde heute für irgendeine glückliche Klasse ausgefallen. Irgendwie war es mir so egal wie nichts anderes in der Welt, ich war zum Umfallen erschöpft, ich hatte mich bis zum Letzten verausgabt, und was war jetzt der Dank dafür? Ich stand vor einem verlassenen Schulgebäude. Ich hätte heulen können. Doch da, ganz plötzlich, sah ich in einem der Zimmer im Untergebäude einen schwachen Lichtschein hinter einem der großen Fenster. Für mich war es wie ein schwaches Leuchten am Ende eines langen, langen Tunnels. Sollte ich am Ende doch noch Glück gehabt haben? War vielleicht wenigstens noch irgendwo eine einsame Putzfrau beschäftigt, auf dem langen, staubigen Weg durch die Schokoriegelpackungen und Tetrapacks auf den Boden der Klassenzimmer? Ich überlegte nicht lange, sondern stürzte mit angehaltenem Atem auf die Türe zu. Ein bisschen schien es mir so, als läge in diesem Augenblick das Schicksal des ganzen Planeten in meinen Händen, als ich langsam und ängstlich an der metallenen Stange zog, um die große Glastüre zu öffnen. Sie war nicht verschlossen. Ich stieß einen leisen Triumphschrei aus und trat ein. Vielleicht, dachte ich, gab es ja doch einen Gott. Jedenfalls schickte ich in diesen Minuten tausend Dankesgebete gen Himmel und rannte erst einmal auf die Toilette. Dort ließ ich mir ein bisschen kühles Wasser über das Gesicht laufen und fuhr mir durch mein langes schwarzes Haar, bis ich zumindest wieder halbwegs wie ein Mensch aussah. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich immer noch mein Beef and Drive-Shirt trug, aber irgendwie war mir das jetzt so egal wie nichts anderes auf der Welt. Ich hatte jetzt wirklich keine Lust, mich noch großartig umzuziehen. Ich würde rasch mein Sportzeug aus dem Umkleideraum holen, in aller Ruhe heimschlendern und dann erst einmal für mehrere Stunden unter der Dusche verschwinden. Die Schule war beinahe ein wenig unheimlich, mit ihren breiten, halbdunklen Gängen, die jetzt verlassen und still im dämmrigen Licht der Abenddämmerung ruhten. Meine Schritte erschienen mir viel zu laut, irgendwie fühlte ich mich wie ein Eindringling in einer Welt, in die ich nicht gehörte. Wie gesagt, ich hatte immer ein bisschen zuviel Fantasie. Jedenfalls war ich sehr, sehr froh, als ich endlich die Türe der einsamen Jungenumkleide vor mir auftauchen sah. Ich trat rasch ein, ohne mich noch einmal umzublicken. Der Sonnenuntergang war mittlerweile vorüber. Es war beinahe dunkel in dem Raum vor mir, die Bänke zeichneten sich als harte Schatten im verschwommenen Licht der späten Dämmerung ab. Ehrlich gesagt wünschte ich mich schon einen Augenblick später wieder in die stillen breiten Schulgänge hinaus. Der Raum machte mir auf eine subtile Art und Weise Angst, mit all den finsteren Ecken, den Schatten und den unzähligen Streben und Haken und Holzbrettern. Dazu noch die grünlichen Fassaden der Spinde, die den größten Teil der dreckig weißgrauen Wand bedeckten. Man konnte ihre Farbe nicht mehr wirklich erkennen, mehr erahnen, aber ihre teils geöffneten Türen erinnerten mich in diesem Moment an zahnlose Münder oder verrußte Öfen, und beide Dinge waren mir verdammt noch mal unheimlich. Ich holte tief Luft und schlich dann mit angehaltenem Atem durch die Scherenschnitte der Bankreihen. Ich versuchte mir einzureden, dass mir hier absolut nichts passieren konnte - was denn auch? Doch aus irgendeinem Grund beruhigten mich meine verzweifelten rationalen Denkversuche nicht wirklich. Ich fühlte mich ein bisschen so wie der Held in einem billigen Horrorfilm. Dort dachten sie auch immer, ihnen könnte nichts passieren. Und dann tauchte irgendetwas Böses und Mordendes auf und brachte sie auf grausamste Art und Weise um die Ecke. Wie sollte ich mich also sicher fühlen? Mag sein, ihnen erscheinen diese Gedankengänge absurd, aber so dachte ich eben und manchmal denke ich auch heute noch so. Irgendwann zwang mich ein Stechen in meiner Lunge zum Weiteratmen und ich sog einen tiefen Zug abgestandenen Schweißgeruches und stickigen Staubes ein. Unweigerlich musste ich Husten - und hätte mir im nächsten Augenblick am liebsten dafür eine runtergehauen. Verdammt, schoss es mir durch den Kopf, jetzt haben sie dich gehört! Ich warf einen paranoiden Blick über die Schulter, dann setzte ich tapfer meine Suche fort. Muss ich überhaupt noch erwähnen, dass ich die Sportsachen natürlich nicht fand? Ich sah auf alle Bänke, kroch auf dem dunkel gefliesten Boden herum, ja, ich blickte sogar in alle Spinde, obwohl ich eine Heidenangst davor hatte (man weiß schließlich nie, was drin ist, oder?). Nichts. Der Raum war leer und verlassen wie eine Bushaltestelle mitten in der Sahara. Gut, in manchen Ecken lagen zerdrückte Tetrapacks oder leere Kaugummipapiere, aber das war's dann auch schon. Ich war verzweifelt. Mit dem niederschmetternden Gefühl, dass sich die gesamte Welt gegen mich verschworen hatte, ließ ich mich auf eine der Bänke niedersinken und verfluchte mein Schicksal, den Tag, einfach alles, was mir in diesen Sekunden in den Kopf kam. Leider dachte ich erst viel zu spät daran, meine eigene Dummheit zu verfluchen, auch wenn sie es verdammt noch mal verdient hatte. Ich konnte meine Sportsachen gar nicht finden! Zumindest nicht hier, wie denn auch, wenn ich sie ausgerechnet heute mit in die Sporthalle genommen hatte. Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn und stieß einen leisen Fluch aus. Am liebsten hätte ich mich für meine eigene Zerstreutheit selbst verprügelt. Ich erinnerte mich mit einem Mal wieder genauestens daran, wie ich beim Umziehen festgestellt hatte, dass ich meine Sporthose vergessen hatte und deshalb beschloss, einfach in meinen Straßenklamotten mitzumachen. Meine Sachen hatte ich extra mit in die Turnhalle genommen, damit ich später schneller zum Beef and Drive-Restaurant kommen konnte. Ehrlich, ich fühlte mich in diesem Augenblick unglaublich dumm. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich in diese dumme Sporthalle rennen, meine Sachen mitnehmen und dann so schleunigst nach Hause kommen, damit ich mich endlich unter meiner Bettdecke verkriechen konnte. Vielleicht ist das in ihren Augen keine angemessene Entschuldigung. Ich gebe ja auch zu, dass ich meine Gedanken an diesem Tag irgendwie nicht ganz beisammen hatte. Was soll ich sagen? Ich war in einem Raum, der mir Angst machte, ich wollte mir am liebsten in den Hintern treten, ich war total erschöpft und fertig und wollte nur noch weg. Ich handelte irgendwie, ohne noch groß dabei nachzudenken. Vielleicht wäre ja sonst alles anders gekommen. Vielleicht wäre dann mein ganzes Leben anders verlaufen und ich müsste sie jetzt nicht mit diesem Brief langweilen. Es bringt nichts, sich im Nachhinein solche Fragen zu stellen. Jedenfalls lief ich auf dem schnellsten Wege aus der Umkleidekabine heraus und in die Turnhalle hinein. Getrennt wurden die beiden Räume nur durch einen ziemlich schmalen Gang, knapp mehr als einen Meter breit. Trotzdem schwöre ich, ich habe die Stimmen nicht gehört. Ich habe nicht gesehen, dass dort Licht brannte. Ich war vollkommen ahnungslos, als ich die Türe aufriss und ohne lange nachzudenken in die Halle hineinplatzte. Im ersten Augenblick wunderte ich mich noch nicht einmal. Erst einige Sekunden später wurde mir bewusst, dass ich von einem Haufen Mädchen angestarrt wurde, die sich auf dem grünen Hallenboden versammelt hatten. Vor ihnen stand eine Lehrerin - ich kannte sie nicht - und redete auf sie ein. Erst als sie die abschweifenden Blicke der Schülerinnen bemerkte, stockte sie und sah in meine Richtung. "Du bist spät dran! Los, setz dich, ich habe keine Lust, noch einmal ganz von vorne anfangen zu müssen!" Ehrlich gesagt, ich verstand überhaupt nichts. Ich wusste nicht, was diese Person oder die glotzenden Mädchen von mir wollten, aber aus irgendeinem Grund hatte mich der Tonfall der blonden Frau eingeschüchtert. Ich gehorchte ihr ganz automatisch. Irgendwie war es ja bescheuert, ich meine, wenn sie mir zum Beispiel gesagt hätte, ich müsse jetzt Walzer tanzen und dabei die Nationalhymne rückwärts bellen, dann hätte ich vielleicht sogar das getan. Ich dachte gar nicht lange darüber nach, ich setzte mich einfach zu dem Rest der Gruppe, zog die Knie an meinen Körper und lauschte den Worten der autoritären Unbekannten. "Wie auch immer, die Vorausscheidung wird natürlich Schulintern sein. Ich weiß, die meisten von euch sind noch nie auf größeren Veranstaltungen aufgetreten, aber ihr müsst deswegen nicht aufgeregt sein. Die anderen Schulen dieser Stadt haben auch keine hübscheren Mädels auf Lager!" Allgemeines Gelächter. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. "Die Siegerin bekommt die Chance, sogar an landesweiten Wettbewerben teilzunehmen, außerdem natürlich ein hübsches Preisgeld. Ich weiß ja, darum geht es euch nicht, aber als kleine Beigabe ist es doch auch nicht zu verachten!" Sie bleckte ihre Zähne und wieder lachten die Mädchen um mich herum. Obwohl ich mich ein bisschen so wie im falschen Film fühlte, zwang auch ich mich zu einem Grinsen. Ich wollte nicht auffallen. Und außerdem, seien sie ehrlich, wer würde nicht aufhorchen, wenn irgendwo von einem hohen Preisgeld die Rede ist? Verstohlen musterte ich die lächelnden Gestalten um mich herum. Worum immer es auch ging, ich konnte an diesem Wettbewerb anscheinend teilnehmen und fühlte mich auch nicht wirklich von großer Konkurrenz umgeben. Meine Aufmerksamkeit stieg. "Ich sehe, dass einige von euch nicht an diese Schule gehen. Aber seit diesem Jahr wurden die Teilnahmebedingungen gelockert. Wenn ihr einen Bekannten oder Verwandten hier habt, der euch anmelden kann, ist das absolut in Ordnung. Natürlich startet ihr dann trotzdem im Namen unserer Highschool, ein bisschen Werbung kann doch nie schaden!" Mir fiel auf, dass die Frau sich unheimlich witzig vorkommen musste. Eigentlich passte das gar nicht zu ihr, aber aus irgendeinem Grund lachten trotzdem alle, wenn sie sich um einen kleinen Spaß bemühte. Ich lachte auch, ganz automatisch. Es war beinahe schon wieder unheimlich. "Ich habe auch schon etwas läuten hören, dass Verträge mit einem recht bekannten Magazin ausgehandelt wurden. Natürlich noch nichts großes, aber ein regionales Cover zu schmücken ist doch schon mehr als ein guter Anfang!" Eines der Mädchen hob den Arm, ein niedliches Ding mit goldblonden Locken, Sommersprossen und einem Stupsnäschen. "Wie ist denn das mit dem Modelvertrag? Ich meine, so richtig Modenschauen und so, dürfen wir das dann auch machen?" fragte sie unschuldig und klimperte mit ihren großen Kulleraugen. Modelvertrag? Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf. Langsam aber sicher fragte ich mich, ob dieser Wettbewerb wirklich der richtige Platz für mich war. "Nicht so ungeduldig, Mädchen! Die ist natürlich nur der erste Schritt zum Erfolg. Aber ihr bekommt als Gewinnerin die Chance, auch an größeren Schönheitswettbewerben teilzunehmen, und da ist dann natürlich weitaus mehr drin als nur dieses Fotoshooting. Aber ich kann euch Mut machen, gerade auf solchen kleineren Shows haben Talentsucher schon so manches spätere Model entdeckt." Ihre Worte trafen mich wie Schläge direkt in die Magengrube. Das war es also! Ein Schönheitswettbewerb - für Mädchen. Natürlich! Ich hätte mich dafür verprügeln können, dass ich nicht gleich darauf gekommen war. Es war allein der uneingeschränkten autoritären Ausstrahlung dieser schrecklichen Person zu verdanken, dass ich nicht einfach nur hineingegangen war, mir mein Sportzeug gekrallt hatte und dann auf dem schnellsten Wege von diesem schnatternden, kichernden und glotzenden Haufen davonlaufen konnte. Ich schwöre es. Sie hatte mich irgendwie hypnotisiert. Aus ihrem Munde waren die Schilderungen eines hohen Preisgeldes so verlockend und greifbar erschienen, dass man sich beinahe schon beim bloßen Zuhören etwas davon kaufen konnte. Jetzt fielen mir auch die Plakate wieder ein, die schon vor einigen Wochen an die kahlen Schulpinnwände geheftet worden waren. Der große Lucky-Karma-Miss Contest, ausgetragen von einer regional sehr bekannten Firma für Kosmetikartikel, die nur junge Mädchen verwendeten, unter diesen allerdings höchst beliebt und irgendwie zur Zeit gerade in Mode. Mir war das Zeug immer ein bisschen zu teuer gewesen. Wenn ich jetzt allerdings an die wunderschön fett gedruckte Gewinnsumme dachte, die groß und breit unter dem viel zu bunten Aushang leuchtete, hätte ich ganz ehrlich heulen können. Mein Gott, es war verdammt noch mal wirklich ein hübsches Preisgeld, hübscher als all die Mädchen in dieser Turnhalle hier zusammen!!! "Wie viele Mädchen kommen denn von jeder Schule weiter?" fragte eine Schwarzhaarige, die mindestens fünf Jahre älter aussah, als sie tatsächlich sein konnte. "Nur die besten Drei. Die Vorausscheidung ist in vier Wochen, dann entscheidet sich, wer von euch Hübschen im Auftrag eurer Highschool lächeln darf!!!" Wieder lachten alle, aber ich bekam das Gespräch nur noch am Rande mit. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich sah die schönen Gesichter der potentiellen Schönheitsköniginnen vor mir, wie sie grinsten und die Zähne zeigten, als würde jemand sie mit einer Pistole im Rücken dazu zwingen. Dann sah ich Mum, wie sie weinte, das Foto von unserer kleinen Familie in der Hand. Wir zwei gegen den Rest der Welt. Vor mir erschien eine grässliche Vision, wie irgendeine niedliche Zuckerpuppe mit einer Siegerschärpe um den mageren Körper durch tausend verschiedene Geschäfte rennen würde, mit tausend verschiedenen Kleidern und Schuhen und Make up in den Plastiktaschen. Ich hätte schreien können bei diesem Gedanken! Verdammt, ich brauchte das Geld. Mir stieg der alte Fettgeruch meines Beef and Drive-T-Shirts in die Nase und mit einem Mal wurde mir schlagartig bewusst, dass ich das Geld für Mums Entzug niemals zusammenbekommen würde. Ich konnte bis ans Ende meiner Tage stinkende Burger an genervte Autofahrer verkaufen, ich würde nichts, aber auch gar nichts dafür bekommen außer meinen Gratismenüs in der Mittagspause. Ich würde alt und grau werden, bevor ich auch nur die Hälfte dieser Summe zusammengespart hätte - und dann war es zu spät. Die Erkenntnis kam ganz plötzlich, aber sie machte mir Angst. Ich hatte nicht mehr ewig Zeit. Mum brauchte diese Hilfe, jetzt oder nie. Allein die Vorstellung, irgendeine verwöhnte Göre könnte dieses Geld für irgendwelche überflüssigen Luxusartikel ausgeben, machte mich regelrecht krank. Sicherlich waren nicht alle Mädchen in dem schicksalhaften Halbdunkel der Turnhalle reich und verwöhnt, aber an diesem Abend war ich fest von dieser Tatsache felsenfest überzeugt. Ich gönnte es ihnen nicht, ich gönnte es ihnen einfach nicht, dass sie an diesem Wettbewerb teilnehmen durften und ich nicht. Ganz nebenbei betete ich auch noch, dass die drei Mädchen aus meiner Klasse mich um Gottes Willen nicht bemerkt hatten. Es erschien mir schon beinahe wieder als glückliche Fügung des Schicksals, dass unsere Märchentante und Organisatorin so unglaublich einnehmend war. "In diesem Aufzug solltest du bei der Misswahl aber nicht unbedingt erscheinen!" Das Mädchen neben mir musterte mich mit einem vernichtenden Blick. Sie war recht hübsch, mit welligem blondem Haar und blauen Augen, vom ganzen Stil her krampfhaft auf Natürlichkeit getrimmt. "Ähm... wie bitte?!?" Ich muss sie wohl ziemlich dumm angekuckt haben, denn sie hielt die Hand vor den Mund und stieß ein aufgesetztes Lachen aus. "Na ich meine, das Outfit sieht unheimlich modisch und... sexy aus!" Sie schüttelte den Kopf, aber ich beachtete den Spott in ihren Worten gar nicht wirklich. Ich fragte mich, warum ihr Lächeln so aufgesetzt wirkte, und da sah ich ganz plötzlich ein verräterisches Blitzen in ihren Augen. War das etwa Eifersucht? "Sorry, aber ich bezweifle, dass Mrs. Cartwright dich in diesem Ding überhaupt eintragen wird. Du gehst nicht auf diese Schule, oder?" Es mag übertrieben klingen, aber ich hatte in diesem Moment eine Vision. Ihr elitäres Gerede hörte ich nur noch am Rande, ich weiß gar nicht mehr genau, ob ich ihr überhaupt noch antwortete oder nicht, eigentlich ist das auch egal. Ich konnte sie nie wirklich leiden, aber ich bin diesem Mädchen dankbar, so ehrlich und unendlich dankbar, wie ich nicht vielen Menschen bin. Vor meinem inneren Auge lief ein Film ab, dieser Film zeigte mich in einem prächtigen Abendkleid, lächelnd. Ich stand auf einer Bühne, einen Blumenstrauß in der Hand und winkte ins Publikum. Der Jury warf ich eine Kusshand zu, immerhin hatten sie mich gewählt, mich, ich war das schönste Mädchen der ganzen Stadt! Verstehen sie mich jetzt nicht falsch. Es hat mich nie angemacht, in Frauenkleidern rumzulaufen oder so. Ich hatte es bis zu diesem Abend auch noch nie getan und eigentlich auch nicht vorgehabt. Es ging mir einzig und allein um den Gewinn. Wie sagt man so schön? Ich war jung und brauchte das Geld. Stellen sie sich das doch einmal vor: da sitzt ein bildhübsches Mädchen vor ihnen und beneidet sie um ihr Aussehen. Und sogar die große Mrs. Cartwright lud mich ohne zu zögern in ihren auserwählten Kreis ein, ganz selbstverständlich. Es konnte daran liegen, dass ich doch etwas anders aussah, als ich es für gewöhnlich in der Schule zu tun pflegte. Ich war nicht geschminkt, ich trug ganz normale Kleidung und hatte zu allem Überfluss auch noch meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Keiner ahnte, dass hinter dem unscheinbaren Beef and Drive-Outfit in Wirklichkeit ein Eindringling steckte, ein Fremder, der nicht in diese verschworene Runde gehörte. Es war das perfekte Verbrechen. Mein Kopfkino lief weiter. Mit einem Mal hörte ich wieder der Stimmen der Kindergärtnerinnen, die mich ein wildes Fräulein nannten. Sogar meinen Chef sah ich, der mich wegen meinem hübschen Gesicht als Kundenfang in den Drive-In-Schalter setzte. Aber zwischen all diesen Personen leuchtete wie eine göttliche Erscheinung der Geist meiner ehemaligen Lieblingsnachbarin hervor. Das war vielleicht ein bisschen absurd, weil sie an und für sich noch gar nicht gestorben war, aber ihre Erscheinung gab dem Abend eine beinahe magische Atmosphäre, der ich mich bei all meiner Willenskraft nicht entziehen konnte. Ich sah ihr Lächeln und hörte wie aus weiter Ferne ihre Stimme an mein Ohr dringen. Ich mag dich, weil du so wahnsinnig hübsch bist. Die Entscheidung war gefallen. Hatte ich bis eben noch an einer Kreuzung von Vernunft und Wahnsinn gestanden, die Wort meiner Nachbarin stießen mich mit unerbittlicher Sanftheit in die Richtung meiner teuflischen, vollkommen verrückten Idee. Ich war so sicher wie noch nie zuvor in meinem Leben. "Hey!" Meine zugegebenermaßen doch leicht kitschigen Schicksalsträume wurden höchst unsanft von dem Ellenbogenstoß meiner blonden Nebensitzerin unterbrochen. Ein wenig unwillig, aber sehr, sehr siegesgewiss blickte ich auf. "Was ist los?" "Sag mal, pennst du?" raunte sie mir zu. "Mrs. Cartwright notiert gerade die Namen und du hältst hier alles auf!!!" Leichte Verwirrung machte sich auf meinem Gesicht breit. Ich blickte hastig in Richtung unserer Kommandantin oder Organisatorin, wie auch immer man es nennen wollte, und stellte tatsächlich fest, dass sie mit einem leicht genervten Zucken um die Mundwinkel direkt in meine Richtung blickte. "Guten Morgen! Dürfte ich vielleicht endlich deinen Namen erfahren, Madame?" "Ähm, klar, sorry!" Ich wurde nervös. Würde es ihnen nicht genauso gehen, wenn die personifizierte Ungeduld vor ihnen stünde? Wie schon gesagt, die Frau hatte die besondere Gabe, andere Menschen einzuschüchtern - sogar mich, und das war wirklich gar nicht so einfach, glauben sie mir. "Ich bin Jesse Maguire!" Als ich das ungläubige Kichern der Mädchen aus der vorderen Reihe hörte, merkte ich plötzlich, dass ich einen gewaltigen Fehler gemacht hatte. to be continued... Kapitel 2: Part II - Playing God -------------------------------- Wissen sie, verprügelt zu werden macht nicht wirklich Spaß. Aber in diesem Augenblick hätte ich's keinem Menschen der Welt übel genommen. Mein wundervoller Traum zerplatzte binnen weniger Sekundenbruchteile wie eine Seifenblase. Es war vorbei Ich hatte mich verraten und ganz nebenbei noch zum Gespött der gesamten Schule gemacht. Jesse Maguire nimmt an einem Schönheitswettbewerb teil! Wie süß! Ich wusste ja, dass sie mich schon vom ersten Tag an für mehr oder weniger verrückt gehalten hatten, aber spätestens jetzt hatte ich die Gewissheit, dass ich in meinem ganzen Leben nie wieder auf diese Highschool gehen konnte. Ich hatte mit meiner unglaublichen Dummheit nicht nur meinen perfekten Plan, sondern auch das letzte bisschen Stolz und Würde zerstört, das mir noch irgendwie geblieben war. "Jesse? Nee, oder?" Es war ausgerechnet Monica Dyson, die mich jetzt mit ihren braunen Rehaugen anglotzte. Wenn ich dieses Mädchen mit einem einzigen Wort hätte beschreiben sollen, dann wäre mir spontan nur das Adjektiv geschwätzig eingefallen. Monica war ein bisschen so etwas wie die schulinterne Bild-Zeitung. Jedes kleine Geheimnis wurde von ihr zu einer nationalen Katastrophe aufpoliert und in einer geringfügig überarbeiteten Version sogleich fröhlich an der ganzen Schule verbreitet. Eine dunkle Ahnung flüsterte mir ins Ohr, dass ich soeben mein eigenes Todesurteil unterzeichnet hatte. "Bist du's echt? Und wenn ja, was machst du hier?!?" Ihre beste Freundin, Tanith Miller, drehte sich ebenfalls zu mir um und musterte mich mit ihren eindringlichen wasserblauen Augen. "Ähm... ich?" Eine bessere Antwort fiel mir leider nicht ein und ganz langsam begann ich das wahre Ausmaß der Katastrophe zu erahnen. Es war erbärmlich. Ich stotterte angesichts dieser kichernden, lästernden Wesen! Das Schicksal meinte es offensichtlich nicht besonders gut mit mir. "Nein, der Weihnachtsmann!" gackerte Monica. "Ist ja mal der Hammer! Bist du jetzt in Wirklichkeit immer ein Mädchen gewesen und wir haben's nur nicht gemerkt, oder stehst du einfach nur auf Frauenfummel?" Sie verschluckte sich an ihrem eigenen Lachen und bekam einen knallroten Kopf. Inzwischen hatten auch die anderen Mädchen und sogar Mrs. Cartwright gemerkt, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte. Ihre Augenpaare starrten mich an wie einen Außerirdischen. Ein bisschen fühlte ich mich auch so wie die hilflose Beute, die von einem geifernden Wolfsrudel umkreist worden war. Monica war in diesem Moment das Alpha-Tierchen und hatte das unumstößliche Recht, mich als erstes zu zerreißen. Ich suchte vergeblich nach einem Loch im Boden, in dem ich hätte versinken können. "Oder vielleicht ist's seine verschollene Zwillingsschwester!" Tanith erntete mit ihrer Bemerkung zwar weitaus weniger Gelächter, schien sie selber dafür umso komischer zu finden. Ich wollte sterben, aber Mrs. Cartwrights strenger Blick verriet mir, dass sie andere Pläne mit mir hatte. Ich zog die Schultern ein wenig höher und spielte nervös mit den Fingern. "Dürfte ich vielleicht auch mal erfahren, was hier eigentlich so unheimlich komisch ist?" Sie sah mich an bei diesen Worten und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. "Das... das weiß ich auch nicht!" Falsche Antwort. Sie glaubte mir kein Wort, und wenn ich nur halb so verlegen und verschüchtert aussah, wie ich mich in diesen schrecklichen Minuten fühlte, dann konnte ich das sogar sehr gut nachvollziehen. "Mrs. Cartwright, Jesse ist ein Junge aus unserer Klasse!" prustete Tanith heraus. Durch die Reihen der Mädchen ging ein schockiertes Raunen. Sie starrten mich an wie einen mehrfachen Mörder und Vergewaltiger, was vielleicht doch ein wenig übertrieben war, in Anbetracht der Tatsache, dass sie mich vor Taniths Enthüllung zum größten Teil noch nicht einmal wirklich beachtet hatten. "Wie bitte? Aber das kann doch nicht sein!" Ihr stockte der Atem. Wie alles an dieser Frau war auch ihre erschrockene Reaktion vollkommen überspitzt, aber auf eine nicht zu beschreibende Art bedrohlich und einschüchternd. "Ist das wahr?!?" Ich fühlte mich wie ein Lamm vor dem Schlachter. Dies war eine jener verhängnisvollen Situationen, in denen man eigentlich alles sagen konnte - es war so oder so falsch. Log ich, würde das meine Blamage perfekt machen. Außerdem konnte ein einziger Blick in die Klassenliste diese kleine Flunkerei auf einen Schlag zunichte machen. Andererseits, sagte ich jetzt die Wahrheit, würde mir diese Person höchstwahrscheinlich den Kopf abreißen. Ich hatte nur die Wahl, ob ich früher oder etwas später sterben würde, kurz und schmerzvoll oder langsam und noch ein bisschen qualvoller. Offen gesagt, hätte ich in diesem Augenblick meinen Turnbeutel zur Hand gehabt, ich hätte dieser verfluchten Tanith mitsamt Monica den Kopf eingeschlagen. Sie würde doch eh nicht gewinnen - warum musste sie mir dann um jeden Preis meine vielleicht einzige Chance auf so viel Geld ruinieren? Sie hatte doch überhaupt keine Ahnung, worum es hier ging! Und zu allem Überfluss wusste ich mit grausamer Gewissheit, dass ich für meine Mitschüler von nun an nur noch ein Mädchen, eine Tunte, meine verschollene Schwester oder sonst etwas sein würde. Ich fühlte mich erniedrigt wie nie zuvor in meinem Leben. Und da, ganz am Rande dieses bodenlosen Abgrunds, sah ich plötzlich einen schwachen Lichtstrahl am Ende des Horizonts. Eigentlich war es mehr wie eine... Eingebung. Eine vollkommen absurde Idee - aber vielleicht gerade deshalb meine letzte Rettung. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich noch ein letztes Mal Luft holte und dann zur alles entscheidenden Antwort ansetzte. "Es... es tut mir leid... aber das ist ein Missverständnis!" Ich legte mein süßestes und gleichzeitig schüchternstes Lächeln auf. Jetzt kam es ganz auf meine Schauspielkunst an. "Ein Missverständnis? Na, da bin ich aber gespannt!" "Ach, das müssen sie gar nicht sein!" Ich winkte ab. "Die Sache ist ganz einfach so, ich bin tatsächlich Jesses Schwester. Mein Name ist eigentlich Jessica, aber mich nennt kein Mensch so... das war einfach... die Macht der Gewohnheit!" Ich hatte das dumme Gefühl, meine Stimme trotz aller Mühen nicht unter Kontrolle zu bekommen. War da nicht ein leichtes, verräterisches Zittern zu hören? Wieso starrten sie mich denn alle so an? Ich hätte mich treten können. Dies war meine letzte Chance, verdammt, ich konnte mir jetzt keine Fehler mehr leisten! "Langsam scheint sich die Sache aufzuklären. Dieser Jesse ist also ein Junge aus eurer Klasse", sagte Mrs. Cartwright, an Monica und Tanith gewandt. "Aber du bist das natürlich nicht, sondern seine Schwester, Jessica. Na, eure Eltern scheinen ja nicht sonderlich einfallsreich gewesen zu sein bei der Namengebung..." "Na ja, sie hatten bei mir wohl einen Jungen erwartet, also mussten sie mit dem Namen ein wenig improvisieren!" Mein Lächeln kam mir schrecklich falsch und gekünstelt vor. Ich hörte vereinzelte Lacher, aber irgendwie schienen sie von weit, weit herzukommen, so laut rauschte das Blut in meinen Ohren. Mein Herzschlag hatte sich in astronomische Höhen gesteigert. Mein Hals fühlte sich in etwa so an, als wäre ein viel zu enger Metallring darum gelegt worden. Ich konnte kaum noch Schlucken. "So ist das also..." Unsere autoritäre Blondine zog die Augenbrauen hoch, ohne die Stirn dabei zu runzeln. Es sah irgendwie grotesk aus. Ich musste spontan an jene Fernsehsendungen denken, in denen weißgekleidete Halbgötter zu irgendwelchen teuer gekleideten Geschäftsleuten auf die Geburtstagspartys fuhren und ihnen ein nervenlähmendes Gift namens Botox in das Gesicht spritzten um so jegliche Faltenbildung verhindern, zum Beispiel beim Lachen. Das Ergebnis war beängstigend. Eine starre Maske, alterslos, aber irgendwie tot, genauso wie das liebliche Antlitz der Mrs. Cartwright. Trotzdem war ich mir vollkommen sicher, dass sie kein Wort von dem glaubte, was ich ihr so schamlos lächelnd vorlog. "Ihr seht euch... aber wirklich verdammt ähnlich!" Tanith glotzte mich kopfschüttelnd an. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also zuckte ich nur mit den Schultern und schickte im Geiste eine ganze Armada von Stoßgebeten gen Himmel. "Ähm... wir sind ja auch ganz entfernt miteinander verwandt!" erwiderte ich schüchtern, als ich in ihren Wasseraugen sah, dass sie eine Antwort erwartete. Spontan fingen einige der Mädchen an zu kichern. Ich fühlte mich ein kleines bisschen sicherer. "Also Jessica, ich kann mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen, dass ein Junge zu einem Schönheitswettbewerb gehen sollte!" Mrs. Cartwright lachte laut auf, und obwohl ich mich plötzlich aus irgendeinem Grund ein wenig schäbig fühlte, fiel mir eine ganze Gebirgskette vom Herzen. Ich lächelte höflich und warf aus den Augenwinkeln einen ängstlichen Blick zu Tanith und Monica hin. Unser Lästermaul vom Dienst stieß ihre Freundin grinsend in die Seite und maß sie mit einem überlegenen Blick. "Oh man, Tan, kauf dir ne Brille, dann kannst du ihre unglaublich männlichen Gesichtszüge mal aus der Nähe bewundern!" Sie kicherte, und aus irgendeinem Grund fiel Tanith in dieses Kichern ein. Vielleicht wusste sie auch ganz einfach nur nicht, was sie sonst tun sollte. Auf ihren Wangen lag ein Hauch von Rot. "Glückwunsch, Jessica Maguire!" raunte mir die schöne Blonde neben mir zu. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck unverhohlener Enttäuschung. Ihre Augen funkelten mich feindselig an. In diesem Augenblick wusste ich plötzlich, dass ich es geschafft hatte. Wenn ich jetzt so zurückdenke, war es schon ein seltsamer Abend. Da saß ich in meinem fleckigen Beef and Drive-Shirt in der staubigen Schulturnhalle und hielt auf mysteriöse Art und Weise mein Schicksal in den Händen. Zumindest hatte ich damals das Gefühl, endlich die Chance bekommen zu haben, die ich mein ganzes Leben lang verdient hatte. Als ich an diesem Abend mitsamt meinem Sportzeug zuhause in unserer kleinen Wohnung ankam, war ich nicht müde, obwohl ich den ganzen Weg gerannt war. Meine Vorbereitungen begannen noch am nächsten Tag. In der Schule schminkte ich mir die Augen noch ein kleines bisschen schwärzer als sonst und kramte die gefährlichsten Klamotten aus dem Schrank, die ich nur irgendwie in dessen düsteren Untiefen finden konnte. In der Klasse bemühte ich mich, ein ganz besonders grimmiges Gesicht zu wahren, aber gleichzeitig Monica und Tanith nicht öfters anzufunkeln, als ich es unter normalen Umständen getan hätte. Ich stapfte durch die Gänge wie ein Footballer mit Kreuzschmerzen, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Kurzum: ich verhielt mich so, wie ein süßes Pseudo-Model namens Jessica es nie, nie im Leben getan hätte. Die Stunden erschienen mir wie der reinste Spießrutenlauf. Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so froh gewesen, als ich endlich unser hässliches Schulgebäude hinter mir lassen konnte. Ich hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Ich wusste, dass Mum heute nicht da war und das musste ich ausnutzen. Im Treppenhaus nahm ich je zwei Stufen auf einmal und es war mir so egal wie sonst etwas, dass ich mir bei dieser Aktion ein paar Mal beinahe den Hals gebrochen hätte. Als ich endlich keuchend vor unserer Haustüre stand und mit zittrigen Fingern den Schlüssel im Schloss herumdrehte, kamen mir zum ersten Mal leise Zweifel an meinem Vorhaben. Was tat ich hier eigentlich? Ich führte mich auf wie ein noch größerer Idiot, als ich ohnehin schon war, aber damit nicht genug - jetzt wollte ich mich doch tatsächlich in das Zimmer meiner Mum schleichen und ihre Kleider durchprobieren! Ich kam mir vor wie ein Perverser. Gleichzeitig wusste ich natürlich, dass es jetzt zu spät war, um noch umzukehren. Es lag nicht einmal unbedingt daran, dass die Mädchen oder Mrs. Cartwright sich unter Umständen darüber hätten wundern können, wenn die reizende Jessica Maguire plötzlich nicht mehr aufgetaucht wäre. Das Problem war, dass die Idee in meinem Kopf schon längst beschlossene Sache war und dass ich es mir niemals hätte verzeihen können, nicht jede winzigste Chance zu nutzen, wenn ich Mum nur irgendwie damit helfen konnte. Ich stieß ruckartig die Türe auf, stapfte breitbeinig in die Wohnung und drehte den Schlüssel dreimal im Schloss herum, als ich die Höllenpforte wieder lautstark hinter mir zugeworfen hatte. Ich weiß nicht, ob sie schon irgendwann einmal ein Horror-Videospiel gespielt haben, in denen die Gänge aus atmosphärischen Gründen oft in alle möglichen und unmöglichen Perspektiven verzerrt und verdreht sind. Jedenfalls erschien mir unsere kleine Wohnung an diesem Tag aus irgendeinem Grund ungleich düsterer und bedrohlicher als jemals zuvor und jeder einzelne Boden schien ein kleines bisschen oder auch ein bisschen mehr in Schieflage geneigt zu sein. Natürlich wusste ich, dass es unmöglich war und mir meine übersteigerte Phantasie wieder einmal einen Streich spielte, trotzdem schlug mir mein Herz in jeder einzelnen Sekunde bis zum Hals und ich ertappte mich beunruhigend oft dabei, wie ich nervöse Blicke über meine Schulter warf. Als ich endlich vor dem großen Kleiderschrank meiner Mum stand, aus dessen angelaufenen, uralten Spiegel mir ein keuchendes Abbild meiner selbst entgegenstarrte, fühlte ich mich wie ein Mörder, der einen ganzen Haufen von Leichen vor der unmittelbar herannahenden Polizei zu verstecken hatte. Ich holte tief Luft, rannte in mein Zimmer und legte hastig meine neuste Zetsuai-CD ein. Noch im Zurückhasten drehte ich die Lautstärke noch ein wenig mehr auf und sprintete geradewegs an den Tatort zurück. Meine Finger zitterten, als ich die verspiegelten und unangenehm laut quietschenden Schranktüren öffnete und einer dichten Mauer von vielfarbigen Stoffen gegenüberstand. Etwas hilflos griff ich nach den erstbesten Sachen, setzte mich aufs Bett und begutachtete meine Beute: einen etwa knielangen, mit bunten Blumen bedruckten Sommerrock und eine knallpinke Chiffonbluse. Ein weiterer Griff brachte eine kurze Jacke aus hellem Kunstleder mit einem überdimensionalen Zottelkragen hervor. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Wenn ich nicht so aussehen wollte wie meine eigene Großmutter auf Extasy, musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Ich sah auf die Uhr. So viel Zeit, wie ich gerne gehabt hätte, blieb mir beim besten Willen nicht mehr. Also beschloss ich kurzerhand, nach einer etwas resoluteren Methode zu greifen, trat mit festem Schritt direkt auf meinen hölzernen Feind zu und riss ihm ohne noch lange zu zögern seine gesamten blauen, schwarzen, roten und getigerten Eingeweide heraus, nur um diese dann zu einem großen Scheiterhaufen auf dem Boden aufzutürmen. So weit, so gut. Jetzt wusste ich wenigstens, was mich erwartete. Nach einigem Suchen entschied ich zunächst für eine Kombination aus einem pechschwarzen Minirock mit Reptilienmuster und einer lackartig glänzenden Oberfläche, dazu einem eng anliegenden Leopardentop und einer transparenten schwarzen Bluse. Ich schlüpfte in Windeseile aus meiner gewohnten Kleidung und zog dann weitaus weniger euphorisch die Sachen meiner Mum an. Als ich endlich fertig war, atmete ich noch ein letztes Mal tief durch und wagte dann den prüfenden Blick in den Spiegel. Das Ergebnis übertraf all meine Erwartungen - leider nicht unbedingt meine Besten. Die Kleider passten mir zwar überraschend gut, allerdings wirkte das Top auf meinem doch nicht ganz weiblich geformten Oberkörper in etwa so erotisch wie ein ausgeleierter Spannbettbezug. Meine Beine konnten zwar genauso gut auch zu einem Mädchen gehören, allerdings nur zu einer Dunkelhaarigen, die sich noch nicht auf die nahende Minirocksaison vorbereitet hatte. Den letzten Schliff verlieh mir mein nicht unbedingt dezentes Augen-Make up, sodass ich im Großen und Ganzen so aussah wie ein schlecht verkleideter, heroinsüchtiger Transvestit, der gerade eben seinem eigenen Grab entstiegen war. Ich schüttelte energisch den Kopf. So knapp die verbleibende Zeit auch sein mochte, ich musste etwas an meinem absolut unweiblichen Erscheinungsbild ändern. Ich streifte hastig die Kleidung wieder ab - wobei ich feststellen musste, dass meine schwarzen Boxershorts auch nicht gerade zu einer femininen Ausstrahlung beitrugen - und rannte ins Badezimmer. In den folgenden Minuten entwickelte ich einen tiefen Respekt für alle Mädchen, die sich jeden Sommer Tag für Tag selbst verstümmelten, nur um mit kurzen Röckchen und ärmellosen Tops ihre wundervoll glatt rasierte Haut präsentieren zu können. Ich schickte ein Stoßgebet in den Himmel, dass meine Mum keine Blutflecken an ihrem Mordinstrument mit der leuchtend blauen Aufschrift "Lady Comfort" bemerken würde und machte mich leise fluchend an die lästige Arbeit des Abschminkens. Nach einigen kläglichen Fehlversuchen schaffte ich es tatsächlich, mir lediglich ein dezentes Make up aufzutragen, das meine grünen Augen zum funkeln brachte und gleichzeitig meine blasse Hautfarbe wunderbar betonte. Ich musste grinsen. "Na, du bist aber ein hübsches Mädchen!" flötete ich in höchsten Tönen und bekam unweigerlich einen Lachanfall. An meiner weiblichen Stimme musste ich in jedem Fall noch ganz gewaltig arbeiten! Aber sie müssen sich das einmal vorstellen: Da stehen sie vor ihrem eigenen Spiegelbild und haben das dumme Gefühl, ihnen blickt mit einem Mal ihr eigener Zwilling entgegen, der nur dummerweise dem anderen Geschlecht angehört. Es war absurd! Und trotzdem muss ich gestehen, dass die ganze Sache langsam aber sicher begann, mir einen Heidenspaß zu machen. Ich zwinkerte meiner reizenden Schwester im Spiegel zu und hüpfte im Takt der Musik, die von meinem Zimmer aus die ganze Wohnung durchflutete, pfeifend in das kleine Reich meiner Mum zurück. Zum Glück wusste ich, wo sie ihre Sammlung von beinahe lebensechten Brustimitationen versteckte, die sie ab und zu als kleine Schummelei in ihren BH steckte. Mit einem triumphierenden Grinsen auf dem Gesicht zauberte ich eine bunte Plastikkiste unter dem Bett hervor, angelte mir einen der pechschwarzen BHs und stellte einige Augenblicke später kichernd fest, wie ich als beinahe komplettes Mädchen aussah. Endlich konnte meine Anprobe beginnen. Ich schlüpfte erneut in das Outfit meiner Wahl und trat mit einem viel besseren Gefühl vor die unbarmherzige Spiegel-Jury. Tatsächlich sah ich ungleich besser aus als beim ersten Versuch - allerdings hätte ich mir nur noch eine Netzstrumpfhose und hohe Stiefel anziehen müssen, um problemlos meiner Mum bei der Arbeit helfen zu können. Ich schüttelte den Kopf und suchte weiter. Diesmal suchte ich mir einen minimal längeren schwarzen Rock mit einem Überrock aus transparentem blauem Stoff und ein weißes, bauchfreies Oberteil mit einer kurzen hellen Jeansjacke auf. Langsam besserte sich das Ergebnis. Ich spielte ein wenig mit meinen Haaren herum und legte den unschuldigsten Blick auf, den nur irgendwie finden konnte. Mein Gott, schoss es mir durch den Kopf, ich hatte gar nicht gewusst, wie niedlich ich eigentlich aussehen konnte. Ich stieß ein übermütiges Lachen aus und drehte mich im Kreis. Das Mädchen im Spiegel ahmte jede meiner Bewegungen genauestens nach. Wir tauschten ein Lächeln aus und fuhren mit der Anprobe fort. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass meine wohl verständliche Angst und mein Zögern sich vollends in Wohlgefallen aufgelöst hatten. Verstehen sie mich nicht falsch, mein Glücksgefühl kam nicht wirklich daher, dass ich bislang mein ganzes Leben lang im falschen Körper gelebt hatte, oder dass es mich in irgendeiner Art und Weise erregte, die Kleider meiner eigenen Mum zu tragen. Es war viel eher so, dass mein anfangs so absurd scheinender Plan nun mit riesigen Schritten Gestalt annahm. Ich realisierte plötzlich, dass ich eine Chance hatte, diesen Wettbewerb zu gewinnen. Wer sollte bitteschön dieses entzückende Wesen, das mir aus der von dunklen Fäden durchzogenen Spiegelscheibe entgegenstrahlte, für irgendetwas anderes halten als ein Mädchen, das einen wunderschönen Traum vom Modelleben träumte? Ich war so in meine euphorische Beschäftigung vertieft, dass ich zunächst gar nicht hörte, wie jemand den Schlüssel in das Türschloss steckte - oder genauer gesagt, es versuchte, da ich in weiser Voraussicht meinen eigenen Schlüssel stecken gelassen hatte. Erst ein lautes Klopfen riss mich aus meinen siegessicheren Fantasien. "Jesse? Jesse, bist du da?" Ich wollte gerade aus bloßer Gewohnheit herumfahren und meiner Mum die Türe öffnen, als es mich mit einem Mal wie ein Blitz durchzuckte: Wie bitte konnte ich Mum die Türe öffnen, wenn ich gerade ihre Kleidung und ihre BH-Einlagen trug? Kalte Panik stieg in mir hoch, als mein Blick auf den vollkommen chaotischen Kleiderstapel fiel, der sich mittlerweile auf das halbe Zimmer verteilt hatte. "Jesse, hast du den Schlüssel stecken lassen?" Mums Stimme klang ebenso müde wie genervt. Ich konnte sie nur allzu gut verstehen und verfluchte mich im Geiste tausendmal dafür, dass ich Idiot die Uhrzeit übersehen hatte. "Warte! Ich - ich komme sofort, Mum! Eine Sekunde!" Mit fahrigen Bewegungen begann ich, so schnell wie nur irgendwie möglich die zahllosen Stoffhäufchen aufzusammeln und irgendwie auf die Kleiderbügel zu verteilen. Die Hektik machte dieses Vorhaben allerdings weitaus schwieriger, als sie sich vielleicht vorstellen können. Ich hörte, wie an dem Türgriff gerüttelt wurde und stieß einen Fluch aus, den ich hier lieber nicht wiedergeben möchte. "Was machst du denn da?" Ich bemühte mich, noch ein bisschen schneller zu arbeiten und hätte am liebsten losgeheult, als die Bügel viel zu schnell zuende gingen und mich ein großer Stapel von hauchdünnen Seidenfetzen, die förmlich danach schrieen, vorsichtig behandelt und im Kleiderschrank auf keinen Fall zusammengelegt zu werden, vorwurfsvoll aus der Ecke anfunkelte. "Ich... ich bin im Bad, Mum! Dauert nur noch einen Moment!!!" Kurzerhand beschloss ich, dass die am empfindlichsten wirkenden Sachen sich auch mal einen Bügel mit einigen Röckchen und Blusen teilen konnten. Die restlichen Kleider legte ich zugegebenermaßen mit weitaus weniger Liebe zusammen, als sie es vielleicht verdient hatten oder gewohnt waren und als der Platz langsam aber sicher knapp wurde, stopfte ich die störenden Überbleibsel ziemlich rabiat hinterher und schlug mit einem triumphierenden Lächeln die verspiegelten Türen zu. "Geht es dir nicht gut, Jesse?" Mum schaffte es irgendwie, trotz ihrer wahrscheinlich blank liegenden Nerven noch ehrlich besorgt zu klingen. Ich hätte mich ohrfeigen können. "Nein, ich... bin schon fertig! Augenblick noch, ich komme!" Ich ließ mit einem Fußtritt die Plastikkiste wieder unter dem Bett verschwinden, stürzte aus Mums Zimmer heraus - und prallte prompt mit der Hüfte gegen eine der Kanten ihres Bettes. Ein stechender Schmerz durchzuckte mein gesamtes rechtes Bein, aber ich biss tapfer die Zähne zusammen und rannte so schnell ich nur konnte zum Eingang hin, drehte den Schlüssel im Schloss herum und riss die Türe auf. "Hey, Mum!" Erst als ich den vollkommen verständnislosen Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, begriff ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. "Jesse? Oh mein Gott, wie... wie siehst du denn aus?" Sie riss ihre blauen Augen weit auf. "Sind das meine Kleider? Und du... du... du..." Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und deutete stattdessen mit einem Finger auf meine nur bedingt natürliche Oberweite. Ich blinzelte ebenso entsetzt zurück und hatte mit einem Mal keine Ahnung mehr, was ich in dieser Situation noch sagen sollte. "Mum, das... ich... du wunderst dich jetzt vielleicht, aber... es gibt eine ganz einfach Erklärung hierfür!" Sie musste mir irgendwie ansehen, dass diese Erklärung vielleicht doch nicht ganz so einfach war. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht veränderte sich und sie legte mir mit einer Geste, wie eben nur Mütter sie hinbekommen können, einen Arm um die Schulter. "Jesse, hast du vielleicht irgendwelchen Sorgen, von denen ich nichts weiß?" In ihren Augen stand geschrieben, dass sie mich verstehen würde, egal was ich jetzt antwortete. "Wenn du ein Problem hast, kannst du jederzeit mit mir darüber reden, das weißt du doch, Jesse?" "Mum..." Ich wäre am liebsten davongelaufen. Wie bitte konnte auch ein einzelner Mensch so unglaublich dumm sein wie ich? Da gab ich mir so unheimlich viel Mühe, in mehr oder weniger akribischer Präzisionsarbeit jede verräterische Spur vom Tatort verschwinden zu lassen - und lief sozusagen glatt mit der Leiche über der Schulter den Polizeiermittlern in die Arme. Jedenfalls schien ich es jetzt tatsächlich geschafft zu haben, dass Mum mich für ernsthaft psychisch gestört hielt. "Ist schon gut!" Sie lächelte. "Kuck mich nicht so ängstlich an, ich bin doch nicht böse auf dich! Ich weiß ja selber, dass dein Leben nicht einfach ist, und dass ich..." "Mum!" Ich unterbrach sie nicht gerne, aber ihre letzten Worte waren einfach zuviel des Guten gewesen. Vielleicht hätte sie es mir einfacher damit gemacht, mich schlicht und einfach anzuschreien, auszurasten, vielleicht sogar zu schlagen, aber dieser verständnisvollen Reaktion musste dringend Einhalt geboten werden. "Ich sage doch, ich kann's erklären! Halt mich einfach nicht gleich für durchgeknallt, ja?" "Ich halte dich nicht für durchgeknallt!" "Ich weiß! Das ist ja das Schlimme!" Ich ignorierte ihren ziemlich ratlosen Blick und fuhr hastig fort, während ich im Geiste noch fieberhaft nach einer glaubhaften Ausrede suchte. "Man, ich mach das doch nicht, weil's mich aufgeilt oder so! Das... das mache ich... für die Schule!" "Für die Schule?" Mums Miene wurde mit jedem meiner Worte ein bisschen fragender. "Ja, genau! Für ein... Theaterstück!" "Ein Theaterstück?" wiederholte sie meine Worte. "Kannst du mir mal verraten, wieso du dafür meine Kleider anziehen musst?" "Na ja, ich... ich spiele ein Mädchen!" erklärte ich hastig und dankte irgendeiner höheren Macht für diesen plötzlichen Geistesblitz. "Uns fehlt halt weibliche Besetzung, und außer mir hat sich keiner dafür bereiterklärt. OK, den meisten würde man's halt auch nicht abkaufen." "Und dir schon?" Sie zuckte mit den Schultern. "Sag mal, seit wann interessierst du dich denn für Schauspielerei?" "Ach, das hat sich irgendwie so ergeben!" Ich winkte ab. "Unsere Klasse soll halt was für ein Schulfest vorbereiten und da ist irgendjemand auf die Idee mit diesem Stück gekommen." "Dann wird mir einiges klar!" Mum schüttelte auf einmal lachend den Kopf. "Oh je, jetzt fühle ich mich richtig dumm! Ich habe ja schon das Schlimmste vermutet!" "Typisch Mutter!" grinste ich und zwinkerte ihr zu. Im gleichen Augenblick war ich wirklich heilfroh, dass meine Mum nicht auf die Elternabende an meiner Schule ging, da sie sich unter all den Snobs, wie sie zu sagen pflegte, einfach nicht wohlfühlte. Da sie außerdem mit keiner der Familien meiner Klassenkameraden Kontakt hatte und ich auch nicht wirklich Probleme mit meinen Lehrern und somit keine Aussichten auf ein nötiges Elterngespräch hatte, lagen die Chancen, dass sie meine Lüge durchschauen konnte, praktisch bei Null. "Jetzt hör aber auf!" Sie lachte noch ein bisschen, dann wurde sie plötzlich wieder ernst und sah mich an. "Du, weißt du was? In dem Fall würde ich sogar eine Ausnahme machen und mich mal in dein kleines Schloss wagen! Ich habe ja nicht einmal eine Ahnung, wie diese teure Schule von innen aussieht." "Hey, das... das ist doch nicht nötig!" versicherte ich hastig. "Ich weiß ja, dass du das nicht wirklich möchtest, und nur wegen mir..." "Jesse! Das ist das Wenigste, was ich für dich tun kann!" Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. "Du bist so ein lieber Junge, ich habe dich eigentlich gar nicht verdient!" "Mum! Ich... ich weiß ja noch gar nicht, ob du überhaupt kommen darfst, immerhin... immerhin ist es ja ein Schulfest!" "Aber wenn es geht, dann werde ich kommen. Denk doch nicht immer nur an mich, Jesse! Ich weiß doch, dass du enttäuscht wärst, wenn alle anderen Eltern im Publikum säßen und ich bin wieder einmal nicht da. Ich versprech's dir." Plötzlich grinste sie. "Außerdem möchte ich doch unbedingt meinen Jungen... oder mein Mädchen auf der Bühne sehen!" "Ist... ist das auch OK, wenn ich mir deine Sachen leihe?" lenkte ich hastig vom Thema ab. Ich hatte noch genug Zeit, mir über eine neue Ausrede Gedanken zu machen, und langsam schien ich ein wirklich routinierter Lügner zu werden. "Aber sicher! Ich kann dir sogar dabei helfen! Weißt du was? Ein Bekannter von mir tritt öfters in einem Travestie-Lokal auf. Er hat schon einige Erfahrung dabei und kann dir bestimmt bei dem einen oder anderen Problem helfen, zum Beispiel, falls du mal eine enge Hose oder einen Badeanzug brauchst." "Echt?" Ich strahlte sie an und konnte einfach nicht anders, als ihr um den Hals zu fallen. Mit einem Mal war ich heilfroh, dass sie meine geheime Aktion bemerkt hatte. "Natürlich!" lächelte sie. "Weißt du, was lustig ist? Früher, als du noch ein Kind warst - du wirst dich wahrscheinlich gar nicht mehr daran erinnern können - haben dich alle Leute für ein Mädchen gehalten, weil du so niedlich und hübsch warst!" Sie stieß mir freundschaftlich in die Seite. "Aber jetzt komm schon und zieh dich wieder um. Ich möchte meinen Sohn zurück!" In solchen Momenten waren Mum und ich uns näher als es die normalsten und heilsten Familien es nur irgendwie hätten seien könnten. Ich liebte diese kostbaren Augenblicke, vielleicht gerade deshalb, weil sie mit den Jahren immer seltener und vergänglicher wurden. Doch die wenigen Minuten zeigten mir überdeutlich, dass sich jede Mühe für meinen irrsinnigen Plan hundertprozentig lohnen würde. In den folgenden Tagen stürzte ich mich fieberhaft auf meine Aufgabe. Und, wenn ich das so anmerken darf - diese Aufgabe war nicht etwa einfach. Auf eine seltsame Art und Weise spielte ich Gott oder betätigte mich zumindest als Regisseur meines eigenen Filmes. Ich hatte nicht weniger zu tun, als einen Menschen zu erschaffen, einen kompletten Menschen mit eigenen Gedanken und Gefühlen. Gauben sie nicht, ich übertreibe. Meine Rolle musste so perfekt sein, dass niemand, auch nicht meine Klassenkameraden, mit denen ich immerhin einen Großteil der viel zu kurzen Tage verbringen musste, auch nur eine Sekunde an der Echtheit der reizenden Jessica Maguire zweifeln konnte. Ich möchte nicht angeben, aber ich war schon immer ein kreativer Mensch und ich muss gestehen, dass mir die Erschaffung eines eigenen Charakters, der weit über den Helden irgendeiner Geschichte hinausging, auf eine verdrehte Art und Weise einen Heidenspaß machte und eine unglaubliche Faszination auf mich ausübte. Ich konnte dabei zusehen, wie Jessie jeden Tag ein bisschen mehr an Persönlichkeit gewann, wie sie eine eigene Art zu Denken, die Dinge zu betrachten gewann. In ihrem Kopf spannen sich Träume und Fantasien zurecht. Und mehr als nur einmal spornte mich nicht zuletzt ihr grenzenloser Optimismus dazu an, auch nach dem stressigsten, kräftezehrendsten Arbeitstag die High Heels meiner Mutter herauszukramen und ein sicheres, verführerisches Gehen in der schwindelerregenden Höhe zu üben. Ich weiß nicht, ob sie das nachvollziehen können. Zugegeben, es klingt durchaus verrückt, aber auch viele Schriftsteller berichten von dem Phänomen, dass ihre selbst erdachten Figuren mit einem Mal ein regelrechtes Eigenleben entwickeln und sich scheinbar völlig aus der Kontrolle des Schöpfers lösen. Auch Jessie war keinesfalls ein Charakter, der sich nach eigenem Belieben formen und herumschubsen ließ. Man könnte sagen, sie hatte ihren eigenen Kopf. Jessie war durch und durch von einem optimistischen Ehrgeiz erfüllt. Das Wort "aufgeben" kam in ihrem ganz persönlichen Wörterbuch schlicht und einfach nicht vor. Im Gegenteil, sie liebte Probleme und Herausforderungen, denen sie sich stellen konnte. Sie war wirklich unheimlich viel stärker als ich es jemals sein konnte und manchmal beneidete ich sie. Natürlich war Jessie keineswegs perfekt. Sie konnte sich nur allzu leicht in eine Sache hineinsteigern, manchmal sogar mehr, als gut für sie war. Wenn sie einmal etwas anfing, wollte sie es auch zuende bringen. Ein bisschen genoss sie es schon, im Mittelpunkt zu stehen, dabei war ihr Selbstbewusstsein keineswegs perfekt. Sie konnte ebenso schrecklich schüchtern sein und wurde leicht nervös, wenn man sie allzu sehr anstarrte. Ich glaube, auch wenn sie immer so getan hat, war es ihr ganz und gar nicht egal, was andere Menschen von ihr dachten. Doch trotz ihrer Schwächen war sie ein Mensch, mit dem ich wirklich gerne befreundet und noch viel lieber verwandt gewesen wäre. Jessie war so unheimlich nett, fröhlich und natürlich, sie liebte das Leben auch dann noch, wenn sie es eigentlich hasste. Sie liebte den Tag wie die Nacht, besonders aber das silberne Mondlicht, sie liebte Süßigkeiten, die Farbe Hellblau und noch eine ganze Menge mehr. Ich betone es noch einmal - bitte, halten sie mich nicht für verrückt. Für mich war Jessie manchmal sogar realer als all die entzückenden, gut erzogenen Mädchen der oberen Mittelklasse, mit denen ich Tag für Tag das Klassenzimmer teilte. Sie war immer an meiner Seite und hat mir ebenso geholfen, wie sie mich manchmal in schiere Verzweiflung gestürzt hat. Wenn ich jetzt so dasitze und zurückblicke, kann ich nichts anderes schreiben, als das Jessie Maguire in meinen Augen wirklich gelebt hat. Von all diesen Dingen ahnte ich damals natürlich noch nichts. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen unmöglicher Aufgabe und einem faszinierenden Spiel. Ich liebte es, an Jessies Charakter zu feilen, mir immer neue Facetten auszudenken und sie mit jedem Schritt ein bisschen menschlicher und glaubhafter zu machen. Sehr zu meinem Unglück reichte das jedoch nicht einmal annähernd zur Erschaffung eines unverwechselbaren, eigenständigen Menschen. Meine imaginäre Schwester brauchte nicht nur eine eigene Art zu Denken, sondern auch zu Gehen, zu Sprechen, sich zu Bewegen. Ich trainierte stundenlang eine Mimik und Gestik vor dem Spiegel, die sich von meiner eigenen grundlegend unterschied. Ich beobachtete die Mädchen in meiner Umgebung mit wissenschaftlicher Genauigkeit, ich prägte mir ihre gesamte Körpersprache ein, ihre charakteristischen Bewegungsabläufe. Es kostete mich mehr Nerven, als ich jemals in meinem Körper vermutet hatte. Ich war wirklich unheimlich froh, dass das nächste Treffen der Anwärterinnen auf den Titel der Miss Lucky Karma aufgrund verschiedener schulischer Umbauarbeiten und kleinerer Restaurationen an der Sporthalle erst in über einem Monat stattfand, denn diese Zeit hatte ich auch bitter nötig. Ich übte wie ein Besessener, suchte verzweifelt nach einem weiblichen Tonfall in meiner Stimme, der nicht permanent aufgesetzt und erzwungen wirkte. Ich prägte mir ein, wie Jessie ihr Gesicht verzog, wenn sie überrascht, traurig, glücklich oder wütend war. Wie sie ihre Arme, Beine und Hüften bewegte, wenn sie ging, wenn sie eine Treppe hinauf- oder hinabstieg. Wie sie Dinge anhob und fallen ließ. Etwa zwei Tage vor dem schicksalhaften Treffen war ich endlich so weit mit dem Gesamtbild zufrieden, dass ich es wagte, mich der großen Generalprobe zu stellen. Ich würde die Sicherheit meiner eigenen vier Wände hinter mir zurücklassen und mich schutzlos und allein hinaus in den Großstadtdschungel wagen. Jessie Maguire würde sich endlich zum ersten Mal den prüfenden Augen der Bevölkerung stellen. Ich war so aufgeregt wie selten zuvor in meinem Leben. Ich entschied mich für ein schlichtes, aber wirkungsvolles Outfit in Form eines kurzen, hellblauen Rockes und einem ärmellosen, knapp bauchfreien Oberteil mit blau-weiß-silbernem Camouflage-Muster. Dazu legte ich mir einen weißen, schmalen Gürtel mit kleinen, silbernen Nieten um und band mir meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Nach den langen Monaten des unmenschlich harten Trainings bereitete es mir kaum noch Mühe, ein dazu passendes, dezentes Make up aufzulegen. Mit einem zufriedenen Nicken betrachtete ich mich im Spiegel und lief dann in Jessies leichtfüßigem Gang zu Mums Schuhschrank hin. Ich öffnete die schon reichlich klapprige Türe aus hellem Holz, holte tief Luft und griff schließlich nach einem Paar weißer Riemchenschuhe mit einem hohen, schmalen Absatz. Jetzt ging es um alles oder nichts und ich wollte es wissen. Entweder ich würde mir auf diesen Dingern das Genick und noch ein paar andere, weniger wichtige Knochen brechen - und mich ganz nebenbei zum Gespött der Leute machen - oder es gab irgendwo auf dieser großen, weiten Welt doch noch so etwas ähnliches wie Gerechtigkeit und ich würde diesen Abend glücklich, zufrieden und mit einem Stapel von Handynummern nach Hause zurückkehren. Der Himmel war strahlend blau und vollkommen wolkenlos. Wie ein glattes, endloses Tuch spannte er sich über das graue Meer der Großstadt. Der Asphalt wurde von den ungebremst einfallenden Sonnenstrahlen in einen flirrenden Backofen verwandelt und trieb die Menschen in völlig überfüllte Freibäder, Cafés und Eisdielen. Auch ich war herzlich wenig von dem Gedanken begeistert, mich mit einer Horde von anderen schwitzenden Menschen in eine viel zu enge U-Bahn zu quetschen und wäre schon nach wenigen Schritten am liebsten postwendend in mein wunderschönes, abgedunkeltes Zimmer zurückgekehrt. Allerdings hatte ich eine Mission und heute war meine letzte Gelegenheit, sie zu erfüllen. Ein anerkennender Pfiff von einem Halbwüchsigen in Gangsterkleidung war wie Doping für meine leicht angekratzte Motivation. Ich drehte mich zu der Gruppe der Jugendlichen um und schenkte ihnen ein zweideutiges Zwinkern. Eine ältere Frau schüttelte den Kopf und ich hätte vor lauter Euphorie singen können. Ich ließ mich auf einer der klebrigen grauen Plastikbände nieder und schlug die Beine übereinander. Meine Blicke suchten vergeblich nach Unglauben, ja auch nur einem Anflug von Abscheu oder Entsetzen in den Augen meiner Mitfahrenden. Wenn sie mich ansahen, sahen sie nichts weiter als ein junges Mädchen auf dem Weg zu einem Sommernachmittag in der Innenstadt. Ich triumphierte. Eine mechanisch klingende Frauenstimme verkündete die Stationsnamen, während ich aus einem der bekritzelten Fenster hinaus auf die glühende Stadt blickte. Ich war froh, als die U-Bahn endlich in die unterirdische Station im Zentrum einrollte und ich das stickige, schweißgetränkte Abteil und die ekelhaften, feucht-klebrigen Sitze hinter mir lassen konnte. Ein kühler Luftzug schlug mir entgegen, als ich die knallgelben Türen durchschritt. Es war ein höchst angenehmes Gefühl auf der nackten Haut und ich beneidete die Mädchen ehrlich darum, dass sie sich den ganzen Sommer hindurch den Luxus von knappen Miniröcken und bauchfreien Oberteilen gönnen konnten. Ich atmete noch einmal tief durch, dann nahm ich all meinen Mut zusammen und stieg eine der Rolltreppen hinauf. Die Tore zur Stadt taten sich mir auf wie der Vorhang zu meiner ganz persönlichen Theaterbühne. Trotz dem gelungenen ersten Akt in der U-Bahn schlug mir mein Herz immer noch bis zum Hals, als ich zunächst noch reichlich schüchtern, mit eher vorsichtigen Schritten hinaus auf das graue Pflaster trat, mitten in mein eigenes Publikum hinein. Falsch, schoss es mir durch den Kopf, ganz falsch. Ich war zwar ein bisschen schüchtern und die Stadt war ja auch noch neu für mich, aber ich hatte keinen Grund mich zu fürchten. Ich schielte in eine der Schaufensterscheiben und prüfte meinen Jessie-Gang Marke Absatzschuhe. Ich legte meinen Kopf ein wenig schief und schenkte der schwarzhaarigen Schönheit in der spiegelnden Glaswand ein bezauberndes Lächeln. Na also, ich konnte es doch! Ich wandte mich von meinem Ebenbild ab und lächelte stattdessen den nächstbesten Jungen an, der mir entgegenkam. Mein Lächeln wurde prompt, wenn auch reichlich verlegen erwidert. Langsam fühlte ich mich wohler. Ich stolzierte noch etliche Male die breite Einkaufsstraße auf- und ab, ohne irgendwelche seltsamen Blicke zu ernten. Ich genoss die Pfiffe der Jungen und Männer, ließ mich sogar in einem Geschäft von einer freundlichen Verkäuferin beraten und probierte einige Kleidungsstücke an, die ich mir natürlich im Leben nicht leisten konnte. Dann kehrte ich auf meinen asphaltenen Laufsteg zurück und ließ mich noch ein wenig bewundern, bis mir die Sonne irgendwann zu heiß und die immer gleiche Strecke langweilig wurde und ich beschloss, mir in einem Café ein kühles Getränk zu leisten. An diesem perfekten Sommertag waren die Außenplätze überfüllt und die Innenräume angenehm durch Klimaanlagen gekühlt, also trat ich eine eher kleine Bar namens "Seven Sins" ein und nahm auf einem der lederbezogenen Chromhocker an der Bar Platz. Das Licht in dem Raum kam von blauen Neonröhren, an der Decke drehten sich Ventilatoren. Die Wände waren schwarz, eine von ihnen zeigte das Bildnis eines weißhaarigen, wunderschönen Engels, der in einem innigen Kuss mit einem schwarzhaarigen Dämon versunken war. Auf einer anderen Wand ergriff ebendieser Engel die Hand seines Geliebten, wie um ihn zu sich zu ziehen, aber die ehemals schneeweißen Flügel des göttlichen Wesens waren pechschwarz. Während meine Augen die Einrichtung musterten, griff ich nach einer der Getränkekarten und wandte mich dann den mit weißer Schrift auf schwarzen Grund geschriebenen Drinks zu. Nach einiger Überlegung und einem höchst bedauernden Blick auf mein in Kürze dahinschwindendes Geld entschied ich mich für einen Cocktail namens Hochmut und teilte dem südländischen Barkeeper meine Bestellung mit. Ich wollte gerade den Preis zusammensuchen und bezahlen, als ich plötzlich eine Stimme hinter mir hörte. "Der Drink geht auf mich, Carlito!" Ich drehte mich leicht erschrocken herum und war in dem Augenblick reichlich froh, dass meine Haut regelrecht an dem schwarzen Leder festklebte und es mir gar nicht erst erlaubte, im ersten Überraschungsmoment schlicht und einfach von Stuhl zu kippen. Ich sah in das Gesicht eines Jungen, vielleicht ein bisschen älter als ich. Auf seinen Lippen lag ein leicht überheblich, aber doch unbestreitbar cool wirkendes Lächeln. Seine Gesichtszüge und vor allem seine unglaublich intensiven, dunklen Augen wiesen eindeutig auf einen asiatischen Ursprung hin, aber sein etwa schulterlanges Haar war blond wie das eines Engels - höchst wahrscheinlich gefärbt, verbesserte ich mich augenblicklich und fragte mich ernsthaft, wie ausgerechnet ich auf einen derart peinlichen Vergleich kommen konnte. "Ähm, danke, aber... das ist echt nicht nötig!" entgegnete ich hastig und warf dem offensichtlichen Playboy einen selbstbewussten Blick zu. Natürlich fühlte ich mich in Wahrheit von dem Angebot unsagbar geschmeichelt, aber das brauchte er ja nicht zu wissen und außerdem hätte er meine Freude ja ohnehin falsch verstanden. "Ich bestehe aber darauf!" Er schenkte mir ein umwerfendes Lächeln und wandte sich dem Mafioso-Verschnitt hinter der Theke zu, der mit seinen schwarzen, von Gel glänzenden Haaren und dem kleinen Spitzbärtchen tatsächlich wie die leibhaftige Reinkarnation Satans in irgendeinem Hollywood-Film aussah. "Na los, Carlito, für die Lady und mich zwei ,Hochmut' bitte." "Dabei haben wir ,Wolllust' heute im Sonderangebot!" grinste er und machte sich an seiner Vielzahl von Flaschen und Flüssigkeiten zu schaffen, bis er schließlich zwei hohe, dünne Gläser, gefüllt mit einer von Blutrot in leuchtendes Türkisblau übergehenden Flüssigkeit, hinter seinem Rücken hervorzauberte. Das unglaublich intensive Blau wurde von einer dicken Schicht aus zerstoßenem Eis in eine gletscherartige Oberfläche verwandelt, der Zuckerrand des Glases war wieder in dem blutigen Rot gehalten. Letztlich zierte noch ein transparenter Strohhalm das überaus erfrischend wirkende Gesamtkunstwerk. Ich löschte erst einmal meinen ersten Durst, dann nahm ich mir Zeit, meinen edlen Spender näher zu betrachten. Inzwischen hatte ich beschlossen, die Einladung anzunehmen - warum sollte ich die weibliche Eleganz, die ich mir während dem wochenlangen, knochenharten Survival-Training so mühsam erworben hatte, nicht wenigstens ein einziges Mal zu meinem Vorteil einsetzen? Mit einem Blick auf das überaus reichliche Trinkgeld, das der Blondschopf unserem diabolischen Barmann hinschob, erstickte ich den letzten Anflug von schlechtem Gewissen noch im Keim und genoss die kühle Flüssigkeit nun umso mehr. "Ich bin wirklich ein Glückspilz!" stellte mein Gegenüber fest, den Blick seiner dunklen Augen leicht abwesend auf einen der großen schwarzen Ventilatoren gerichtet. "Ich bin erst seit gestern wieder hier, und schon treffe ich das wahrscheinlich reizendste Mädchen der ganzen Stadt!" "Du weißt wohl, wie man Komplimente macht!" Ich schüttelte lachend den Kopf und sah an dem kurzen Zucken auf dem Gesicht des Jungen, dass er mit dieser Reaktion ganz offensichtlich nicht gerechnet hatte. "Ich muss zugeben, dass ich auch noch nicht lange in der Stadt bin, also kann ich über die restlichen Jungen in der Stadt leider noch nicht viel aussagen!" Er lachte, aber ich sah in seinen Augen, dass diese Geste alles andere als spontan und natürlich war. Ein bisschen tat mir unser Möchtegern-Playboy ja leid - wie hätte er auch wissen können, dass er bei mir ja eigentlich von Anfang an gar keine Chancen gehabt hatte? "Na, du weißt offensichtlich nicht, wie man Komplimente macht!" konterte er und stützte seinen Kopf auf eine seiner Hände. "Aber vielleicht verrätst du mir ja trotzdem deinen Namen?" "Vielleicht! Wenn du mir deinen sagst?" Ich zwinkerte ihm zu und beobachtete dann wieder die rot-blaue Flüssigkeit, die langsam meinen Strohhalm hinaufwanderte. "Es ist mir eine Ehre, Mylady!" In seinen Augen blitzte es leicht spöttisch auf, als er meine Hand ergriff und einen Kuss andeutete. Jetzt konnte selbst ich mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. "Gestatten, Tatsumi, zu ihren Diensten!" "Tatsumi also?" lachte ich und fand nun endlich eine Gelegenheit, meinen lange geübten, unwiderstehlichen Augenaufschlag auzuprobieren. "Ich bin Jessie. Eigentlich Jessica, aber den Namen habe ich schon seit grauer Vorzeit von niemandem mehr gehört!" "Hast du denn auch eine Handynummer, Jessie?" gab er mit einem nicht weniger verführerischen Augenaufschlag zurück. "Ja, aber die gebe ich dir nicht!" Ich grinste. "Du kannst mir aber gerne deine geben!" "Wie charmant..." "Ich weiß! Immer doch!" lächelte ich. "Aber um dich zu beruhigen, ich teile mir ein Handy mit meinem Bruder und es muss ja nicht sein, dass du ihm plötzlich ins Ohr säuselst." "Wer sagt, dass ich das bei dir machen würde?" Tatsumi öffnete seinen Ledergeldbeutel und zückte eine Visitenkarte. Ich nahm das kleine Kärtchen in die Hände und las prüfend die - sei es Zufall oder Schicksal - in weißen Lettern auf schwarzen Grund geschriebene Adresse durch. "Meine Fresse, wohnst du in einer noblen Gegend!" entfuhr es mir. Als ich Tatsumis Grinsen bemerkte, schlug ich mir eine Hand vor den Mund und errötete leicht. "Man kann schon sagen, dass meine Eltern eine ganze Menge Kohle haben. Deshalb war ich bis vor kurzem auch in so einem Nobelinternat untergebracht, aber ich hatte keine Lust mehr darauf und bin abgehauen. Deshalb geh ich jetzt wieder hier in der Stadt in eine Schule." "Cool!" stellte ich fest, ganz einfach weil ich nicht wusste, was ich sonst dazu sagen sollte. Ob es einem nun passte oder nicht, dieser Junge hatte einfach so eine Art, die einen schlichtweg für ihn einnehmen musste. Ich beschloss, das Gespräch so bald wie möglich zu beenden, bevor ich ihm tatsächlich noch Hoffnungen machte, die ich doch ohnehin nicht erfüllen konnte. "Und was machst du so?" "Ähm... ich... ich bin hier, um meinen Bruder zu besuchen und weil ich an einer Misswahl an seiner Schule teilnehmen will!" erklärte ich hastig und hoffte inständig, dass der Blondschopf mich nicht nach meiner eigenen schulischen Laufbahn fragen würde. Der allerdings zog nur die Augenbrauen hoch und sah mich mit einer Mischung aus Neugier, Interesse und Bewunderung an. "Eine Misswahl? Na da hast du dir aber was vorgenommen! Allerdings... Chancen hättest du ja. Und wie!" "Danke!" Ich kramte mein Geld wieder zusammen und ließ es in meiner lackschwarzen Handtasche verschwinden, die Mum mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte. "Du willst schon gehen?" In Tatsumis Blick las ich ehrliche Enttäuschung. Er hatte sich wohl ganz offensichtlich mehr von diesem Treffen erwartet. "Sorry, aber ich muss jetzt echt weg! Ich würde ja noch gern länger mit dir plaudern und mich mit Komplimenten überhäufen lassen - so etwas schadet dem Ego schließlich nie - aber ich hab heut noch einiges zu tun." "Sehn wir uns wieder?" "Vielleicht?" lächelte ich, erhob mich von meinem Hocker und zwinkerte dem Jungen noch einmal zu, bevor ich in Richtung Ausgang und Sommerhitze davonstöckelte. Ich spürte, wie sein Blick mich fixierte, blieb in der Türe noch einmal stehen und drehte mich zu ihm herum. "Ach übrigens, danke für den Drink! Ciao Ciao!!!" Mit einem letzten Winken verschwand ich aus der dunklen Bar und ließ meinen wahrscheinlich noch ziemlich verduzten Gönner zusammen mit der wundervoll kühlen Klimaanlage allein zurück. Überaus zufrieden und in zuversichtlicher Erwartung der nächsten Tage stolzierte ich ein letztes Mal meinen ganz persönlichen Catwalk hinab, die Rolltreppe in die unterirdischen Katakomben des U-Bahnhofes hinab und endlich in meine knallgelbe, inzwischen nicht mehr ganz so überfüllte Kutsche hinein, die mich nach Hause zurücktrug. Meine Füße schmerzten trotz aller Laufübungen fürchterlich und die drückende Luft war im Laufe des Tages auch nicht gerade besser geworden, trotzdem war ich wirklich glücklich, als ich mich auf meiner klebrigen braunen Bank zurücklehnte und versunken auf das Häusermeer hinter der bunt beschriebenen Scheibe blickte. Drei Tage später kam Tatsumi in meine Klasse. Unsere Lehrerin machte ein wichtiges Gesicht, als sie uns mit nahezu feierlicher Stimme mitteilte, dass wir einen neuen Mitschüler bekommen sollten. Offen gestanden, mich interessierte diese Neuigkeit nicht im Geringsten. Was sollte das denn schon für ein Mensch sein? Ich meine, ich kannte meine Mitschüler ausreichend gut genug, um zu wissen, dass zwischen den meisten von ihnen eh kein allzu großer Unterschied bestand. Sie waren im Grunde genommen austauschbar. Gut, die Schüler auf meiner alten, heruntergekommenen Schule in den Slums waren größtenteils Arschlöcher, aber dabei hatten sie wenigstens Stil. Die wohl erzogenen Mitläuferchen der Lucien-Chamberlain-High School konnte man wohl am besten mit zwei treffenden Schlagwörtern beschreiben: gähnende Langeweile. Ich legte keinen Wert darauf, in irgendeiner Weise näheren Kontakt zu ihnen aufzubauen, und, ganz ehrlich, dass unser Neuer der Sohn und Alleinerbe irgendeines reichen Konzerninhaberehepaares war, machte die Sache auch nicht gerade spannender. Denken sie jetzt bitte nichts Falsches. Ich hatte damals eben noch keine Ahnung davon, wie sich die Ereignisse noch entwickeln sollten, und so saß ich nur mit desinteressierter Miene an meinem Platz in der vorletzten Reihe am Fenster und spielte gelangweilt mit meinem Bleistift. Ich begriff noch nicht einmal, was danach geschah, als die Türe geöffnet wurde und eine Gestalt mit schwarzer Hose und einem weißen Hemd hereintrat. Ich blickte zwar auf, warum auch immer, aber erst nach einigen Sekunden erkannte ich den Jungen, der da gerade eben hereingetreten war. Und nach diesen einigen Sekunde musste ich mich beherrschen, keinen lautstarken Lachkrampf zu kriegen. Auf Tatsumis Gesicht lag immer noch jenes einnehmende, leicht arrogant wirkende Lächeln. Das war aber auch schon alles, was er mit dem Aufreißer aus dem Seven Sins gemeinsam hatte. Er trug eine Brille, sein schulterlanges Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Einige lose Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Um seinen Hals baumelte eine silberne Kette mit einem Kreuzanhänger. "Nun stell dich doch deiner neuen Klasse mal vor!" forderte die Lehrerin ihn auf. Ich bemühte mich krampfhaft, den blonden Jungen nicht allzu auffällig anzustarren. Tief in meinem Inneren rechnete ich wohl damit, dass er einen ganz anderen Namen nennen würde. Immerhin war es praktisch unmöglich, dass unser Playboy vom Dienst hier seinen Dienst als Traum aller Schweigermütter antrat. Ich senkte meinen Kopf als ich merkte, dass er meinen Blick aufgefangen hatte. "Gut. Mein Name ist Tatsumi Asagi. Ich bin erst seit ein paar Tagen wieder in der Stadt, davor war ich auf einem Internat. Meine Lieblingsfächer sind Latein und Biologie." Er schenkte den Mädchen in der ersten Reihe einen tiefen Blick und erntete spontan einige leise Seufzer. Sogar Monica, die für ihr endloses Repertoire an Männerwitzen und ihre besondere Vorliebe für sämtliche Serien, in denen hübsche, erfolgreiche Karrierefrauen Mitte 30 hobbyweise Männer aufrissen und schmutzige Gespräche am Telefon führten, bis weit über die Grenzen unserer bekannt war, bekam einen leicht entrückten Gesichtsausdruck und begann spontan, mit einer Strähne ihres goldblonden Haares zu spielen. "So, ihr werdet euch ganz bestimmt gut verstehen... hmm..." Unsere Lehrerin blickte sich mit suchenden Augen im Klassenzimmer um. Sehr zu meinem Entsetzen blieb ihr Blick ausgerechnet auf mir - genauer gesagt, auf dem Tisch neben meinem eigenen hängen. Sie sah nicht begeistert aus, aber sie lächelte, und irgendetwas an diesem Lächeln machte mir unmissverständlich klar, dass dies der letzte freie Platz im gesamten Klassenzimmer war. "Tatsumi, du kannst dich erst einmal zwischen Jesse und Kylie setzen. Falls du lieber weiter nach vorne möchtest, lässt sich das sicher noch regeln." "Vielen Dank, Mrs. Michaels", lächelte Tatsumi und schritt hoch erhobenen Kopfes durch die Reihen der Schüler bis zu jenem heiligen Tisch, der mich Tag für Tag von meinen Klassenkameraden getrennt hatte - zumindest ein kleines bisschen. Aber nicht nur die Tatsache, dass mein Schutzwall letztendlich doch noch gefallen war, machte mir Angst. Ich weiß, es mag absurd klingen, in anbetracht der Tatsache, dass ich bald vor der gesamten Schule über eine kleine, hell erleuchtete Bühne stolzieren sollte, aber ich fürchtete wie niemals zuvor um meine, oder besser gesagt um Jessies geheime Identität. Tatsumi war ein Risiko, das ich nicht einkalkuliert hatte und - wie sich sehr bald herausstellen sollte - auch nicht kontrollieren konnte. "Hey!" grüßte der Blondschopf, vielleicht in meine, vielleicht in Kylies Richtung - höchstwahrscheinlich auch in beide. Ich bemühte mich krampfhaft, meine gelangweilte Teilnahmslosigkeit nach außen hin aufrecht zu erhalten, doch ich spürte, wie mir meine Fassade mit jeder Sekunde ein bisschen mehr entglitt. Ich fühlte Tatsumis prüfenden Blick wie eine Klinge im Nacken und konnte gar nicht anders, als ihn gegen meinen Willen zu erwidern. Noch im nächsten Moment begriff ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. "Sag mal, kennen wir uns?" raunte der Blondschopf mir zu und zog eine Augenbraue hoch. "Ähm, nicht dass ich wüsste, " murmelte ich ausweichend und bemühte mich, auch nur den leisesten Anflug von Jessies Tonfall und Sprechweise aus meiner eigenen Stimme zu verbannen. Unter der Bank spielte ich nervös mit meinen Fingern. "Das ist aber seltsam... warte mal... Jessie? So nannte dich die Lehrerin doch, oder?" Seine dunklen Augen blinzelten mir überrascht entgegen und ich wäre am liebsten im Erdboden verschwunden. "Ja? Und?" "Moment mal - Jessie? Jessie aus dem Seven Sins?" "Häh?" Wieder einmal war ich heilfroh um jede Stunde, in der ich vor dem Spiegel meine eigene Mimik mit der von Jessica verglichen und schließlich beide von einander entfremdet hatte. Dieser kostenlose Schauspielunterricht kam mir jetzt nur allzu sehr zugute, trotzdem schlug mir das Herz bis zum Hals. Meine Handflächen klebten feucht aufeinander. Warum musste das Schicksal immer ausgerechnet mir solche tückischen Stolpersteine in den Weg legen, ausgerechnet dann, wenn ich dem Ziel gerade ein Stückchen näher gekommen war? "Aber - nein. Das kann nicht sein." Er rutschte mit seinem Gesicht ein Stückchen näher an mein eigenes heran. Sein Blick durchbohrte mich nahezu. "Sag mal, sorry, wenn die Frage jetzt etwas indiskret kommt, aber... bist du ein Mädchen oder ein Junge?" "Was?!?" Diesmal musste ich mich nicht einmal anstrengen, denn meine Empörung war keineswegs gespielt. Wie hatte ich nur jemals daran zweifeln können, tatsächlich den Tatsumi vor mir zu haben? Konnte irgendein normaler, vernünftiger Mensch derart ungerührt so unglaublich unverschämt sein? "Hey, was für Probleme hast du eigentlich?" Ich sah, dass die Lehrerin mir einen bösen Blick zuwarf, und fuhr in deutlich leiserem Tonfall fort - nachdem ich einmal tief durchgeatmet und mich ein Stück weit beruhigt hatte. "Seh ich etwa aus wie eine Tussi oder was?" "Ehrlich gesagt, ja!" Tatsumi rückte sich seine Brille zurecht und sah nicht einmal ein kleines bisschen verlegen aus. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Ich konnte zwar nicht genau sagen, warum, aber dieser Typ regte mich auf. "Aber mal abgesehn davon hab ich am Wochenende in der Stadt so ein süßes Ding namens Jessie in einer Bar getroffen. Wär ja auch zu schön gewesen, wenn die Kleine in meiner Klasse gewesen wäre." "Jetzt hör mal zu!" Um meine Beherrschung war es endgültig geschehen. "Diese Kleine ist zufällig meine Schwester, und du lässt die Finger von ihr, OK?" "Deine... Schwester?" Der blonde Junge sah einen Augenblick lang ein wenig überrascht aus, dann jedoch lächelte er und mir wurde langsam aber sicher bewusst, dass ich schon wieder einen Fehler gemacht hatte. "Jetzt wird mir einiges klar! Ihr seht euch ja wirklich verdammt ähnlich... seid ihr Zwillinge? Jesse und Jessica... nein, wie niedlich!" "Halt doch dein dummes Maul!" "Hat sie schon nen Freund?" "Wie bitte?" "Na, ist sie noch zu haben oder gibt es da Konkurrenz, die erst noch beseitigt werden muss?" Ich konnte nicht anders, als entgeistert die Augen aufzureißen. Was bildete sich dieser Firmenbesitzersohn da eigentlich ein? Ich unterdrückte mit einiger Mühe den Impuls, meine Faust in sein hübsches Gesichtchen zu platzieren und warf ihm stattdessen einen vernichtenden Blick zu. "Also, erstmal geht dich das einen Scheißdreck an, und außerdem, hast du sie noch alle? Wenn sie schon nen Freund hat, dann wird sie den bestimmt nicht wegen so einem arroganten Aufreißer aufgeben, hast du das kapiert?" "Schon klar!" Tatsumi winkte gelangweilt ab. "Aber wenn, dann kann's mit ihrer Beziehung nicht allzu weit her sein. Würde sie sich sonst von einem arroganten Aufreißer zu einem Drink einladen lassen?" "Ach, was weiß ich. Außerdem bleibt sie eh nicht lang in der Stadt." "Hab ich schon gehört, sie will an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen. Gute Idee. Wenn ich mir diese Tussen hier in der Klasse anschaue, hat sie schon gewonnen. Aber kann sie überhaupt mitmachen, wenn... oder geht sie etwa an diese Schule?" "Nein, tut sie nicht, mach dir erst gar keine Hoffnungen. Und lass sie gefälligst in Ruhe." Ich wandte mich wieder meinem Heftaufschrieb zu, aber Tatsumi dachte ganz offensichtlich gar nicht daran, das Thema auf sich beruhen zu lassen. "Hat sie denn was von mir erzählt? Oder hat sie vor, mich anzurufen?" "Da brauchst du mich nicht zu fragen, aber ja, erzählt hat sie von dir." "Echt?" In Tatsumis Augen blitzte es. "Und was? Lass mich raten, sie bereut es jetzt, dass sie sich so bald wieder aus der Stadt verziehen möchte?" "Irgendwie schon..." Meine Lippen verzogen sich zu einem derart boshaften Lächeln, dass ich mich beinahe, aber eben auch nur beinahe selbst ein bisschen vor mir erschreckte. "Weißt du, sie meinte, dass sie heute in der Stadt so einen eingebildeten, selbstverliebten Idioten getroffen hat, der doch tatsächlich so blöd war, ihr den Drink zu bezahlen. Oh, und wenn sich nicht noch mehr solche Trottel finden lassen, will sie auch vielleicht noch mal anrufen. Sie ist nämlich zurzeit ein bisschen knapp bei Kasse." Das hatte gesessen! Tatsumis Gesichtsausdruck veränderte sich zwar nicht nennenswert - er schien sich wirklich verdammt gut unter Kontrolle zu haben - doch an dem Ausdruck in seinen Augen ließ sich unschwer erkennen, dass er mit so einer Antwort um nichts in der Welt gerechnet hatte. Ich grinste in mich hinein und beachtete ihn nicht weiter. Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, von Tatsumi in den nächsten Wochen bestimmt nicht mehr belästigt zu werden. Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass ich nichts von dem ersten Treffen der hoffnungsvollen Nachwuchsmodells geschrieben habe. Nun, ich habe mich entschlossen, die Reihenfolge der Dinge ein kleines bisschen anders zu ordnen, in der Hoffnung, sie damit nicht allzu sehr zu verwirren. Außerdem gestaltete sich der große Tag als weitaus weniger aufregend, als ich erwartet hatte - sehr zu meiner Erleichterung übrigens. Außer mir waren von den zahlreichen Interessentinnen nur noch ganze fünfzehn erschienen. Nun saßen sie dicht zusammengedrängt auf dem Fußboden der Turnhalle, wo in einer Woche die große Vorausscheidung für die Lucky-Karma-Misswahl stattfinden sollte. Aus irgendeinem Grund lag jedoch weder feierliche Anspannung noch sonst irgendeine besondere Atmosphäre im Raum, die auf dieses große Ereignis hinweisen sollte. Da war lediglich ein Haufen schnatternder, hübscher Mädchen, der mit mäßiger Aufregung auf die ewig jung gebliebene Mrs. Cartwright wartete. Auf den ersten Blick erkannte ich nur Monica, Tanith, die Blonde, die mich an jenem Abend vor drei Wochen auf mein stilvolles Outfit hingewiesen hatte, außerdem noch ein dunkelhaariges, südländisch aussehendes Mädchen aus der Para-Klasse, von der ich zufällig wusste, dass sie Alicia hieß. Ansonsten war wirklich jeder Typ Mädchen vertreten, den man sich irgendwie vorstellen konnte, exotisch, niedlich, aufreizend, was auch immer. Ich wurde leicht unsicher und wünschte mir im Stillen, dass Mrs. Cartwright doch endlich kommen würde. All diese geballte weiblich Schönheit ließ mich ganz plötzlich und trotz all meines Trainings an meiner Authentizität zweifeln. Ansonsten gibt es von diesem Treffen wirklich nicht viel zu erzählen. Ich hatte meine schöne Schwester ja schon vor über einer Woche zu dem Wettbewerb eingetragen und die endgültige Entscheidung zur Teilnahme war längst getroffen. Jetzt kannte ich das Gesicht meines Feindes, beziehungsweise meiner Konkurrentinnen und hatte nicht mehr viel zu tun, außer eine Startnummer zu ziehen. Ich erwischte die Nummer 8, tauschte dann aber mit einem Mädchen, dass beim Anblick ihrer Nummer 13 einen mittelschweren hysterischen Anfall erlitt. Nun, ich war nicht wirklich abergläubisch, außerdem mochte ich diese Zahl und hoffte außerdem, als eine der letzten Teilnehmerinnen einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Wie auch immer, jedenfalls hatte ich letzten Endes die Startposition 13 und ging weder beruhigt noch beunruhigt nach Hause. Ich wusste ja noch nicht, dass meine Hoffnungen in wenigen Tagen ohnehin zerschlagen werden sollten. Kapitel 3: Part III - Brot und Spiele ------------------------------------- Part III - Brot und Spiele Oh mein Gott! Eine Fanfic! Von Yu-chan! ... Nein, Leute, kommt wieder aus'm Bunker, die Welt geht nicht unter. Hoffe ich. Dass dieses Kapitel entstanden ist, resultiert aus einer Verkettung unglücklicher Zufälle. Letzte Woche packte mich so ein Zwang (kein Spaß) und ich MUSSTE einfach was schreiben. Naja, da der Anfang dieses Kapitels (Anfang soll heißen alles bis auf den letzten Abschnitt und ein winziges Bisschen von vorletzten... gomen, muss mal eben in die Ecke und mich schämen... ^^;;;) schon seit Monaten auf meinem PC rumgammelte, hab ich mich also an PredElection gemacht. Und weil ich krank geworden bin und für alles andere zu müde war, konnte ich es tatsächlich korrigieren. *drop* Wie das Leben so spielt... und sonst? Diese Fanfic ist merkwürdig und ich kann nicht sagen, dass ich sie mag, aber irgendwie auch doch. Allerdings glaube ich nicht, dass ich weitergeschrieben hätte, wenn nicht plötzlich so viele Commis (viel für meine Gewohnheiten ^^;) eingetrudelt wären. DANKE!!!! Ihr habt mich wirklich so unglaublich motiviert! Ehrlich, ich danke euch allen! Euch allen widme ich dieses Chapter: Peruka, leaenae, Dwiezel und natürlich meinem FÜNKCHEN!!!!!! ^.^ *rundumknuddl* Und ein ganz besonders gestörtes Arigatou an Yoko-chan, an Tía, Marron und Picco. ^_____^ Ich freue mich so, dass ihr meine Stories lest, obwohl ich so verplant bin gerade... ich danke jedem, der durchhält! ;_; Genug der langen Rede, bitteschön, ihr habt lang genug gewartet: Eigentlich war ich wirklich guter Dinge. Meine erste Etappe, der schulinterne Schönheitswettbewerb, verlangte den Teilnehmerinnen an und für sich noch nicht viel mehr ab, als gut auszusehen und über eine eigens zu diesem Anlass errichtete Bühne in der Turnhalle zu stolzieren. Danach gab es noch eine kleine Fragerunde, alle anderen Runden und Etappen waren streng vorgeschrieben und verlangten glücklicherweise noch keine besondere Kreativität - außer natürlich, die richtigen Kleider auszusuchen. Drei Tage vor dem großen Samstag kam ich todmüde vom Gruppen-Training nach Hause. Wir mussten einen kleinen Tanz einstudieren, den alle Mädchen gemeinsam vorzutragen hatten, synchron und perfekt. Ich schwöre, dieses gottverdammte Herumgehüpfe war um Längen anstrengender, als ich es mir jemals hatte vorstellen können, und meine einzigen Gedanken galten an jenem Abend einer kühlen Dusche und meinem weichen, gemütlichen Bett. Ich achtete nicht mehr wirklich auf den Weg, immerhin kannte ich unser altes, verfallenes Treppenhaus mittlerweile in- und auswendig und hätte mich auch mit geschlossenen Augen in der schnuckeligen kleinen Bruchbude zurechtgefunden. Mit einem herzhaften Gähnen schloss ich unsere Türe auf, trottete lustlos in die Wohnung, während ich mir mit dem Arm über das Gesicht wischte - und wäre bei dieser Gelegenheit beinahe über etwas Großes, Duftendes gefallen, das irgendein hochintelligenter Mensch mitten auf unserer filzigen Fußmatte platziert hatte. Mit einem leisen Aufschrei krallte ich mich am Türrahmen fest, kämpfte einige Sekunden lang um mein Gleichgewicht und kam dann schließlich fluchend und nach Luft schnappend wieder zum Stehen. Spontan sank meine Laune verdächtig in Richtung Keller und während ich noch darüber nachdachte, wer solch eine unglaubliche Blödheit aufbringen konnte, ein Hindernis - was auch immer es sein mochte - so penetrant mitten in den Weg zu stellen, beugte ich mich herunter, um der Sache auf den Grund zu gehen. Zu meinen Füßen lag ein inzwischen leicht mitgenommen aussehender Blumenstrauß. Die meisten der Blumen waren rote Rosen, aber es waren auch noch ein Paar andere dazuarrangiert, deren Namen ich beim besten Willen nicht kannte. Ich verdrängte hastig den Gedanken, wer denn nun im Endeffekt idiotischer war - derjenige, der einen Blumenstrauß mitten auf den Weg legte, oder derjenige, der ihn trotz dieser alles andere als versteckten Position schlichtweg übersah und sich bei der Gelegenheit mal eben so beinahe den Hals brach - und hob das kitschige Gebilde stattdessen vorsichtig an. War das Ding etwa für Mum? Nein, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen! Ihr neuster Lover, Shane, war wirklich alles, aber bestimmt kein verkappter Romantiker, der seiner holden Angebeteten Blumen vor die Pforte legte! Außerdem verrieten laute, aufgebrachte Stimmen aus Mums Zimmer, dass ebendieser reizende Nachtclubbesitzer just in diesem Augenblick in unserer bemitleidenswerten Wohnung weilte - und zwar, Mums Tonfall nach zu urteilen, ganz bestimmt zum allerletzten Mal. Ich stöckelte hastig in Richtung der Streitenden, als sich plötzlich etwas Kleines, Rosafarbenes aus den blutroten Blüten löste und langsam zu Boden segelte. Mit einer fließenden Bewegung angelte ich das herzförmige Stück Papier, rannte weiter - und kam vor der Türe von Mums Zimmer dann doch noch einmal zum stehen. Meine Neugierde war stärker als mein versammeltes Ehrgefühl, und so hob ich das pastellfarbene Kärtchen an, bis ich auch im Halbdunkel des engen Ganges die verschnörkelte Schrift lesen konnte. "Hey Jessie!" Schon nach den ersten beiden Worten beschlich mich ein gar furchtbarer Verdacht, und ich musste mich beherrschen, nicht gleich wieder mit dem Lesen aufzuhören und die Karte schwungvoll in den nächsten Mülleimer zu befördern. Ich atmete tief durch und zwang meine Augen tapfer auf das Papierchen zurück. "Ich habe gehört, dass du in letzter Zeit knapp bei Kasse sein sollst. Nun, Süße, hier ist ein Idiot, der sich wahnsinnig gerne von dir ausnutzen lassen würde. Falls du meine Nummer nicht mehr hast, meine Adresse steht in der Telefonliste der Klasse deines reizenden Bruders. Eure übrigens auch. Tausend Grüße, in Liebe, dein Tatsumi P.S.: Ich glaube nicht, dass ich dir die Symbolik von roten Rosen extra erklären muss, oder? ^_~" Ich verzog das Gesicht. Warum begriffen manche Menschen eine Abfuhr nicht mal dann, wenn sie ihnen boshaft lächelnd geradewegs auf einem blitzenden Silbertablett präsentiert wurde? Seufzend steckte ich die Karte wieder an ihren Platz zwischen den hier und dort ein wenig eingedrückten Rosen zurück und schloss einen Moment lang die Augen. Mein Plan brachte doch tatsächlich Schwierigkeiten mit sich, an die ich nicht einmal im Traum gedacht hatte! Jetzt musste ich nicht nur meine Klassenkameradinnen und eine ausgewählte Jury davon überzeugen, dass ich ein waschechtes Mädchen mit dem Zeug zur großen Modelkarriere war, sondern hatte auch noch einen alles andere als heimlichen Verehrer am Hals, der zu allem Überfluss auch noch an schwerster Selbstüberschätzung im Endstadium litt. Das Leben konnte aber auch wirklich Scheiße sein! Ein Schrei von Mum riss mich ausgesprochen unsanft aus meinen trüben Gedanken, und so verdrängte ich hastig die Schreckensvision an eine gewisse blonde Nervensäge und verfluchte mich innerlich für meinen gottverdammten Egoismus. Immerhin war es nicht ich, der gerade ein wirkliches Problem am Hals hatte! Ich holte tief Luft, dann riss ich die Türe derart heftig auf, dass sie mit einem erschrockenen Knall gegen die Wand schlug, stapfte mit wütender Miene breitbeinig in Mums Zimmer hinein und schrie so laut ich konnte: "Lass Mum in Ruhe, du gottverdammtes Arschloch!!!" Gut, im Nachhinein gebe ich zu, dass das vielleicht nicht unbedingt die intelligenteste aller möglichen Handlungsweisen gewesen war. Ich muss wirklich betonen, dass ich Shane nie hatte leiden können und er an diesem Abend und überhaupt der Letzte war, der in irgendeiner Weise Hand an meine Mum legen durfte. Ich hätte ihm am liebsten auf der Stelle seinen schmierigen Kopf von den Schultern gerissen, und gut, vielleicht habe ich im Zuge dieses Blutrausches eine winzige Kleinigkeit zu wenig darüber nachgedacht, was für ein Bild ich unserem Barbesitzer da eigentlich bot. Die kleine Nervensäge Jesse Maguire - unsere Abneigung beruhte so ganz nebenbei erwähnt nämlich stets auf Gegenseitigkeit - platzt mitten in einen Streit hinein, der ihn nichts, aber auch gar nichts angeht. Aber hey, Jesse startet so eine an und für sich schon äußerst riskante Aktion nicht einfach irgendwie - nein, er tut es mit Stil. Oder besser gesagt, in einem kurzen Jeansrock, einem hautengen rot-schwarzen Schnür-Top und kurzen schwarzen Stiefeln mit acht Zentimeter hohen Absätzen. Und passend zu diesem Outfit trägt das schnaubende, vor Wut nahezu glühende Etwas einen großen Strauß roter Rosen in der Hand - als vernichtende Waffe sozusagen. Ich glaube, bei meinem Anblick wäre selbst ich in Gelächter ausgebrochen. Aber natürlich dachte ich an jenem Abend noch nicht so weit, und Shanes schmierige Lache brachte mein Temperament endgültig zum Überkochen. "Hör sofort auf zu Lachen und verpiss dich, Vixer!" schrie ich ihm entgegen und stemmte meine Hände samt Blumenstrauß in die Seiten. "Ach wie süß, der böse kleine Jesse is unter die Tunten gegangen!" grinste Shane und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. Ich hätte ihm am liebsten augenblicklich Selbiges poliert, konnte mir aber sehr gut vorstellen, wie diese Aktion geendet hätte und begnügte mich so damit, ihn noch ein bisschen feindseliger anzustarren. "Jetzt halt dein Maul und hau endlich ab! Du weißt doch sonst immer bei allen Dingen am besten, wo Ein- und Ausgänge sind, oder?" "Hey, werd bloß nicht frech, du Ratte!" Er verzog sein dreitagebartbewehrtes Gesicht zu einer wütenden Grimasse, dann grinste er wieder und riss mir mit einer schnellen Bewegung den Rosenstrauß aus den Händen. "Und was is das? Zeig mal her - von deinem Freund?" "Das geht dich einen Scheißdreck an! Gib... gib das sofort wieder her!!!" Langsam wurde ich wirklich böse. Ich meine - nicht, dass mein Herz in irgendeiner Form an diesen Blumen gehangen hätte, aber sie gehörten trotzdem mir. Und ganz nebenbei legte ich alles andere als großen Wert darauf, dass ausgerechnet Shane diese abstoßend herzförmige rosafarbene Karte in seine schmierigen Finger bekommen sollte. "Tausend Grüße!" kicherte er und klang dabei wie ein absterbender Motor, der nach einem harten Winter seinem endgültigen Niedergang ins Auge blickte. "In Liebe, dein Tatsumi! Ach nee, wer hätte denn das gedacht? Unser Jesse is nich nur ne Tunte, er is auch noch ne Schwuchtel!" "Das bin ich nicht! Der Typ ist nicht mein Freund, OK? Und jetzt gib das wieder her und verzieh dich endlich!!!" "Shane, Jesse macht bei einem Theaterstück mit. Lass ihn in Ruhe!" Mum versuchte, ihren zukünftigen Ex-Lover am Arm zu packen und ihn von mir wegzuziehen (wen genau sie damit jetzt schützen wollte, weiß ich nicht), aber der weitaus größere und mindestens doppelt so breite Kleiderschrank dachte nicht daran, das boshafte Spielchen, an dem er gerade erst richtig Gefallen gefunden hatte, so schnell schon wieder abzubrechen. Mit einem ungeduldigen Schnauben stieß er Mum zurück. Ihr zierlicher Körper prallte gegen die Bettkante und sank mit einem leisen Schmerzenslaut auf dem harten Boden zusammen. "Das machst du nicht noch einmal, du dreckiges Arschloch!" Ich schrie mittlerweile schon so laut, dass ich selbst den Fernseher unseres schwerhörigen weil 87 Jahre alten Nachbarn locker übertönen musste, aber Shane schien das nicht im Geringsten zu beeindrucken. Er drehte sich vollkommen ungerührt zu mir um und eine Wolke seines billigen Aftershaves schlug mir wie eine unsichtbare Faust entgegen. Im nächsten Augenblick verwandelte sich das schmierige Grinsen auf seinem Gesicht zu einer schmerzverzerrten Maske. Mit trotzig nach vorne geschobener Unterlippe zog ich meinen Fuß wieder zurück, den ich gerade eben mitsamt Absatz und voller Wucht an seinem Schienbein platziert hatte. "Da nächste Mal treffe ich woanders hin, kapiert?" Und wieder einmal in meinem Leben begriff ich ein paar verfluchte Sekunden zu spät, dass ich einen ganz gewaltigen Fehler gemacht hatte. Nämlich exakt in dem Augenblick, in dem Shane meinen Blumenstrauß auf den Boden warf und ihn mit dem eben getretenen Bein in einen aufwirbelnden, tiefroten Matsch verwandelte, aus dem irgendwo ein zerknicktes, kitschig rosarotes Herzchen hervorragte. Ich wollte gerade den Mund aufmachen und ihn erneut anschreien, als er mich auch schon gepackt und seine Faust überaus unsanft in meinem Gesicht platziert hatte. An die nächsten Minuten kann ich mich nicht mehr so genau erinnern, und vielleicht ist das auch besser so. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann auf dem Boden gelandet bin und zum letzten Mal in meinem Leben einen Blick auf Shanes ekelhafte Zuhältervisage werfen musste, bevor er sich umdrehte, eine Zigarette ansteckte und aus dem Raum schlenderte. Ich weiß, dass Mum geweint hat, und dass ich irgendwann aus dem Haus gerannt bin. Draußen regnete es, ganz leicht, und irgendwann ließ der Regen auch nach. Ich lief und lief und lief einfach, immer weiter, wahrscheinlich bin ich auch eine kleine Strecke mit der U-Bahn gefahren, aber das kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Das Nächste, woran ich mich wieder bewusst erinnern kann, waren meine Füße. Sie schmerzten beinahe unerträglich, immerhin war ich mit Absatzschuhen über den harten Asphalt gerannt und hatte den ganzen Nachmittag davor trainiert. Jetzt bemerkte ich auch, dass ich furchtbares Seitenstechen hatte, und da mir eh schon alles vollkommen egal war, ließ ich mich schlicht und einfach in das feuchte Gras am Rande des Weges fallen und schnappte nach Luft. Nach einigen Minuten klärte sich das Bild vor meinen Augen wieder und ich achtete zum ersten Mal darauf, wo ich mich überhaupt befand (nicht, dass es mich wirklich interessiert hätte!). Ich saß ganz offensichtlich in einem kleinen Park. Nur einige wenige Straßenlaternen erhellten den Weg, der sich in Schlangenlinien einen kleinen Abhang hinunterzog. Neben mir plätscherte gemächlich der Fluss wie ein dunkles Band im bläulichen Gras dahin, in der Ferne, irgendwo jenseits der tagsüber grünen, nun beinah schwarzen Oase des Parks erstrahlte die glitzernde, hell erleuchtete Skyline der nächtlichen Stadt. Ich wischte mir mit der Hand über die Stirn. Schweiß rann über mein Gesicht herab und vermischte sich mit einer anderen, warmen Flüssigkeit. Die Nacht war warm, und ich merkte erst jetzt, was für einen Durst ich eigentlich hatte. Mein Blick fiel auf das trübe Wasser zu meiner Rechten. Ich stieß einen leisen Seufzer aus. Gut, trinken konnte ich diese von Abgasen und schlimmeren Dingen verseuchte Brühe ganz bestimmt nicht, aber für eine kleine Erfrischung reichte sie allemal - ich war ja nicht anspruchsvoll. Das feuchte Gras kitzelte angenehm kühl an meinen nackten Knien. Ich krabbelte bis an das niedrige Flussufer hinunter und war froh, dass die Wiese an dieser Stelle des Parks in einem sanften Bogen bis zum Wasser hinabreichte. Trotzdem war ich äußerst vorsichtig, als ich mich schließlich über die schwarzen Fluten beugte. Langsam streckte ich meine Hand dem träge dahinfließenden Wasserspiegel entgegen - und erstarrte. Aus dem Fluss blickte mir ein Monster entgegen. Im ersten Moment hätte ich beinahe geschrieen, so unglaublich schrecklich war der Anblick, der sich mir da bot. Das Etwas im Wasser hatte ein unförmiges, verquollenes Gesicht, dessen eine Hälfte über und über mit Blut verklebt war. Sein rechtes Auge war halb zugeschwollen, seine Lippen im Mundwinkel aufgeplatzt. Alles in allem war es das hässlichste, abstoßendste und widerlichste Ding, das ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Irgendwie schrie ich dann noch auf, holte aus und schlug mit der Faust auf das Ungetüm ein, woraufhin sich das feige Wesen augenblicklich in ein bizarres Gebilde aus Kreisen und Wellen verwandelte. Ich atmete tief durch. Die erste Runde ging an mich. Mit zittrigen Fingern schöpfte ich zwei Hände voll mit Wasser aus dem Fluss und wusch mir das Gesicht damit ab. Meine Stirn verwandelte sich augenblicklich in einen brennenden Krater, aber ich biss die Zähne zusammen, wusch und wischte weiter, bis das klebrige Gefühl auf der Haut irgendwann beinahe verschwunden war. Dann wartete ich einige Sekunden ab, ehe ich es erneut wagte, einen Blick auf das Monster im Wasser zu werfen. Die Kreatur hatte einiges von ihrem Schrecken verloren. Gut, ihr Auge war nicht unbedingt schöner geworden, und die Wange, die eben noch blutig rot gewesen war, kündigte bereits einen hübschen blauen Fleck an, aber immerhin ließen sich in all der Hässlichkeit wieder entfernt menschliche Züge entdecken. Aha, stellte ich neugierig fest, dieses Ding im Fluss musste also irgendwann einmal ein Mensch gewesen sein. Und gleichzeitig analysierte ich zufrieden, dass die von Blut verklebten Flecken an Stirn und Mund tatsächlich auf den direkten Verletzungsherd reduziert worden waren und nicht mehr das halbe Gesicht mit ihren klebrigen Flüssigkeiten bedeckten. Es war kaum zu glauben, was für einen enormen Unterschied so ein bisschen Wasser doch ausmachte! Ich nickte anerkennend und zog meinen Kopf von dem schwarzen Spiegel zurück. Im nächsten Augenblick sank ich schluchzend in mich zusammen. Es war vorbei, aus und vorbei, alles, mein Plan, meine Anstrengungen, meine so mühsam errungenen Erfolge, alles wurde binnen einer einzigen Sekunde zerschlagen und fiel wie ein morsches Kartenhaus in sich zusammen. Ich dachte in diesem Augenblick nicht an die Schmerzen, die sich durch meinen ganzen Körper zogen, und, wenn ich ganz schonungslos ehrlich bin, dachte ich auch erst einmal gar nicht so sehr an Mum, sondern einzig und allein an den Schönheitswettbewerb. Die große Lucky-Karma-Misswahl, deren Vorausscheidung in drei Tagen stattfinden würde. Eigentlich war es ganz so wie in einem Hotel oder in einem Flugzeug, der Wettbewerb würde natürlich vollkommen ungerührt vonstatten gehen, nur eine Nummer 13 würde es dabei eben nicht geben. Jessica Maguire existierte nicht mehr, sie lag tot und erschlagen auf dem Boden im Zimmer meiner Mum, während ihr erbärmlicher Bruder mitten in der Nacht und in Mädchenklamotten irgendwo in einem Park hockte, auf den regennassen Boden einschlug und sich dabei die Seele aus dem Leib heulte. Mit einem letzten Funken gesunden Menschenverstandes im Leib hätte ich in einer derartigen Situation wahrscheinlich eine Heidenangst gehabt. Als hilfloses Mädchen, ganz allein in einem verlassenen, düsteren Park inmitten der Großstadt konnte man guten Gewissens von einem Wunder sprechen, wenn einem gerade mal nichts passierte. Leider war das in dieser Nacht so ziemlich das Letzte, worüber ich mir Gedanken machte. Vielleicht, weil ich einfach gar nicht mehr damit rechnen konnte, dass sich irgendeine Menschenseele in diesen durch und durch einsamen Flecken Erde verirren würde, um mich gewaltsam aus meinem bodenlosen Tief zu reißen. Vielleicht war es mir auch einfach nur egal. Jedenfalls wäre ich beinahe vor Schreck gestorben, als sich mir urplötzlich von hinten zwei Arme um den Hals legten. Das an und für sich logischerweise darauf folgende, lähmende Gefühl von Angst stellte sich jedoch nicht ein. Stattdessen projizierte sich meine ganze hilflose Wut, die ich bis eben noch an der vollkommen unschuldigen Rasenfläche ausgelassen hatte, von einem Augenblick auf den nächsten auf die unglücksselige Gestalt hinter mir. "OK, jetzt hör mir mal zu, du verfickter Vergewaltiger, du hast dir verdammt noch mal das falsche Opfer ausgesucht! Ich gebe dir jetzt genau drei Sekunden, um dein Leben zu retten, ansonsten ramme ich dir meine Absätze in den Unterleib, bis sie dir..." Ich wandte ruckartig und mordlüstern meinen Kopf und erstarrte zum zweiten Mal an diesem Abend - zeitgleich mit meinem Gegenüber, das mich im wohl falschesten Augenblick meines ganzen Lebens von hinten hatte überwältigen wollen. Oder auch nicht, denn nachdem ich noch eine Sekunde lang hoffte, dass mir mein Gehirn nach all der Aufregung nur ein grausames Trugbild vorspinnen würde, starrten mich immer noch zwei entsetzte, dunkle Augen aus einem von schulterlangem blondem Haar eingerahmten Gesicht entgegen. "Ta-Tatsumi?" schluchzte ich und verspürte ein unwiderstehliches Verlangen, dem Schicksal doch bitte einmal ganz kräftig in den Hintern zu treten. Warum konnte ich denn nicht einfach irgendeinen perversen Lustmolche vor mir haben, an dem ich ungestört meinen geballten Hass auslassen konnte? Aber nein, nein, Tatsumi, von all den Millionen Menschen in dieser verfluchten Stadt musste es ausgerechnet Tatsumi sein! Können sie sich das bitte mal vorstellen?! "Jessie?!? Oh... oh Gott, was ist mit dir passiert?" Tatsumi strich mir behutsam mit einem Finger über die Wange. "Aber... was rede ich lang rum... du kommst jetzt am besten erst einmal mit zu mir!" "Vergiss es!" Ich schob seine Hand zur Seite und wischte mir stattdessen selber die Tränen aus dem Gesicht. "Damit du mich aufreißen kannst oder wie? Davon träumst du wohl!" "Hey, man, red keinen Scheiß!" Der Blondschopf ließ sich neben mich ins Gras sinken. "Aber gut, wenn du nicht mitkommen willst, bleibe ich eben hier. Und glaub nicht, dass ich dich gehen lasse, bevor ich weiß, welches Schwein dich so zugerichtet hat!" Ich murmelte etwas, das entfernte Ähnlichkeit mit einem "geht dich nichts an" besaß, zog meine Beine an den Körper und platzierte meinen Kopf auf den Knien. Meine Augen fixierten die Lichter der Skyline, die sich in dem schwarzen Fluss spiegelten. "Wenn ich dich wirklich so sehr genervt habe, dann ist das OK. Ich lass dich schon in Ruhe, keine Angst, so was hab ich auch gar nicht nötig. Von mir aus schick ich dir in Zukunft keine Blumen mehr. Aber ich schau doch nicht einfach so zu, wie du total grün und blau geschlagen mitten in der tiefsten Nacht und mutterseelenallein in einem Park sitzt!" "Warum interessiert dich das überhaupt?!" Ich wusste gar nicht genau, warum, aber mit einem Mal begann ich zu schreien. In meine Augen trat ein wütendes Funkeln. "Du bist doch Schuld an dem ganzen! Wenn... du mir nicht diese Scheiß-Blumen geschickt hättest, wär es gar nicht so weit gekommen und er hätte mich nie geschlagen!!!" "Wer denn überhaupt?!?" "Ach, ist doch jetzt eh egal. Der Lover von meiner Mum. Und deine dummen Rosen hat er auch gleich zertreten, aber glaub nicht, das würde mich irgendwie kümmern, ja? Wahrscheinlich freut es dein gekränktes Ego doch auch noch, mich so zu sehen! Oder weil es eine Gelegenheit für dich ist, dich wieder an mich ranzuschmeißen und den großen Beschützer raushängen zu lassen!!!" Tatsumis Gesicht blieb bei meinen Worten ungerührt, aber ich sah an seinem Blick, dass ich ihn verletzt hatte. Ich hätte mir am liebsten selbst eine runtergehauen und schaffte es irgendwie, mich noch ein bisschen schlechter zu fühlen. Mit was für einem Recht ließ ich da eigentlich gerade meine Wut an ihm aus? Gut, Tatsumi war ein Arschloch, Tatsumi war selbstverliebt, Tatsumi war arrogant, aber irgendwie, ja, zumindest an diesem Abend und in diesem Augenblick wollte er mir doch eigentlich nur helfen. Und was tat ich? Meine Güte, was war ich erbärmlich! Zu meinem größten Entsetzen musste ich feststellen, dass mir schon wieder Tränen in die Augen stiegen, und ich senkte hastig meinen Kopf und biss mir auf die Lippe. "Ist schon OK!" Tatsumi rutschte ein Stückchen näher zu mir hin und lächelte mich an. "Wenn du dich noch ein bisschen abreagieren möchtest, bitte, ich steh dir da gern zur Verfügung. Das glaubst du mir zwar eh nicht, aber ich kann echt nachvollziehen, wie scheiße du dich jetzt fühlst." "Du kannst ja auch irgendwie doch nichts dafür", murmelte ich leise. "Tut mir leid... ich glaub, du solltest jetzt wirklich besser gehen." "Hab ich dir nicht schon irgendwann mal gesagt, dass du das vergessen kannst?" Der Blondschopf grinste. "Hey, dafür musst du dir schon was Besseres einfallen lassen, wenn du mich loswerden willst!" "Ich sehe aus wie ein Monster, reicht das?" Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. "Du siehst nicht aus wie ein Monster!" entgegnete Tatsumi entschieden und legte mir vorsichtig einen Arm um die Schultern. "Das geht doch in ein paar Tagen wieder vorbei, und außerdem... oh scheiße... der Schönheitswettbewerb..." "Blitzmerker!" Meine Hände krallten sich wie von selbst um ein nasses Grasbündel. Wieder einmal kaute ich auf meiner Lippe herum, wohl, weil ich mir in irgendeiner Weise Trost oder Beruhigung dadurch versprach - ich weiß es nicht, aber irgendwie half's mir doch, die Beherrschung zu wahren. "Na ja, damit hätt sich das Thema wohl erledigt." "Erledigt?" Die Stimme des Blondschopfes klang nachdenklich. Ich spürte, wie seine Finger vorsichtig begannen, über meine Haut zu streichen, aber ich hatte nicht mehr die Energie, mich dagegen zu wehren. Vielleicht war ich, auch wenn ich es mir natürlich auf den Tod nicht eingestanden hätte, irgendwo auch froh, in dieser schrecklichen Nacht wenigstens nicht mehr ganz allein zu sein. Wie auch immer, ich blieb jedenfalls sitzen und starrte wie gehabt auf die nächtliche Skyline. "Ja, erledigt. Tot, aus, Ende, vorbei. Aber hey, ich kann mich ja stattdessen mal bei der nächsten Freak-Show bewerben. Da hab ich noch richtig Karrierechancen!" "Jessie..." Tatsumi drehte unendlich behutsam meinen Kopf in seine Richtung. In seine dunklen Augen war ein ernster Ausdruck getreten, wie ich ihn nie zuvor bei ihm gesehen hatte. "Sorry, wenn ich das jetzt so sage, aber wenn du so schnell aufgibst, kannst du den Wettbewerb von Anfang an vergessen!" "Na toll. Wenn du mich mit klugen Lebensweisheiten belehren willst, ertränk ich mich dann lieber mal im Fluss, da hab ich mehr Spaß dabei!" "Jessie! Ich mein das ernst, OK?" In seinem Blick lag kein Vorwurf, sondern irgendetwas anderes, das ich beim besten Willen nicht einordnen konnte. Ich wusste plötzlich nicht mehr, was ich sagen sollte. "Ich weiß, mein Gelaber hört sich jetzt nach irgendeinem beschissenen Lehrer an, aber wenn ich sage, dass es noch lange nicht tot und aus und vorbei und was auch immer ist, dann kannst du mir das verdammt noch mal auch glauben!!!" "Und... und was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen?" Etwas in mir wehrte sich entschieden dagegen, neue Hoffnung zu schöpfen. Schön, ich hatte verloren. Meine Mühen, mein Plan, mein Ehrgeiz, alles lag zertreten auf dem nasskalten Boden. Aber wenigstens war es jetzt zuende und ich hatte Zeit, mich mit meinem grausamen Schicksal abzufinden und mich ausgiebig zu bemitleiden. Das Letzte, was ich jetzt noch verkraften konnte, war ein neuer Hoffnungsschimmer am Horizont, der mich noch einmal auf die Beine zerrte, nur, um mich danach noch brutaler, noch umbarmherziger niederzuschmettern. "Pass auf: Entweder du vertraust mir jetzt, oder du lässt es bleiben. Ich weiß, wie man blaue Flecken und Schwellungen schnell wieder wegbekommt und zur Not auch überschminken kann. Ich kann dir helfen, aber nicht versprechen, dass es auch wirklich funktioniert." "Ich... ich will das aber nicht mehr!" Meine Stimme zitterte. Es fiel mir schwerer denn je, Jessies Tonfall beizubehalten. Ich atmete noch einmal tief durch und zwang mich dazu, ruhiger weiterzusprechen. "Ich weiß nicht, ob du das echt so verstehst. Ich habe keine Lust mehr dazu, mich ständig in irgendwelche gottverdammten Träumereien zu verrennen, und am Ende ist dann doch wieder alles für den Arsch! Warum strenge ich mich überhaupt noch an? Ich habe einfach keine Lust mehr darauf!" "Hey, ich versteh dich vielleicht besser, als du denkst, Jessie!" Aus irgendeinem Grund hatte ich damit gerechnet, dass Tatsumi auf meine Worte vorwurfsvoll oder sogar wütend reagieren würde. Stattdessen legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht, das ehrlicher wirkte als jedes andere, das ich bislang bei ihm gesehen hatte. "Aber jetzt denk doch noch mal in Ruhe nach: Was meinst du, wie scheiße du dich erst fühlen wirst, wenn du es nicht einmal versuchst? Wenn du hoffst und enttäuscht wirst, dann ist das verdammt noch mal schmerzhaft, aber irgendwann kommst du darüber hinweg. Aber wenn du jetzt den Kopf in den Sand steckst und alles hinschmeißt, gut, im Moment ist das einfacher, schon klar, aber dann wirst du's echt dein ganzes Leben lang bereuen!" "Ja aber..." "Kein Aber!" Tatsumi sprang mit einem Ruck auf und grinste zu mir hinunter. Er strich sich sein blondes Haar aus dem Gesicht, dann streckte er mir seine Hand hin und machte eine auffordernde Kopfbewegung. "Was ist jetzt? Kommst du?" Für einige Augenblicke saß ich nur schweigend im feuchten Gras und starrte meinen Klassenkameraden leicht hilflos an. Dann nahm ich seine Hand, ließ mich auf die Beine ziehen und trottete mit gesenktem Kopf neben ihm her. "Ich muss aber auf jeden Fall zuhause anrufen... Mum macht sich bestimmt Sorgen um mich... oh Scheiße, ich bin echt ein Idiot!" "Stimmt!" Der Blondschopf lächelte von einem Ohr zum anderen. "Aber ein Süßer! Du kannst von mir aus anrufen, ja? Und jetzt komm, es wird langsam kalt hier draußen... oh Shit, kein Wunder, wer ist auch so bescheuert und hockt sich in eine klatschnasse Wiese! Ich muss jetzt nicht extra betonen, wonach das aussieht?" "Ich glaube nicht..." Gegen meinen Willen musste ich grinsen. Ich wagte es, meinen Blick ein ganz kleines Stückchen weit anzuheben und Tatsumi in die Augen zu sehen. Es war seltsam, aber irgendetwas an ihm war anders als an jenem heißen Sommernachmittag, an dem er mich im "Seven Sins" zu einem Hochmut eingeladen hatte, anders als in der Schule, überhaupt anders, als ich es bislang bei ihm gesehen hatte. Vielleicht lag es nur an den schlechten Lichtverhältnissen, an dem dämmrigen Schein der verdreckten Straßenlaternen, aber zum ersten Mal, seit ich meinen Mitschüler kannte, war die arrogante Kälte aus seinem Blick verschwunden. In Tatsumis dunklen Augen lag ein beinahe kindlich wirkendes Blitzen, wie ich es nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Ich wandte meinen Kopf wieder dem regennassen Boden zu und folgte ihm schweigend durch die nächtlichen Gassen der Stadt. Der Weg zu Tatsumis Haus war länger, als ich erwartet hatte. Gut, um ehrlich zu sein, ich war an diesem Abend nicht wirklich in der Verfassung, irgendwelche klaren Gedanken zu fassen, ansonsten hätte sogar ich mir vielleicht denken können, dass der Sohn eines Firmenbesitzerehepaares nicht unbedingt in meiner näheren Nachbarschaft beheimatet war. Trotzdem fielen mir fast die Augen aus dem Kopf, als wir endlich vor der schneeweißen Gartentüre standen, hinter der sich der Weg zu einem Palast auftat. Für sie mag dieser Vergleich übertrieben erscheinen, aber jemand wie ich, der solche Prachtbauten bislang höchsten im Fernsehen hatte bewundern können, schien sich eine vollkommen andere, unglaubliche Märchenwelt aufzutun. Mir stockte vor Ehrfurcht schier der Atem, als ich über den weißen Steinweg durch den riesenhaften Garten schritt, umgeben von schneeweißen Bäumen, deren Blüten langsam auf den tiefgrünen Rasen hinabsegelten. Irgendwo konnte ich eine weiße Bank inmitten dieses so unwirklich scheinenden Blütenmeeres erkennen. "Das sind irgendwelche Baum-Mutationen, die blühen irgendwie doppelt so lang wie herkömmliche Bäume, was weiß ich!" winkte Tatsumi ab, dem meine bewundernden Blicke - wie konnte es auch anders sein? - natürlich nicht entgangen waren. Als ich leicht verstohlen zu ihm aufsah, war der alt gewohnte Ausdruck auf sein Gesicht zurückgekehrt. Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich wieder meiner weitaus interessanteren Umgebung zu. Wahrscheinlich hatte ich mich in dem verschwommenen Halbdunkel ganz einfach nur geirrt, war ich an jenem Abend doch ohnehin nur äußerst beschränkt zurechnungsfähig. "Sei bitte leise", fügte der Blondschopf hinzu und schloss die mit Gold verzierte, ebenfalls schneeweiße Eingangstüre auf. "Ich will nicht, dass uns jemand hört." Ich nickte nur und folgte ihm mit angehaltenem Atem. Angesichts der unglaublichen Pracht, die mir schon die Eingangshalle der Villa bot, war ich nämlich ohnehin sprachlos. Die meisten Dinge waren weiß, hier und dort zierte Gold die schlichte, aber unglaublich stilvolle Einrichtung. Alles passte perfekt zusammen, und zwar ganz genau so, wie es jetzt angeordnet war - jede Änderung konnte das vollkommene Kunstwerk nur stören. Die Bilder an der Wand, die Blumen auf den kleinen Marmortischchen, die ein wenig altertümlich wirkenden Stühle, alles schien zu einem bis ins Detail stimmigen Gemälde zu gehören. Tatsumi steuerte auf die breite Marmortreppe zu, deren Geländer wiederum golden im blauen Schein der Nacht glänzte. Ich folgte ihm auf Zehenspitzen und wagte immer noch kaum, Luft zu holen. Ich fühlte mich ein klein wenig so wie das arme Mädchen in einem Märchen, das von einem edlen Prinzen auf seinem weißen Ross in sein wunderschönes Schloss getragen wurde. Ich musste Grinsen. Dem Vergleich Tatsumis mit einem Prinzen haftete eine unbestreitbare Komik an. Erst beim zweiten Nachdenken fiel mir auf, dass ich mit der Rolle des armen Mädchens noch ungleich absurderer wegkam. "Hier! Das ist mein Zimmer." Tatsumi öffnete eine der schönen weißen Türen und trat in ein großes Zimmer, dessen Wände ebenfalls schneeweiß waren. Irgendetwas daran störte mich, auch wenn ich im ersten Moment noch gar nicht begriff, was genau das eigentlich war. Auch als der Blondschopf das Licht eingeschaltet hatte, sah ich auf den ersten Blick nur ein sehr schönes Zimmer mit einem großen, dem nächtlichen Lichtermeer der Stadt zugewandten Fenster. "Cool!" murmelte ich andächtig und sah mich mit großen Augen in dem weißen Raum um. Die Decke war recht hoch, eine der Wände wurde von einem Bücherregal verstellt. Die meisten Buchtitel und Autoren sagten mir nicht das Geringste, einige waren in japanischer Sprache und Schrift verfasst, sodass ich ohnehin nichts davon verstehen konnte. In einer Ecke lehnte eine pechschwarze e-Gitarre mit silbernen Schriftzeichen darauf. Vor dem Fenster stand ein großer Schreibtisch mit etlichen Schulbüchern und anderen, bis ins kleinste Detail geordneten Unterlagen darauf. Ein breites Bett mit schwarzer Bettwäsche und ein hoher, verspiegelter Schrank nahmen den Rest des Zimmers ein. Spontan drängte sich mir der Gedanke auf, dass dieses Zimmer voll und ganz zu dem Tatsumi passte, wie ich ihn in der Schule kennen gelernt hatte. Und trotzdem, irgendetwas störte mich an dem durchaus ansprechenden Gesamtbild. Auf den zweiten Blick fiel mir auch auf, was genau dieser unangenehme Eindruck war, der mich schon beim Eintreten befallen hatte. Dies war nicht das Zimmer eines Jugendlichen. Es fehlten die Poster, wie sie meine Zimmerwände zupflasterten, oder zumindest irgendwelche anderen Bilder, die das erdrückende Weiß wenigstens ein kleines bisschen zurückgedrängt und eingefärbt hätten. Es fehlte das Chaos, CDs, Klamotten, Zeitschriften, irgendwelche Dinge, die einfach nur herumlagen und der nackten Sterilität eines Raumes diese unverkennbare, persönliche Note und Wärme gaben. Dieses Zimmer war ein Gefängnis. "Was ist? Gefällt es dir nicht?" erkundigte sich Tatsumi in ungerührtem Tonfall. "Ähm, doch, klar!" entgegnete ich ein kleines bisschen zu hastig. "Ich hab doch schon gesagt, dass es cool ist." "Du wolltest bei dir anrufen?" Tatsumi zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und zauberte ein schnurloses schwarzes daraus Telefon hervor. Ich erschauderte unweigerlich und ergriff zögernd den Hörer. Dieses Zimmer war ja besser durchorganisiert als ein Büro! Während ich die Nummer meiner Mum wählte und mit angehaltenem Atem darauf wartete, dass sie endlich abnahm, musste ich zu meinem größten Entsetzen feststellen, dass ich mit diesem Gedanken gar nicht so falsch gelegen hatte. Hinter einer der Schranktüren verbarg sich eine Stereoanlage samt ganz offensichtlich in alphabetischer Reihenfolge sortierter CDs. Die Fernbedienung war in einer extra zu diesem Zweck angebrachten kleinen Schublade verstaut. Hinter einer unauffälligen Türe verbarg sich ein Mini-Kühlschrank mit sämtlichen Getränken, die man sich nur wünschen konnte. Ich beobachtete fassungslos, wie Tatsumi von irgendwoher auch noch Gläser organisierte und hätte vor lauter Verwunderung beinahe vergessen, dass ich gerade im Begriff dazu war, einen Anruf zu tätigen. "Ja? Maguire hier? Wer ist da?" Die Stimme drang so plötzlich und unvermutet an mein Ohr, dass ich im ersten Augenblick vor lauter Schreck beinahe den Hörer fallen ließ. Dann jedoch machte sich ein schmerzhaftes Stechen in meiner Seite bemerkbar. Ich erkannte an der Stimme meiner Mum augenblicklich, dass sie geweint hatte. Ich biss mir auf die Lippe und musste einmal tief durchatmen, bevor ich antworten konnte. "Mum? Ich bin's..." "Jesse? Jesse... oh mein Gott... wo bist du?" "Mach dir keine Sorgen, Mum. Es geht mir gut." "Ich... ich soll mir keine Sorgen machen? Du rennst mitten in der Nacht davon und du bist verletzt!" "Ich bin OK, Mum, wirklich. Ich bin bei einem Mitschüler." "Einem Mit... Jesse, warum redest du so seltsam? Hast du dich erkältet?" "Nein! Nein, natürlich nicht!" Ich spürte, wie meine Hand warm am Telefonhörer klebte. "Oder vielleicht ein bisschen. Aber ich bin gerannt, ich bin... noch ein wenig außer Atem." "Gut, dann pass auf dich auf. Wann kommst du heim?" "Weiß ich noch nicht genau. Aber wie gesagt, mach dir keine Sorgen, ich bin ja nicht allein unterwegs, OK?" "Ist gut, Schatz." Ich hörte, wie sie am Ende der Leitung tief durchatmete. "Ich hab dich lieb, Mum. Bis dann!" "Ich dich auch, Jesse. Bis dann!" Mum legte auf und ich reichte Tatsumi das Telefon. Für einen Moment meinte ich, einen seltsamen Ausdruck auf seinem Gesicht zu erkennen, tat es jedoch erneut als Irrtum ab. Scheinbar bildete ich mir an diesem Abend eine Menge seltsamer Dinge ein, ganz einfach deshalb, weil mir Tatsumis überhebliches Grinsen langsam aber sicher auf die Nerven ging. "Jetzt trink erstmal was. Dann hole ich meine kleine Hausapotheke... oder das, was von ihr übrig geblieben ist. Das kriegen wir schon hin!" Er drückte mir das Glas in die Hand und lief dann aus dem Zimmer. Ich sah dem Blondschopf kopfschüttelnd hinterher und verbesserte mich in Gedanken. Tatsumi passte beim besten Willen nicht in dieses Haus! Aber wohin passte er denn überhaupt? Ich musste mir eingestehen, dass ich den Jungen einfach nicht einschätzen konnte, genauso wenig wie ich wusste, ob ich ihn dann doch irgendwie mochte oder hasste. Mit einem tiefen Seufzer nahm ich einen Schluck von meiner Cola und lehnte mich an die Wand zurück. Im Grunde genommen war es doch völlig egal, was ich von Tatsumi hielt. Er war vielleicht meine letzte Chance, doch noch an diesem gottverdammten Wettbewerb teilnehmen zu können. Ich musste es ganz genau drei Tage mit ihm aushalten, nicht länger. Und so nett sein großmütiges Hilfeangebot auch sein mochte - wenn ich an sein arrogantes Lächeln dachte, war ich heilfroh darüber, dass es kein einziger Tag länger war. Tatsumi verfügte über eine ganze Menge wundersamer Salben und Methoden, meine weibliche Schönheit binnen der unmöglich kurzen Zeit wiederherzustellen. Noch am selben Abend wurde ich in unzählige Eisbeutel eingepackt und musste derart gut konserviert erst einmal ein paar Stunden auf seinem Bett liegend verbringen. Danach wurde ich mit Dingen eingeschmiert, deren Namen ich mir beim besten Willen nicht merken konnte - und ich war heilfroh, dass Tatsumi in seinem Schrank auch einen Fernseher versteckt hatte, der mich über die scheinbar endlos lange und doch viel zu kurze Zeit rettete. An meiner persönlichen Beziehung zu Tatsumi änderten diese Tage vor allem eines - ich fand ihn nun noch viel seltsamer als zuvor. Seine Annäherungsversuche und Komplimente wusste ich zu ignorieren, aber seine ständige Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ging mir mit der Zeit gehörig auf die Nerven, auch wenn ich gar nicht so genau sagen konnte, warum eigentlich. Aber was mich am meisten wunderte, war die Tatsache, dass er mich scheinbar krampfhaft von seinen Eltern fernhalten wollte. Er brachte mir das Essen auf sein Zimmer, aber er plante sämtliche Raumwechsel und die abendlichen Abschiede mit einer logistischen Perfektion, die es mir unmöglich machte, seine Eltern auch nur aus der Ferne zu sehen. Langsam aber sicher kroch ein schrecklicher Verdacht in mir hoch. Bitte verstehen sie es jetzt nicht falsch, wenn ich das so schreibe, aber vor meinem inneren Auge baute sich ein gar grauenhaftes Bild auf. Wie schrecklich mussten diese Menschen sein, wenn selbst der grenzenlos coole Tatsumi um jeden Preis verhindern wollte, dass ich sie irgendwie zu Gesicht bekam? Ich erwähnte ja bereits, dass ich über eine höchst ausgeprägte Fantasie verfüge und so kam mir langsam aber sicher ein schrecklicher Verdacht, der endgültig Gestalt annahm, als Tatsumi mich am Abend vor dem großen Tag wieder einmal alleine auf seinem Zimmer zurückließ, um mit jenen mysteriösen Fremden an einem Tisch zu essen. Ich lag auf dem Bett, hatte irgendwelches seltsam riechende Zeug ins Gesicht geklatscht und starrte gedankenverloren durch den Fernsehbildschirm hindurch. Ich erinnerte mich an die Begegnung am nächtlichen Fluss, an einen Satz, mit dem Tatsumi mir wahrscheinlich nur hatte Mut machen wollen. Trotzdem beschlich mich zunehmend ein höchst ungutes Gefühl, wenn ich jetzt daran zurückdachte. Ich weiß, wie man blaue Flecken und Schwellungen schnell wieder wegbekommt und zur Not auch überschminken kann. Warum wusste der Blondschopf das eigentlich so genau? Und wieso schleppte ein Mensch mit auch nur einem Funken normalen menschlichen Verstandes (nicht, dass ich Tatsumi so etwas zugetraut hätte!) ein ganzes Sortiment von merkwürdigen Wundsalben mit sich herum? Und dann war da noch so ein Satz, der mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Ich versteh dich vielleicht besser, als du denkst, Jessie. Woher kam dieses plötzliche Verständnis? All diese ominösen medizinischen und kosmetischen Kenntnisse? Ich konnte mir das Mysterium nur auf eine einzige plausible Art und Weise erklären: Tatsumi hatte selber Erfahrung darin, nach Strich und Faden verprügelt zu werden. Und die gegebenen Umstände ließen nur eine mögliche Erklärung zu. Tatsumi wollte mir seine Eltern nicht zeigen, weil es schlichtweg brutale, tyrannische Schläger waren, die sich hinter der schönen Fassade einer schneeweißen Prachtvilla versteckten. Vielleicht war es genau dieser Abend, an dem ich anfing, Tatsumis ganzes Verhalten in einem anderen Licht zu sehen. Er tat mir mit einem Mal leid, und auch wenn ich ihn deshalb nicht unbedingt sehr viel sympathischer fand, gab ich mir doch zumindest Mühe, freundlicher zu ihm zu sein. Immerhin gab er sich ja auch Mühe und riskierte vielleicht sogar, von seinen schrecklichen Eltern Ärger zu bekommen, wenn er den ganzen lieben langen Tag über ein wildfremdes Mädchen in seinem Zimmer verschanzte. Als ich mich an diesem Abend von ihm verabschiedete, lächelte ich ihm zu und bedankte mich für seine Hilfe. Als Antwort bekam ich nur ein breites Grinsen. "Hey, kein Problem!" Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und zwinkerte mir zu. "Meinst du wirklich, mich stört der Gedanke, den ganzen Tag lang so ein süßes Mädchen in meinem Bett liegen zu haben?" "Na, dich bestimmt nicht!" Ich verdrehte die Augen und stieß einen Seufzer aus. "Morgen wird das aber leider ein Ende haben." "Stimmt, aber morgen ist immerhin auch noch ein Tag!" Sein Lächeln wurde noch ein Stückchen breiter, und augenblicklich bekam sein Gesicht den üblichen arroganten Ausdruck zurück. "Und vergiss nicht, ich habe die große Ehre, dich schminken zu dürfen! Wird aber auch Zeit, dass wir endlich mal auf Tuchfühlung gehen." "Nein, wie komisch!" Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Warum musste Tatsumi es einem nur so verdammt schwer machen, freundlich zu ihm zu sein? "Aber egal. Ich komm dann bei dir vorbei, OK?" "Um 11?" "OK, alles klar! Die Klamotten für meinen Auftritt sind ja schon in der Schule." "Na dann, bis morgen, Süße!" Ich sparte mir eine Antwort, hob noch einmal zum Abschied die Hand und schlenderte dann die Straße entlang, zurück zu meinem bescheidenen Zuhause. Mum war nicht da, aber eigentlich war ich auch froh, meine Aufregung nicht vor ihr verbergen zu müssen. Natürlich konnte ich ihr nichts von der Veranstaltung erzählen, wie hätte ich ihr sonst erklären sollen, dass sie nicht bei dem angeblichen Theaterstück zusehen konnte? Offiziell übernachtete ich einmal mehr bei jenem mysteriösen Klassenkameraden, mit dem ich seltsamerweise urplötzlich meine gesamte Freizeit verbrachte. Ich schrieb Mum einen Zettel und wusste, dass sie sich ohnehin nicht darüber wundern oder nachfragen würde. Mum ließ mir eine ganze Menge Freizeit, aber vielleicht lag das auch einfach daran, dass es so viele andere Dinge gab, um die sie sich mehr Sorgen machen musste. Ich packte die Sachen zusammen, die ich für den nächsten Tag brauchte und ging dann weitaus früher ins Bett als gewohnt. Nach etwa drei Stunden wurde mir langsam aber sicher bewusst, dass dies ein Fehler gewesen war. Trotz der Aufregung in den vergangenen Tagen war ich nicht ein kleines bisschen müde. Ich lag im Dunkeln und starrte an die Decke. Mein Zimmer war viel zu heiß, um Ruhe zu finden. Ich stand auf und öffnete das Fenster, aber die stickige Nachtluft machte die Situation nicht unbedingt besser. Seufzend ließ ich mich wieder auf mein Bett fallen, wälzte mich unzählige Male von einer Seite auf die andere, auf den Rücken, in die Ausgangslage zurück, aber ich erreichte nur, dass mein Bettlaken zerwühlt wurde und an allen möglichen und unmöglichen Stellen überaus unbequeme Falten warf. Trotzdem war ich zu faul und zu erschöpft, um mich darum zu kümmern und bemühte mich stattdessen krampfhaft, die Augen geschlossen zu halten. Meine Digitaluhr piepste. Ich wagte nicht, einen Blick darauf zu werden und drehte mich der Wand zu. In meinem Kopf spielte sich in einer Endlosschleife der folgende Tag ab. Ich ging die Tanzschritte durch, meine Kleiderfolge, meine Bewegungen. Ich verzog ein paar Mal das Gesicht, um mein Lächeln zu kontrollieren. Währenddessen malte ich mir im Geiste Abertausende peinlichster Situationen aus, in denen ich auf ganzer Linie versagen konnte. Verdammt, ich musste endlich schlafen, sonst würde ich den ganzen Stress unmöglich durchstehen können! Wie viel Zeit tatsächlich verging, bis ich irgendwann endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich mich wie frisch verstorben und beerdigt fühlte, als mich am nächsten Morgen das unbarmherzige Piepsen des Weckers aus meinem chaotisch versponnenen Traumnetz riss. Neun Uhr früh. Ich verzog gequält das Gesicht, drehte mich auf die andere Seite und schaffte es nach einigen Minuten endlich, mich aus meinem ganz plötzlich so furchtbar gemütlichen Bett zu quälen. Ich trank eilig eine Tasse Kaffee, zog zur weiteren Schocktherapie eine eiskalte Dusche heran, und noch ehe ich fertig angezogen war und in Richtung U-Bahnstation rannte, war ich mehr als hellwach. Der Tag der Entscheidung war gekommen. Tatsumi hatte mich schon erwartet. Er klatschte wiederum irgendeine seltsame dickflüssige Salbe auf mein Gesicht und wies mich an, auf dem Bett zu warten. Dann verließ er den Raum, damit ich auch die Blutergüsse auf meinem Körper einschmieren konnte. Ich seufzte. Um die quälenden Stunden bis zum Abend ein wenig schneller voranzutreiben, angelte ich nach der Fernbedienung und schaltete das schwarze Gerät ein. Nach einigen Minuten erfolglosen Zappings entschied ich mich seufzend für eine Talkshow zum Thema Brustvergrößerung und ließ mich auf die weiche Matratze zurücksinken. Es dauerte lange, bis Tatsumi zurückkam. "Na, wie fühlst du dich?" fragte er und grinste mich an. Augenblicklich schlug ich meine weit ausgestreckten Beine übereinander und warf ihm einen strafenden Blick zu. "Langweilig!" maulte ich. "Die Sendung hab ich schon gesehen. Scheiß Sommerpause!" "Stimmt..." Tatsumi zuckte mit den Schultern und machte einen Satz zur Seite, um mir nicht die Sicht auf den Bildschirm zu versperren. Dann griff er nach der e-Gitarre, die immer noch zwischen Regal und Wand lehnte. "Keine Sorge, ich stör dich nicht! Ich üb im Nebenzimmer!" "Höh? Wieso denn?" Ich stellte den Fernseher auf tonlos und sah den Blondschopf erwartungsvoll an. "Ich hab dich noch nie spielen hören! Na los!" "Bist du sicher?" Tatsumi zog eine Augenbraue in die Höhe. "Die Hälfte der Sachen sind Fingerübungen. Stinklangweilig, aber es muss sein. Willst du dir das echt antun?" "Immer noch besser als wiederverwertete Talkshows, oder?" "Na gut..." Tatsumi zuckte mit den Schultern, hob das pechschwarze Instrument auf und begann nach einigen kurzen Vorbereitungen zu spielen. Anfangs erkannte ich tatsächlich nicht mehr als unsinnige Tonfolgen, Tonleitern und andere Notenkombinationen, die weder gut noch unterhaltsam klangen, und ich ertappte mich mehr als nur einmal dabei, dass meine Augen wie von selbst auf die flimmernde Mattscheibe schlichen. Eine strohblonde Frau mit aufgepolsterten Lippen und einer Oberweite, die mich aus irgendeinem Grund spontan an Medizinbälle denken ließ, regte sich über irgendetwas wahnsinnig auf, ohne einen einzigen Laut von sich zu geben. Der Anblick war so absurd, dass ich unweigerlich grinsen musste. Ich bekam kaum mit, wie sich aus den sinnlos aneinander gefügten Fingerübungen langsam aber sicher eine Melodie entwickelte. Als ich mich endlich von der stummen Barbiepuppe auf dem Bildschirm losreißen konnte, erschrak ich sogar beinahe. Tatsumis erstes Lied war aggressiv, auf eine nicht zu beschreibende Art und Weise verletzt und unendlich wütend. Ich blickte auf. Der Blondschopf hatte seine Augen geschlossen, seine Lippen formten ebenso tonlose Worte wie das wandelnde Silikonkissen in der Talkshow - mit dem großen Unterschied, dass es bei ihm nicht lächerlich aussah, sondern irgendwie gleichzeitig konzentriert und entspannt, ganz in einer eigenen Welt versunken. Aus welchem Grund auch immer, ich war fasziniert. Jeder einzelne Ton der Musik schien sich auf Tatsumis Gesicht wiederzuspiegeln. Er spielte schlicht und einfach wundervoll. Gut, ich gebe zu, ich verstand nicht viel von musikalischem Talent und Instrumenten und all diesen Dingen, aber das war auch gar nicht nötig, um zu merken, dass Tatsumi wirklich genial war. Ich spürte, wie mir trotz der Hitze eine Gänsehaut über den Rücken lief. Als der Blondschopf sein Instrument sinken ließ und sich mit dem Handrücken über die Stirn wischte, nutzte ich die Zeit, um zu applaudieren. Tatsumi blickte auf und grinste. "Hey, das war ein indirektes Kompliment!" stellte er kopfschüttelnd fest. "Dass ich das noch erlebe... also wirklich. Jetzt bin ich - gerührt." Ich spielte mit einer meiner Haarsträhnen. Dann richtete ich mich ein wenig auf und strahlte ihn an. "Ich will, dass du singst!" "Dass ich... was?!?" Tatsumis schmale Augen weiteten sich ein bisschen. " Warum so entsetzt? Ich meine... du singst doch die ganze Zeit leise mit! Ich will dich jetzt mal richtig singen hören." Ich schob meine Unterlippe ein ganz kleines Stück weit nach vorne. "Bitte!" "Nein!" Er schüttelte erneut den Kopf, diesmal jedoch weitaus entschiedener. "Keine Chance. Ich singe nicht! Ich... schau mich nicht so an!" "Warum nicht?" Ich schlug meine dezent getuschten Wimpern einige Male auf und nieder. "Hast du etwa Angst, ich könnte dich auslachen?" "Red nicht so einen Müll! Ich..." Er holte tief Luft. "OK - OK! Aber nur ein einziges Lied. Und nur unter einer Bedingung." "...die wäre?" fragte ich, mehr pflichtbewusst als interessiert. "Wenn ich dafür einen Kuss bekomme! Und zwar einen richtigen Kuss." "Einen - bitte was?!?" Nun war ich derjenige, der entsetzt die Augen aufriss. Und wenn ich jetzt ,entsetzt' schreibe, hey, dann meine ich das verdammt noch mal auch so. Entsetzt - und empört. Denn natürlich wusste ich, dass ich diese Bedingung nicht erfüllen konnte und würde, und in Tatsumis Grinsen las ich überdeutlich, dass er das ebenso gut wusste wie ich. Über meine Lippen entfloh ein tiefer Seufzer. Nun gut, dachte ich genervt - enttäuscht, dann eben kein Gesang. Wenn Sir Asagi seinen Willen unbedingt durchsetzen musste, bitte, ich würde bei seinem kindischen Spielchen ganz bestimmt nicht auch noch mitmachen! Ich wollte mich gerade beleidigt zur Seite abwenden, als mir plötzlich ein teuflischer Gedanke kam. Er kroch in meinen Kopf, ganz heimlich, still und leise, machte es sich dort aber augenblicklich mit einem schwefelgelben Longdrink in der Hand zwischen Angst, Aufregung und Enttäuschung bequem. Ich grinste, verschränkte meine Arme hinter dem Kopf und sah Tatsumi herausfordernd an. "Gut, ich bin einverstanden. Du singst, und ich gebe dir einen Kuss." "Ähm... ja? Echt?!" Tatsumi zog die Augenbrauen hoch, doch trotz seiner offensichtlichen Überraschung wirkte er nicht im Mindesten enttäuscht, seiner künstlerischen Pflicht nun doch nachkommen zu müssen. Ich meinte sogar, für einen Moment, nur ganz, ganz kurz, so etwas wie ein freudiges Blitzen in seinen Augen erkennen zu können, und meine Antwort tat mir beinahe schon wieder leid. Wie gesagt, beinahe, immerhin hatte Tatsumi mit den Kindereien angefangen. "Meinst du wirklich, ich könnte dich anlügen?" "Und... du hast es schon verstanden... ein richtiger Kuss..." "Tatsumi, du wirst es nicht glauben, aber ich weiß, was ein Kuss ist." "Ja... aber nicht, dass du dich nachher mit einem Küsschen auf die Wange aus der Affäre ziehen willst!" "Als ob ich das nötig hätte! Ein richtiger Kuss. Ich hab's schon kapiert, keine Angst." "Na gut..." Tatsumi zuckte kurz mit den Schultern, dann hob er seine e-Gitarre wieder an. Er holte tief Luft, schloss die Augen und schien sich für einen Moment zu konzentrieren, so als müsse er die Grenzen der gewohnten Welt erst noch hinter sich lassen, um ganz in das mystische Märchenland der Musik eintauchen zu können. Dann begann er zu spielen. Das Lied war schöner als jedes andere, das ich jemals zuvor gehört hatte. Just for the first time I looked in your eyes I simply knew that it had to be fate Like pieces of a broken heart that perfectly fit Eine langsame, melancholische Melodie begleitete Tatsumis Gesang. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was mich mehr fesselte - die Musik oder ihre stimmliche Begleitung. Der Blondschopf sang schlicht und einfach wundervoll. Seine Stimme schien plötzlich völlig anders zu klingen. Der Tonfall. Der Ausdruck. Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, einen vollkommen anderen Menschen vor mir zu haben. Before we met, we were just on our own Now, for the first time I felt alive How should I notice that you cried when I looked away? Der unbestimmte, vage Eindruck jener Nacht, als ich Tatsumi am Ufer des schwarzen Flusses getroffen hatte, wurde nun zur Gewissheit. Sein Gesicht hatte sich einmal mehr verändert, und... er sah mit einem Mal unendlich traurig aus, genauso traurig wie das Lied, das er spielte. Und gleichzeitig war gerade diese leise, beinahe hoffnungslose Traurigkeit auf eine unfassbare Weise so wunderschön, dass ich kaum noch zu atmen wagte, aus bloßer Angst, dieses Bild zerstören zu können. Searching your shadow in the endless night There's only artificial starlight around You took the silver moon with you, as you ran away Aus irgendeinem Grund konnte ich meine Augen nicht mehr von Tatsumis Geicht nehmen. Ich vergaß für einige Sekunden sogar, warum ich eigentlich hier war, ich vergaß meine Aufregung, mein inneres Chaos, all die Hoffnung und Angst und was weiß ich noch alles, und wünschte mir einfach nur, dass dieses eine Lied niemals zu Ende gehen würde. Just one single look at the light And the darkness makes you suffer and cry With no one to wipe these tears Such a lonely night, so I'll tell only the starlight goodbye Als Tatsumi seine Gitarre schließlich wieder sinken ließ und die Augen noch einige Sekunden lang geschlossen hielt, herrschte vollkommene, aber ganz und gar nicht bedrückende Stille in dem weißen Zimmer. Dann jedoch sah er mich an, grinste und zog erwartungsvoll die Augenbrauen nach oben. Ich drehte mich auf die Seite und applaudierte brav. "Das... das war echt geil!" musste ich zugeben, auch wenn mir Tatsumis selbstgefälliger Gesichtsausdruck dieses ehrliche Lob beinahe bitter und trocken im Hals stecken bleiben ließ. Unweigerlich stahl sich ein leiser Seufzer über meine Lippen, und mir drängte sich die brennende Frage aufdrängte, warum Tatsumi nicht einfach 24 Stunden am Tag mit seiner e-Gitarre um den Hals hängend und melancholische Lieder singend durch die Gegend laufen konnte. "Ist bislang unser bester Song, denke ich. Na ja, ich hab ihn ja auch immerhin selber geschrieben - ich schreibe die meisten Lieder selbst, immerhin muss ich sie ja auch singen, und da verlässt man sich besser nicht auf andere!" "Sowieso nicht. Aber hey, das Lied klang irgendwie - traurig..." murmelte ich und ließ meinen Blick über die viel zu weißen Wände streifen. "Na das hoff ich doch!" Mit einer liebevollen, vorsichtigen Bewegung stellte Tatsumi sein pechschwarzes Instrument in die Ecke zurück und ließ sich neben mir auf das Bett sinken. "Es geht um einen Jungen, der seine große Liebe gefunden und wieder verloren hat und sich deshalb umbringen möchte." "Cool!" stellte ich mit einem Schulterzucken fest und musterte Tatsumi mit großen Augen. "Kannst mich ruhig einladen, wenn deine Gruppe irgendwann mal auftritt oder ne CD rausbringt oder so... wie gesagt, wenn - oh, und wie heißt ihr eigentlich?" "Predilection. Heißt soviel wie Vorliebe. Eine ganz besondere Vorliebe, um genau zu sein..." "Aha... ist ja direkt poetisch... und verrätst du mir auch mal, was dieses Geschreibsel da auf deiner e-Gitarre zu bedeuten hat?" "Warum interessiert dich das? Aber gut - das Geschreibsel heißt Kodoku no Uta, also soviel wie... Lied der Einsamkeit oder so. Keine Ahnung, ich finde jedenfalls, es sieht ziemlich stylish aus, oder?" "Schon..." ich fixierte Tatsumi noch einmal, dann richtete ich mich auf und quälte mich leicht widerwillig von der nur allzu bequemen Matratze auf die Füße. "Aber jetzt sollten wir uns vielleicht lieber darum kümmern, dass ich heute Abend ebenso stylish aussehe, meinst du nicht?" "Mooooooment!" Der Blondschopf sprang auf und stellte sich vor mich. "Hast du da nicht eine... winzige Kleinigkeit vergessen? Abmachung ist Abmachung, Süße!" "Ab - machung?" Ich blinzelte ihn mit großen Augen zuckersüß an. "Verzeih, aber wovon sprichst du?" "Hey! Du glaubst ja wohl hoffentlich nicht wirklich, dass ich dich mit so einer billigen Tour davonkommen lasse! Wie war das doch gleich? Ich singe, und du gibst mir einen Kuss. Schon vergessen?" "Nein, wieso? Die Abmachung gilt immer noch. Und jetzt mach Platz." "Ja aber..." "Wenn du so kuckst, dann siehst du sogar noch blöder aus als sonst, also lass es bitte. Ich löse meinen Teil der Abmachung schon ein, was denkst du denn?" "Na also, geht doch..." Tatsumi lächelte und sah mir tief in die Augen. Er legte mir einen Arm um die Hüften und zog mich vorsichtig ein wenig näher zu sich hin. Dann beugte er sich zu mir hinunter und blickte mich erwartungsvoll an. "Was tust du da?" Ich legte dem Blondschopf einen Finger auf die Lippen und löste mich mit sanfter Gewalt aus seinem Griff. "Wir haben Wichtigeres zu tun! Ich habe dir schließlich nur gesagt, dass du deinen Kuss bekommst. Ich habe nie gesagt, dass es sofort sein wird!" "Moment mal... das... das war doch wohl klar, oder?" "Für mich nicht." "Für mich aber! Das... das ist nicht fair! Du kannst es ja bis zum Ende deiner Tage herauszögern! Dann bist du alt und runzlig und... wäääh!" Er verzog demonstrativ das Gesicht. "Natürlich kann ich das! Aber verlass dich drauf, ich wird's schon nicht machen." Ich zwinkerte ihm zu. "Zum zweiten Mal: Könnte ich dich etwa anlügen? Du bekommst deinen Gutenachtkuss schon noch, und jetzt reg dich nicht auf, sondern hilf mir lieber, Süßer. Ein dankbares Mädchen küsst besser!" "Du bist ein Monster, Jessie!" Tatsumi schüttelte lachend den Kopf und boxte mir in die Seite. "Nein, du bist ein Engel. Aber ein Gefallener!" "Was erwartest du?" Ich blinzelte ihn unschuldig an. "Immerhin haben wir uns im Seven Sins kennen gelernt! Meinst du, ein echter Engel würde sich eine Todsünde leisten?" "Wer weiß?" Der Junge strich sich seine blonden Haare aus der Stirn und grinste mich an. "Wenn's danach geht, dann müsste ich schon öfter aus dem Himmel gefallen sein, als es für meine Knochen und Flügel gesund sein kann. Ich wette, ich bringe keinen Tag herum, ohne nicht mindestens eine Todsünde zu begehen!" "Da wette ich mit!" "Du? Bestimmt nicht! Ich glaub dir kein Wort! Du bist doch die Unschuld in Person, Jessie!" "So, bin ich das? Dann kann ich nur sagen: die Wette gilt! Ich glaub dir nämlich auch nicht, dass so ein braver kleiner Streber wie du es jeden Tag auf eine gar schreckliche Sünde bringen kann." "Bitte! Dann fangen wir am besten sofort damit an... hm... wie wär's mit Rache?" Er grinste noch ein wenig breiter. Dann packte er mich, riss mich mit einer blitzschnellen Bewegung von den Füßen und drückte mich auf den Boden. Ich quietschte, zappelte und versuchte verzweifelt, mich aus seinem eisernen Griff zu befreien - vergeblich. Und wenn ich jetzt sage, dass keine Folter dieser Welt schlimmer sein kann als ein kitzelnder Tatsumi, dann meine ich das verdammt nochmal ernst. Ich konnte gar nicht anders, als mir die Seele aus dem Leib zu kreischen und zu kichern und es fiel mir plötzlich gar nicht mehr so schwer, dabei wie ein Mädchen zu klingen. Irgendwann standen mir Tränen in den Augen, und mein ganzer versammelter Stolz konnte mich nicht mehr davon abhalten, um Gnade zu flehen. "La-lass mich los!!!" keuchte ich und schnappte verzweifelt nach Luft. " Bitte!" "Keine Chance!" Der Blondschopf reckte sein Kinn in die Höhe. "Ich kenne kein Erbarmen!" "Ich... ich tu... alles was du willst!" stammelte ich. "Äh - fast alles!" "Alles? Bevor du so etwas versprichst, könnten wir ja den Vertrag, den du schon bei mir unterzeichnet hast, ein wenig - überarbeiten." "Hinterhältiges Arschloch! Aber gut. Gut. Du bekommst deinen Kuss!" "Bekomme ich? Ja? Und wo ist der Haken?" "Es gibt keinen Haken!" Ich legte den unschuldigsten Hundeaugenblick auf, den ich noch irgendwo aus den Tiefen meiner Verzweiflung hervorkramen konnte und blinzelte Tatsumi flehend an. "Du bekommst dein Küsschen! Aber nur, wenn ich heute Abend weiterkomme." "Aber, aber, aber... du bist ne knallharte Geschäftsfrau, Jessie. Und dabei bist du eigentlich gar nicht in der Position, Forderung zu stellen..." Er seufzte. "Na gut, dein Wunsch sei mir Befehl. Und da du ja sowieso das bezauberndste Wesen im Umkreis von mindestens fünfhundert Meilen, auf jeden Fall aber von meiner ganzen Schule bist... der Deal gilt!" "Wie schön. Lässt du mich jetzt los?" "Oh... natürlich..." Tatsumi stand auf und streckte mir eine Hand hin. "Darf ich bitten, Mylady?" "Bitte dich doch selber!" Ich grinste und stemmte mich mit einer schnellen Bewegung wieder auf die Füße. "Mylady wünschen nun, von ihrem Diener zum Bad geleitet zu werden, damit sie sich dieses ekelhafte Zeugs vom Körper waschen kann." "Wenn Mylady selber aufstehen kann, findet sie das Bad sicher auch allein!" grinste der Blondschopf und öffnete mit einer galanten Handbewegung die Türe. "Ich pack solang schon mal die ganzen Schminksachen aus, wenn Hochwohlgeboren gestatten." "Hmm... na gut. Aber gerade noch so!" Ich schnappte mir ein paar meiner mitgebrachten Klamotten und lief eilig in Richtung Bad davon. Das letzte Styling konnte beginnen. Die Atmosphäre war - überwältigend. Ganz ehrlich: Nie im Leben hatte ich mir auch nur ansatzweise erträumen können, wie unglaublich großartig unsere Turnhalle eigentlich aussehen konnte, aller Fantasie und Verrücktheit zum Trotz. Nachdem es mir beim Eintreten erst einmal für einige Minuten lang die Sprache verschlagen hatte, war ich verdammt nahe dran, einfach wieder umzukehren, weil dies einfach nicht der richtige Ort sein konnte. Was soll ich sagen? Er war es. Und er hätte richtiger gar nicht sein können. Die hohen Wände waren auf irgendeine mysteriöse Art und Weise mit langen, abwechselnd schwarzen und schimmernd blauen Stoffbahnen verhängt worden, sodass von der Unmenge hässlicher Werbeaufdrucke (ich habe nie ganz verstanden, warum sich all diese Firmen überhaupt die Mühe machten, ausgerechnet eine Schulsporthalle mit ihren netten Slogans und Bildchen und Adressen zu tapezieren, allen gelegentlichen Hand- und Fußballturnierchen zum Trotz) und Folterinstrumente - Verzeihung, ich meine natürlich Sprossen und Ringe nicht mehr das Geringste übrig geblieben war. Wo sonst dicke und dünne Matten über den Boden quietschen, wo Barren und Reckstangen wie grauenvolle Mahnmale gen Hallendecke ragten, wo Bälle, tödlichen Geschossen gleich, die Luft versengten und Schüler rannten, hüpften, warfen, sich überschlugen und gelegentlich Arme, Beine und Genicke brachen, da stand nun eine pechschwarze Armee von Stühlen, die selbst auf dem hässlichen grünen Laminatboden noch irgendwie elegant aussah. Geteilt wurden die mehr oder minder bequemen Heerscharen durch das breite Band eines roten Teppichs, der sich bis vor zur Bühne erstreckte. Und die Bühne - mein Gott, wie unglaublich cool sie war! Mir fehlen jetzt noch die Worte, um dieses Ding würdig beschreiben zu können. Da war so ein richtiger Laufsteg aufgebaut, und die Decke, ja, eigentlich auch die Wände, alles war mit Tüchern verhangen. Ein Teil von ihnen war so schwarz wie die Stoffbahnen der Turnhallenwände, aber darüber hingen noch andere Tücher, blaue, türkisfarbene, teils schimmernd, teils transparent... der Effekt war überwältigend. Dazwischen waren noch in unglaublich geschickter Weise Lichter platziert, so dass sich alles irgendwie zu einem Gesamteindruck zwischen Sternenhimmel und Ozean fügte. Der Boden an sich war schwarz, doch quer über die Bühne und einige Meter auf eine Art Laufsteg hinaus führten schmale, mattsilberne Platten, die dem Ganzen einen derart stylischen Touch gaben, dass ich gar nicht mehr anders konnte, als beeindruckt zu sein. Etwas abseits der Bühne flankierten silberne Tafeln die rechte Wand der Turnhalle und warteten nicht minder ungeduldig auf das abschließende Buffet, als es der eine oder andere Gast im Laufe des Abends wohl noch tun würde. Zur Linken des Laufstegs, etwas abseits von den Sitzgelegenheiten des einfachen Volkes, verrieten drei pechschwarze Stühle vor einem wichtig aussehenden Tisch, dass hier die Jury Platz nehmen und residieren würde. Ich wandte meinen Blick hastig wieder von diesem doch recht beunruhigenden Ort ab und machte mich stattdessen daran, einen prüfenden Blick über die Konkurrenz streifen zu lassen. Was soll ich sagen? Es war ein Fehler. Irgendwie. Ich meine, es war natürlich unvermeidlich und änderte nichts mehr an meiner Entscheidung, aber... alles um mich herum war so schön, so... perfekt, rein, atemberaubend - ganz, ganz ehrlich, keine von diesen Mädchen (oder zumindest fast keine) hatte in der Schule oder bei den Proben auch nur annähernd so unverschämt gut ausgesehen und auch auf die Gefahr hin, mich hier zu wiederholen, wenn ich von gut spreche, meine ich wirklich verflucht gut. Selbst Tanith war es auf wundersame Weise gelungen, ihre wasserblauen Glubschaugen derart gekonnt zu betonen, dass sie mit einem mal regelrecht attraktiv anmuteten! Verstehen sie das? Es war ein Schock für mich! Enge Kleider umspielten zarte Mädchenkörper und überall glänzten und schimmerten und betonten vielfarbige Haarprachten diesen Überfluss an Schönheit und jugendlicher Ausstrahlung. Gut, vielleicht war ich ein Stück weit selber Schuld und auch reichlich naiv, dass mich die Anwesenheit von Schönheit auf einem Schönheitswettbewerb derart verblüffen konnte, aber... Ja, ich gebe es zu, ich hatte die Aufgabe unterschätzt. Verflucht unterschätzt sogar. Und wenn mich Tatsumi noch sieben Jahre und acht Wochen lang mit einer meterdicken Schleimschicht umwickelt hätte - in diesem Moment wär selbst diese zu Asche und Staub zerfallen und zwar direkt auf mein bleiches Antlitz. Ich übertreibe nicht, falls sie das auch nur zu denken wagen. Niemals zuvor in meinem Leben hatte sich jene pechschwarze Bleinadel namens Lampenfieber tiefer in mein Herz gebohrt wie an jenem Abend in dieser - zumindest in meinen Augen - strahlend glamourösen Hölle, nebenberuflich Turnhalle. Und dieses Faktum wird auch nicht dadurch gemindert, dass mir meine Deutschlehrer zeitlebens in blutroter Tinte unter die Aufsätze herniedergeschrieben haben, dass ich dann und wann arg ins Pathetische abrutsche. Wie auch immer, ich stand also da, gefangen und gelähmt zwischen Nachthimmelbühne und Klappstuhlarmee, ganz tief unter einer Woge von Minderwertigkeitskomplexen begraben, als sich plötzlich aus einer unscheinbaren Türe zu meiner Rechten der Kopf einer Frau Mitte Dreißig hervorschob, die dem bildschönen Haufen und mir milde lächelnd zuwinkte. Ein zweiter Blick beschenkte meine Wahrnehmung mit einem etwas missglückt auf Hollywood getrimmten Silberschildchen, das mir von dem schwarz gestrichenen Rechteck das Wort: "Umkleidekabine" entgegenschrie. Gut, schoss es mir durch den Kopf, begleitet von einem schrillen Chor imaginären Gekichers. Diese freundliche Tante lud uns also ein zur Schlachtba- ... zum Umziehen, sollte heißen: Der Wettbewerb hatte so gut wie begonnen. Hatte so gut wie begonnen. Können sie sich das vorstellen? In meinem Kopf begann sozusagen synchron eine ganze Armada von Alarmglocken loszukreischen und ich musste mich so verflucht zusammenreißen, nicht augenblicklich aus den Schühchen zu kippen, das glauben sie gar nicht mehr! Ich meine... all diese Mädchen, die spekulierten auf Mode und kostenloses Make-up und Hochglanzcover - die sie eh niemals erreichen würden, aber gut - und vielleicht noch die eine oder andere Nacht in den behaarten Armen eines Designer-Masterminds... oder... ach, ich weiß es ja auch nicht, vielleicht verfolgte sogar noch jemand außer mir irgendwelche höheren Ziele und sparte für die lebensrettende Notoperation seines Haustieres oder eine Brustimplantation, aber... für mich ging es um so viel, so unglaublich viel, dass ich selbst jetzt bei der bloßen Erinnerung noch schier einen Kreislaufkollaps erleide. Das ist kein Witz. Und just in diesem Augenblick, als ich meinen Kopf mit reichlicher Mühe ein angestrengtes Stückchen weit anhob, um mir einen letzten Motivationsschub aus den Augen meines treuen, aufdringlichen, selbstverliebten Ritters zu holen, da fand ich den Platz an meiner Seite leer und verlassen vor. Nur etwa einen Meter weiter stand ein wohlbeleibter Mann mit leicht angegrauter Haarpracht und Perlmuttanzug, der meinen fragenden Blick mit einem derart schmierigen Grinsen quittierte, dass es mir wiederum beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Ich schluckte. Gut - es war kindisch. Lächerlich. Vielleicht sogar peinlich. Aber in diesem Moment - also der, in dem ich Tatsumis Abwesenheit bemerkte - da fühlte ich mich noch so viel schrecklicher als zuvor, dass ich mich ernsthaft beherrschen musste, um nicht gleich wieder auf Händen und Füßen aus der Halle zu flüchten. Ich wusste natürlich nicht warum. Eigentlich weiß ich es noch immer nicht. Aber... in meine Augen trat so eine merkwürdige Panik, die sie wieder und wieder über das schillernde Bildnis des Pseudo-Festsaales trieb, auf hilfloser Suche nach Tatsumis blondem Haarschopf... aber was soll ich sagen? Da waren verdammt viele blonde Haarschopfe und alle wuselten sie durcheinander wie eine Horde psychotischer Lemminge auf dem Weg zum Massenselbstmord. Und soll ich Ihnen noch etwas sagen? Diese Situation war entsetzlich! Grauenvoll! Ich konnte ja nicht mehr weg von dieser Türe, im Gegenteil, ob ich wollte oder nicht, ich wurde mitgerissen im Strudel der Schönheit, dabei hatte ich doch eigentlich ganz und gar andere Dinge im Sinn! Aber was hätte ich tun sollen? Haben Sie schon einmal einen dieser dramatischen Filme gesehen, in denen die strahlenden Helden und Antihelden irgendwann jenen mystischen Punkt erreichen, von dem an es kein zurück mehr gibt? Geben soll. Denn eigentlich ist es ja Unsinn - umkehren kann man immer, gut, vielleicht nicht, wenn man zwischen dem 20. und 21. Stock eines Hochhauses im Aufzug festsitzt, so ganz kurz nach Geschäftsschluss... vielleicht auch nicht, wenn man sich in geheimagentischer Selbstüberschätzung auf irgendeine einsame Tropeninsel jenseits unserer Zivilisation manövriert hat, oder in die exakte Mitte eines blutrünstigen feindlichen Sondereinsatzkommandos... aber sonst ist das doch alles nur Gerede, eine Schranke im Kopf, ach, es mag sich ja gut und nervenaufreibend und ganz besonders heroisch anhören, trotzdem ist es Unsinn - wenden und weglaufen konnte man entweder schon vorher nicht, oder man kann's auch nachher noch. Glauben Sie. Glaubte ich auch - bis zu jenem Abend, an dem ich diesen berühmten Point of no Return mit eigenen Füßen überschritten habe. Genau in diesem dunkelsten Augenblick bin ich nicht mehr umgedreht. Nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht konnte. Nicht mehr. Und obwohl ich ganz genau wusste, dass mir keine strahlende Mutter, kein vor Stolz schier platzender Vater, nicht einmal ein eifersüchtiges Geschwisterlein aus der vordersten Reihe entgegenwinken würde... dass selbst mein letzter Mitstreiter mich verlassen hatte und ich jetzt vollkommen und so sehr wie niemals zuvor allein war... ich musste und ich würde es durchziehen. In den nächsten flüchtigen Stunden stand mehr auf dem Spiel als jemals zuvor in meinem Leben. Und die Spiele konnten beginnen. Fortsetzung folgt! Kapitel 4: Part IV - Struggle for Life -------------------------------------- Part IV - Struggle for Life Alle, die PredElection lesen, dürfen sich jetzt bitte einmal einstimmig bei AlexMinn bedanken. Diese gewisse Selbstmorddrohung in meinem GBE hat mich nämlich unwahrscheinlich motiviert und inspiriert. Auch von mir ein dickes: DANKE!!! ^_^ Also, merkt euch: Wer PredElection oder sonst was weiterlesen will, einfach fleißig Selbstmorddrohungen schicken... ^^; Dieses Kapitel ist doch irgendwie besser geworden, als ich es zuerst gedacht hatte. Ein paar Stellen mag ich sogar wirklich gerne, ich sag nur: Cheerleaderkostüm... *grins* wie auch immer. Ich empfinde meine momentane Situation als sehr... stressig. Das merkt man wohl auch dann und wann im Kapitel selber und manche Dinge sind grad auch ein wenig autobiografisch, zum Beispiel diese allgemeine ratlose Verzweiflung in Richtung Mathe... O_O trotzdem war ich ganz fleißig am Schreiben, wie man sieht. Ich hoffe, dass das Ergebnis dem einen oder anderen zumindest ein bisschen gefällt. ^^; Ich habe es mir erlaubt, mal wieder ganz spontan beim Schreiben einer Idee nachzugehen, ohne die Konsequenzen zu planen und bin sehr gespannt, wie diese Idee wohl ankommen und wie es weitergehen wird. ^_^ Die Story wird langsam kompliziert und ist ein herrliches Abenteuer für mich, so... unvorgeplant. Viel Spaß beim Lesen und besonders viele Grüße an meinen liebsten Beta-Leser und FF-Autor, mein Fünkchen, an Yoko-chan und Tía-chan (Miau!), an AlexMinn natürlich und an alle, die das hier tatsächlich lesen... danke!!!!! P.S.: Der Titel, Struggle for Life, heißt soviel wie Kampf ums Überleben und bezieht sich auf Darwins Evolutionstheorie. Beim Lesen des Kapitels dürften sich alle Fragen diesbezüglich hoffentlich von selbst klären! Nochmals ein dickes ARIGATIOU an das Fünkchen!!! Wissen Sie, was das Absurdeste war? Als ich den Laufsteg betrat, war ich eigentlich nicht einmal wirklich aufgeregt. Diese ganze Sache von wegen Herzrasen und Atemstillstand und Zittern, das hatte ich irgendwie alles schon vorher abgehandelt, und dann... dann trat ich eben einfach auf diese Bühne hinaus, zunächst noch in der strahlenden Begleitung sämtlicher Mädchen, die denselben Traum träumten wie ich... wenn auch vielleicht aus vollkommen anderen Gründen. Wir trugen Cheerleaderkostüme. Die Hälfte von uns in Blau, die andere Hälfte in Rot, jeweils in den leuchtendsten, kitschigsten Farbnuancen, die man eben gerade noch mit bloßem Auge ansehen konnte, ohne spontan daran zu erblinden. Ich selber durfte mich glücklicherweise zu den in Blau gewandeten Damen zählen, was mich auf eine hysterisch-unaufgeregte Art und Weise schon einmal irgendwie hoffnungsfroh stimmte. Sie erinnern sich? Jessie liebte Hellblau. Ich übrigens auch. Erst später bemerkte ich, dass alle dunkelhaarigen Mädchen blaue, alle hellhaarigen Mädchen rote Outfits tragen mussten, aber da war ich dann auch schon wieder ausgezogen und stand der ganzen Sache dementsprechend distanzierter gegenüber. Haben Sie eigentlich schon einmal ein Cheerleaderkostüm getragen? Bitte fassen Sie (und damit spreche ich insbesondere die männliche Hälfte von Ihnen an!) diese Frage nicht als Beleidigung auf. So ist sie nämlich nicht gemeint und würde im Zweifelsfall auch ganz anders klingen. Was ich eigentlich damit ausdrücken möchte, ist: Ich hasse Cheerleaderkostüme. Sie sind aus solch einem ganz komischen Stoff, der auf den ersten Blick zwar wahnsinnig dünn aussieht und im Endeffekt ja auch wirklich dünn ist, aber er ist es auf so eine ganz merkwürdige, unangenehme Art und Weise. Wissen Sie, was ich meine? Normalerweise verbindet man mit dünnem Stoff ja eher Leichtigkeit und Atmungsaktivität und so etwas (zumindest, wenn man gewissen Werbesendungen glauben schenken darf), aber dieser Cheerleaderstoff, der ist weder leicht noch atmungsaktiv, der ist einfach nur... ekelhaft. Sie müssen sich das vorstellen, in einer großen Halle - in einer großen und voll besetzten Halle, da ist es heiß, da muss es heiß sein, das ist ein Naturgesetz. Hinzu kommt die Bewegung. Und wenn man dann schwitzt (das ist leider auch ein Naturgesetz), dann bildet sich zwischen Haut und Stoff so ein nasser Film, der ist irgendwo klebrig, aber er lässt den Stoff trotzdem noch nicht am Körper haften. Vielleicht ist klebrig das falsche Wort... schleimig, das trifft es eher. Man fühlt sich ganz und gar schleimig, wenn man so ein Cheerleaderkostüm trägt, und glauben Sie mir, das ist nun wirklich kein sonderlich schönes Gefühl. Außerdem sind da noch diese typischen glitzernden Applikationen, diese Muster, Sie wissen schon. Dort ist das Kostüm aus einem anderen Stoff, und der kratzt. Er schleimt nicht, aber er kratzt, und wenn man sich dann bewegt, rutscht dieses Kratzen auf die feuchte, klebrige, schleimige Haut und kratzt dort sogar noch ein bisschen mehr. Was uns das alles sagen soll? Erstens: Wenn Sie jemanden hassen, ich meine, wenn Sie ihn wirklich und aus tiefstem Herzen hassen, denn schenken Sie ihm zum Geburtstag ein Cheerleaderkostüm. Zweitens: Der kleine Tanz, von dem ich weiter oben ja schon mal geschrieben habe, wurde für mich zu einem sprichwörtlichen Höllentrip, nach dem ich mich wirklich dermaßen scheiße fühlte, dass ich eigentlich überhaupt nicht mehr in der Lage war, noch in irgendeiner Form aufgeregt zu sein. Im Gegenteil - ich freute mich. Freute mich, in meine ureigensten Anziehsachen schlüpfen zu können, und - ach! - was war das doch für ein herrliches Gefühl! Ich trug nun einen schwarzen Minirock, darüber zwei dünne weiße und mit kleinen Nieten besetzte Gürtel. Mein Oberteil war weiß mit ganz feinen schwarzen Mustern, hinten geschnürt, so ein kleines bisschen im Stil von sexy Unterwäsche... ich hoffe Sie wissen, was ich meine. Außerdem trug ich etwas weniger als kniehohe, mattschwarze Stiefel, obwohl die Dinger eigentlich viel zu heiß waren und, wie hätte es auch anders sein können?, so richtig schön auf der Haut klebten. Aber soll ich Ihnen mal was verraten? Das war's mir wert! Ich sah in dem Outfit nämlich richtig gut aus. Meine Haare waren so irgendwie gewollt unordentlich hochgesteckt und auf der Seite, auf der mir ein gewisser reizender Mensch mit Namen Shane noch vor wenigen Tagen ein blaues Auge verpasst hatte, da fielen sie mir ein bisschen über das Gesicht. Dazu waren meine Augen grau-schwarz geschminkt, alles ein bisschen verrucht, aber nicht zu sehr verrucht, um bei einer Schulveranstaltung noch Chancen zu haben. Und wie ich dann ein letztes Mal vor dem Spiegel stand und - oh Wunder! - eigentlich gar nicht aufgeregt war, da kam mir meine ganze Aufmachung sogar ganz unwahrscheinlich stylish vor. Dann wurde mein Name aufgerufen und ich musste raus auf die Bühne. Oh mein Gott, Sie können sich ja überhaupt nicht vorstellen, wie schnell plötzlich alles ging! Ich trat hinaus, trat auf den improvisierten, aber coolen Laufsteg und stöckelte in bester Jessie-Manier den silbernen Weg entlang auf das Publikum zu. Ganz vorne blieb ich stehen und drehte mich einmal langsam um die eigene Achse. Machte einen lasziven Schritt nach vorne. Verharrte erneut. Wandte dann betont lässig meinen Kopf den Zuschauern zu. Schlug einige Male meine langen Wimpern auf und nieder... und kehrte dann in heimische Gefilde bzw. zur eigentlichen Bühne zurück. Und soll ich Ihnen mal was sagen? Den Menschen gefiel es! Zumindest ging ich stark davon aus, dass es ihnen gefallen musste, immerhin klatschten und jubelten sie, einige pfiffen sogar. Auch als ich stehen blieb, um auf unsere Ansagerin (die bis vor wenigen Stunden noch unsere vor allem bei der männlichen Schülerschaft allseits beliebte Biologie-Referendarin gewesen war) samt ihrer längst einstudierten Fragen zu antworten, hörten sie nicht etwa auf zu klatschen. Nein, sie feierten mich fröhlich immer weiter, bis mir die brünette, pferdeschwanztragende Schönheit ein Mikrofon in die Hand gedrückt und feierlich um Ruhe gebeten hatte. Und dieses Gefühl... dieses Klatschen, dieses Jubeln... dieses ganz und gar ungewohnte Feiern meiner Persönlichkeit, das war wie ein Rausch - nein, besser als ein Rausch! Es packte mich, meinen ganzen Körper, und flog mit mir davon. Drehte eine Runde unter dem pechschwarzen Himmel der Turnhalle, bis ich fast schon mit den Fingerspitzen den Mond und die Sterne erreichen konnte... Dann ließ es mich fallen. Ich kann heute weder angemessen beschreiben noch erklären, was in diesen Sekunden mit mir geschah oder in mir vorging. Aber irgendwann kam dieser Punkt, da das Publikum tatsächlich schwieg, da Ruhe in den immer noch ein wenig nach Blut, Schweiß, Tod und Verderben stinkenden Turnhallenfestsaal einkehrte und mir urplötzlich bewusst wurde, dass Miss Catcher alias die strahlende Ansagerin im kurzen blauen Kleid mir jetzt und sofort eine Frage stellen würde, auf die ich dann zu allem Überfluss auch noch eine Antwort geben musste! Die Erkenntnis traf mich wie ein gleißender Blitzschlag, fuhr durch meinen Körper wie ein mittelschweres Schleudertrauma und ließ die trotz allem verflucht beeindruckende Raumdekoration samt Publikum einen Moment lang vor meinen Augen verschwimmen. Eine brachiale Woge von Übelkeit breitete sich in meinem Inneren aus und gute zwei, drei, vielleicht auch zehn Sekunden war ich mir sicher, mich mitten auf der Bühne und vor versammelter Mannschaft übergeben zu müssen. Dann ergriff die Lady in Blau mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen und in ihrer gewohnt charmant aufgesetzten Art und Weise das Wort. "So, meine liebe Jessica Maguire, jetzt sei doch bitte so gut und stell dich dem Publikum und unserer Jury mal ganz kurz und prägnant vor!" "Aber gerne doch", flötete ich betont ruhig in das feindselig dreinblickende Plastikgerät. Ich hatte meine liebe Mühe damit, Jessies Tonfall noch glaubwürdig nachahmen zu können, aber noch ungleich schwerer fiel es mir, mich überhaupt weiterhin auf meinen heftigst zitternden Beinen zu halten. Ich schluckte schwer und fuhr dann in unverändert freundlich-einnehmenden Tonfall fort. "Wie Sie ja schon gesagt haben, ich heiße Jessica, aber alle nennen mich Jessie. Ich bin achtzehn Jahre alt und bin erst seit kurzem wieder in dieser Stadt, da ich zuvor ein Praktikum in einem ausländischen Krankenhaus gemacht habe. Ich interessiere mich sehr für fremde Kulturen und so war dieser Aufenthalt eine wichtige Erfahrung für mich. Außerdem zeichne ich gerne und verbringe viel Zeit mit meinen Freunden." "Sehr schön, Jessie", nickte Mrs. Catcher und zeigte dem Publikum ihre blendend weißen Zähne. "Jetzt erzähl uns doch bitte noch, warum du überhaupt an diesem Wettbewerb teilnimmst - und warum ausgerechnet du gewinnen solltest!" "Mein Zwillingsbruder geht auf diese Schule und hat mir von dem Schönheitswettbewerb erzählt. Solche Veranstaltungen haben mich seit meiner Kindheit fasziniert und ein Sieg wäre für mich sehr wichtig. Mein größter Traum ist es nämlich, Medizin studieren zu können, aber da meine Mutter selber an einer Krankheit leidet, müsste ich mir mein Studium selbst finanzieren und diese Misswahl wäre dabei eine große Hilfe für mich. Aber natürlich habe ich auch einfach nur großen Spaß daran, mich fotografieren und schön herrichten zu lassen - ein professionelles Fotoshooting wäre da natürlich das Größte!" Zugegeben - ein ganz klein wenig schämte ich mich ja schon dafür, derart rabiat auf die Tränendrüse von Jury und Zuschauern zu drücken. Doch ganz offensichtlich wirkte es, denn wie auf ein unsichtbares Kommando hin lief bei meinen Worten ein Raunen durch die Menge, gefolgt von Lachen und dann einer neuerlichen Woge von Applaus. Und obwohl ich mich immer noch im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen fühlte, stieg doch ein leises, ein ganz, ganz leises Gefühl von Triumph in meiner Brust auf. Offensichtlich hatte meine schamlos eingesetzte Mischung aus Political Correctness und vertraulicher Pseudo-Ehrlichkeit ihre Wirkung nicht verfehlt. Ich war nun stolzer Besitzer des Prädikates sympathisch, und dies war tatsächlich eine Auszeichnung von nicht zu unterschätzendem Wert. Außerdem muss ich zu meiner eigenen Verteidigung vorbringen, dass wirklich jedes einzelne Mädchen in diesem ganzen verfluchten Wettbewerb das Blaue vom Himmel herunterlog, bis auf die ein, zwei ganz besonders moralisch aufrichtigen und christlich erzogenen, deren Chancen ich aber auch dementsprechend niedrig einzuschätzen wagte... oder die ganz einfach so gut, so perfekt und aufopfernd und menschenfreundlich waren, dass sie eine Lüge überhaupt nicht mehr nötig gehabt hätten. Sprich: Ich hatte wirklich keinerlei Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Und das hatte ich auch nicht. Was vielleicht aber auch ganz einfach daran lag, dass ich mich für solche aufrichtigen Emotionen ganz einfach viel zu schlecht fühlte. Und dabei hatte ich doch eigentlich gar keinen Grund dazu! Immerhin hatte ich die erste Hürde des Lucky-Karma-Miss Contest bereits hinter mich gebracht, und das auf gar nicht mal so üble Art und Weise. Da unsere Schulleitung nämlich keine Genehmigung bekommen hatte, nach Mitternacht noch die geschätzte, zum größten Teil aus ältlichen, gut betuchten Konservativen bestehende Nachbarschaft mit dem Lärm ihrer unwürdigen Veranstaltung zu belästigen, war die erste Runde des Schönheitswettbewerbs auf nur zwei Durchgänge beschränkt worden. Der erste war bereits als Höllenritt durchs Cheerleaderkleidchen in die ganz privaten Annalen meines Gedächtnisses eingegangen, den zweiten - persönliches Lieblingsoutfit plus Vorstellungsrunde - hatte ich eigentlich auch schon überlebt. Trotzdem fühlte ich mich, als ob ich jeden Augenblick sterben müsste. Irgendwie - fragen sie mich bitte nicht, wie und aus welcher inneren Eingebung heraus - schaffte ich es dann doch, dem Publikum noch ein letztes, ganz besonders bezauberndes Lächeln zu schenken, dann stöckelte ich ein bisschen verrucht, ein bisschen stylish und auf jeden Fall verflucht gut aussehend von der Bühne, um meiner nicht minder attraktiven Nachfolgerin Platz zu machen. Ich kam aus dem Licht in das Licht, allerdings eine vollkommen andere Art von Licht... nicht mehr hell, gleißend, glamourös, sondern eher weich und gedämpft... oder lag es doch nur an dem Flimmern vor meinen Augen? Mit einem letzten, kraftlosen Seufzer ließ ich mich auf die erstbeste Sitzgelegenheit fallen, die ich inmitten von Taschen, Kleidern und Schminkutensilien eben noch finden konnte. Mittlerweile war es für mich übrigens nicht einmal mehr ungewöhnlich, mich in der Mädchenumkleidekabine aufzuhalten, ihre schrillen bis rauchigen Stimmen um mich zu hören und mir dabei nicht wie ein schäbiger Sittenstrolch vorzukommen, so sehr hatte ich mich an meine Rolle gewöhnt. Und so fertig war ich. Mit zitternden Fingern gelang es mir, nach der großen 1,5 Liter-Wasserflasche (ohne Kohlensäure) zu angeln, die ich mir in weiser Voraussicht mitgenommen hatte, und dann begann ich zu trinken. Irgendwie... muss ich dabei das Bewusstsein verloren haben. Oder man hatte mich hypnotisiert. Oder beides. Jedenfalls trank ich und trank und trank immer weiter, während von draußen das monotone Klatschen und Stöckeln und die musikalische Untermalung hereindrang... wie ein Teppich. Ein Teppich aus Klängen, aber so ein dumpfer, weicher, wolliger Teppich, in den man bei jedem Schritt einsinkt, erst knöcheltief und dann immer tiefer. Währenddessen lief mir das kalte, klare Wasser so herrlich erfrischend und belebend die Kehle hinab, erweckte in mir neue Lebensgeister, die ich vorher nicht einmal mehr namentlich gekannt hatte... durchströmte mich, erfüllte mich auf eine so durch und durch herrliche Art und Weise, dass ich diesen kostbaren Göttertrank einfach nicht mehr von meinen Lippen nehmen konnte und wollte. Als ich dann irgendwann durch irgendein Geräusch... vielleicht war es eine zufallende Türe, vielleicht ein lautes Lachen... doch wieder aus meinem gedanklichen Tiefschlaf gerissen wurde, da war meine schöne große 1,5 Liter-Wasserflasche schon mehr als zur Hälfte leer getrunken. Erinnern Sie sich? Eben hatte ich noch von den Gesetzen unserer Mutter Natur geschrieben, schon muss ich wieder damit anfangen. Vielleicht können Sie Ihre Fantasie einmal ganz kurz für Sie arbeiten lassen. Gut. Stellen Sie sich vor, Sie kippen sich in herrlichstem Sturztrunk und ohne größere Pausen gut einen Liter Wasser die Kehle hinunter. Falls Sie diese Zeilen an einem heißen Sommertag lesen, wird ihnen die Vorstellung vielleicht erst einmal angenehm erscheinen, was Sie ja auch war. Wenn Sie durstig sind, werden Sie jetzt noch durstiger werden. Bitteschön - stehen Sie kurz auf und holen Sie sich etwas zu trinken. Ich laufe Ihnen schon nicht davon. Aber dann denken Sie weiter. Denken Sie ein Stockwerk tiefer. Ich bin mir sicher, Sie werden nachvollziehen können, dass ich vielleicht einen der glücklichsten, vielleicht einen der schlimmsten, auf jeden Fall aber einen der wichtigsten Augenblicke meines Lebens nicht unbedingt mit fest zusammengekniffenen Beinen als weitere Prüfung meiner eisernen Selbstbeherrschung verbringen wollte. Und ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich bis zur tatsächlichen Preisverleihung noch gut eine Viertelstunde Zeit hatte. Natürlich musste ich früher da sein, aber jetzt seien wir doch einmal ehrlich - obwohl ich so aussah wie ein Mädchen, ich war keins. Ich brauchte ganz gewiss keine Viertelstunde, um aufs Klo zu gehen. Trotzdem wusste ich, dass Eile geboten war. Immerhin befanden wir uns auf einer doch nicht unbedingt kleinen Veranstaltung - wer weiß, welch Schlangen sich da mittlerweile gebildet hatten? Doch entgegen aller bisherigen Erfahrungen und Erwartungen schien mir das Glück an diesem einen Abend sogar tatsächlich einmal Hold zu sein. Denn ich fand den Toilettenraum wirklich und wahrhaftig verlassen vor, vollkommen verlassen, können Sie sich das vorstellen? Selbst während einer Schulstunde ist das noch ein ungewöhnlicher Zustand! Wie auch immer, ich verschwand also in einer der Kabinen - immerhin hatte ich dank meines für ein männliches Wesen doch recht ungewöhnlichen Outfits noch einige Vorbereitungen und eben einfach mehr Handgriffe als gewohnt zu erledigen - und befreite mich von gut einem Liter kalten, klaren Wassers. Danach wollte meine weibliche Schönheit natürlich auch wieder auf Hochglanz gebracht werden, und so benötigte ich zwar keine Viertelstunde, aber doch locker über fünf Minuten, bis ich fix und fertig wieder vor dem Spiegel bei den Waschbecken stand und mir die Hände wusch. Und während ich noch so dastand und mir das angenehm kühle Nass über die Haut laufen ließ, da hörte ich mit einem Mal Stimmen auf dem Gang, die sich der Türe näherten. Zunächst dachte ich mir nichts Böses dabei - warum auch? - und blieb in aller Seelenruhe stehen... ich glaube, ich habe sogar noch einmal meine Frisur in Ordnung gebracht! Können Sie sich das vorstellen? Ich stand da und fuhr mir durch die Haare, während draußen auf dem Gang mein Schicksal besiegelt wurde. Erst wenige Sekundenbruchteile, bevor die dunkelgrüne Plastiktüre tatsächlich aufgestoßen wurde, begriff ich, welch grauenhaften Fehler ich da eigentlich begangen hatte. Ich war Jessie Maguire. Ich war ein schönes, junges, begehrenswertes Mädchen, das am schuleigenen Schönheitswettbewerb teilnahm. Und ich war vor lauter Zeitdruck, Gedankenlosigkeit und in alter Gewohnheit auf die Jungentoilette der Turnhalle gegangen. Der Jungentoilette, der sich gerade eben zwei männliche Wesen näherten. Als mir das bewusst wurde, fühlte ich Panik in mir aufsteigen. Kalte, nackte Panik, die mich einen Moment lang erstarren und so wertvolle Sekunden verlieren ließ. Verdammt noch mal, ich musste hier raus! Dummerweise gab es im ganzen Raum nur einen einzigen Fluchtweg, und der führte direkt in die Arme meiner unliebsamen und unfreiwilligen Verfolger, denen ich doch auf gar keinen Fall unter die Augen treten konnte! Ich sah nur noch einen einzigen akzeptablen Ausweg aus meiner misslichen Lage - ich musste mich in einer der Toilettenkabinen verstecken und warten und hoffen, dass sich die beiden unliebsamen Eindringlinge auch möglichst rasch wieder von ihrem Posten vor meinem dezent nach billigem Duftreiniger stinkendem Kurzzeitgefängnis entfernen würden. Was soll ich sagen? Sie kennen doch sicherlich auch dieses überaus herrliche, auf eine ganz und gar perverse Art und Weise sogar unwahrscheinlich erhebende Gefühl, dass sich die ganze, aber auch wirklich die ganze verfluchte Welt einen oder auch zwei Tage lang einzig und allein zu dem Zweck um ihre eigene Achse dreht, um Ihnen ihr dummes kleines Leben auf jedem nur erdenklichen Wege zur Hölle zu machen. Nein? Dann darf ich Ihnen gratulieren. Und Sie vielleicht heimlich, still und leise auch ein klein wenig bemitleiden, denn bei aller hilflosen Verzweiflung, die solch bezaubernde vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden in einem wachrufen können, bleibt da doch so ein ganz gewisser Hauch von hysterisch-amüsantem Entertainment, das sie wohl sonst in dieser Form auf der ganzen Welt nicht finden werden. Wahrscheinlich können sie längst schon ahnen, worauf ich bei all diesem Gerede hinauswill, richtig? Im Nachhinein wundert es mich, dass ich selbst in dieser grauenhaften Situation nicht schon viel eher draufgekommen bin. Ja, wenn ich jetzt so hier sitze und darüber nachdenke, ärgert mich bei allem distanzierten Schmunzeln doch immer noch und vor allem anderen der Gedanke, dass ich dieser verfluchten Macht namens Schicksal (oder was auch immer es an diesem Abend auf mich abgesehen hatte) sogar noch diesen einen, letzten Triumph gegönnt habe, mich von seiner doch alles andere als kreativen Grausamkeit auch noch überraschen, ja sogar schockieren zu lassen. Ich meine, ich habe diese verfluchte Stimme schon erkannt, lange bevor sie die Plastikschranken der Toilettentüre passiert und sämtliche Zellen meines Körpers spontan in einen Zustand des rabiatesten Kälteschlafes versetzt hatte. Oder vielmehr - es war sein Lachen, das ich wohl unter Massen lachender und grölender Menschen noch ohne größere Probleme hätte erkennen können, ganz einfach deshalb, weil es mir so (Verzeihung!) ganz unwahrscheinlich auf den Sack ging. Und nun, da ich mit aufreizendem Minirock, ganz unverschämt verführerischem Schnürtop und High Heels bewaffnet hinter den Jahrhunderte alten, in leuchtenden Eddingrunen herniedergeschriebenen Schülerweisheiten der ansonsten recht farblos grauen Toilettentür kauerte und mich meinerseits beherrschen musste, nicht in ein ebenso lautes Lachen auszubrechen (eines von der ganz besonders schrillen, hysterischen Sorte, um genau zu sein), da regte es mich sogar noch viel mehr auf als jemals zuvor. Mehr, als ich jetzt noch glaubhaft wiedergeben kann. Mehr, als ich jetzt überhaupt noch in irgendeiner Weise nachempfinden kann. Es mag kindisch, falsch und unfair sein, aber in diesen bangen, von unerfüllbarem Zeitdruck gepeitschten Minuten erschien mir nichts anderes boshafter und unerträglicher als die unerwartete Anwesenheit jenes Menschen, dessen plötzliches Verschwinden mir nur wenige Minuten zuvor so nachhaltig den Boden unter meinen Stiefeln hinweggerissen hatte. Ich atmete tief durch und zwang mich zur Ruhe. Alles war gut. Ich war gefangen und ich hatte es eilig, daran gab es sicherlich nichts zu beschönigen und ich versuchte es auch überhaupt nicht. Aber ich hatte es eben doch nicht so eilig, verstehen Sie? Nicht so, dass es auch nur einen Ansatz von Panik hätte rechtfertigen können, denn dafür waren mir meine kostbaren Nerven weiß Gott zu schade. Immerhin war es die Jungentoilette, die mich hier so unpassenderweise gefangen hielt, und wie Sie sicher auch wissen werden, sind wir männlichen Wesen ja nun nicht unbedingt bekannt dafür, unsere kostbare Lebenszeit in übermäßiger Weise auf dem stillen Örtchen zu verschwenden. Sehen Sie, ich hatte doch nicht einmal zu befürchten, dass sich Tatsumi oder sein mir unbekannter Begleiter noch rasch das Make up auffrischen oder den einen oder anderen verwischten Lidstrich nachziehen mussten, und so sah ich nach dem ersten Schrecken wirklich vorerst einmal keinen Grund, mir von meiner misslichen Lage das Fürchten lehren zu lassen. Oh mein Schicksal, wer sehr ich dich unterschätzt hatte! Die Türe öffnete sich sogar erstaunlich lautlos und Tatsumi trat ein, offensichtlich als Erster, denn seine Stimme erschien mir ein wenig lauter als die des anderen Jungen. Dann folgte eine kurze Periode der Stille, gefolgt von leisem Klappern und dem Rauschen des Wasserhahns. Wieder klappern. Ein leiser Laut des Lachens. Das Quietschen von Turnschuhen auf den feuchten Fließen. Ich blinzelte und presste mein Ohr ein wenig näher an das kühle Plastik der Türe. Was um alles in der Welt ging da draußen vor sich? Ich war verwirrt. Irgendetwas wurde ganz offensichtlich auf der glatten Fläche des Waschbeckens ausgepackt, aber was konnte das sein? Wie ich ja bereits festgestellt und angemerkt hatte - ich befand mich immerhin nicht auf einer Mädchentoilette und hatte somit weder mit Schminkdöschen noch mit Mascara, Lipgloss, Kämmen oder sonstigen Spielereien zu rechnen. Aber was um alles in der Welt konnte in einer Jungentoilette klappern?! "Du bist echt mein Retter, Thomas", hörte ich Tatsumi in seiner unnachahmlich coolen Weise verkünden, und ganz unweigerlich lief auch mir ein kalter Schauer den Rücken hinab. "Ich werd mich mit dem reinmachen beeilen, will ja schließlich auch noch was von dem Abend haben... du verstehst?" "Jetzt, wo ich sie gesehn hab versteh ich's schon..." lachte eine zweite, unangenehm raue Stimme. Ich runzelte die Stirn und fuhr in wachsender Nervosität über die leicht unebene Oberfläche der Türe. Meine Ratlosigkeit schien sich mit jeder einzelnen Sekunde, die ich zwischen den kryptischen Inschriften zahlloser Schülergenerationen verbrachte, in wahrhaft astronomische Höhen steigern zu wollen. Ich meine - bitte wer wollte was wo... reinmachen?! Und was hatte die ganze verfluchte Sache dann wieder mit mir zu tun? Denn dass Tatsumi und Thomas von niemand anderem als meiner eigenen Person gesprochen haben konnte, das lag so sehr auf der Hand wie die Tatsache, dass mir irgendetwas in ihrem Tonfall dabei so ganz und gar nicht behagen wollte. Ein leichter Hauch von Beunruhigung glitt über meinen Körper. "Hast du eigentlich schon für Latein gelernt?" hörte ich Tatsumi gewohnt ungerührt fortfahren. Ein kurzer Moment der Stille folgte. Dann ein Lachen. "Da bin ich ja beruhigt - ich nämlich auch nicht. Langzeitklausuren sollten doch wirklich verboten werden! Es ist ja nun nicht direkt so, dass ich meinen Samstag nicht anders zu verbringen wüsste als hier in der Schule! Aber am meisten nervt es doch, Freitags früh ins Bett gehen zu müssen..." "Da ist die ganze Woche im Arsch!" bekräftigte jener stimmlich schon einmal äußerst unsympathische Zeitgenosse mit Namen Thomas und ich verzog spontan das Gesicht. Einmal abgesehen davon, dass für jegliche Art der Unterhaltung zwischen den beiden Jungen so oder so keine Zeit mehr blieb, die ich noch hätte abwarten können, zählten doch Dinge wie Langzeitklausur Latein oder noch nicht gelernt momentan wohl zu der Sorte von Begrifflichkeiten, die ich wohl von allen auf der ganzen Welt am wenigsten hören wollte, wahrscheinlich deshalb, weil sie ja schon allgemein nicht unbedingt von beruhigender Natur sind, und dann noch in dieser Situation... Sie kennen doch dieses Schema von wegen Überlebenskampf, nicht wahr? Sie blicken einem übermächtigen Feind oder einer tödlichen Bedrohung ins Auge und spontan beginnt ihr evolutionstechnisch doch recht fortschrittlicher Körper ein gewisses Überlebenshormon namens Adrenalin auszuschütten. Sie halten das für übertrieben? Dann erklären sie mir doch bitte mal, was übermächtiger und tödlicher sein könnte als eine ausweglose Gefangenschaft im Angesicht des gnadenlosen Selektionsverfahrens eines wahrhaft überlebenswichtigen Schönheitswettbewerbes (Darwin wäre stolz auf uns gewesen!) und dem in Kürze darauf folgenden, viereinhalbstündigen Todeskampf gegen die blutrünstige Bandwurmsatzarmee der philosophischen Schriften Ciceros? Verstehen Sie, was ich meine? Mein Blut schien vor lauter Adrenalin förmlich überzukochen und ich konnte ja nichts dagegen tun, konnte nicht weglaufen, nicht kämpfen... ich war gefangen. Und das war wohl von allen sadistischen Spielchen, die das Schicksal mit mir zu treiben beschlossen hatte, das perfideste und grausamste. "Apropos ,Woche im Arsch', wie lief bei dir eigentlich Mathe?" erkundigte Tatsumi sich beiläufig und rammte mir so die tödliche Klinge noch endgültig in meinen eh schon blutenden Leib. Mathe. Mathe! Ich meine - Mathe!!! Ich habe dieses Fach schon immer gehasst, schon seit ich zum ersten Mal die staubigen Hallen meiner ehemaligen Ghettoschule betreten habe. Die meisten anderen Kinder waren damals ja auch noch stolz darauf gewesen, endlich einmal erwachsen und wichtig und intelligent genug zu sein, um sogar Hausaufgaben aufbekommen zu können (ist es nicht wirklich unfassbar, wie durch und durch pervers einem solch eine Erinnerung nur knapp dreizehn flüchtige Jahre später mit einem Mal erscheint?). Ich möchte es gar nicht beschönigen - auch ich war damals nicht besser, ich war jung, ich brauchte das Geld und ich wusste nicht, was ich tat. Ich hatte meine liebe Mühe damit, nicht einfach vor lauter Stolz in tausend Stücke zu zerplatzen, wenn ich in den ersten Tagen meiner Schulzeit in einer Ecke meines Zimmerchens auf dem räudigen Teppichboden saß und mit einer wahrhaft liebevollen Hingabe und Sorgfältigkeit krakelige Pseudo-Buchstaben in meine schäbigen Übungsheftchen pinselte. Mit Mathe war das etwas anderes. Anfangs hat es mich ja einfach nur gelangweilt in all seiner zahlenreichen Abstraktheit, doch schon am Ende der Grundschuljahre war es zu dem ersten und einzigen Fach mutiert, das mir wirklich und wahrhaftig Probleme bereitet hat. Man sagte mir, ich müsste mich nur mehr anstrengen. Dürfte nicht schon von vornherein aufgeben. Mein Bewusstsein erweitern für die subtile Magie der Zahlen, Kreise und Sinuskurven. Und ich soll ich Ihnen Mal was sagen? Nichts von alldem hat mir je geholfen. Es gab bessere und es gab schlechtere Zeiten in meinem mathematischen Werdegang. Dann und wann schimmerte doch ein vages, diffuses Licht zwischen all den Kurvendiskussionen, Integralen, Vektoren und Matrizen zu mir hindurch, sah ich Land am Ende des Ozeans aus Algebra und analytischer Geometrie, und an den tatsächlichen Rand der Versetzungsgefahr haben mich die finsteren Mächte der Mathematik auch niemals wirklich zurückdrängen können, und trotzdem... ich habe das Fach die ganze Zeit über aus tiefstem Herzen gehasst. Mich durch schier endlose Stunden und (noch schlimmer!!!) Doppelstunden gequält und doch hat es niemals so wirklich Klick gemacht. Kurzum: Meine Mathematiklaufbahn war ein dreizehnjähriger Kampf gewesen, und aus dieser einen Schlacht gegen eine gewisse, eben genannte Klausur, war ich eben leider Gottes einmal nicht siegreich hervorgegangen. Anders ausgedrückt: Nachdem ich gut zwei Stunden lang auf eine feindselige Masse aus Ebenen und diese Ebenen schneidenden Geraden und Stützvektoren und Spannvektoren und Richtungsvektoren und Parameter und überhaupt allem gestarrt hatte, da hat irgendein Teil in meinem Inneren ganz einfach resigniert, hatte es aufgegeben, sinnlose Rechenansätze auf die jungfräulich weißen Seiten meines Heftes zu schmieren, nur um sie dann sowieso augenblicklich wieder durchzustreichen. Stattdessen habe ich meinen Klassenkameraden hysterisch lächelnd beim fleißigen Schreiben und hantieren mit den Grafiktaschenrechnern zugesehen und die überflüssigen Massen meiner Konzeptblätter mit kleinen, bunten Blümchen verziert. Ich weiß nicht mehr, welche Note dann im Endeffekt wirklich bei dieser Klausur herausgekommen ist - ich weiß nur, dass mir schon der bloße Gedanke an die wohl schlimmsten sieben Aufgaben meines Lebens an diesem einen Abend endgültig den Rest gegeben hat. Ich konnte und ich wollte keine Sekunde mehr länger warten, und doch... ich war gefangen. Was hätte ich denn tun sollen? Wissen Sie, bei jedem anderen Eindringling wäre ich vielleicht einfach doch aus der Kabine herausspaziert, hätte ihn kurz im Vorbeigehen mit einem verlegenen Lächeln bezaubert und dann eine derart schnelle, wortgewaltige Erklärung für mein kleines Missgeschick vom Stapel gelassen, dass er im Endeffekt wahrscheinlich sowieso nichts davon mitbekommen hätte. Aber Tatsumi... Draußen klapperte es erneut. "Lief die überhaupt bei irgendwem nich scheiße? Na ja, von Andy vielleicht mal abgesehen, aber der zählt nicht. Gegen den sind ja selbst Einstein und Newton noch Anfänger!" Thomas lachte und bewies mir so auf äußerst eindringliche Art und Weise, dass es doch immer, wirklich immer noch Steigerungsmöglichkeiten gibt - selbst von diesem unangenehmen Phänomen, wie sehr mir Tatsumis Lache auf die Nerven ging. Ich konnte mit einem Mal nur noch mühsam das Bedürfnis in meiner Brust nierrringen, entweder mit den Zähnen zu knirschen oder schlicht und einfach gegen die Klotüre zu schlagen und mahnte mich zur Ruhe. Was auch immer Tatsumi und Thomas da draußen gerade veranstalteten, was auch immer sie so rasch wie möglich wo reinzumachen beabsichtigten - ewig würde es ja wohl nicht mehr dauern können. Dachte ich. Hoffte ich. "Was hast du bei der ersten Aufgabe rausgekriegt?" erkundigte sich Tatsumi in (zumindest für meine Ohren) deutlich hörbarem Desinteresse. Ich begriff nicht, warum er das fragte, wenn es ihn doch eigentlich überhaupt nicht wirklich interessierte, aber ich hatte ja schon lange aufgegeben, Tatsumi verstehen zu wollen und es wäre mir wohl unter jeden anderen Umständen auch vollkommen egal gewesen, nur... ich hatte nicht mehr ewig Zeit. Meine perfekt manikürten Fingernägel zeichneten helle Linien in den Stoff meines Minirocks, während mein Nervenkostüm langsam aber sicher aus dem Fenster hinaus gen Nachthimmel von dannen flatterte. "Was war das noch mal?" "Orthogonalität von Geraden." "Im Raum oder in der Ebene?" "Im Raum. Glaub ich zumindest. Oder bist du da über m1 x m2 = -1 gegangen? Also ich hab da die Sache mit dem Skalarprodukt angewendet, wenn ich mich nicht irre. War eigentlich noch recht einfach. Bei mir waren die Geraden in a) orthogonal, in b) nicht, in c) wieder orthogonal und in d) auch. Aber bei d) war ich mir nicht sicher. Kann auch sein, dass ich mich nur vertippt habe." "Öhm... keine Ahnung... weiß nicht mehr... ich fand die Aufgabe zwei aber auch gleich mal viel schwerer. Wie hast du das gerechnet? Per Taschenrechner mit Matrix nach diesem Schema oder wie?" Ich glaube, sie werden es mir nicht verdenken, wenn ich ihnen den Rest des Gespräches mehr oder weniger erspare, denn der setzte sich sowieso auf ganz genau diese Art und Weise fröhlich immer weiter von Teilaufgabe zu Teilaufgabe, von Ergebnis zu Ergebnis fort - Sie erinnern sich? Wir sprachen von sieben Aufgaben, jeweils unterteilt in a), b), c) und vielleicht auch noch d). Sieben mal vier, das macht (wo wir eh schon mal beim Thema Mathematik angelangt wären...) gut und gern 28 Ergebnisse samt unterschiedlichster Lösungswege und etwa vier Milliarden Möglichkeiten, Fehler zu machen. Bis zur Preisverleihung blieben mir allerhöchstens noch drei, vier Minuten. Verstehen Sie nun so langsam, worauf ich hinauswill? Ich war gefangen, wirklich und wahrhaftig gefangen und ich begann ganz allmählich zu begreifen, das mein einziger Fluchtweg wohl so bald nicht mehr begehbar sein würde. Wie gesagt, ich hatte keine Uhr, doch die Sekunden schienen im Inneren meines Kopfes mit wahrhaft brachialer Lautstärke hinfort zu ticken. Meine Stiefel klebten heiß und feucht auf meiner Haut. Ich erschauderte. Die Zeit lief mir davon und ich sah keinerlei Möglichkeit, aus dieser tödlichen Falle entkommen zu können. Ich erkannte meine Blindheit erst, als es beinahe schon viel zu spät war. Und selbst dann, als in tiefster Nacht ein einzelner, blässlicher Lichtstrahl auf mein müdes Haupt herabzuschweben schien, verschwendete ich noch einige kostbare Sekunden mit vollkommen überflüssigem Zögern. Wie mache ich Ihnen diese Situation jetzt am Besten begreiflich? Also gut... stellen Sie sich einmal vor, Sie sind mitten im tiefsten Urwald und Sie haben keine Waffe. Sie sind allein. Es ist dunkel, Nacht. Und dann, während Sie so einsam und verlassen durch die Finsternis irren, da hören sie plötzlich Geräusche im Blattwerk um Sie herum. Dann ein Knurren. Und im nächsten Moment begreifen Sie, dass es mordlüsterne Raubtiere sind, die Sie umzingelt und eingekreist haben. Keine sonderlich schöne Situation, nicht wahr? Und dann, plötzlich - plötzlich sehen Sie Licht. Einen Feuerschein, irgendwo zwischen den Bäumen. Sie wissen nicht, woher genau dieser Feuerschein kommt, was Sie dort erwartet... wer Sie dort erwartet, aber dieser eine mickrige Feuerschein ist nun einmal dummerweise das Einzige, was sie überhaupt noch haben. Die Raubtiere kommen näher, von allen Seiten. Was tun? Der einzige Weg führt über die Bäume, die Sie umgeben. Diese müssten Sie nur eben erst einmal sicher erklimmen, schnell genug zudem, dass keiner Ihrer Jäger Sie och am Bein erwischen und in den sicheren Tod hinabreißen kann. Und die Äste über Ihrem Kopf, die sehen auch nicht gerade Vertrauen erweckend aus. Eher ein bisschen morsch. Gut - an manchen Stellen gibt es auch überhaupt keine Äste mehr. Nur Lianen, aber da müssten Sie halt ein bisschen springen. Dumm nur, dass Sie bei einem möglichen Sturz mehr als nur der eine oder andere Knochenbruch erwarten würde... Vielleicht halten Sie diesen Vergleich für ein klein wenig abstrakt, aber ich schwöre Ihnen, ganz genau so und nicht anders habe ich mich in jenem schicksalhaften Moment gefühlt, als ich den Kopf hob und mit einem Mal einen schwachen, milchigen Lichtschein wahrgenommen habe. Oder besser gesagt: Den schwachen, milchigen Lichtschein einer Straßenlaterne, der durch ein kleines Fensterchen über der angrenzenden Kabine in den Raum fiel. Die Erkenntnis war derart überwältigend, dass ich erzitterte. "Warum hast du Punkt B als Stützpunkt genommen?", drang es von der anderen Seite der Türe an mein Ohr. "A war viel leichter. Hat doch immerhin die x2-Achse geschnitten." "Vielen Dank für den Hinweis, Tatsumi, im Nachhinein is mir das auch aufgefallen. Aber waren die Geraden im b)-Teil wirklich windschief?" "Hm... möglich... bei mir waren sie jedenfalls parallel." Ich schluckte. Meine Hände waren von einem gewissen zittrigen Eigenleben erfüllt worden, was mein Unterfangen natürlich nicht unbedingt einfacher machte. Genauso wenig wie die überaus grausame, aber leider Gottes unumgängliche Tatsache, dass gut zehn Zentimeter hohe Absätze wohl nicht unbedingt zum Klettern konzipiert worden sind. Haben Sie sich jemals gefragt, warum unsere nächsten Anverwandten, die Affen, eigentlich keine Abendgarderobe mit Stöckelschuhen tragen? Versuchen Sie mal, in selbiger stilvoller Bekleidung einen Baum zu erklimmen, dann verstehen Sie's. Das, müssen Sie wissen, ist das Geheimnis der Evolution. Na gut - ich hatte es zugegebenermaßen nicht mit einem Jahrtausende alten Urwaldriesen, aber doch zumindest mit der überaus glatten Steilwand einer Schultoilettenkabine zu tun, und dabei stand mir weder Steigeisen noch Sicherungsseile zu meiner persönlichen Verfügung. Alles was ich hatte war eine Porzellantoilette der etwas älteren und etwas unappetitlicheren Sorte (ohne Deckel, versteht sich, aber was erwartet man schon von einer Schultoilette?!), ein reichlich labil dreinblickender Papierhalter aus Holz und etwas klapprigem Metall und meinen ureigenen Mut der Verzweiflung. Nicht viel, sicherlich, aber trotzdem musste es reichen. Mit einem letzten tiefen Atemzug streckte ich meine Finger nach der oberen Kante des Plastikwalles aus und erreichte sie gerade so weit, um keinen sicheren Halt daran finden zu können. Ich verzog das Gesicht. So weit, so gut - der erste Schritt meines mehr oder minder gut durchdachten Planes war also schon einmal auf reichlich unspektakuläre Weise in die Hose gegangen. Noch kein Grund zur Verzweiflung, sicher, vielmehr eine stumme Aufforderung zu einem Risiko, das ich zunächst einmal nicht einkalkuliert hatte. Ich spannte meinen Körper, machte einen Schritt nach vorne und platzierte dann in wilder Entschlossenheit meinen rechten Fuß auf dem gräulich weißen Rand der Toilettenschüssel. Nun war Eile geboten. Ich hatte zwar schon so eine etwaige Vorstellung davon, wie meine kleine, aber doch alles entscheidende Kletterpartie würde ablaufen müssen - das war aber auch schon alles. Übrig blieb eine ganze Menge an blind eingeführten Konstanten und Unbekannten, von nicht kalkulierbaren Risiken und Anforderungen, deren Erfüllbarkeit ich beim besten Willen nicht einzuschätzen wusste. Und wissen Sie, was das Schlimmste von allem war? Es musste schnell gehen. Verflucht schnell. Und das lag nicht etwa nur daran, dass ich mir nun wirklich nicht sicher war, wie lange der morsche Toilettenpapierhalter mein Gewicht wohl tragen konnte, nein... was ich zu vollbringen hatte, war ein Kunststück an Geschicklichkeit, an Balance und an Kräften, über die ich vielleicht noch nicht einmal wirklich verfügte. Meine Flucht hatte sich in einer einzigen, durch und durch stimmigen Bewegung zu vollziehen. Ich durfte nicht zögern, durfte nicht innehalten, um den nächsten Schritt zu überdenken. Jedes Zögern musste unweigerlich den freien Fall nach sich ziehen. Jeder Fall verursachte ebenso unweigerlich Krach. Krach erregte Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit war nun wirklich das, was ich mir in dieser Situation am wenigsten erlauben konnte! Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle noch einmal, was um alles in der Welt solch einen Aufwand, solch ein Risiko und solche Umstände gerechtfertigt hätte. Warum ich nicht einfach die Toilettentüre geöffnet und Tatsumi mein kleines Missgeschick erklärt habe. Oder auch nicht. Denn einmal ganz davon abgesehen, dass sich doch jeder Mal in der Wahl des stillen Örtchens irren konnte (ist Ihnen das vielleicht auch schon mal passiert?), was war ich Tatsumi denn eigentlich schuldig? Eine Rechtfertigung? Ganz bestimmt nicht! Gut, Tatsumi hatte mir geholfen und dafür war ich ihm ja auch wirklich dankbar und... also schön, ich hatte wohl in den letzten Tagen gelernt, ihn ein ganz kleines bisschen weniger unsympathisch zu finden, aber trotzdem... Er war es immerhin gewesen, der sich auf mich eingelassen hatte, nicht umgekehrt! Wenn er danach nichts mehr von mir wissen wollte, konnte es mir doch eigentlich nur recht sein. Und außerdem, was hatte ich schon zu befürchten? Nicht ich war es, der sich bei der ganzen Aktion blamieren würde, sondern Jessie. Jessica Maguire, eine fiktive Figur, die auch dementsprechend gar nicht über so etwas wie ein Schamempfinden verfügen konnte, kurzum: Ich hatte an und für sich keinen Grund, diese gottverdammte Toilette nicht einfach wieder auf demselben Weg zu verlassen, auf dem ich sie betreten hatte. Und trotzdem tat ich es nicht. Jetzt, wo ich hier sitze, schreibe und darauf zurückblicke, begreife ich natürlich viel mehr als damals, was in diesen seltsamen Augenblicken in mir vorgegangen ist. Im Nachhinein wird alles so viel logischer, was erst einmal überhaupt keinen Sinn ergibt. Es ist viel passiert seit jenem denkwürdigen Abend in der Schulturnhalle, sehr viel, was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal habe ahnen können. Und vielleicht war das auch ganz gut so. An all diese Dinge verschwendete ich natürlich nicht auch nur den geringsten Gedanken, als ich mit meinen eng eingepferchten Zehen nach dem optimalen Halt auf dem Porzellanrund suchte, ihn natürlich nicht fand und mich so schließlich doch mit einer zumindest halbwegs akzeptablen Illusion von Sicherheit zufrieden gab. Ich federte einige Male mit meinem bodenständig gebliebenen Bein, machte probehalber einen kleinen Satz - und hielt dann doch noch einmal inne. Die Distanz schien mir mit einem Mal so... wie soll ich sagen? Unüberwindlich. Gigantisch. Fast schon größenwahnsinnig für so eine lächerlich schmale Schultoilette, die ja eigentlich doch keiner so recht beachtete und schon gar niemand zu schätzen wusste. Meine Beine zitterten, als ich mich dann endlich doch zusammenriss, mir noch ein letztes Mal mein glorreiches Ziel vor Augen führte und jeden Muskel in meinen Körper bis zum Äußersten anspannte. Und genau das war es, was mir beinahe das Genick gebrochen hätte. Mein Absprung war nicht perfekt. Die Spitze meines Stiefels rutschte leicht zur Seite weg und spontan verfiel ich in Panik. Stellen sie sich bitte einmal vor, mit ihren besten Schuhen in der wohl am längsten schon nicht mehr renovierten Toilette Ihrer Schule festzustecken. Und dann stellen Sie sich vor, ihre Schule zählt an die zweitausend Schüler, von denen gut die Hälfte männlich ist. Vielleicht verstehen Sie jetzt, was in diesem Augenblick in mir vorgegangen ist. In all meiner verstörten Hast bekam ich die Oberkante der Kabinentrennwand nur noch äußerst knapp zu greifen, und das auf eine reichlich schmerzhafte Art und Weise. Natürlich biss ich meine Zähne zusammen. Natürlich ließ ich nicht los. Aber das hatte ich wohl weniger meiner herausragenden Körperbeherrschung als vielmehr der Angst vor dem drohenden Fall zu verdanken. Mit einem einzigen vehementen Ruck, wie ich selbst ihn mir wohl allerwenigsten zugetraut hatte, riss und stemmte ich meinen Körper nach oben, während ich mit der freien Fußspitze nach dem sicheren Halt des Toilettenpapierhalters angelte. Genau in diesem Moment begann einer jener unkalkulierbaren Faktoren in Kraft zu treten, von denen ich weiter oben bereits gesprochen hatte. Und es war ein unkalkulierbarer Faktor der bösartigsten Sorte, wenn ich das jetzt mal so anmerken darf. Rein physikalisch gesehen hat es vielleicht irgendetwas mit Zentrifugalkräften oder sonstigen Drehbewegungsgesetzten zu tun, keine Ahnung. Physik war in meiner gesamten schulischen Laufbahn immer schon das einzige Fach gewesen, das ich sogar noch ein kleines bisschen weniger verstanden habe als die gute, alte Mathematik und ich habe es bei er ersten Gelegenheit mit Freuden abgewählt. Was auch immer in dieser Situation nun gewirkt haben mag, es zog mir jedenfalls gründlichst den Boden unter dem Fuß hinweg, als es besagten Papierhalter in eine plötzliche, unerwartete Rotationsbewegung versetzte. Ich keuchte auf, und dann vollführte ich ein wahrhaft akrobatisches Kunstwerk, das ich heute selber nicht mehr erklären kann. Ich warf meinen Körper förmlich nach vorne, nutzte die Gunst meines eigenen Schwunges und zog gleichzeitig mit beiden Armen auf der anderen Seite der Plastikwand nach unten. Einen Moment lang hing ich auf groteskeste Weise in der Schwebe zwischen Himmel und Fließenboden, ruderte hilflos mit den Beinen in der warmen Luft herum, während sich die stählerne Oberkante der Kabinenwand auf überaus unangenehme Weise in meine Achselhöhlen bohrte. In einem absurden Zeitlupentempo fühlte ich meinen Halt schwinden, nahm ich ein unaufhaltsames Rutschen meiner selbst wahr, gnadenlos in Richtung der Erde gerichtet... Dies war die Sekunde, in der mir wohl niemand Geringeres als die glühenden Peitschenhiebe des Adrenalins in meinen Adern das Leben retteten. Mehr aus Reflex denn aus planmäßigem Denken heraus zog ich meine Beine an den Körper, suchte zum zweiten Mal Halt auf dem heimtückischen Papierhalter und drückte mich mit aller Kraft nach oben weg. Mein Körper wurde von seinem eigenen Schwung nach vorne gerissen und um ein Haar wäre ich kopfüber geradewegs auf den überaus harten Fußboden der benachbarten Kabine gestürzt. Erst im letzten Moment fand ich mit einem meiner Arme Halt und zwang meine Flugbahn in eine seitliche Richtung, wobei ich einmal mehr meine wahrhaft überwältigende Zielsicherheit unter Beweis stellen konnte: Ich landete nun nämlich geradewegs mit dem Bauch auf dem Rand der Kabine. Der Schlag trieb mir die Luft aus den Lungen und ich konnte nur mit großer Mühe gegen den brachialen Hustenreiz ankämpfen, der spontan von meinem Körper Besitz zu ergreifen versuchte. Doch ich war meinem Ziel schon viel zu nah gekommen, als dass ich es jetzt noch einer derart profanen Banalität wie einem Hustenreiz hätte opfern können, und so presste ich meine Lippen fest aufeinander und zwang mich dazu, ruhig und beherrscht durch die Nase ein- und auf demselben Weg auch wieder auszuatmen. Erst als sich mein Herzschlag und die immer noch empört vor sich hinpochende und -schmerzende Gesamtheit meiner inneren Organe wieder einigermaßen beruhigt hatte und ich mich selbst wieder als wirkliches menschliches Wesen und nicht einfach nur als ein luftleeres Vakuum der Qualen wahrzunehmen vermochte, schwang ich beide Beine über die tückische Trennwand zwischen mir und meiner Freiheit hinweg und ließ mich mit einer wahrhaft erstaunlichen Sicherheit auf den dortigen Boden hinabgleiten. Ich musste mich wirklich beherrschen, nicht lautstark herauzujubeln und so meinen schönen Triumph im allerletzten Moment doch noch in tausend Stücke zu zertrümmern. Ich hatte gesiegt. Das Gesetz der Schwerkraft lag zu meinen Füßen im imaginären Staub der Erde und ich begriff einmal mehr erst im Nachhinein, was für ein unverschämtes Glück ich doch eigentlich gehabt hatte. Nicht nur, dass ich meine halsbrecherische Kletteraktion sogar einigermaßen unbeschadet und geräuschlos über die Bühne gebracht hatte, nein - mir war dieses unzweifelhafte Kunstwerk doch tatsächlich auch noch auf so eine damenhaft dezente Art und Weise gelungen, dass weder Tatsumi noch Thomas etwas davon bemerkt zu haben schien. Mit einem eiligen Satz hechtete ich zur Türe und verriegelte sie, um mir jeglichen unliebsamen Besuch schon im Vornherein zu ersparen, dann gönnte ich mir zwei, drei, vielleicht auch zehn Sekunden, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Von wegen schicksalhafte Verschwörung zu meinen Ungunsten! Ich schien doch tatsächlich mit mehr Glück gesegnet worden zu sein, als ich es mir jemals hätte träumen lassen. Immerhin standen Tatsumi und sein Begleiter ja direkt vor dem Spiegel, und ich hatte natürlich nie zuvor in meinem ganzen schulischen Leben darauf geachtet, ob man in diesem Spiegel auch die oberen Kanten der Toilettenkabinen hätte sehen können. Und stellen Sie sich das jetzt bitte einmal vor: Da stehen Sie (Sie sind in diesem Fall Tatsumi, ich hoffe, das können Sie sich zumindest ein kleines bisschen vorstellen) nichts ahnend vor dem Spiegel des Jungenklos und unterhalten sich gerade vollkommen nüchtern und sachlich über die grausamen Aufgaben ihrer letzten Mathematikklausur, und was sehen Sie da? Das Mädchen Ihrer Träume, mit dem Sie wohl noch die gesamten vergangenen Stunden vor sämtlichen Freunden lautstark angegeben haben. Ja, genau das haben Sie gemacht, leugnen ist zwecklos. Vergessen Sie nicht - Sie sind Tatsumi! Und in der überaus glücklichen Lage, dass einer dieser Freunde grad und im Augenblick neben ihnen steht und ihre viel umschwärmte Traumfrau (na ja...) gleich und auf der Stelle bewundern kann. Oder besser gesagt: Ihre Traumfrau, wie sie gerade keuchend, prustend und schnaufend über Toilettenschüsseln und Klopapierhalter hüpft, nur um sich dann mit einer mehr oder weniger eleganten Rolle vorwärts in die Nachbarkabine zu stürzen, den Rock knapp bis zum Gürtel hochgerutscht und die in sexy Stiefel gewandeten Beine unkontrolliert durch die Luft rudernd. Denken Sie an Tatsumi, denken Sie an Tatsumis Freunde und dann öffnen Sie ihr Bewusstsein, um auch nur eine vage Ahnung von der Dimension dieser unermesslichen Schande bekommen zu können, die diese groteske Turnaktion meinerseits für den guten Tatsumi bedeutet hätte. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, wäre es das ja beinahe schon wieder Wert gewesen. Andererseits habe auch ich meinen Stolz und mein Recht auf Privatsphäre, zu der unter anderem auch Farbe und Beschaffenheit meiner Unterhosen zählen, und so war ich im Endeffekt doch ganz froh darüber, dass keiner der beiden Jungen ob ihrer immer noch recht mysteriösen, klappernden Tätigkeit den Kopf gewandt oder einfach nur mal genauer in den Spiegel geblickt hatte. Wie ich zumindest hoffte. Mit klopfendem Herzen und immer noch leicht wackligen Knien tastete ich mich bis zur Kabinentüre vor, legte meine Wange an die raue Plastikfläche und lauschte. "... ergibt das Skalarprodukt Null und die Gerade ist orthogonal zur Ebene", drang es gedämpft von der anderen Seite der vollgekritzelten Barriere zu mir durch. Das Blut in meinem Körper rauschte so laut, dass ich Mühe hatte, Tatsumi überhaupt noch verstehen zu können. Oder war es nur wieder das Rauschen des Wasserhahns? Ich wusste es nicht. In all meinem Triumph war ich seltsam verwirrt und verharrte so sicherheitshalber noch einige weitere Augenblicke in meiner lauschenden Stellung. "Scheiße, ich hab bei v2 nen Vorzeichenfehler!" stieß Thomas in weitaus heftigerer Weise hervor, als ich das angesichts einer Mathematikaufgabe für angebracht gehalten hätte. "Bei mir war die b) orthogonal und nicht die a)!" Ich atmete auf. Alles war gut. Was mir jetzt noch zu tun blieb schien nahezu lächerlich einfach angesichts jener meterhohen Hürde, die bereits hinter mir lag, und so war ich eigentlich recht guten Mutes, als ich mich wieder von der Türe abwandte und auf das kleine lichte Viereck des Fensterchens zutrat. Alles, was mir jetzt noch zu tun blieb, war die doch eigentlich recht simple Aufgabe, von der etwas weniger morbid anmutenden Toilettenschüssel dieser Kabine hinauf zu dem schmalen Weg ins Freie zu klettern, mich hindurchzumanövrieren und dann im Dunkel der Nacht zu verschwinden... nein, durch das Dunkel der Nacht zurück in die glitzernde kleine Glamourwelt der Turnhalle zurückzuhasten. Eigentlich halb so wild. Glaubte ich. Ist es nicht wirklich ganz rührend, wie unglaublich naiv Menschen manchmal sein können? Ich meine, ich war ja irgendwie nie so der Typ Junge, der sich von vorne bis hinten gnadenlos überschätzt, nein, wirklich nicht. Ich würde sogar fast schon so weit gehen zu behaupten, über eine recht realistische und objektive Einschätzung meiner Person und meiner Fähigkeiten, meiner Stärken, aber eben auch meiner Schwächen zu verfügen. Und wenn man jetzt mal ganz ehrlich ist, dann war es auch gar nicht meine Schuld, was passiert ist. Ich hatte es nicht ahnen können. Ich habe doch nicht gewusst, wie schlimm es tatsächlich um die konspirative Grausamkeit der Schicksalsmächte bestellt war. Dabei gestaltete sich der Anfang vom Ende doch eigentlich weitaus einfacher, als es ich es zunächst noch angenommen hatte. Ich hatte kaum Mühe damit, auf dem diesseitigen Porzellanrund mehr oder minder sicheren Halt zu finden. Auch das Hochstemmen gestaltete sich als weit weniger kompliziert, als ich das zuerst befürchtet hatte, denn das Toilettenfenster war ein bisschen niedriger gelegen als die Oberkante der Trennwände, sodass ich mich gut daran festhalten konnte. Mein wochenlanges hartes Training für die Cheerleadernummer hatte mir wohl tatsächlich so etwas Ähnliches wie Beinmuskeln verschafft, denn es gelang mir schon beim ersten Versuch, mich so weit nach oben abzudrücken, dass ich mit dem Oberkörper über den Fenstersims hinweg ins Freie robben konnte. Meine Sorge, wie ich wohl einen Abstieg per Rolle vorwärts würde vermeiden können, sollte sich schon wenige Sekunden später erübrigen, und wieder war es ein Lichtschein in der Finsternis, der mir ganz unvermittelt zu Hilfe eilte. Oder besser gesagt: es war die zugehörige Straßenlaterne, die sich beinahe unmittelbar neben der rückseitigen Wand der Turnhalle, oder genauer gesagt direkt zu meiner Rechten befand, und die ich auch bequem mit den Armen umfassen konnte. Ich jubelte innerlich und streckte meine Finger nach dem fleckig silbernen Metall des futuristisch kahlen Lichtbringers aus. Vorsichtig zog ich meine Beine hinter mir her, hielt die Luft an und zwängte mich mit einiger Mühe durch das schmale Viereck. Ich muss in diesem Moment an irgendetwas Lustiges oder zumindest recht Amüsantes gedacht haben, denn ich weiß noch, dass ein Lächeln auf meinem Gesicht lag, während ich mich zum Sprung bereit machte. Das war ja gerade das Groteske an der ganzen Sache. Ich stürzte mich lächelnd ins Verderben. Direkt hollywoodreif, finden sie nicht? Ah, ich glaube, ich erinnere mich sogar wieder daran, was mich denn so erheitert hat, etwas ganz Banales. Es waren die beiden verschlossenen Türen gewesen, genau, diese beiden lächerlichen verschlossenen Türen, die als letzte Opfer meines kleinen Heldentrips zurückgeblieben waren. Ich habe mir nämlich das Gesicht unserer Putzfrau vorgestellt, wie sie da so am nächsten Morgen in die Jungentoilette spaziert und zwei der Kabinen verschlossen, aber leer vorfindet. Und glauben Sie mir, das war ein ganz verflucht dummes Gesicht, das sich da vor meinem inneren Auge aufgebaut hatte, begleitet von einer Horde absurdester Verschwörungstheorien, die unsere gute alte Reinigungskraft zur Erklärung dieses fast schon übersinnlichen Phänomens wohl herbeiziehen würde. Von dieser sinnlosen kleinen Heiterkeit beflügelt verstärkte ich den Griff um die Straßenlaterne noch ein kleines bisschen, krabbelte die letzten Zentimeter über das Fensterbrett hinweg und zog mich dann mit einem Satz hinaus ins Freie. Und - siehe da! - ich schien doch tatsächlich trotz meiner Hast alles richtig berechnet zu haben, denn ich blieb nirgendwo hängen, ich strauchelte auch nicht und ich verlor nicht das Gleichgewicht. Ich hüpfte in einem schönen, gleichmäßigen Bogen (höchstwahrscheinlich eine Parabel!) in die Nacht hinaus und landete exakt auf meinen beiden Füßen. Und genau das war der Fehler. Aller motorischen Perfektion zum Trotz kam ich nämlich keineswegs sicher zum Stehen. Der Beton war glatt, ohne jegliche Risse, jede Rille, und trotzdem schien sich mein Schuh in irgendetwas zu verkeilen, raubte mir binnen weniger Sekundenbruchteile den sicheren Halt und ließ mich mit einem erstickten Kreischen halbschräg nach hinten Taumeln. Das alles geschah irgendwie so dermaßen plötzlich, dass ich auch gar nicht mehr wirklich darauf reagieren konnte. Ich glaube, ich habe trotzdem noch mit beiden Armen in der Luft herumgefuchtelt, so als ob da irgendwas gewesen wäre, woran ich mich hätte festhalten können. Was natürlich nicht der Fall war. Ich rang und kämpfte und strauchelte und griff doch nichts als Leere. Ja, und dann fiel ich. Warum sollte ich es auch irgendwie beschönigen? Ich machte noch so eine merkwürdige Halbdrehung nach Rechts, bevor ich auf überaus unsanfte Weise nähere Bekanntschaft mit unserem Schulhofboden machen durfte. Ich kam immer noch auf dem Rücken auf, nicht auf dem Ellenbogen oder der Schulter, wo ich mich wirklich hätte verletzen können. Nein, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hat der Aufprall selber eigentlich gar nicht so wirklich wehgetan. Ich habe mich nirgendwo aufgeschürft, nicht richtig geprellt und mir schon gar nichts gebrochen. Das wahre Ausmaß der Katastrophe wurde mir erst bewusst, als ich aufzustehen versuchte. Zuerst verlief alles wie gehabt, ganz normal. Ich stieß einige Flüche hervor, die ich hier jetzt besser gar nicht wiedergeben will, dann stemmte ich beide Hände gegen den Boden, setzte die Fußsohlen auf und drückte mich hoch. Und tatsächlich - ich stand. Ich stand sogar wirklich sicher. Ich kippte nicht etwa gleich wieder um, wie sie das vielleicht jetzt vermutet haben, nein, es tat sich nicht einmal die Erde unter meinen Füßen auf, um mich in irgendeine Hölle der Folter und Qualen hinab zu reißen. Es ist wie es ist, ich stand. Nur leider stand ich schief. Oder auch nicht wirklich schief, mehr - abschüssig. Es ist schwer zu beschreiben, ich war eben einfach auf der linken Seite ein bisschen größer als auf der rechten, oder umgekehrt, rechts kleiner als links. Wie auch immer. Ich musste tatsächlich einige Sekunden in dieser grotesk unsymmetrischen Art und Weise dastehen und blöd in die Nacht hineinglotzen, bevor ich überhaupt erst mal begriff, was tatsächlich geschehen war. Oder vielleicht war es auch nur der Anblick jenes kleinen, schwarzen Etwas, das da so dunkel und unscheinbar knapp einen Meter neben mir auf dem monotonen Einheitsgrau des Bodens lag. Absurderweise erkannte ich es sofort, wirklich, auf den ersten Blick, obwohl es doch eigentlich nur klein und schwarz und dunkel und unscheinbar war. Und obwohl Sie jetzt vielleicht nicht ganz verstehen werden, was dieser Anblick in diesem Moment für mich bedeutete... es war, als würde meine ganz private Welt binnen weniger Sekundenbruchteile zu einem riesengroßen Scherbenhaufen zusammenbrechen. Können Sie sich das vorstellen? Eben schien noch alles so einfach, so fast schon überwunden, so... so... ich weiß es nicht, positiv auf jeden Fall, und dann - bumm! - ist alles kaputt. Einfach so. Und dabei war doch eigentlich nur einer meiner Absätze abgebrochen. Wie gesagt - es ist wohl wirklich schwer nachzuvollziehen, wenn man es nicht selber und am eigenen Leib erlebt hat, glaube ich. Da fällt mir wieder so eine kleine Story zu dem Thema ein, dass Sie es sich vielleicht besser vorstellen können. Es war zu einer Zeit, wo ich gerade immer sehr viel für die Schule zu tun hatte, viele Klausuren und so, Mum ging es auch nicht so gut... keine gute Zeit eben. Das ist ja auch so ein seltsames Phänomen, vielleicht ist es Ihnen schon einmal aufgefallen, geht glaub ich jedem so. Es gibt ja immer Wochen, wo irgendwie alles schief läuft und einfach nur stressig ist und wo sie selbst das Wetter immer nur zu ärgern scheint. Entweder ist der Himmel grau, wenn Sie eigentlich ein wenig Aufmunterung gebrauchen könnten, oder er strahlt sie so blau und weit und nervig gut gelaunt an und geht ihnen damit einfach nur ganz gewaltig auf den Geist. Jedenfalls ist mir mal aufgefallen, dass man sich in diesen Wochen immer so furchtbar einsam fühlt. Und das liegt nicht nur an der Anonymität der Großstadt oder ähnlichen Phänomenen, nein, weil es ja dann auch immer wieder Zeiten gibt, in denen man sich eben nicht so unglaublich einsam fühlt, dabei sind doch eigentlich immer gleich viele Menschen auf der Erde (plus oder minus, versteht sich). In einer dieser Wochen, in der es ganz besonders schlimm war mit dieser Einsamkeits-Geschichte und ich eh schon nix Besseres zu tun hatte als zu lernen und im Weltschmerz zu versinken, da bin ich irgendwann mal von der Schule heimgelaufen und war nicht gut drauf. Ich hab etwa tausendmal hin- und hergerechnet, weil ich einige sehr, sehr wichtige Klausuren in den nächsten Tagen hatte, aber eben auch Mittagsschule und natürlich noch meinen Job bei Beef and Drive und ich sah einfach keinen Ausweg, wie ich das alles schaffen sollte. Beinahe hätt ich's gar nicht bemerkt und wär einfach daran vorbeigelaufen, einfach so. Vielleicht wäre das auch besser gewesen, aller Lebensgefahren zum Trotz, die mich dann eventuell erwartet hätten. Es war nämlich so, dass ausgerechnet auf dem Weg zwischen meinem Zuhause und meiner Schule eine Straße aufgebessert werden sollte und deshalb der Durchgang für Fußgänger gesperrt war. Da hing ein großes, kreisrundes Schild mit einem dicken roten Rand und einem schwarzen Männchen in der Mitte und darunter ein Pfeil, der nach Rechts in eine kleine Seitengasse hineindeutete. Ich glaube, ich habe dieses verfluchte Schild etwa fünf Minuten lang einfach nur angestarrt, fassungs- und hilflos zugleich. Dann habe ich zwei Schritte darauf zugemacht, bin stehen geblieben und habe es wieder angestarrt. Stellen Sie sich das jetzt bitte einmal so bildlich wie möglich vor: Ich war, wie gesagt, ganz allein... einsam. Ich fühlte mich furchtbar, den ganzen Tag schon. War müde. Erschöpft. Hatte einen riesengroßen Berg an Aufgaben und Prüfungen vor mir, den zu bewältigen ich mich ja sowieso schon nicht wirklich imstande fühlte. Eigentlich wollte ich einfach nur nach Hause, mich zumindest für zehn, zwanzig Minuten noch vor den Fernseher legen und sinnlose Sendungen ansehen und mich mit Schokolade über mein grausames Schicksal hinwegtrösten. Und dann war da dieses Schild. Dieses grausame, brutale, erbarmungslose Schild, das mich in irgendwelche mehr oder minder unbekannten Gefilde treiben wollte, einfach so, ohne mich vorher zu fragen. Und ich wollte nach Hause. Kein großer Wunsch, aber doch mit einem Mal so weit entfernt, weil irgendein herzloser Mensch da ausgerechnet an diesem Tag und an dieser Stelle ein großes und hässliches Schild aufgestellt hatte, das mir den Durchgang verbot! Dabei wusste ich doch schon so nicht, wie ich alles schaffen sollte, wie, wann, mit welchen Kräften, die ich ja jetzt schon nicht mehr gehabt habe... Ich schwöre Ihnen, ich war in diesem Augenblick so unwahrscheinlich verzweifelt, dass ich den ganzen verfluchten Heimweg über leise vor mich hingeheult habe, dabei waren es im Endeffekt wohl kaum mehr als zehn Minuten, die ich dann tatsächlich länger gebraucht habe. Aber ich glaube trotzdem, dass mir an diesem einen Tag nichts Schlimmeres hätte passieren können als dieses eine simple Schild, das doch eigentlich nur dazu dienen sollte, einer alten Straße ihre wohl verdiente Notoperation zu gewähren. In etwa von demselben tragischen Ausmaß war auch das Abbrechen meines Absatzes in diesen ohnehin schon so knapp bemessenen Minuten, ja vielleicht eigentlich nur Sekunden, die mir vor meinem ersten großen Abend noch geblieben waren. Ich kann eigentlich nicht einmal wirklich sagen, was genau daran jetzt so katastrophal war, echt nicht. Es war irgendwie nicht nur die Tatsache, dass gerade eben meine Lieblingsschuhe... oder besser gesagt: dass Jessies Lieblingsschuhe kaputt gegangen waren... das auch. Es war eben einfach dieses... dieses... dieses Wissen darum, jetzt und sofort auf der Bühne stehen und perfekt sein zu müssen, dass ich wahrscheinlich eh schon viel zu spät dran war und rennen und eilen und dabei immer noch bezaubernd aussehen und weiterkommen musste und... und... Und dass ich das alles nicht konnte, weil mein verfluchter Absatz abgebrochen war! Ich war verzweifelt. Hilflos. Paralysiert. An und für sich gerade die falsche Reaktion, denn ich hätte mich ja, wie gesagt, beeilen müssen... tat ich aber nicht. Stattdessen ging ich vor meinem teuren verloren Freund (dem Absatz) in die Knie, hob ihn behutsam mit meinen leicht zittrigen, perfekt manikürten Händen auf und starrte ihn an. Das war alles. Einer der wichtigsten Augenblicke meines Lebens war kurz davor, ohne meine Anwesenheit vorüberzugehen, und ich hatte nichts Besseres zu tun, als auf dem Boden zu sitzen und ein abgebrochenes Stück Plastik anzustarren! Vielleicht wär der Abend wirklich ohne mich vorübergegangen, vielleicht säße ich ja heute immer noch genau dort an jener Stelle, wenn mich nicht mit einem Mal etwas aus meinen Gedanken... oder besser gesagt: aus meiner gedanken- und gefühlslosen Starre gerissen hätte. "Hey, sag mal, kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?" So apathisch und geistesabwesend ich eben noch gewesen war, so ruckartig fand ich mich nun in die Realität zurückgerissen, und ich muss zugeben - ich hab mich verflucht noch mal ganz gewaltig erschrocken, als ich mit einem Mal diese Stimme hinter mir gehört habe. Ich zuckte zusammen und blickte auf, geradewegs in das lächelnde Gesicht eines jungen Mannes. Er hatte schwarze Haare, recht kurz, dabei aber so unwahrscheinlich chaotisch und verstrubbelt, wie ich das selten zuvor bei einem Haarschopf gesehen hatte. Auch sonst hatte der Fremde etwas... wie soll ich sagen? Er hatte etwas leicht Wirres an sich, allerdings auf eine, ja, irgendwie charmante Art und Weise. Trotzdem wusste ich nicht, was ich sagen sollte. "Ich... ich..." stammelte ich und streckte in all meiner verbalen Hilflosigkeit meine Hände samt Absatz nach vorne. Der Junge warf nur einen kurzen Blick auf das kleine dunkle Fragment, runzelte kurz seine Stirn und fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar, woraufhin es sogar noch ein kleines bisschen ungeordneter wirkte als zuvor. Dann nickte er kurz und lächelte wieder. "Hast Glück gehabt, schöne Unbekannte!" grinste er und kramte kurz in der Tasche seines leicht abgewetzten Cordjacketts herum. Als er seine Hand wieder hervorzog, klemmte eine kleine, rot-blaue Tube zwischen seinen Fingern. "Aber... was..." Ich zog fragend beide Augenbrauen hoch. Der Fremde lachte. "Sekundenkleber! Ich sage ja, Glück gehabt. Hab grad heute was an meinem Fahrrad repariert." Er streckte mir die kleine, etwas verbeulte und verknickte Klebertube mit einer auffordernden Geste entgegen. "Da, nimm!" "Ja... aber... ich... ich kann doch nicht..." "Kannst du doch", zwinkerte er mir zu. "Wie heißt du?" "Ähm... Jessie.... Jessica", antwortete ich, während sich mein Geist immer noch in einem merkwürdigen Zustand der Verwirrung befand. Es ist schwer zu erklären, was in diesen Augenblicken in mir vorging... wahrscheinlich gar nichts. Das war alles so... so unreal, diese ganze Begegnung. Wenn es mir nicht selber passiert wäre, ich hätte es wahrscheinlich gar nicht glauben können. Ich glaube es ja so schon kaum und manchmal bin ich mir selbst jetzt noch nicht ganz sicher, ob ich mir die ganze Sache nicht einfach nur eingebildet und den Kleber irgendwo auf dem Boden gefunden habe. Das ist doch wirklich die unwahrscheinlichste Sache von allen Sachen auf der ganzen Welt, meinen Sie nicht? Da brechen Sie sich auf ihrer Flucht aus der schuleigenen Jungentoilette bei einem Sprung aus knapp zwei Metern Höhe (eher weniger) den Absatz ihrer Lieblingsstiefel ab, wo sie doch eigentlich grad ganz dringend zu der Preisverleihung eines lebenswichtigen Schönheitswettbewerbes müssten und dann... dann... dann kommt plötzlich ein rettender, chaotischer Engel aus dem Nichts zu Ihnen herabgeflattert und hält Ihnen eine leicht mitgenommen aussehende Tube Sekundenkleber unter die Nase. Sie müssen zugeben, das passiert einem zumindest nicht alle Tage, und so ist es nur allzu verständlich, dass ich erst einmal völlig verwirrt war. "Hey, du kannst ja doch noch was anderes sagen als ,ich' und ,aber'", lachte besagter Engel und strahlte mich dabei so unglaublich entwaffnend an, dass ich mich nicht einmal über seinen misslungenen Witz aufregen konnte. Dann legte er die Tube neben mir auf den Boden und stand auf. "Ich heiße übrigens Mike, Jessie. Gehst du auf diese Schule?" "Ähm... ja... nein... eigentlich nicht..." murmelte ich. Mike nickte wissend. "Ich verstehe schon. Hier ist doch heute dieser Schönheitswettbewerb, hab ich in der Zeitung von gelesen. Jetzt bin ich im Bilde, glücklich und zufrieden. Jessica, richtig? Sehr gut. Du hörst von mir!" Er strich sich noch einmal durch seine... Frisur, nickte mir kurz zu und wandte sich dann wieder in die entgegengesetzte Richtung zur nächtlichen Skyline hin. "Also, ich hab's eilig, die U-Bahn wartet leider nicht mal auf mich. Man sieht sich!" "Aber..." Mit einem letzten Lachen und bevor ich auch nur die Andeutung eines weiteren intelligenten Satzes hervorbringen konnte war mein Chaosengel auch schon wieder davongelaufen und ich konnte nichts anderes tun als dabei zuzusehen, wie seine schlanke Gestalt in den Schatten der Straßenschluchten verschwand. Das war meine erste Begegnung mit Mike, und wenn ich jetzt daran zurückdenke, frage ich mich manchmal was geschehen wäre, wenn dieser eine verfluchte Absatz nicht abgebrochen wäre und ich diese Sekundenklebertube überhaupt nicht benötigt oder zumindest nicht angenommen hätte. Es ist natürlich müßig, darüber nachzudenken, aber vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Das und noch viele andere Dinge konnte ich in dieser schicksalhaften Nacht natürlich noch nicht einmal ansatzweise ahnen, das kann man ja eigentlich nie so im Vornherein. Ich konnte auch nicht ahnen, dass ich Mike sogar weitaus schneller und auf eine vollkommen andere Art und Weise wiedersehen sollte, wie ich es mir wohl jemals hatte vorstellen können. Vorausgesetzt, ich hätte in diesen seltsam paralysierten Sekunden überhaupt einen Gedanken in Richtung Zukunft verschwendet, was ich nicht tat. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Fortsetzung folgt! Kapitel 5: Part V - Stigmata ---------------------------- Alle Jahre wieder... setzt sich Yu-chan an den PC, um ein neues PredElection-Kapitel zu schreiben. Wenn denn nicht mal wieder das Abi oder sonstige Kleinigkeiten dazwischenkommen. Sei's drum, jetzt ist ja wie bekannt die Freiheit angebrochen und mich überkam ganz plötzlich das unwiderstehliche Verlangen, wieder mal dem guten Jesse Maguire meine geheiligte Tastatur zu überlassen. Das Ergebnis ist zwar recht kurz (nur elf Seiten... O_O), aber ich musste einfach an genau dieser Stelle Schluss machen! Die Arbeit an diesem Kapitel war einfach traumhaft... das Schreiben fiel mir streckenweise so unglaublich leicht, es war einfach wundervoll. Sogar der Titel stand von Anfang an fest, ist das nicht toll? Zumal nun endlich mein persönlicher Liebling Tatsumi ein bisschen im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen darf... ^.^ Ich bin gespannt, was ihr von all dem haltet und hoffe, ihr lest alle weiter, auch wenn ich so fürchterlich langsam bin. ^^; Viel Spaß beim Lesen! DAISUKI! Wissen Sie, ich habe mich nie sonderlich für Sport und derartige Dinge begeistern können. Mein Körper existierte meiner Meinung nach eben eher zu dem Zweck, von mir in stylische Klamotten gesteckt, mit allen möglichen Ketten und Gürteln und Nietenarmbändern behangen und mit diversen, meist schwarzen Schminkutensilien angepinselt zu werden als für solch profane Dinge wie... einen Ball über staubige Plätze zu treten. Oder sich in allen möglichen und unmöglichen Verrenkungen um irgendwelche Holz- und Metallstangen zu winden. Oder ein ums andere Mal über den langweiligen torfroten Boden eines Stadions zu laufen, der nach der vierten, fünften Runde auch nicht unbedingt spannender wurde, und mir von dem strahlenden Lachen der Sonne Stirn und Nacken versengen zu lassen. Ja, drücken Sie es ruhig in weniger romantischen Worten aus, wenn ihnen der Sinn danach steht: Ich war verflucht noch mal sehr, sehr unsportlich, und wären da nicht jene knochenharten Trainingsstunden für unser alptraumhaftes Cheerleadertänzchen gewesen, ich hätte wohl irgendwo auf halbem Wege zwischen Schulhof und Turnhalle ganz einfach einen Herzinfarkt erlitten und von der ganzen Veranstaltung so oder so nichts mehr mitbekommen. Meine Güte, was bin ich gerannt! Kein vom Leibhaftigen Verfolgter hätte es an diesem einen Abend mit mir aufnehmen können, das schwöre ich ihnen. Und nein, diesmal übertreibe ich nicht, auch wenn es sich vielleicht danach anhören mag. Weder meine halsbrecherisch hohen Absatzschuhe noch das sehr bald aufflackernde Seitenstechen konnten sich zwischen mich und meinen weltrekordverdächtigen Sprint drängen, und ich konnte wirklich von Glück reden, dass ich die Gänge meiner Schule mittlerweile in- und auswendig kannte, denn auf solche nebensächlichen Banalitäten wie Ecken, Kanten, Treppen oder Wegbiegungen konnte ich in diesen so bedeutsamen Minuten nun wirklich keine Rücksicht mehr nehmen! Ich rannte und rannte, den Blick erstarrt und die Muskeln bis zum Zerreißen gespannt, und beinahe meinte ich, ein ständiges lautes Ticken durch meinen Kopf dröhnen zu hören, das mich auf überaus zuverlässige Weise zu immer schnelleren Geschwindigkeiten antrieb. Hätte ich in dieser Situation auch nur ansatzweise klar denken können, dann wäre ich wahrscheinlich auch darauf gekommen, dass es sich dabei nur um den rasenden Schlag meines Herzens handeln konnte, aber da das selbstverständlich nicht der Fall war erschien es mir vielmehr, als ob ich mittlerweile schon körperlich wahrnehmen konnte, in welch riesigen Schritten mir die Zeit davoneilte. Vorausgesetzt, da war überhaupt noch irgendetwas übrig, das mir hätte davoneilen können. Was soll ich sagen? Ich könnte jetzt auch noch etliche Zeilen, wenn nicht sogar mehrere Seiten lang beschreiben, wie ich blind und kopflos durch die nächtlichen Gänge unserer Schule gehastet bin, aber erstens liegt es nicht in meiner Absicht, Sie in irgendeiner Form auf die Folter zu spannen, und zweitens könnte selbst die langgezogenste Rede über dieses Thema nicht einmal ansatzweise beschreiben, welch eine unermessliche Ewigkeit in diesen wenigen Minuten (wenn es denn überhaupt mehrere Minuten waren...) für mich verstrichen ist. Oh mein Gott, was habe ich gelitten! Und wissen Sie, was das Grausamste an all diesem Leiden war? Sie waren umsonst, vollkommen umsonst... sinnlos... und hätten all die Ereignisse dieser Nacht nicht so unglaublich weite Kreise gezogen, ich würde wohl mittlerweile glatzköpfig durch die Weltgeschichte spazieren, so sehr lädt allein der bloße Gedanke daran zum Haare raufen ein. Wenn ich Sie noch einmal daran erinnern darf: Die Gefangenschaft in unserer schuleigenen Jungentoilette war natürlich keineswegs spurlos an mir vorübergegangen, immerhin hatte ich Todesängste ausgestanden und am Ende bei dieser waghalsigen Kletteraktion nicht nur Kopf und Kragen, sondern auch meine nackte Ehre riskiert. Mein treuer Weggefährte alias rechter Absatz war bei diesem ungewöhnlichen Abenteuer tödlich verwundet worden und hatte sein Überleben auch einzig und allein einer höchst gewagten Notoperation zu verdanken, die ihn in letzter Sekunde dem Grabe entrissen hatte. Und dann, sozusagen zur abstoßenden Krönung dieses... dieses stinkenden Haufens von Pech und namenlosem Schrecken, war da eben noch jener schweißtreibende Lauf gegen einen übermächtigen Gegner namens Zeit und das alles zusammen war eigentlich mehr, als ich an einem sowieso schon nicht gerade entspannenden Tag vertragen konnte. Wie gesagt, eigentlich, denn Aufgeben kam für mich natürlich gar nicht erst in Frage, durfte nicht in Frage kommen, denn da war ja immer noch Mum und ich musste ihr helfen. Also lief ich und lief, bis ich schließlich frontal und ungebremst gegen die steinerne Mauer prallte, deren unglückliche Existenz ich bereits weiter oben schon angedeutet habe. Diese Mauer war groß, sehr groß, in erster Linie aber war sie hässlich. So ein bisschen baufällig aber trotzdem noch verflucht stabil... nein, das ist kein Widerspruch. Eigentlich war nämlich auch nur ihr Äußeres baufällig und das auch nur, um mir damit immer weiter auf den Nerven herumzutrampeln, denn, was soll ich sagen, es regte mich auf. Wie oft sind Sie eigentlich schon mit der U-Bahn gefahren? Öfter als keinmal? Gut. Dann kennen Sie doch sicherlich auch den entzückenden Anblick jener provokant avantgardistischen Kunstform mit Namen Graffiti, der so ziemlich jedes ältere Fabrikgebäude und mindestens noch jedes zweite mehrstöckige Wohnhaus in dieser gesamten Stadt verziert oder verunziert, je nachdem. Eines dieser besonders lieblos hingeschmierten Dinger gab es auch auf meiner ganz persönlichen Mauer, und das war rot und dünn und krakelig, aber trotzdem konnte ich es sogar weitaus besser lesen, als mir das lieb gewesen wäre. Zwei Worte standen nämlich darauf, von denen Sie zumindest eines aus dem vorangegangenen Kontext eigentlich fast schon selbst erschließen können. Kleiner Tipp am Rande: Das andere Wort lautet "alles". Na, kommen Sie drauf? Wenn ja, herzlichen Glückwunsch, mir selbst wäre das wahrscheinlich nicht gelungen. Wenn nein, bitteschön, hier kommt des Rätsels Lösung. Auf der Mauer stand nämlich: "Alles umsonst", und stellen Sie sich mal vor: Diese gottverdammte Mauer hatte Recht. Wundern Sie sich, dass mein Tonfall selbst jetzt noch so bitter klingt, wo das Ganze doch nun schon eine ziemliche Weile zurückliegt? Vielleicht werden Sie es besser nachvollziehen können, wenn Sie die ganze Geschichte hier erst einmal vom Anfang bis zum Ende durchgelesen haben. Obwohl ich nämlich nicht einmal sagen kann, dass ich all das, was auf diesen einen Abend noch folgen sollte, ausschließlich bereue oder gar aus meinem Gedächtnis löschen möchte, es... ist doch trotz allem immer noch ein kleines bisschen schmerzhaft, jetzt noch daran zurückzudenken. Ich stünde bzw. säße vielleicht überhaupt nicht hier, sicher, und das allein rechtfertigt ja eigentlich schon alles, was passiert und eventuell eben auch gründlich daneben gegangen ist, aber gewisse Erinnerungen stimmen mich selbst heute noch irgendwie traurig. Aber lassen wir das, Sie können ja eh noch nicht verstehen, wovon ich da eigentlich schreibe, und das tut mir leid. Ich schweife wieder einmal ab, aber wissen Sie, das liegt auch nur daran, dass es mir alles andere als leicht fällt, diese Stelle meines Berichtes angemessen beschreiben zu können. Außerdem habe ich ein bisschen Kopfweh, weil ich nun schon weitaus länger vor dem PC sitze, als gut für mich ist, aber ich möchte den Faden nicht verlieren und deshalb versuche ich, meine Pausen auf ein Minimum zu reduzieren. Also dann, auf ein Neues, bevor ich hier noch endgültig in Selbstmitleid ertrinke. Dass mein Plan vom gerade noch rechtzeitigen Erreichen der Preisverleihung doch zumindest nicht ganz so aufgegangen sein konnte, wie ich mir das zunächst einmal ausgemalt hatte, begriff ich eigentlich schon in dem Augenblick, als ich in die Umkleidekabine stürmte und diese so... so voll war. Überall saßen Mädchen herum (was vielleicht daran liegen mochte, dass es eine Mädchenumkleidekabine war, gut, das gebe ich zu) und die blickten so komisch drein und taten es dann doch wieder nicht. Eigentlich sah nämlich keine von ihnen wirklich und wahrhaftig in irgendeine Richtung, mehr ins Nichts, aber ein Nichts, dass es eigentlich gar nicht wirklich gab und das man vor allem überhaupt nicht ansehen konnte. Niemand sprach ein Wort, aber deswegen war es noch lange nicht still. Die Geräuschkulisse setzte sich zusammen aus einer Mischung von Nebengeräuschen, die mir unter anderen Umständen wahrscheinlich gar nicht erst aufgefallen wären, die aber gerade in ihrer beiläufigen Monotonie eine so unendlich bedrückende und vernichtende Atmosphäre erzeugten, wie es ihnen keine noch so dramatische Opernarie, kein wildes Horrorfilmsoundtrack-Geigengeschrammel, kein Baustellenlärm und kein frenetisches Kettensägenmassaker hätte nachmachen, geschweige denn überbieten können. Da war das gelegentliche leise Quietschen eines Drehstuhls, das Klappern eines Absatzes auf dem Boden, ein besonders tiefer, seufzerähnlicher Atemzug, das Rascheln von Stoff oder das dumpfe Tippen von nervös trommelnden Fingerspitzen auf diversen Oberflächen und Unterlagen. Alles in allem herrschte in diesem kleinen Raum eine derart geballte Mischung aus nervlicher Anspannung und kollektiver Apathie, dass es mich beinahe postwendend wieder zwei, drei Meter auf den dunklen Gang hinausgeschleudert hätte. Ich sah mich um, versuchte vergeblich, irgendeinen Blick aufzufangen und auf mich lenken zu können, aber niemand schien mich wahrzunehmen, niemand bemerkte mich, und einen Moment lang wähnte ich mich tatsächlich in irgendeinem grotesken Alptraum gefangen. War ich vielleicht bei meinem Sprung aus dem Klofenster doch mit dem Kopf zuerst aufgeprallt und lag nun eigentlich noch bewusstlos auf unserem Schulhof? Ich widerstand nur mit etlicher Mühe der Versuchung, mir einfach kurzerhand prüfend in den Arm zu kneifen (rote Flecken auf meiner Haut konnte ich bei der Preisverleihung nun wirklich nicht gebrauchen!) und schob mich stattdessen so leise wie möglich in die erstickende Grabesstimmung des kleinen Raumes hinein. Meine Stöckelschuhe verursachten ein unangenehm quietschendes Jammern auf dem glatten Plastikboden, und obwohl mir eigentlich kein Mensch in meiner näheren Umgebung auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte, fühlte ich mich doch mit einem Mal so, als ob alle mich förmlich anstarren mussten, der ich es so schamlos wagte, die angespannte Halbruhe mit meinen ungelenken Schritten und dem keuchenden Atem auf so unpassend lebendige Weise zu stören. Mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen nahm ich auf einem freien Stuhl Platz und nutzte die folgenden Minuten erst einmal, um das schmerzhafte Atemdefizit auszugleichen, das ich während meines Sprints so gedankenlos in Kauf genommen hatte. Ja, wenn ich hier von Minuten schreibe, dann meine ich das auch so, und das lag nicht etwa nur an meiner leicht verqueren Zeitwahrnehmung, die mir ja irgendwie alles wie eine halbe oder ganze oder anderthalbfache Ewigkeit vorkommen ließ. In dem Raum hing nämlich eine Uhr, so ein hässliches viereckiges Ding mit weißem Ziffernblatt und beigefarbenem Rahmen, mit roten Zeigern und extra großen Zahlen, die mir wohl selbst mit verbunden Augen noch in all ihrer unbeschreiblichen Penetranz entgegengeleuchtet hätten. Diese Minuten waren keine Einbildung, sie waren eine Tatsache, und als ich meinen Blick zum zweiten Mal gen Plastikuhr wandte, da war ungelogen bereits eine geschlagene Viertelstunde verstrichen. Eine Viertelstunde, die dazu ausreichte, meine Verwirrung ins Unermessliche steigen zu lassen - meine Verwirrung, aber auch meine Angst, weil ich mir beim besten Willen nicht erklären konnte, was da gerade eben um mich herum vor sich ging. Ich war sozusagen von einem übertriebenen Maß an Hast und Bewegung geradewegs in die totale Stagnation getaumelt und jetzt saß ich da und kam nicht mehr raus. Ich kann auch heute gar nicht mehr so genau sagen, warum ich nicht einfach irgendeines der Mädchen angesprochen und mich einfach mal ganz bequem auf den neusten Stand der Dinge gebracht habe, ich... tat es eben einfach nicht. Ich wagte es nicht. Und das lag nicht etwa nur an dieser niederschmetternden Atmosphäre, an diesem totengleichen Gruppenschweigen, in dem jedes einzelne Wort so unvorstellbar fehl am Platz sein musste wie ein vierzigjähriger wohlbeleibter und designeranzugtragender Konzernchef mit Zigarre im Mund und mindestens fünfzehn Ferrari vor der Türe auf einem Gipfeltreffen der ortsansässigen Tierschützer und Globalisierungsgegner. Das war auch ein Grund, ein sehr gewichtiger Grund sogar, aber eben doch nicht der einzige und, um ehrlich zu sein, nicht einmal der vorrangige. Wissen Sie, während all dieser furchtbaren Augenblicke... während meiner Gefangenschaft, meiner Befreiungsaktion, meines Todeslaufes... ich hab eigentlich immer irgendwie damit gerechnet, es nicht mehr zu schaffen. Natürlich habe ich das Gegenteil gehofft, hab gebetet, hab innerlich danach geschrieen, es möge doch anders, möge doch besser ausgehen, aber... nein, wirklich daran glauben konnte ich eigentlich nie, nicht ohne dass eben doch noch irgendein Zweifel, irgendeine Furcht im Hintergrund gelauert hätte. Ich würde mich eigentlich schon als recht optimistischen Menschen bezeichnen (hätte ich mich sonst überhaupt jemals dieser komplett bescheuerten Wahnsinnsidee hingegeben, bei solch einem Wettbewerb überhaupt erst mitzumachen?), aber ich bin weder naiv noch verblendet. Zumindest meistens nicht. Ich hatte mich beinahe schon auf mein Scheitern und den darauf folgenden Sturz in den Ozean der Verzweiflung eingestellt, und dann ganz plötzlich, mitten im Fall, hielt mein Körper inne und bewegte sich ganz einfach nicht mehr weiter. Ich hing irgendwo in der Schwebe zwischen Himmel und Erde, regungslos und handlungsunfähig, aber doch zumindest vorerst einmal gerettet vor dem endgültig drohenden Aufprall. Und obwohl es sicherlich der sprichwörtliche Prototyp von Feigheit war, ich fand einfach nicht mehr die Kraft dazu, für den Preis einer möglicherweise rettenden Gewissheit den endgültigen Absturz zu riskieren. Ich saß also wie gehabt auf meinem Platz und wartete, quälte mich durch Minute um Minute und hatte nicht viel mehr zu tun, als mit starren Augen meine Finger zu fixieren, die sich ganz ohne mein bewusstes geistiges Zutun irgendwelche vollkommen absurden Verknotungsspielchen ausgedacht hatten und diesen nun auch mit offenbar recht großer Begeisterung nachkamen. Ich philosophierte innerlich über solch weltbewegende Sinnfragen wie zum Beispiel jene, warum der Mensch denn nun eigentlich genau fünf Finger hatte, warum nicht einfach nur vier oder dann eben gleich sechs oder sieben oder auch zehn an jeder Hand. Da fiel mir auf, dass zehn Finger an jeder Hand doch irgendwie verflucht bescheuert ausgesehen hätten und dass die handschuhstrickenden Frauen aus Nepal und Kambodscha und dem ganzen erdrückenden Rest der langen, langen Liste von Billiglohnländern dann ja viel mehr Wolle benötigen würden, und mit einem Mal war ich nicht mehr ganz sicher, ob das der Weltwirtschaft nun nützen oder schaden würde - oder beides, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtete. Während ich mich auf diese Weise behände durch wohl noch niemals zuvor erkundete Randgebiete der anthropologischen Philosophie hangelte, lief die Zeit unbarmherzigerweise weiter und vor den Toren unserer kollektiv schweigenden Umkleidekabine regte sich langsam aber sicher die Empörung des einfachen Volkes. Es wurde laut. Laut in einem zwar aufgeregten, nervösen, ungeduldigen, aber eben doch nicht etwa aufgebrachten oder gar bedrohlichen Sinne. Man sprach, man tuschelte, man plauderte und lachte, man beschwerte und empörte sich auch, natürlich, aber all das geschah ausschließlich im eigenen Kreis, im Publikum an sich, es war nicht etwa an irgendeinen Veranstalter oder Aufseher gerichtet. Und in diesem Moment begann ich zu begreifen, dass die Preisverleihung einfach noch nicht stattgefunden haben konnte. Was nicht an irgendeinem verblendet hoffnungsvollen Wunschtraum meinerseits, sondern ganz einfach nur an der überwältigenden Beweislast meiner zahlreichen Indizien lag, die ich in wunderbar logischer Art und Weise vor mir aufgereiht hatte. Die Mädchen saßen schweigend in einem Raum und sahen dabei alle exakt gleich aus. Natürlich nicht von der äußeren Gestalt her, nein, die war immer noch so krampfhaft abwechslungsreich wie eh und je (frei nach dem Motto: Identifikationsfiguren für jedermann, und wenn Sie jetzt gleich kommen und kaufen gibt es zwei zum Preis von einer!), sondern eher von dieser... dieser gefühlsmäßigen Sache her, wenn Sie verstehen, was ich meine. Keine sah auch nur ein einziges kleines bisschen glücklicher oder zufriedener aus als die andere. Keine jubelte, keine trauerte. Alle waren nervös. Nicht unbedingt das typische Bild, das man nach einer schicksalhaften Aufspaltung in Sieger und Verlierer zu erwarten hatte, verstehen Sie? Da waren keine dramatischen Nervenzusammenbrüche im Angesicht der Trümmer des ureigenen zerschlagenen Traumes, keine hysterisch dahingequietschten Triumphchoräle, nicht einmal ein Lächeln oder auch nur die vage wimperntuschenschwarze Spur einer einzigen Träne. Dann die Sache mit dem Publikum: Es sprach und es lachte, aber das Lachen war krampfhaft und die Gespräche ganz ohne jeden Zweifel die leiblichen Kinder der Langeweile, mehr zweckmäßig als angeregt, entstanden im Keim einer gemeinsamen Zwangssituation. Und jetzt denken Sie mal scharf nach, in was für einer Situation beziehungsweise in was für einem Gemütszustand sich die Menschen wohl am ehesten zu krampfhaftem Lachen und mehr zweckmäßigen als angeregten Gesprächen hinreißen lassen? Ich bin mir beinahe sicher, dass Sie längst schon wissen, worauf ich hinauswill, aber falls Sie diese Zeilen am späten Abend lesen (vielleicht liegen Sie ja auch schon im Bett und möchten eigentlich lieber schlafen, wollen die unangenehme Pflicht dieser leider Gottes auch sehr zweckmäßigen Lektüre aber keinesfalls noch einen weiteren Tag lang hinauszögern) oder einfach nur schon so dermaßen genug haben von meinem nervtötenden Geschreibsel und sich Ihre Lust zum aktiven Mitdenken und -raten auch dementsprechend in Grenzen hält, möchte ich es Ihnen gerne verraten: Diesem ganzen Haufen stolzer bis neidischer Eltern, interessierter bis, vorsichtig ausgedrückt, von eher nicht willentlich kontrollierbaren körperlichen Befehlen gesteuerter Lehrkörper und natürlich der ebenso großen Meute von Freunden und Bekannten saß dieses kleine boshafte Teufelchen namens Langeweile im Nacken, um sie wieder und wieder mit seinem nadelspitzen Dreizack in die Haut zu pieksen. Und dieses Langeweileteufelchen, das war nicht nur boshaft, sondern auch verflucht hartnäckig und es hatte rein theoretisch auch nach mehreren Stunden und Tagen noch denselben Spaß am Pieksen und Peinigen wie in den ersten Sekunden seines meist nicht überwältigend langlebigen Daseins. Diese Menschen unterhielten sich, weil Sie nicht wussten, was Sie sonst hätten tun sollen. Und Sie wussten nicht, was Sie tun sollten, weil Sie in einer schönen, aber auf die Dauer eben doch nur bedingt unterhaltsamen Turnhalle auf langen Reihen ewig gleich aussehender schwarzer Plastik-Klappstühle saßen und eben nichts anderes tun konnten als warten, warten und nochmals warten. Und worauf warteten sie? Die Antwort auf diese Frage muss ich Ihnen wohl nicht einmal dann noch geben, wenn die Sonne mittlerweile bereits wieder am Horizont aufgegangenen ist oder Sie mir inzwischen für jedes einzelne Wort, und sei es ein noch so kurzes, postwendend den Hals umdrehen würden. Lustigerweise muss ich anmerken, dass mir das Schreiben mittlerweile immer leichter fällt. Merken Sie es? Ohne mich loben zu wollen, ich finde, ich werde besser. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich mit meiner Schilderung derart ins Detail gehe. Ich halte das für notwendig, um Ihnen wirklich und authentisch all die Gefühle wiedergeben zu können, die ich in den wohl bedeutsamsten und bewegtesten Tagen meines Lebens empfunden habe und die auch so ausschlaggebend waren für all das, was danach passiert ist. Es ist mir wirklich sehr, sehr wichtig, dass Sie am Ende diesen Bericht zur Seite legen und mich zumindest ein ganz kleines bisschen verstehen können. Falls Sie an dieser Hoffnung jetzt schon erhebliche Zweifel hegen, sich ihrerseits halb zu Tode langweilen (ja, ganz so wie unser geschätztes Publikum an diesem Abend!) und Ihnen die Lust am Lesen eigentlich schon nach den ersten drei Zeilen vergangen ist, sei Ihnen gesagt: Obwohl ich es natürlich jetzt noch nicht wissen kann, ich bezweifle doch stark, auch nur bei der Hälfte meiner Erzählung angekommen zu sein und die bedeutsamsten Ereignisse liegen allesamt noch vor uns. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen jetzt schon mal viel Spaß bei den restlichen fünfzig bis hundertfünfzig Seiten, die erst noch folgen werden. Aber Sie haben natürlich Recht, ich mache mir schon dann und wann einen Spaß daraus, Sie ein klein wenig hinzuhalten und die wirklich wichtige Handlung herauszuzögern, was zwar gemein, aber doch leider Gottes unbedingt notwendig ist. Ich kann Ihnen zwar auch einfach schreiben, an welchen Stellen ich wie lange habe warten müssen und wie sehr ich jeweils darunter gelitten habe, aber diesem letztlich angestrebten Verständnis würde uns solch eine Taktik wohl nicht unbedingt sehr viel näher bringen. Also bitte halten Sie durch, ich tue mein Bestes und ich gebe mir wirklich große Mühe. Alles was ich schreibe entspricht der Wahrheit, auch das, was in den folgenden Stunden passieren sollte. Es sind Schlüsselstellen, überraschend viele und äußerst pikante Schlüsselstellen, von denen ich keine einzige auszulassen gedenke. Und obwohl es mir widerstrebt, gerade weil ich ja so viel Arbeit in diese Seiten hier gesteckt habe, ich kann einfach nicht anders, ich muss Sie warnen. Wenn Sie von jetzt an noch weiterlesen, dann tun Sie das einzig und allein auf eigene Gefahr! Sie sind immer noch bei mir? Oder wieder? So oder so, es freut mich, auch wenn ich doch eine gewisse Beunruhigung nicht loswerden kann. Liegt das nun an unserer unveränderten Zweisamkeit (Dreisamkeit? Viersamkeit?) oder ist es wieder nur die Erinnerung an diesen Abend... dieses Warten... ich weiß es nicht, aber eigentlich ist es auch vollkommen egal, denn selbst das längste Warten hat irgendwann mal ein Ende, ja, auch in unserer scheinbar so unendlichen Geschichte hier. Unglaublich, aber wahr. Und obwohl es absurd ist, obwohl ich ganz genau weiß, dass ich mich eigentlich hätte freuen und Luftsprünge machen sollen, ich... hab's nicht getan. Eher im Gegenteil. Da war so ein unangenehm dumpfer Nachhall, der erst einige Minuten später verklungen und dann oft noch Tage, Wochen, ja sogar Monate danach wieder aufgeflammt ist. Sehen Sie, jetzt, wo ich das hier schreibe ist es schon wieder da, vollkommen überflüssigerweise, weil es ja doch schon alles längst vorbei ist. Aber dieses Gefühl, was möglicherweise gar nicht hätte geschehen müssen, das ist irgendwie überhaupt nicht schön, obwohl... es doch trotz allem auch wieder schade gewesen wäre. Aber bitte, lesen und urteilen Sie selbst. Wenn ich Sie noch einmal kurz daran erinnern darf: Es war alles umsonst. Diese folternde Panik, die ich in den bangen Minuten meiner Gefangenschaft in der Toilettenkabine durchlitten hatte. Meine gesamte hals- und beinbrecherische Kletteraktion. Die Verzweiflung über den Tod von Freund Absatz. Und am Ende mein schweißtreibender Rekordsprint, vorbei an den zahllosen tückischen Ecken und Kanten unserer völlig verlassenen Schulgänge. Ich hätte es mir ganz einfach sparen und noch mindestens zwanzig ruhige, wenn auch nicht unbedingt sonderlich gemütliche Minuten auf besagter Jungentoilette verbringen können. Wobei es sehr stark anzunehmen ist, dass sich Tatsumi bis dahin mitsamt seinem unangenehm lachenden Gefolgsmann und ihrer mysteriös klappernden Ausrüstung zurück zu den anderen wartenden und sich langweilenden Zuschauern in den großen, finsteren Turnhallensaal verzogen hätte. Es war nämlich so, dass eines der Jurymitglieder auf dem Weg zum gemeinsamen Besprechungsraum unglücklich gestürzt war und sich bei dieser Gelegenheit irgendwie am Knöchel verletzt hatte. Ja, genau so simpel und genau so unspektakulär und genau so frustrierend, wenn man mal etwas länger darüber nachdenkt. Ein Sturz. Vielleicht ein unachtsames Auftreten in allzu hohen Absatzschuhen. Vielleicht irgendein kleines Hindernis, das die fleißigen Putzfrauen ausgerechnet an der falschesten aller falschen Stellen übersehen hatten. Im Nachhinein konnte das wohl niemand mehr sagen und es war auch gar nicht mehr von Bedeutung, denn die darauf folgende Untersuchung konnte glücklicherweise an Ort und Stelle durchgeführt werden (haben Sie jemals erlebt, dass auf die Frage, ob hier ein Arzt im Saal sei, tatsächlich irgendjemand mit "Ja! Hier!" antwortet? Das Publikum in der Turnhalle nämlich schon!) und dauerte ja letztendlich auch kaum mehr als lächerliche zwanzig Minuten. Dumm nur, dass es für meine Verhältnisse genau zwanzig Minuten zuviel waren, und aus irgendeinem Grund, den ich gar nicht mal genau benennen konnte, kam ich mir so unendlich bescheuert vor, als wir dann endlich doch von unseren Plätzen zurück auf die Bühne gerufen wurden. Ich glaube, das sah man mir auch an. Ich schlich irgendwie mehr, als dass ich noch wirklich ging oder gar auf diese unnachahmliche Art vor mich hinschwebte, wie es zahlreiche meine Konkurrentinnen ach so perfekt beherrschten. Die Menschen im Publikum dachten wahrscheinlich, dass dieses schwarzhaarige Mädchen mit dem verführerisch kurzen Röckchen und den verführerisch hohen Stiefeln längst schon aufgegeben hatte, aber darum ging es nicht. Ich hatte einfach das Bedürfnis, mich von diesen verfluchten (und sowieso nicht mehr ganz intakten) Absatzschuhen zu befreien und so schnell wie möglich nach Hause zu laufen, um mich dort ganz tief unter meiner dicksten Decke zu verkriechen, obwohl es dafür doch eigentlich viel zu heiß war. Aber wie Sie sich denken können bin ich natürlich nicht davongelaufen. Ich habe nicht ein einziges meiner Kleidungsstücke ausgezogen und ich bin nicht einmal vor versammelter Mannschaft in Tränen ausgebrochen. Und das, glauben Sie mir, das war nicht einfach! "Bitte entschuldigen Sie die kurze Verspätung", erklärte unsere reizende Moderatorenreferendarin nun bestimmt schon zum zehnten Mal allein innerhalb der letzten fünf Minuten, "aber dafür werden wir Sie nun nicht mehr länger auf die Folter spannen und ihnen sofort unsere glücklichen Gewinnerinnen mitteilen!" Ich horchte auf, ohne jedoch meinen Blick zu heben. Aus irgendeinem Grund hatte ich nämlich mit einem Mal panische Angst, womöglich irgendeiner der umstehenden und -sitzenden Personen in die Augen zu blicken. "Ich werde nun die Namen der drei Mädchen verlesen, die im Namen unserer Schule am großen Finale des Lucky Karma Miss-Contest teilnehmen dürfen", verkündete sie gewohnt zahnpastalächelnd, was mir aber leider bereits bekannt war und was ich, falls es mir noch nicht bekannt gewesen wäre, eigentlich auch gar nicht hätte wissen wollen. Die Namen von drei Mädchen... von genau drei Mädchen. Bitte lassen Sie sich das noch einmal auf der Zunge zergehen. Drei Mädchen. Nicht mehr und nicht... gut, noch weniger wäre ja auch irgendwie lächerlich gewesen, oder? Möglicherweise war es Absicht, möglicherweise behinderten ihre unverschämt langen Fingernägel die gute Mrs. Catcher auch tatsächlich beim Öffnen des glitzernden Papierumschlages, in dem sich ganz offensichtlich ein Zettel mit besagten Namen von drei Mädchen befinden sollte, jedenfalls schienen auch während wir auf der Bühne standen und zitterten noch einmal mehrere Stunden zu verstreichen. Ich bin mit nicht ganz sicher, wie lange schon die Mittagssonne am Sommerhimmel hätte stehen müssen, wenn die Zeit tatsächlich gemäß meiner ganz persönlichen Wahrnehmung selbiger verstrichen wäre. Aber mir taten schon viel zu lange die Füße weh und ich schwitzte und mir brannte der Hals, so trocken war er. Dann jedoch war das Kuvert geöffnet und es wurde alles noch viel, viel schlimmer. "Die Reihenfolge der Namen sagt nichts über ihre tatsächliche Punktzahl aus. Es gibt heute keinen ersten, zweiten und dritten Platz, sondern drei Gewinnerinnen!" Die Frau in Blau strahlte und ich hätte sie dafür erwürgen können. "Kommen wir nun zu unserer ersten Siegerin..." Ein etwas blecherner Trommelwirbel wurde eingespielt und brachte wohl auch noch den letzten unaufmerksamen Zuschauer nachhaltig zum Schweigen. Tatsächlich wurde es in dem Saal so still, dass man wohl selbst die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören - zumindest jeder außer mir und außer den Mädchen, die unmittelbar zu meiner Rechten und Linken standen, denn mein Herz schlug so unglaublich laut, dass ich selbst die Worte der Ansagerin nur mit großer Mühe verstehen konnte. "And the winner is... Tanith Miller!!" Das Publikum begann lautstark zu applaudieren und ich wurde begraben unter einer Woge blanken Entsetzens. Ich meine - Sie wissen ja noch, drei Namen, drei verfluchte und lächerliche Namen, und der erste dieser Namen war schon einmal Tanith Miller. Ich hätte schreien können, aber die blanke Wut (und vielleicht auch noch ein kleines bisschen Schamgefühl) schnürte mir die Kehle zu. Dabei ging es mir gar nicht mal nur um meinen eigenen Sieg... das natürlich auch, aber eben nicht nur, denn ich hätte nur die Augen zu heben brauchen und mindestens fünfzehn beneidenswert schöne Mädchen gesehen, die es allesamt und zweifellos verdient hätten, in genau diesem Augenblick von den begeisterten Massen des Publikums beklatscht und bejubelt zu werden. Aber Tanith... Tanith, deren Lache es mit jeder heiseren Hyäne hätte aufnehmen können. Tanith, die ihre Mitmenschen mit ebendieser Lache am allerliebsten infolge ihren eigenen (schlechten) Witzen akustisch misshandelte. Tanith, deren Augen in etwa so aussahen, als ob sie vor etlichen Tagen in einem leidlich sauberen Gewässer ertrunken und bis heute noch nicht gefunden worden wären. Genau diese Tanith hatte sich jetzt also einen Platz im Finale erschlichen, und das nur weil sie groß und hellblond war und weil sie so wunderbar überzeugend christliche Statements von sich geben konnte. Am liebsten wäre ich nun schon zum mindestens dritten Mal an diesem Abend spontan wieder gegangen, diesmal jedoch aus Protest. "Und der zweite Platz im Finale gehört... Min Phai-Li!" Nur zwei Plätze neben mir stieß eine kleine und unglaublich süße Asiatin einen hellen Freudenschrei aus, und ich presste meine nervös verschränkten Hände derart fest gegeneinander, dass meine Fingerknöchel jegliche Farbe verloren. Ich spürte den Schmerz jedoch kaum noch und meine Gedanken drehten sich mit meinem Magen um die Wette. Natürlich! Es hatte ja so kommen müssen. Ich meine - ganz ehrlich, haben Sie jemals auch nur einen einzigen Film gesehen, in dem der Protagonist oder auch die Protagonistengruppe bei einer Preisverleihung nicht prinzipiell als letztes aufgerufen wird? Nehmen Sie jeden einzelnen Gesangswettbewerb, jedes sportliche Kräftemessen und ganz besonders jede einzelne (High School-) Misswahl, die sie jemals in ihrem ganzen Leben in gleich welchem Film gesehen haben. Merken Sie was? Eben. Das ist im Grunde genommen nicht anders als diese Sache mit der verloren gegangenen CD. Sie können Ihre Musiksammlung in jeder beliebigen Reihenfolge durchgehen, Sie werden Sie im Endeffekt ja doch wieder in der letzten oder vorletzten Hülle finden. Garantiert. Aber in diesem Wettbewerbsfall, da haben wir es nicht nur mit Murphys guten alten Gesetzen zu tun, sondern auch mit den unantastbaren Gesetzen von Hollywood, und gegen beides zusammen ist man mehr als machtlos. Hatte ich etwa wirklich geglaubt, gleich an erster Stelle beruhigt und glücklich in das so unendlich wichtige Finale einziehen zu können? Da war ja selbst diese Sache mit dem Arzt im Saal noch wahrscheinlicher! So oder zumindest so ähnlich versuchte ich mich auch an diesem Abend zu beruhigen, und so hirnrissig ihnen meine Gedankengänge jetzt vorkommen mögen, sie haben mir in diesen bangen Sekunden - oder waren es am Ende doch Stunden? - sogar wirklich weitergeholfen. Wie gesagt: Ich bin nicht in Tränen ausgebrochen. Ich habe nicht einmal gebrüllt oder das Bewusstsein verloren. Ich war wirklich verflucht tapfer, und dann war die mehr als nur bange Wartezeit vorbei und ich wünschte mir plötzlich, sie wäre es nicht gewesen. "Kommen wir nun zu unserer dritten und letzten Gewinnerin..." Kam es mir nur so vor oder machte Mrs. Catcher tatsächlich eine noch längere Spannungspause als sonst? Die Mädchen um mich herum versuchten krampfhaft zu lächeln - diese vergeudete Kraftanstrengung sparte ich mir - und die Luft stank plötzlich noch ein klein wenig mehr nach Schweiß als in all den endlosen Sekunden zuvor. Plötzlich bildete ich mir ein, wieder diese furchtbare Plastikuhr aus dem Warteraum ticken zu hören, obwohl das natürlich überhaupt nicht möglich war. Ich sah nicht mehr, wie unsere Referendarin das Mikrofon endlich doch wieder anhob, um mich von meinen unmenschlichen Leiden erlöste, denn ich hielt meine Augen fest geschlossen. Dafür hörte ich sie nur umso besser. "... Jessica Maguire!!!!" Ich glaube, ich habe noch nicht ein einziges Mal in meinem ganzen Leben so laut geschrien wie in dem Augenblick, als diese Frau meinen Namen nannte und zeitgleich damit sämtliche Mundwinkel um mich herum gefährlich weit in Richtung Boden hinabrutschten. Es war... ja, es war wie ein Stromstoß, aber wie ein fürchterlich angenehmer Stromstoß, der durch meinen ganzen Körper raste und ihm jegliches Eigengewicht zu nehmen schien. Ganz ehrlich, ich hätte fliegen können, aber da mir dabei leider doch noch die allseits bekannte und beliebte Schwerkraft im Weg war, beließ ich es eben bei einem weiteren ausgelassenen Jauchzen, gefolgt von einem auch irgendwie himmelhohen Luftsprung. Das war ein großer Fehler. In meinem plötzlichen und auch gar nicht mehr wirklich erhofften Freudentaumel hatte ich nämlich nicht nur meine Angst und Aufregung, sondern eigentlich auch alles andere, was jemals auf diesem verrückten kleinen Planeten geschehen war, vollkommen und ausnahmslos vergessen. Auch, zum Beispiel, gleich welche physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Gewichtskraft. Oder die begrenzte Haltbarkeit von vielleicht sowieso nicht mehr ganz so frischem Klebstoff. Jedenfalls landete ich nun schon zum zweiten Mal an diesem Abend ganz und gar nicht so, wie ich das geplant oder zumindest erhoffte hatte - allerdings mit noch ungleich katastrophaleren Auswirkungen. Auf meine leidlich elegante Pirouette folgte nämlich ein überaus tiefer Fall, als ich auf dem harten Laufstegboden aufkam und dann plötzlich ganz merkwürdig zur Seite wegknickte. Ich selbst kann mir bis heute nicht bildlich vorstellen, was genau danach mit mir und meinem Körper passiert ist. Ich kann nur das wiedergeben, was mir Tatsumi später in aller Ausführlichkeit beschrieben hat - mit einem Grinsen im Gesicht, für das ich ihn wohlgemerkt auch heute noch erwürgen könnte. Als mein leidgeprüfter Absatz erneut das Zeitliche segnete und ich mich von meinem Gleichgewicht verabschieden durfte, kippte ich nämlich nicht etwa einfach nur zur Seite oder noch vorne weg. Aber nein. Das wäre ja auch viel zu einfach gewesen. Stattdessen vollführte ich eine groteske Drehung um die eigene Achse, das linke Bein weit von mir gestreckt und die Arme hilflos im Leeren rudernd. Dann prallte ich mit dem Rücken auf und schlitterte noch knapp einen halben Meter auf den Bühnenrand zu, wo ich endlich zum Liegen kam. Ich muss wohl nicht extra noch erwähnen, dass dies in einer sehr breitbeinigen Haltung geschah, sodass zweifellos jedes einzelne Mädchen samt Biologiereferendarin mit einem herrlichen Ausblick direkt auf meine Unterhose belohnt wurde. Für alle, die bei dem Sturz zuvor noch nicht richtig aufgepasst hatten. Im ersten Augenblick wollte ich sterben. Das ist kein Witz. Ich habe mir ernsthaft gewünscht, doch noch irgendwie über die Kante hinter mir hinabzustürzen und mir dabei möglichst tödlicherweise das Genick zu brechen. Ich kann nicht unbedingt behaupten, dass mein Leben frei von Pleiten und Pannen gewesen wäre. Aber vor diesem Abend hatte ich keine Ahnung davon gehabt, was das Wort peinlich wirklich bedeutet. Sicherlich können Sie das nachvollziehen. Dabei habe ich es ja erst einmal gar nicht gewagt, überhaupt so etwas wie Scham zu empfinden. Ich atmete nicht und bewegte mich nicht und ich dachte und fühlte auch nicht. Ich weigerte mich zu glauben, dass mir so etwas tatsächlich passieren könnte. Doch es war passiert und die Zeit ging weiter, und ganz plötzlich schienen alle Mädchen ihre schlechte Laune vergessen zu haben. Natürlich waren sie nicht die einzigen, die lachten. Statt meines wohl verdienten Applauses erntete ich wahre Salven von Gelächter und Gekicher, und da wurde mir plötzlich bewusst, dass es jetzt nur noch einen einzigen Weg gab, um zu überleben. Ich kam erstaunlich geschickt wieder auf die Füße, warf mir mein etwas in Mitleidenschaft gezogenes Haar über die Schulter und stolzierte dann auf merkwürdig humpelnde Art und Weise (laufen Sie mal mit nur einem High Heel!) auf die etwas peinlich berührt dreinblickende Ansagerin zu. "Das habe ich mir statt einer Dankesrede überlebte und möchte damit meine Mutter grüßen", flötete ich ins Mikrofon, und in diesem Moment hatte ich wirklich und wahrhaftig gewonnen. Gut - mindestens die Hälfte des Saales lachte immer noch viel eher über mich als mit mir, aber ich schwebte mit einem Mal wieder ganz locker über den Dingen. Und, was vielleicht das Wichtigste war, ich konnte selbst wieder lachen und das war auch überhaupt nicht erzwungen oder aufgesetzt. Hierbei hat die Macht der Verdrängung gewiss eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Aber auch darüber hinaus hatte ich ja schließlich immer noch gesiegt, und das wollte ich mir von nichts und niemandem nehmen lassen. Mrs. Catcher sagte irgendetwas, an das ich mich aber nicht mehr erinnern kann, und dann zerstreuten sich die Mädchen, die eben noch allesamt Teilnehmerinnen, und jetzt ganz plötzlich Gewinnerinnen und Verliererinnen waren. Ich wollte ihnen gerade über eine der Treppen hinunter in das Halbdunkel des Zuschauerbereiches folgen, aber da sah ich plötzlich, wie sich Tatsumi irgendwo von einem Stuhl erhob und mir eilig entgegenkam. Ich weiß bis heute nicht, wie ich ihn so schnell zwischen all den sich erhebenden Menschen ausmachen konnte, aber ich tat es eben und dann gingen plötzlich die Endorphine mit mir durch. Wie zum Beweis, dass ich nichts, aber auch wirklich gar nichts dazugelernt hatte, nahm ich kurzerhand eine spontane Routenänderung vor und steuerte geradewegs auf den verhängnisvollen Bühnenrand zu. Wobei man vielleicht dazu sagen muss, dass ich nicht einfach nur ging oder lief oder stakste, sondern rannte, und Sie können mir gerne glauben, dass das mit einem derartigen Schuhwerk doch alles andere als einfach ist. Ich kletterte auch nicht vorsichtig über die Kante hinab - ich sprang, die Arme nach beiden Seiten ausgebreitete und ein übermütiges Lachen auf den Lippen und ich fühlte mich dabei so unwahrscheinlich frei, dass ich fast ein bisschen melancholisch werden könnte, wenn ich jetzt daran zurückdenke. Ich weiß nicht, ob ich absichtlich oder unabsichtlich gestolpert bin, jedenfalls fiel ich Tatsumi geradewegs um den Hals. Ich lachte immer noch und ich konnte überhaupt nicht mehr damit aufhören, und obwohl überall um uns herum erbost schimpfende Menschen standen, drehten wir etliche wankende Runden über den leise quietschenden Turnhallenboden. Tatsumi lachte übrigens ebenfalls, und es war merkwürdig, ihn derart ausgelassen zu erleben, aber es passte doch perfekt zu der seltsamen Stimmung dieses ganz ohne jeden Zweifel unvergesslichen Abends. Es war das erste und für eine sehr lange Zeit auch das letzte Mal, dass ich ihn wirklich und ehrlich habe lachen hören. "Du hast es geschafft, Jessie!", strahlte er mich an, und ich wusste überhaupt nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich verstand nicht, was genau Tatsumi so glücklich machte, aber ich wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Vielleicht war da ja wirklich irgendetwas in der nicht gerade frischen Turnhallenluft - man weiß ja nie -, jedenfalls war alles wie ein Rausch und ich selbst wie betrunken, obwohl meine arme Kehle doch immer noch vergeblich um Wasser bettelte. "Ich bin gut!", verkündete ich lautstark und wenig intelligent, und dann tat ich etwas, das mich selbst vielleicht am meisten überraschte. Ich verschränkte meine Arme in Tatsumis Nacken, stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Einfach so. Mir fiel ganz plötzlich unser Vertrag wieder ein und da konnte ich einfach nicht anders, und irgendwie war plötzlich auch überhaupt nichts mehr dabei. Auch Tatsumi reagierte ganz und gar nicht so, wie ich das vermutet hatte. Natürlich war er zunächst doch sehr überrascht - seine mit einem Mal erstaunlich großen Augen und sein etwas hilfloses Blinzeln sprachen Bände -, aber eben wirklich nur ganz kurz. Und dann folgte weder irgendein dummer Spruch noch ein anzügliches bis selbstverliebtes Grinsen, sondern nur ein Kopfschütteln und ein weiteres Lachen. Die besondere Atmosphäre des Abends hatte irgendwie auch von ihm Besitz ergriffen und das stimmte mich nur noch viel, viel übermütiger. Genau genommen war ich sogar so unglaublich glücklich, dass ich beinahe ein bisschen vergaß, aus welchem Grund ich mich eigentlich so sehr freute. Wir blieben nicht mehr lange auf der anschließenden Siegesfeier, auch wenn die Stimmung gut und das Buffet durchaus verlockend war. Entgegen meiner persönlichen Erwartungen war es tatsächlich noch dunkel, als wir die Halle verließen. Eine perfekte Sommernacht, in der man selbst in Top und Minirock nicht frieren musste. Ich weiß noch, dass wir den ganzen Heimweg über "We are the Champions" gesungen haben, und jeder, der uns dabei beobachten konnte, muss uns wohl unweigerlich für betrunken gehalten haben, was wir allerdings nicht waren und auch gar nicht nötig hatten. Auf dem Weg durch Tatsumis dunkles Haus mussten wir uns in der Lautstärke natürlich deutlich zurücknehmen - allerdings nur, bis wir in seinem Zimmer angekommen waren. Immerhin befanden wir uns ja nicht mehr in Mums und meiner kleinen Dreizimmerwohnung, sondern in einer Prachtvilla von unbestreitbar beachtlichen Ausmaßen. Kichernd ließ ich mich auf Tatsumis Bett fallen, immerhin war ich überdreht und glücklich und dachte noch überhaupt nicht daran, mich in mein persönliches Gästezimmer zurückzuziehen. Ihm schien es offenbar nicht anders zu gehen. Statt mich nämlich mit einem dezenten Hinweis auf seine wohl verdiente Nachtruhe kurzerhand vor die Türe zu setzen, öffnete er seinen Mini-Kühlschrank und zauberte eine noch ungeöffnete Sektflasche daraus hervor. Die passenden Gläser waren ebenfalls schneller gefunden, als ich überhaupt mit den Augen folgen konnte (aller guten Laune zum Trotz versetzte mich Tatsumis Zimmer weiterhin in Angst und Schrecken), und so saßen wir schon wenige Augenblicke später gegen eine der schneeweißen Wände gelehnt auf der überaus bequemen Matratze und ließen geräuschvoll die Sektgläser gegeneinander stoßen. "Auf dich!", grinste Tatsumi, was mich zu einem weiteren übermütigen Kichern veranlasste. "Auf mich!", grinste ich wenig bescheiden zurück und nahm einen Schluck von der eifrig perlenden Flüssigkeit. "Und übrigens hab ich die Wette gewonnen. Wenigstens für heute." "Was für eine Wette?" "Neid", strahlte ich und stieß dem Blondschopf mit der flachen Hand vor die Stirn. "Häh?", machte der und sah mich mit fragenden Augen an. "Neid", wiederholte ich. "Meine heute begangene Todsünde ist Neid. Was auch sehr wohl verständlich ist, wenn ich an all diese... diese... Mädchen denke... oh mein Gott." "Die du wohlgemerkt allesamt weit hinter dir gelassen hast, meine liebe Jessie." Tatsumi stieß mir in die Seite und schenkte mir ein Augenzwinkern, das zwar wieder gewohnt arrogant und selbstverliebt war, mich in diesen nächtlichen Stunden aber auch nicht mehr wirklich stören konnte. "Und außerdem muss ich dich verbessern - dies war wenn, dann nicht deine heutige, sondern deine gestrige Todsünde. Es ist mittlerweile nämlich... fast zehn Minuten nach Drei und somit längst schon ein neuer Morgen angebrochen." "Ein neuer Morgen, ja?" Ich zog meine Augenbrauen hoch und schielte skeptisch in Richtung Fenster, hinter dem sich nach wie vor eine tiefblaue Nacht erstreckte. "Aber gut... dann hab ich gleich die nächste Todsünde für dich, und zwar Hochmut. Oder willst du etwa bestreiten, dass ich die Größte bin? So, mein lieber Tatsumi, jetzt habe ich vorgelegt und das musst du mir erst mal nachmachen!" "Kein Problem!", grinste der Blondschopf und musterte mich derart langsam von Kopf bis Fuß und wieder zurück, dass ich mich hinterher tatsächlich ein kleines bisschen nackter fühlte als zuvor. "Wolllust." "Wolllust?", keuchte ich in gespielter Empörung und rümpfte die Nase. "Wie kannst du es wagen? Und das ausgerechnet bei mir, du einfacher... du... du Bauer, du!" Ich holte schwungvoll aus, um mich angemessen für seinen Rippenstoß zu revanchieren - und vergaß dabei leider, dass meine rechte Hand ja überhaupt nicht mehr leer war. Ebenso wenig wie mein Sektglas. Wenigstens noch vor meinem Frontalangriff, der leider doch etwas anders endete, als ich das ursprünglich eingeplant hatte. Nämlich mit einem plötzlich gar nicht mehr so weißen Hemd und mit einem Tatsumi, der mich derart verblüfft und... ja, schlicht und einfach dämlich anstarrte, dass ich mich danach auch nicht einmal mehr entschuldigte, sondern nicht weniger blöd zu lachen begann. "Toll gemacht", grummelte der Blondschopf, als mein Anfall lautstarker Schadenfreude offenbar gar nicht mehr enden wollte, und ich glaube, dass sein übergroßes Ego tatsächlich einen kleinen Kratzer abbekommen hatte, obwohl der Unfall doch eigentlich von vorne bis hinten nur meine Schuld gewesen war. "Das Hemd wär jetzt also ruiniert, und die Stimmung obendrein. Jessie, du bist wirklich ein Genie!" "'Tschuldigung", nuschelte sich verstohlen zwischen meinen sehr breit grinsenden Lippen hervor. "Aber wenn du doch eh schon soooo wolllüstig bist, warum ziehst du's dann nicht einfach gleich aus?" Tatsumi schenkte mir einen vernichtenden Blick aus seinen dunklen Augen - und fiel dann ganz plötzlich und unvermutet in mein Grinsen ein. "Also gut", strahlte er mir mit einem Lächeln entgegen, das auch nicht viel falscher und aufgesetzter wirkte als seine sonstigen. Und bevor ich mehr als ein entsetztes Ächzen von mir geben konnte, hatte er auch schon seine oberen Hemdsknöpfe geöffnet und sich das befleckte Kleidungsstück mit einer schwungvollen Bewegung über den Kopf gezogen. Aus irgendeinem Grund war ich entgeistert. Verstehen Sie das? Ich jedenfalls nicht. Ich meine... ich hatte mich davor schon weit mehr als nur einmal im Kreise ganzer Heerscharen von schlanken, zarthäutigen und teilweise auch überaus kurvigen Mädchen an- und wieder ausgezogen und es war mir zuletzt wirklich alles, nur ganz gewiss nicht mehr peinlich gewesen. Aber Tatsumi war ein Junge und jetzt seien wir doch mal ehrlich, ich hatte jeden Tag wenigstens zweimal die Gelegenheit, solch ein splitterfasernacktes Menschenmännchen vom Scheitel bis zum Zehennagel im Spiegel betrachten zu können. Von all den kollektiven Duschsessions nach dem meiner Meinung nach oft genug etwas zu schweißtreibenden Sportunterricht ganz zu schweigen. Theoretisch hätte Tatsumi vor meinen Augen einen erstklassigen Manstrip mit allem drum und dran und vor mir aus auch in einer hautengen Polizeiuniform aufs Parkett legen können und es hätt mir im Prinzip sogar mehr als nur scheißegal sein müssen, aber leider scheint das Leben ja von logischen Theorien generell nicht sonderlich viel zu halten. Schließlich war ich nicht mehr Jesse, sondern Jessie, und Jessie war nun mal ein junges Mädchen mit einem leichten (?) Hang zum Exhibitionismus, aber eben doch auch mit einem gesunden Schamgefühl. Und ebendieses Schamgefühl ließ bei mir plötzlich sämtliche Alarmglocken synchron miteinander klingen und scheppern, denn immerhin lag ich auf dem Bett eines mehr oder weniger fremden Jungen, während dieser sich neben mir von dem eigentlich gar nicht so sehr störenden Schutz seiner Kleidung befreite. Ohne Spaß, ich hätte kreischend aus dem Fenster springen können, als er dann auch noch beide Hände an seinen Gürtel legte, doch zum Glück hielt er inne, bevor ein größeres Unglück geschehen konnte, und ließ sich betont lässig neben mir auf der immer noch himmlisch gemütlichen Matratze nieder. Eine unangenehme Wärme durchdrang mein Gesicht, aber ich wandte mich demonstrativ nicht von Tatsumi ab, sondern musterte ihn stattdessen mit reichlich unverschämten Blicken, was ihn allerdings nicht weiter zu stören schien. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich Tatsumi noch nicht ein einziges Mal oben ohne gesehen hatte - im Sportunterricht trug er stets diese furchtbaren Basketball-Shirts und am Schulschwimmen konnte er aus irgendeinem mir unbekannten Grund nicht teilnehmen - und ich war zunächst einmal aufrichtig überrascht davon, dass ein jegliche Art von Sport so sehr verabscheuender Mensch wie Tatsumi einen derart wohlgeformten Oberkörper besitzen konnte. Dann war ich entsetzt über ebendiesen Gedanken und schließlich über etwas vollkommen anderes, das mir, warum auch immer, auf den ersten Blick noch überhaupt kein bisschen aufgefallen war. Tatsumis Körper war nämlich, wie ja bereits erwähnt, ganz ohne jeden Zweifel sehr hübsch anzusehen, trotzdem jedoch alles andere als perfekt. Seine Haut war förmlich übersäht von kleinen, kreisrunden und hier und dort auch von eher länglichen Narben, und obwohl ich derartige Anblicke ja an und für sich gewohnt war (gehen Sie mal bitte auf eine Ghetto-Schule, da würd es ihnen auch nicht anders gehen), musste ich nun doch einige Male sehr schwer schlucken. Der Blondschopf lächelte immer noch so wie immer und seine ganze Körperhaltung sprach von einer derartigen Selbstverliebtheit, dass ich ihn wohl unter allen anderen Umständen hätte verprügeln können, aber jetzt... Jetzt war ich so betreten, dass es mir glatt die Sprache und erst recht mein dümmliches Grinsen verschlug, wohingegen Tatsumi anscheinend krampfhaft cool zu sein beschlossen hatte. "Tatsumi?", murmelte ich irgendwann kaum hörbar vor mich hin, und er lächelte sein selbstgefälliges Lächeln, als ob er tatsächlich nichts, aber auch gar nichts von meinem plötzlichen Stimmungsumschwung bemerkt hätte, was ich aber nicht für sonderlich glaubwürdig hielt. "Was denn, Jessie? Noch mehr Sekt gefällig?" "Noch mehr Sekt?" Ich war heilfroh, meinen unsicheren Blick in einen strafenden verwandeln zu können. "Sag mal meinst du das ernst oder willst du mich grad irgendwie verarschen oder was? Von was werd ich wohl sprechen, na?" Ich bohrte mit meinem Zeigefinger in einer der Narben herum, als ob ich dem Blondschopf damit tatsächlich noch irgendwie Schmerzen hätte zufügen können. Der machte nur eine abfällige Handbewegung und legte dann einen ganz besonders gleichgültigen Gesichtsausdruck auf. "Ein Geschenk", entgegnete er schulterzuckend, woraufhin sich meine Miene sogar noch ein ganz kleines bisschen mehr verfinsterte. "Aha", machte ich und zog kritisch beide Augenbrauen hoch. "Und von wem bitteschön? Der scheint dich ja echt gemocht zu haben..." Ich verstand selber nicht, warum ich derart hartnäckig in irgendwelchen alten Wunden herumstochern musste, obwohl ich die Antwort auf meine Frage ja eigentlich so oder so schon längst gekannt oder zumindest geahnt hatte. Verstehen Sie mich nicht falsch, Tatsumi war nun ganz bestimmt nicht mein bester Freund, aber ich hatte nicht wirklich Spaß daran, ihn zu quälen und mir selbst obendrein noch den schönen Abend zu verderben. Aber diese Narben zu sehen machte mich plötzlich derart... wütend, dass ich einfach nicht mehr die Klappe halten und still über alles hinwegsehen konnte. Es ging nicht und ich wollte es nicht und überhaupt war es jetzt auch sowieso schon viel, viel zu spät dazu. "Von meinen Eltern", erklärte Tatsumi so ruhig, dass ich es beinahe schon wieder mit der Angst zu tun bekam, warum auch immer. "Ich bin mir nicht ganz sicher, wie sehr sie mich nun wirklich gemocht haben oder auch nicht. Ich weiß nur, dass mein Vater verdammt viel geraucht hat. Wie auch immer. Aber wollten wir nicht eben noch feiern, Jessie? Also warum so ein langes Gesicht?" "Sag mal, hast du's heut irgendwie mit den blöden Fragen?" Ich verschränkte die Arme vor der Brust und durchbohrte meinen Nebensitzer mit einem bitterbösen Blick. "Was soll der Scheiß? Da machst du ständig einen auf Obermacker und schaust auf jeden runter außer auf dein eigenes Spiegelbild, und dann hockst du seelenruhig hier und lässt dir so was gefallen?" Um Tatsumis Mundwinkel spielte ein kurzes Zucken und ich begriff sehr wohl, dass ich den Bogen gehörig überspannt hatte, obwohl er weder getroffen noch wütend noch sonst wie dreinblickte. Aber mein Blut hatte nun einmal leider bereits zu kochen begonnen und es war alles andere als einfach, den vernichtenden Flächenbrand in meinem Inneren erst einmal wieder zu löschen. "Ganz schön schlaue Ratschläge dafür, dass du eigentlich von der ganzen Situation überhaupt keine Ahnung hast", lächelte der Blondschopf und schüttelte langsam seinen Kopf. "Aber wahrscheinlich meinst du es ja nur gut und woher solltest du es auch wissen? Ich lebe nicht mehr bei meinen Eltern, Jessie. Schon lange nicht mehr. Was passiert ist, ist passiert, und ich kann es jetzt auch nicht mehr ändern. Jedenfalls sehe ich keinen Grund, deswegen mit hängenden Schultern und Trauermiene durchs Leben zu schleichen!" "Was soll das heißen, du lebst nicht mehr... oh... ach so..." Tatsumi nickte, wie um meine nie ausgesprochene Erkenntnis zu bestätigen, und ich wäre am allerliebsten ganz tief im Erdboden versunken. Dabei hatte ich es doch eigentlich tatsächlich nicht ahnen können, immerhin hatte ich den Blondschopf noch nicht ein einziges Mal in einem ,Vorsicht! Adoptiert!'-T-Shirt herumlaufen gesehen und über hellseherische Fähigkeiten verfügte ich leider auch nicht, sonst hätt ich ja wohl längst in irgendeinem düster stylischen Laden in der Innenstadt an irgendwelchen Zukunftsvision herumorakelt, statt Tag für Tag fettige Burgerpakete über die Ladentheke von Beef and Drive zu schieben. Und trotzdem fühlte ich mich wie ein Idiot, wie ein Riesenidiot, um genau zu sein, und Tatsumis zwanghaft ungerührter Blick machte es auch nicht besser. "Sie brauchten einen Nachfolger für ihren Konzern", erklärte er ungewohnt knapp. "Weiß der Teufel, wie sie ausgerechnet auf mich gekommen sind. Na ja, mir soll's recht sein." "Klingt aber nicht sonderlich begeistert", stellte ich fest, um wenigstens überhaupt irgendetwas sagen zu können. "Is doch nich übel, die Villa und alles und dann noch geschenkt..." "Sofern sie mich nicht grad mal wieder in irgendein Eliteinternat abschieben, schon klar..." Tatsumi strich sich mit den Fingern durch sein blond gefärbtes Haar. "Aber was soll's, dort hält es mich sowieso nie sonderlich lange. Also tu mir bloß kein Unrecht - im Weglaufen war ich nämlich schon immer ziemlich gut. Von meinen Eltern, meinen Schulen, und hier wird's mich auch nicht mehr allzu lange halten." "Aber wieso nicht?", protestierte ich, obwohl ich gar nicht mal so genau sagen konnte, weshalb. Ich war einfach immer noch ein bisschen aufgebracht und wütend, genau in der richtigen Stimmung für Prostest und Widerspruch eben, und ich gefiel mir ganz gut in der Rolle des pseudofürsorglichen Besserwissers, der die universelle und ewig gültige Wanderkarte durch sämtliche steinige und verschlungene Lebenspfade kompakt zusammengefaltet in der eigenen Hosentasche versteckt hielt. "Andere Leute wären vielleicht froh darüber, wenn sie in so nem Schloss und bei reichen Eltern und so weiter wohnen könnten. So viel Glück muss man erst mal haben und ich find das total cool von deinen Alten, weißt du das eigentlich?" "Oh ja, wie barmherzig und uneigennützig sie doch sind, schon klar!" In der Stimme des Blondschopfes schwang fast so etwas ähnliches wie unterschwellige Wut mit, die ich allerdings nicht begreifen konnte. Aber wie denn auch? Versetzen Sie sich doch bitte mal kurz in meine Situation, und dann versuchen Sie, sich von meiner Situation aus in Tatsumis Situation zu versetzen. Nein, das ist wirklich nicht einfach. Und ja, es tut mir auch aufrichtig leid, dass ich dieses Gespräch hier so ungeschönt wiedergeben muss. Es ist nur so... vielleicht geht es Ihnen ja am Ende doch wie mir, denn irgendwann im Laufe der Nacht habe ich etwas... habe ich sogar einiges verstanden, und das ist für die Gesamtsituation nicht ganz unbedeutend. Also seien Sie tapfer und lesen Sie weiter. Ich hoffe inständig, dass Sie es nicht bereuen werden. "Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, dass es sehr viel Schlimmeres gibt als so ein Leben!", gab ich mit trotzig verschränkten Armen zurück. Immerhin wusste ich ja, wovon ich sprach, und ich hatte meiner Meinung nach auch sehr wohl das Recht, an diesem Punkt vielleicht etwas kindisch zu reagieren. Tatsumi schien das allerdings anders zu sehen, denn das Lächeln in seinem Gesicht wurde zunehmend kälter. "Ach, tatsächlich? Gut, dass du's sagst, davon hatte ich ja noch überhaupt keine Ahnung!" Er sah mir direkt in die Augen, aber sein ganzes Gesicht erschien mir mittlerweile mehr wie eine Maske, in der ich überhaupt nichts mehr lesen konnte und, ehrlich gesagt, auch überhaupt nichts mehr lesen wollte. Ich hatte nun einmal beschlossen, mir selber leid zu tun, und diesen Beschluss hatte der Rest der Welt gefälligst auch zu akzeptieren! "Ich frag mich nur, wie du reagieren würdest, wenn plötzlich einfach irgendjemand ankommen und dein ganzes Leben verplanen würde. Die interessieren sich doch einen Scheiß für mich, solange sie nur irgendeinen Erben für ihre ach so tolle Firma auf dem Papier stehen haben!" "Dann sag's ihnen halt, dass du keinen Bock auf so was hast!" "Na toll, und wie? Wenn ja scheinbar jeder erwartet, dass ich ihnen vor lauter Dankbarkeit eigentlich permanent die Füße ablecken sollte?" Tatsumi rollte mit den Augen. "Noch ein Jahr Schule und dann bin ich so oder so irgendwie weg. Der Rest wird sich ergeben." "Ja, aber... was ist mit deinen Freunden hier?" "Also, da bin ich ohne die ja wohl wirklich besser dran!" Der Blondschopf ließ seinen Kopf in den Nacken sinken und schloss resigniert seufzend die Augen. "Weißt du eigentlich, wie anstrengend es ist, ausschließlich von Leuten umgeben zu sein, die dir in Punkto Intelligenz und Aussehen meilenweit unterlegen sind?" Ich runzelte die Stirn, was Tatsumi aber leider nicht sehen konnte. "Tatsumi - bescheiden wie immer..." "Aber hey, es ist doch! Schau dir mal sie an und dann schau dir mich an. Soll ich jetzt hier krampfhaft einen auf Understatement machen oder wie? Ich sehe besser aus als sie. Ich kann mich besser anziehen als sie. Ich habe bessere Noten als sie. Und ich bin reich. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie schwer es da fällt, nicht ständig einen auf arrogant zu machen? So zu tun, als würde man nicht auf sie herabblicken?" "Wie sehr du dich auch immer anstrengen magst", entgegnete ich trocken, "es scheint dir jedenfalls nicht zu gelingen." "Ich weiß!" Tatsumi seufzte, und ich wusste beim besten Willen nicht, was ich von dieser fürchterlicherweise auch noch wirklich aufrichtig wirkenden Zerknirschtheit zu halten hatte. "Aber ich kann nicht anders, wenn ich sie mir so ansehe... oder ihnen zuhöre. Natürlich sagen sie nichts, aber merken tun sie es trotzdem. Sie reden mit mir auch nie genau so wie untereinander. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man das wirklich als Freundschaft bezeichnen kann." "Na, deine Probleme möchte ich haben!" "Das glaub ich dir nicht, Jessie!" Er wandte seinen Blick wieder in meine Richtung, und da fühlte ich mich ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung schlecht. Es war ein bisschen so, wie wenn man sich in irgendeiner Diskussion in einen Standpunkt verrennt und dann irgendwann einfach nicht mehr umkehren kann, obwohl man eigentlich längst begriffen hat, dass der andere eigentlich von Anfang an im Recht war. Da saß ich nun also, mit meiner bockigen Miene und einem ganzen Repertoire dieser unerträglich moralischen Sprüche auf den Lippen, die ich bei jedem anderen doch immer so sehr gehasst und verabscheut hatte, und spielte mich auf wie der vom Schicksal verlassenste Mensch in der ganzen Galaxis. Wie um mich selbst zu geißeln ließ ich meinen Blick in Richtung von Tatsumis Narben sinken und schwieg, weil ich mich zu versöhnlichen Worten einfach nicht befähigt fühlte. "Aber weißt du, dass ich genau das an dir so umwerfend finde?", fügte er genau in diesem Moment in perfektem Aufreißertonfall hinzu, wie um mich gewaltsam aus meinem neu entdeckten Jammertal der aufrichtigen Reue zu reißen. Ich konnte mich tatsächlich zu einem drohenden Blick aufraffen, wofür ich mich übrigens zutiefst bewunderte. "Bei dir hatte ich noch nie das Gefühl, dass du zu mir oder zu irgendeinem anderen Menschen aufblickst. Ich fühle mich dir nicht einmal überlegen, und das", verkündete er strahlend, "finde ich großartig!" "Das merk ich auch jedes Mal, wenn du mir auf meinen Hintern gaffst", gab ich in ganz besonders zickigem Tonfall zurück und streckte Tatsumi die Zunge heraus. "Aber apropos Vorlieben, was ist denn eigentlich mit deiner Band? Ich meine... was sollte die denn bitteschön ohne ihren großartigen, unvergleichlich gut aussehenden, intelligenten und begabten Gitarristen machen? Massenselbstmord begehen?" "Wir könnten ja auch einfach mit der Band zusammen durchbrennen. Dann ziehen wir durch die Lande und werden unermesslich reich und berühmt!" "Was heißt hier bitte wir? Das ist deine Band!" "Keine Ahnung..." Tatsumi zuckte mit den Schultern und schenkte mir ein unschuldiges Blinzeln. "Wir könnten für dich ein paar weibliche Vocalparts in die Lieder einbauen. Oder du ziehst dich neben uns auf der Bühne aus, verrenkst dich an einer Stange und beschmierst deinen Körper mit Schlagsahne, während wir spielen. Würd uns bestimmt ne Menge neuer Fans bringen!" "Du bist so ein..." Ich gab ein wütendes Schnauben von mir, aber als ich dann das spöttische Blitzen in Tatsumis schwarzen Augen bemerkte, konnte ich einfach nicht anders als zu lachen. "Weißt du was, Tatsumi?", verbesserte ich mich mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. "Wenn du dir nicht immer so wahnsinnig große Mühe geben würdest, ein Arschloch zu sein, wärst du eigentlich gar nicht mal so verkehrt." Tatsumi lächelte, und beinahe noch im selben Moment bemerkte ich, dass sich der Himmel draußen vor dem Fenster verändert hatte. Die Welt war nicht mehr länger schwarz oder schwarzblau, sondern merkwürdig grau, und irgendwo hinter den Häusern der Stadt lag ein Hauch von Rotviolett in den Wolken. Der Morgen war nun tatsächlich angebrochen und ich fühlte mich kein bisschen müde und auch gar nicht mehr so wütend oder leidend oder reumütig wie noch vor wenigen Minuten. Ich konnte ja auch nicht ahnen, dass die Ereignisse der nun folgenden vierundzwanzig Stunden mein Leben komplett auf den Kopf stellen würden. Ich hatte in dieser Nacht nicht eine einzige Minute lang geschlafen. Ich war in meiner schwärzesten Stunde von einem hektisch vorbeiflatternden Chaosengel errettet worden. Ich hatte die Finalrunde des Lucky Karma-Schönheitswettbewerbes erreicht und ich hatte obendrein nie geahnte Einblicke in Tatsumis merkwürdiges Innenleben gewonnen. Aber das alles war nur der Anfang dessen, was noch kommen sollte. Vor mir lag der erste Tag der wohl verwirrendsten, ereignisreichsten, unbeschwertesten und vielleicht auch schönsten Zeit meines ganzen Lebens. Fortsetzung folgt! Kapitel 6: Part VI - Per Asperam ad Astra ----------------------------------------- Nach langer, langer Zeit geht es endlich mit PredElection weiter. Und nachdem ich das hier geschrieben habe, würde ich die Geschichte am liebsten pausenlos bis zum Ende durchschreiben. Ich glaube, ich habe keine andere Story, die sich so schön und flüssig schreibt. Es ist unglaublich, wie viel Spaß das macht. ^^ Ich bin mit dem Ergebnis übrigens sehr zufrieden. Das Kapitel ist teilweise so wunderschön und teilweise viel, viel düsterer und beklemmender als alles Vorherige. Irgendwie hat Jesse hier endlich mal ein paar richtig große Auftritte. Es gibt Szenen, die ich einfach nur liebe. Die zweite und die dritte Szene mit Jesse und Mike. Das Ganze hier ist ein Kapitel, das mich selbst... ja, ziemlich berührt und auch mitgenommen hat. Ich hoffe, es gefällt euch, und dass ihr auch ein bisschen mit unserem Helden (?) fühlt, leidet und... fliegt. ^.^ Die Müdigkeit kehrte nicht sofort zurück, aber sie tat es, und dann mit umso brachialerer Gewalt. Ich hatte Tatsumis Haus erst vor wenigen Minuten verlassen, schlenderte gut gelaunt die Straße hinab und war gerade eifrig damit beschäftigt, mich des Lebens zu freuen, als das Unglück seinen Lauf nahm. Das Unglück, das man vielleicht auch gar nicht wirklich als solches bezeichnen kann, weil das auf eine Weise so verdammt ungerecht wäre. Ich summte jedenfalls irgendein bescheuertes Liedchen vor mich hin, und die strahlende Sommersonne hüllte mich in eine angenehme Decke aus Wärme. Da plötzlich merkte ich, dass diese heitere Sonnenscheinwelt um mich herum zu verschwimmen begann. Ich blinzelte, wie ich in den Minuten davor bestimmt schon dreihundertfünfundzwanzig mal geblinzelt hatte, aber das Bild vor meinen Augen verdunkelte sich nicht nur für diesen einen Wimpernschlag, sondern flimmerte und wackelte und wurde so unscharf wie ein Foto, das man in tiefer Dunkelheit mit einer Digitalkamera geschossen hatte. Durch meine Knie lief ein heftiges Zittern, und dann wurde mir schwindlig. So ganz habe ich es selber nicht verstanden. Ich meine, ich finde es schon lächerlich, überhaupt noch schreiben zu müssen, dass dies ganz bestimmt nicht die erste durchwachte Nacht meines Lebens war. Vielleicht lag es am akuten Adrenalinabfall in meinem Körper und den Anstrengungen der vergangenen Wochen und ganz besonders der vergangenen Stunden. Wie auch immer, ich strauchelte also, so sehr, dass ich fürchtete, zu fallen, doch ich hatte letztlich Glück im Unglück. Glück, weil ich mein Gleichgewicht wiederfand, obwohl ich an sich schon Mühe hatte, all meine Tüten voller Kleidung und Schminke zu tragen, und deshalb nicht mal hätte nach Halt suchen können, wenn es denn einen gegeben hätte. Und Unglück, weil mich mein kleiner Schwächeanfall leider just in dem Augenblick ereilte, als ich gerade dabei war, eine Straße zu überqueren. Nein, ich bin nicht von einem Lastwagen überrollt worden. Überflüssige Bemerkung, ich weiß. Aber irgendwie wurde ich doch überfahren, und zwar auf eine nicht unbedingt sehr viel weniger tödliche Weise. Ich stand da also auf der Straße, blinzelnd, um meine Bodenhaftung ringend, als ich plötzlich ein Klingeln hörte. Mir blieb kaum noch Zeit, um aufzusehen. Ich handelte auch mehr instinktiv, und zwar instinktiv falsch. Mit einem kläglichen Satz wich ich zurück, aber nicht in Richtung Gehweg, sondern einfach irgendwie nach hinten, und dann kam ich wieder ins Straucheln. Ich griff nach irgendetwas, ließ dabei meine erste Tüte fallen – und wurde von meinem Schwung und dem plötzlichen einseitigen Übergewicht nun doch noch zu Boden gerissen. Ich schlug mit der Schulter hart auf dem Asphalt auf, während sich um mich herum bunte Hemdchen und Lidschattendöschen und ein paar Kajalstifte und Eyeliner auf der Straße verteilten. Und das Fahrrad kam weiter auf mich zu. Mit Sicherheit hätte ich noch aufspringen und wenigstens mein eigenes Leben retten können. Unter anderen Umständen. Ohne diesen starren Schockzustand, in dem ich mich befand. Und ohne diese übermüdete Resignation, die mich selbst jetzt noch in ihren dumpfen Klauen hielt. So aber blieb ich einfach liegen, schützte mein Gesicht überflüssigerweise mit den Armen, wahrscheinlich auch wieder nur ganz instinktiv, und presste meine Augenlieder fest aufeinander. Hörte ein erschrockenes Rufen. Ein schrilles Quietschen. Hupen. Noch mehr Rufe. Aber der einzige Schmerz in meinem Körper war und blieb der in meiner Schulter… und in meinem rechten Handrücken, was aber auch nicht weiter schlimm war. Ich zitterte, als ich es langsam wieder wagte, meine Augen zu öffnen. Dabei war der Anblick, der sich mir bot, überhaupt nicht spektakulär. Da waren zwei grau-schwarz-weiße Turnschuhe, knapp anderthalb Meter von mir entfernt. Dahinter lag ein Fahrrad auf dem Boden. Und weiter dahinter waren Autoreifen zu erkennen. Immerhin, stellte ich in Gedanken fest, war ich nicht zu Tode gefahren worden. Sehen Sie, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es im Himmel ausgebeulte Turnschuhe, abgewetzte Fahrradrahmen und stinkende Autoreifen gab. Und für die Hölle war’s auch nicht spannend genug. So kam ich also zu dem Schluss, dass ich noch lebte, und kurz darauf bestätigte eine Stimme diese hoffnungsvolle Ahnung, indem sie zu mir sagte: „Hey, Jessica! Also ich hab ja gar nicht gewusst, dass ich so umwerfend bin, aber jetzt liegst du mir schon wieder zu Füßen. Ich fühle mich geschmeichelt.“ Im ersten Moment jagte ein eisiger Schreck durch meinen Körper, als ich meinen Namen hörte. Dann aber bemerkte selbst ich, dass wer auch immer entschieden zu wenig arrogant geklungen hatte, um Tatsumi sein zu können. Dass sich Tatsumi wahrscheinlich niemals in seinem ganzen Leben auf ein Fahrrad setzen würde. Und dass mir diese Stimme doch auch irgendwie bekannt vorkam. Als ich ein bisschen träge, wie benommen meinen Blick hob, sah ich über mir ganz furchtbar wirres schwarzes Haar, das in ein lächelndes, aber doch besorgt wirkendes Gesicht fiel. Ja, ich weiß, dass es lächerlich ist, aber ich habe Mike tatsächlich nicht sofort erkannt. Halten Sie mich ruhig für blöd. Ich war in diesem Augenblick einfach so dermaßen am Arsch, dass ich mich wahrscheinlich selber nicht mehr im Spiegel erkannt hätte. Aber dann wurde es mir auch langsam klar, wer da vor, beziehungsweise über mir stand, und ich rang mir ein vorsichtiges Lächeln ab und ergriff die Hand, die er mir helfend entgegenstreckte. „Langsam!“, sagte er, während er mich wenig sanft in die Höhe zerrte. „Ich weiß schließlich nicht, ob du verletzt bist. Doch, ich weiß es. Deine Schulter… die hängt ja in Fetzen herunter!“ Sein Lächeln wurde etwas verlegen, als er sah, dass ich tatsächlich zusammenzuckte. „Das ist nur ein Kratzer!“, erklärte ich, und klang dabei leider nur halb so cool, wie ich das gerne gehabt hätte, als ich den Teppich aus Kleidung und Schminke sah, der sich da um mich herum auf dem Boden ausbreitete. „Na toll. Toll, toll, toll. Vielen Dank! Ich hoffe, du hast dir wenigstens auch ein bisschen dabei weh getan!” Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung, mit welchem Recht ich mich da entblödete, den armen Mike auch noch dumm von der Seite anzumachen, wo er mir doch gerade durch sein geistesgegenwärtiges Handeln die Haut gerettet hatte. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Und nachdem ich mich dämlicherweise mitten auf der Straße selbst flachgelegt hatte. Das fiel mir übrigens auch recht bald auf, und so strich ich mir hastig mein Röckchen zurecht, ging in die Knie und suchte fahrig meine Döschen und Tops zusammen. „Du bist süß, wenn du wütend wirst, weißt du das?“, grinste mir da schon wieder ein Mike ins Ohr, der mir ganz ruhig und zielsicher die weithin verteilten Pinselchen und Stiftchen vor den Fingern wegsammelte. Die Autos im Hintergrund begannen zu hupen. Ich spürte eine gewisse Hektik in mir aufsteigen, aber Mike wirkte nicht verpeilter oder gestresster, als er das wahrscheinlich immer tat. „Aber nein, bin ich nicht. Also verletzt. Mir hat’s das Rad ganz schön weggezogen, aber ich hab noch abspringen können.“ „Mein Schutzengel, was?“, murmelte ich in die nun wieder gefährlich überfüllten Tüten hinein, die ich mir an die Brust drückte, um auf dem Weg von der Straße zum Bordstein zurück nicht schon wieder etwas zu verlieren. Mike hatte es weniger eilig als ich. Er schenkte dem Fahrer des vordersten Autos, der uns mit merkwürdigen Gesten, aber dennoch wenig missverständlich zu verstehen gab, endlich das Weite zu suchen, ein garantiert nicht entschuldigendes Grinsen. Dann machte er sich in aller Seelenruhe daran, sein Fahrrad wieder von dem Asphalt abzukratzen… na ja, hochzuheben. Und er summte dabei sogar ein leises, fröhliches Liedchen. Gegen meinen Willen musste ich lachen. „Na, aber sicher bin ich das! Aber sag mal, hab ich dich denn eigentlich gut beschützt? Verheult siehst du jedenfalls nicht aus. Hast du deinen Wettbewerb gewonnen?“ „Nein. Oder doch. Nicht gewonnen… es ging noch nicht ums Gewinnen. Aber ich bin im Finale, ja.“ „Wow!“, strahlte Mike und stellte sein Fahrrad am Straßenrand ab. Die Autos fuhren wieder von dannen und ich lehnte mich gegen die nächstbeste Hauswand, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Meine Schulter pochte, mein Herz schlug immer noch deutlich beschleunigt, aber ganz wach war ich trotzdem nicht. Ich war froh über ein bisschen sicheren Halt. „Aber hey, ich hab’s mir doch gedacht. Man merkt’s zwar, dass du die Nacht durchgemacht hast… durchgefeiert, denk ich mal, aber du siehst immer noch toll aus. Und ich wollt dich zwar nicht gleich niederfahren, aber ich find’s trotzdem schön, dich wiederzusehen.“ „Ging ja schneller als erwartet, was?“ Ich streckte mich ein wenig, und dann fiel mir wieder auf, wie glücklich ich war. Die Sonne schien mir auf die Schultern, auch auf die aufgeschürfte, und das war trotz der Schmerzen wunderschön. Diese Wärme. Und dann passend zum Sonnenlicht Mikes Lächeln. Außerdem hatte ich gewonnen, gewonnen und nochmals gewonnen. Der Himmel war blau. Ich war gerade eben nicht überfahren worden. Und ich hatte gewonnen. Ach, es ist schon lustig, wie extrem plötzlich alle Gefühle sind, wenn man so vollkommen übernächtigt ist. „Aber jetzt wirst du dein Todesfahrrad gleich wieder reparieren dürfen.“ „Hey! Beleidige nicht mein Fahrrad!“ „Ich hasse Fahrräder!“ „Wieso?“ Mike verschränkte die Arme vor der Brust. „Fahrräder sind toll. Und das sage ich nicht nur, weil meine Eltern mich nur einmal in hundert Jahren mit ihrem Auto fahren lassen!“ „Fährräder sind furchtbar! Wenn sie dich nicht gerade überfahren, dann werfen sie dich ab. Ich hatte zwar noch nie ein Fahrrad, aber ich verstehe einfach nicht, wieso Menschen auf einem Ding fahren, das umkippt, wenn man es nicht festhält. Das ist doch unlogisch.“ „Frauen!“, grinste mein Schutzengel auf seine unnachahmlich verpeilte Weise, und selbst dieser Kommentar klang bei ihm nicht so richtig dämlich und schon gar nicht machohaft. „Dabei kannst du das überhaupt nicht beurteilen, wenn noch nie ein Fahrrad hattest. Ich wette mit dir, du würdest es lieben.“ „Mit mir sollte man lieber nicht wetten. Ich gewinne immer!“ „Immer?“ Er neigte seinen Kopf zur Seite, und seine blauen Augen blitzten auf eine Weise, wie man es sonst nur in der Werbung sah. „Na, dann reizt mich das ja umso mehr. Ich verliere sonst nämlich meistens. Aber wenn du willst, kann ich dir zeigen, dass dein Schutzengel wirklich fliegen kann. Und dann wirst du Fahrradfahren lieben!“ Ich sah Mike einige Sekunden lang zweifelnd an – diesen Menschen, den ich eigentlich überhaupt nicht kannte und der nun schon zum zweiten Mal so unvermutet in mein Leben geflattert war, um mich auf irgendeine Weise zu retten. Aber, sehen Sie… es fühlte sich einfach nicht so an, als ob ich ihn nicht gekannt hätte. Dieses zweite Zusammentreffen kam mir auch gar nicht mehr so unwirklich, so… unmöglich vor wie das erste, obwohl es ja ein genauso großer Zufall war. Nur war die Nacht vorbei und wir lehnten nebeneinander an irgendeiner Hauswand, während über uns die Sonne mit dem blauen Himmel um die Wette strahlte, und es war so, als ob wir das schon tausendmal gemacht hätten. Als ob es etwas ganz Selbstverständliches wäre, unser Hobby, ein Treffen unter vielen. Vielleicht war ich deshalb so entspannt, dass sich meine Zweifel ganz schnell wieder verflüchtigten. Ich lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. „Die Wette gilt!“ „Okay“, strahlte Mike. „Wann treffen wir uns?“ „Nächsten Samstag?“ „Gut. Wann genau?“ „Halb zwei?“ „Passt.“ „Wo?“ „Kennst du das Dolce Vita?“, fragte er. „Du meinst dieses Eiscafé?“ „Japp!“ „Aber die sind doch total überteuert! Und besonders gut ist das Eis jetzt auch nicht.“ „Weiß ich.“ „Außerdem ist das irgendwo in der Pampa! In der Innenstadt gibt’s viel bessere Eiscafés!“ „Weiß ich.“ „Und wieso willst du dann ins Dolce Vita?“ „Wer sagt, dass ich da rein will?“ Mike grinste, so breit, wie ich es selbst bei ihm noch nie gesehen hatte. „Ich sage nur, dass wir uns da treffen sollen, nicht mehr.“ „Aber warum ausgerechnet da, wenn du kein Eis willst?“ „Das wirst du ja dann sehen!“ Begleitet von einem Zwinkern schwang sich Mike wieder in den Sattel, fuhr probeweise einen wackligen Meter nach vorne und schenkte mir dann ein zufriedenes Nicken. „Alles bestens. Und unser Treffen steht damit?“ „Verlass dich drauf!“, nickte ich, und ich konnte überhaupt nicht mehr aufhören, zu lächeln. „See ya!“ „Bis nächsten Samstag… falls ich dich nicht vorher noch einmal retten muss.“ Er lachte, dann wandte er sich ab und fuhr von dannen. Ich hatte es hingegen überhaupt nicht eilig, mich von der Wand in meinem Rücken zu lösen. Sie war warm und ich fand sie einfach großartig. Ich hatte gewonnen. Ich hatte ein Date. Ich hatte einen Schutzengel. Ich, Jessica Maguire, begriff in dieser Sekunde, dass ich alles, alles, alles erreichen konnte. Noch in derselben Woche stand mein erster Besuch im Lucky Karma Arcadium an. Ich hatte noch nie zuvor von der Existenz dieses Gebäudes gehört, aber eine so beliebte und stylishe Marke wie Lucky Karma hatte es anscheinend nötig, eine angemessene Location für solch bahnbrechend wichtige Events wie unseren kleinen Schönheitswettbewerb bereitzuhalten. Das Gebäude war riesig und von außen verspiegelt, alles sehr auf cool gemacht. Die Böden waren schwarz und weiß gefliest, so wie ein Schachbrett, und in der Mitte der recht breiten Gänge lag immer noch tiefroter Teppich aus. Die Türen waren schwarz und glänzten, und zum großen Festsaal führte sogar eine Doppeltür, die an sich schon breiter war als mein Zimmer. Dahinter war so etwas wie ein überdimensionaler Kinosaal, mit pechschwarzen Wänden, in die überall kleine runde, von blitzendem Silber umrahmte Lampen eingesetzt waren, wie ein Sternenhimmel. Die Sitze für die Zuschauer waren mit rotem Samt bezogen und sahen ganz furchtbar gemütlich aus. Der Catwalk war verspiegelt, ebenso die Bühne, und darüber waren so viele Scheinwerfer, dass ich mich schon bei ihrem Anblick, obwohl sie gar nicht angeschaltet waren, geblendet fühlte. Vorne bei der Bühne stand eine gläserne Tafel, auf der sich wahre Berge von In-Food türmten. Alles, wirklich alles in diesem Raum war so dermaßen darauf angelegt, protzig und groß und beeindruckend zu wirken. Und ja, verdammt, ich war so beeindruckt, dass es mir glatt die Sprache verschlug. Tatsumi hatte mich begleitet – um mir den Weg zu zeigen, wie er meinte, aber ich bin mir sehr sicher, dass es ihm da eigentlich um andere Dinge ging – und als ich zu ihm aufblickte, grinste er so breit wie selten zuvor. „Wenn dir die Augen aus dem Kopf fallen, liebste Jessie, wirst du bei dem Wettbewerb aber keine großen Chancen mehr haben.“ „Du bist so ein Arschloch, Tatsumi“, fand ich dann doch relativ schnell meine Worte wieder. „ Außerdem hast du hier gar nichts zu melden. Du bist nur mein Sklave, schon vergessen?“ „Dein edler Ritter“, verbesserte mich Tatsumi und stieg die Stufen in Richtung Catwalk hinab, die ebenfalls mit zahlreichen winzigen Lampen besetzt waren. Diese Lampen leuchteten aber nicht die ganze Zeit, sondern blitzten nur dann und wann auf, was so einen wunderbar kitschigen Funkeleffekt verursachte. Irgendwie stimmte mich das gleich wieder versöhnlich und ich hüpfte Tatsumi hinterher, ohne auf die Kürze meines Rockes zu achten. Ein paar der bilderbuchhaften Schönheiten, die ich dabei überholte, warfen mir dafür zwar strafende Blicke zu, aber das störte mich auch nicht weiter. „Du und ein Ritter!“, verkündete ich dann auch noch extra laut und undezent. „Du würdest doch im Kampf an nichts anderes denken, als dass ja nicht dein makelloses Gesicht verletzt wird!“ „Dafür“, grinste Tatsumi zurück, wobei er betont die Zähne bleckte, „gibt es Helme, meine liebe Lady Jessica.“ „Cool. Dann müsste ich endlich dein schmieriges Grinsen nicht mehr ertragen.“ Ich streckte Tatsumi die Zunge heraus, lockerte meine Schultern, dass mein Top noch ein bisschen mehr nach oben rutschte, und platzierte mich dann strategisch günstig direkt neben dem Buffet. Dort bediente ich mich erst einmal bei der großen Auswahl an Sushi-Röllchen, bevor ich meinen Begleiter überhaupt wieder eines Blickes würdigte. Mir entging nicht, dass die übrigen Mädchen sich von den Essensmengen eher fernhielten, und so griff ich nur noch beherzter zu. Provokation konnte ja so einen Spaß machen! „Darf ich mich da eigentlich auch bedienen?“, flötete mir Tatsumi von hinten über die Schulter in mein Ohr. „Nein“, entgegnete ich, während ich genüsslich in einen Saté-Spieß biss. „Das ist nur für die Teilnehmerinnen. Da steht’s, auf einem Schild zwischen Kaviar und Garnelenspießen. Riesengarnelenspießen, wollt ich sagen. Ah, und übrigens: Völlerei.“ „Neid!“, erwiderte Tatsumi und verzog das Gesicht. „Und was soll ich essen?“ „Da drüben ist so ein toller Wasserspender, für die Gäste“, strahlte ich, nur um dann besonders genüsslich eine der wirklich riesigen Garnelen zu zerkauen. „Wow! Toll! Da muss ich mir gleich was von holen!“ Auf irgendeine wundersame Weise schaffte es Tatsumi, tatsächlich noch so zu klingen, als ob das sein voller Ernst wäre. Er drückte mir ein flüchtiges Küsschen auf die Wange, bevor er sich in Richtung des Plastikbehälters verabschiedete. Die anderen Mädchen kuckten wieder. Wahrscheinlich fragten sie sich gerade, wie so ein Flittchen meines Kalibers es geschafft hatte, sich einen so offensichtlichen reichen Typen zu angeln. Na, wobei sie sich das wie wahrscheinlich schon ganz gut vorstellen konnten. Nur nicht, womit ich das verdient hatte. Bei diesem Gedanken strahlte ich gleich noch ein bisschen mehr. Ja, und während ich noch so dastand und dümmlich triumphierend vor mich hinlächelte, da kam der Angriff, ganz unvermutet und hinterrücks, dass ich mich gar nicht dagegen wehren konnte. „Netter Gürtel“, flötete es plötzlich von schräg links hinten. Als ich mich umdrehte, blickte ich geradewegs in zwei blitzend blaue Augen, die in einem etwas rundlichen Gesicht lagen und… ja, knapp zwei Drittel davon einnahmen. Das restliche Drittel war für einen knallpinkfarbenen Mund reserviert, wobei die Lipglossschicht darauf beinahe noch mal so dick war wie die Lippen selbst. Und drumherum türmten sich wasserstoffblonde Locken, die sich bis weit über ihre Schulterchen hinabschlängelten. Oh mein Gott, schoss es mir durch den Kopf, Barbie war von den Toten auferstanden. Ich spürte, wie es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Meine Augen suchten nach Tatsumi und fanden ihn beim Wasserspender, aber er hatte mir den Rücken zugewandt und hörte meine stummen Hilferufe nicht. Toller Ritter! Ich steckte mir hastig noch ein Tekka-Maki in den Mund und begrüßte die furchteinflößende Unbekannte mit einem süßlichen Lächeln. „Nur schade“, fügte sie dann aber hinzu, als ich gerade ihren tussigen Zynismus ignorieren und mich ganz blöd bedanken wollte, „dass du deinen Rock vergessen hast.“ „Tja“, erwiderte ich ganz ungerührt und… tatsumihaft, während es in mir spontan zu kochen begann, „wer braucht schon einen Rock, wenn er diese Beine hat?“ „Auch noch arrogant, was?“ Barbie zog ihre ausgerissenen und dann wieder aufgemalten Augenbrauen in die Höhe. „Solche Bitches wie dich kann ich ja so dermaßen ab! Für welchen Juror hast du denn die Beine breit gemacht, um’s so weit zu schaffen.“ „Nein“, verbesserte ich sie äußerlich weiterhin geduldig, obwohl meine Fäuste jetzt schon juckten, „du verstehst da etwas falsch. Dies hier ist der Schönheitswettbewerb. Die Mädchen, die hier sind – wie ich zum Beispiel – sind weitergekommen, weil sie so gut aussehen. Das Porno-Casting ist nebenan. Da musst du dich in der Tür geirrt haben, aber das kann ja mal vorkommen.“ Barbie schnappte nach Luft., dabei hatte ich mich doch eigentlich sehr zurückgehalten. Sie wollte irgendetwas sagen, aber in diesem Augenblick wurde ein fröhlicher Jingle eingespielt und alle Augen wandten sich der Bühne zu. Ich wandte mich mit, ganz automatisch, und ich war auch froh darüber, das in enges Weiß gekleidete Püppchen nicht mehr länger von oben herab betrachten zu müssen. Dafür wurde ich jetzt von oben herab betrachtet, und zwar von einer Frau, die weit über mir auf die Bühne stolziert war. Sie trug eine gigantische Fönfrisur in schimmerndem Dunkelbraun, ein samtenes blaues Kleid und blutrote Lippen. Sie war auf eine seltsam übertriebene Weise hübsch, auch wenn ihre Zähne etwas weit nach vorne standen, und aus irgendeinem Grund fiel es mir schwer, meinen Blick wieder von ihr abzuwenden. Was nicht nur an der allgemeinen Neugierde und Spannung lag, sondern daran, dass sie… einfach irgendetwas an sich hatte, keine Ahnung, ich kann es nicht beschreiben. „Hallo, meine Schönsten der Schönen“, verkündete sie, und auch ihre Stimme hatte so was Großartiges und Wichtiges im Tonfall. Spätestens jetzt ruhte jedes Bisschen Aufmerksamkeit im ganzen Saal auf ihr. „Ich bin Melinda Farley von Lucky Karma Cosmetics! Zunächst einmal muss ich euch allen gratulieren. Ihr seid die Top Three eurer Schulen. Aber jetzt wollt ihr alle die Nummer Eins der ganzen Stadt werden, und in dreieinhalb Wochen wird es ernst für euch. Hier könnt ihr euch schon mal an die Location gewöhnen, die für diese einmaligen Tage zu eurer zweiten Heimat werden wird.“ Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich Barbie verstohlen ein Sashimi in den Mund schob. Sie hatte dabei diesen Blick drauf, den Frauen immer in den TV-Pornos auflegen, während sie… na, sie können es sich schon denken, wenn es hier gerade ums In-den-Mund-Schieben geht. Ich grinste und widmete mich dann wieder mit meiner ganzen Aufmerksamkeit dieser eindrucksvollen Person auf der Bühne. „Und ich möchte euch jetzt verkünden, was ihr für den Lucky Karma-Contest so alles können müsst. Es wird diesmal großen Wert auf die Einzelperformances gelegt, immerhin wollen wir ja eine von euch, wir wollen dich, und das Publikum soll von Anfang an ein Gesicht mit jedem Namen verbinden. Zuerst werdet ihr aufgerufen, in Abendkleidern, und stellt euch der Reihe nach auf der Bühne auf. Kleider werden euch übrigens bereitgestellt, wenn ihr selber keine angemessene Garderobe habt, keine Sorge. Danach kommt ein kurzer Lauf für jeden in der Bikini-Runde. Da zeigt ihr in kurzer Zeit eure Walking Skills. Und danach, meine Schönheiten, kommt es ganz auf euch an.“ Sie machte eine künstlerische Pause, die ich dazu nutzte, nach gleich zwei California-Maki zu greifen. Man musste ja vorsorgen, für die längeren Redezeiten. Barbie sah mich dabei an, als ob sie mir an liebsten die Augen auskratzen würde. Ich lächelte nur und aß meine Sushi-Röllchen nur umso genüsslicher. „Zuerst müsst ihr danach in einer Disziplin antreten, die wir Freestyle-Walk nennen. Ihr sucht euch ein Outfit aus, aber ein besonderes. Überrascht uns. Bezaubert uns. Seid kreativ! Aber bewahrt euch noch eure besten Ideen für unsere Königsdisziplin. Eure Performance. Jede von euch muss etwas vorführen – ein Lied singen, tanzen, turnen, was immer ihr wollt. Ihr habt zwei Minuten, um uns umzuhauen, nicht mehr und nicht weniger. Danach wird die Entscheidung getroffen. Und darauf werdet ihr in den kommenden Wochen hinarbeiten, auf dies und nichts Anderes.“ Ich kann durch Buchstaben auf Papier überhaupt nicht wiedergeben, wie endgültig diese Worte klangen. Es fror mich, ganz ehrlich. Und das lag absolut nicht an meinem ultimativ knappen Outfit. Ich sag’s ja, diese Frau war eine Führerpersönlichkeit, sie war jemand, ich kann’s nicht anders ausdrücken. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Handflächen waren schweißnass. Freestyle-Walk. Performance. Diese Worte rasten durch meinen Kopf, bis mir ganz schwindlig wurde. Ich glaube, erst in diesem Augenblick wurde mir klar, dass zwischen mir und dem Preisgeld noch verdammt viel mehr stand, als nur ein nett anzusehendes Lieblingsoutfit auszusuchen und ein bisschen dabei zu lächeln. Irgendwann applaudierten die Mädchen um mich herum, und ich stellte fest, dass ich irgendetwas verpasst hatte, was da noch auf der Bühne besprochen worden war. Dass sich die Braunhaarige mittlerweile verabschiedet haben musste und sich jetzt sogar schon zum Gehen wandte. Und was ich vor allem feststellte, war, dass ich nicht auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, mit was ich hier bitteschön antreten beziehungsweise auftreten sollte. Ein umwerfendes Kostüm? Eine noch umwerfendere Perfomance? Aber ich konnte doch nichts! Na gut, zeichnen, ja. Aber es gab sicher spannenderes, als da zwei Minuten lang vor versammelter Mannschaft auf eine Leinwand einzupinseln. Um zu gewinnen, brauchte man eine wirklich, wirklich herausragende Idee und Vorstellung, so viel war klar. Und der Sieg war meine einzige Option. Ich brauchte dieses Geld, aber das wissen Sie ja bereits. Ich brauchte, brauchte, brauchte es. Ich musste gewinnen. Das Atmen fiel mir plötzlich schwer, als ich feststellte, dass ich keine Ahnung hatte, wie um alles in der Welt ich das anstellen sollte. „Warum so entsetzt?“, lachte Barbie neben mir auf eine ganz unsagbar höhnische Art und Weise. Ich versuchte, meine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen, zu lächeln – überheblich zu lächeln, aber es gelang mir nicht so recht, und dafür hasste ich mich. „Tja, jetzt wird dich dein schönes Gesichtchen auch nicht mehr weiterbringen. Pech gehabt.“ „Ich muss auch nicht weiterkommen“, entgegnete ich erstaunlich schlagfertig. „Ich muss nur gewinnen, und das ist ja kein großes Problem.“ „Eingebildete Tusse“, zischte die Blondine, und dann reckte sie ihr Kinn ein Stück weit in die Höhe und stemmte sich die Hände in die Seiten. „Dich mach ich fertig!“ Und damit wandte sie sich ab und stolzierte auf ihren schneeweißen High Heels davon. Ich sah ihr hinterher und erblickte dann auch Tatsumi, der es jetzt endlich wieder wagte, sich durch die Reihen der schönen Mädchen in meine Richtung zurückzukämpfen. Offensichtlich hatte Madame Melindas Präsenz nicht nur mich eingeschüchtert. Ich hob die Hand und winkte ihm zu, obwohl ich natürlich immer noch da stand, wo ich die ganze Zeit über gestanden hatte, und er auch ganz zielsicher in meine Richtung strebte. „Na, dir scheint’s ja zu gefallen, mit mir anzugeben“, raunte er mir zu, als er wieder zu mir aufgeschlossen hatte. „So ein reicher Freund macht ganz schön Eindruck, was?“ „Klar“, gab ich ungerührt zu. „Das ist ja auch das Einzige, wofür du gut bist.“ „Na, danke!“ Tatsumi machte ein so betont getroffenes Gesicht, dass ich mir nicht mehr ganz sicher war, ob ich ihn nicht wirklich irgendwie getroffen hatte. Dann aber fuhr er sich mit einer Hand durch sein schulterlanges Haar und grinste wieder. „Aber sag mal, du hast ja schon eine neue Freundin gefunden. Hat sie dir ein paar Adressen von befreundeten Schönheitschirurgen gegeben oder was? Barbie lebt!“ „Genau das hab ich auch gedacht! Du sollst nicht in meinen Gedanken lesen. Hör sofort auf damit!“ „Wenn das dein einziges Problem ist…“ Mein blonder Ritter blickte Barbie ganz vorsichtig hinterher und erschauderte demonstrativ. „Lady Silikon hätte dich ja fast mit Blicken aufgespießt!“ „Ach, ich hab sie fertig gemacht! Und weißt du was? Das verdanke ich dir.“ „Wie das?“ „Ich hab überlegt, wie ich möglichst fies sein kann, und dann ist mir dein arrogantes Gehabe eingefallen. Der Rest war einfach.“ „Jessie, du bist wirklich ein Schatz!“ Tatsumi bleckte die Zähne in meine Richtung. „Ich weiß“, nickte ich. Dann nahm ich ein Sushi-Röllchen vom Buffet und hielt es ihm entgegen. „Da. Für dich. Ich muss meinem Vorzeigemacker doch auch mal was bieten.“ „Das machst du nur, dass ich dich doch wieder zurück nach Hause fahre, du verfluchtes kleines Miststück.“ „Hey! Noch ein solches Wort und ich schlag dir dein selbstgefälliges Grinsen ein!“ Die Mädchen um mich herum sahen mich schon wieder so entsetzt an, und da konnte ich endlich wieder befreit lachen. Ich hängte mich an Tatsumis Arm und blickte mindestens genauso selbstgefällig in die Runde wie er, und dabei fühlte ich mich ganz unbeschreiblich gut. Der Schrecken der vergangenen Minuten – Freestyle-Walk, Performance, Freestyle-Walk, Performance, Freestyle-Walk und so weiter – saß mir immer noch in den Knochen, aber langsam gelang es mir, wenigstens den schlimmsten Schock zu überwinden. Dreieinhalb Wochen waren keine lange, aber auch keine allzu kurze Zeit. Noch bestand kein Grund zur Panik. Dachte ich wenigstens. Ich hatte ja keine Ahnung, mit wem ich mich da heute so leichtfertig angelegt hatte. Dass Barbie eigentlich Trish Hedger hieß, und wie ernst es ihr mit ihrer Drohung tatsächlich gewesen war, sollte ich erst – na, zwar nicht viel, aber doch deutlich später erfahren. Davor hatte ich erst einmal ein vollkommen anderes Problem, das eigentlich gar kein Problem war, weil ich mich nicht einfach nur darauf freute, sondern mich wirklich aus tiefstem Herzen danach sehnte. Das Problem hatte ich nur in den wenigen Stunden davor, in denen ich in der Wohnung auf- und abging. In denen ich hundertmal Mums Kleiderschrank durchwühlte, bis ich mich schließlich für ein leichtes, hellblaues Sommerkleid entschied. In denen ich meine Haare noch sehr viel öfter hochband und dann wieder öffnete, bis ich irgendwann gar nicht mehr wusste, wie ich nun möglichst vorteilhaft aussah und überhaupt. Um es kurz zu machen: Am Ende ließ ich sie offen. Ich hatte irgendwann einfach nicht mehr die Zeit, mir noch länger darüber den Kopf zu brechen. Sie ahnen, worauf ich hinauswill? Genau. Ich hatte ein Date. Und da war eine S-Bahn, die sicher nicht auf mich warten würde, ganz egal, wie bezaubernd ich auch aussehen mochte. So lief ich also im flatternden Kleidchen und mit dezentem Make up aus der Wohnung, bevor ich mich doch noch einmal umentscheiden konnte, und in diesem Augenblick war das Eis gebrochen. Oder geschmolzen, und zwar im warmen Sonnenlicht, das mich dort empfing. Ich hatte ein Date, aber ich war nicht aufgeregt. Alles kam mir so selbstverständlich vor, es war ganz seltsam, und der Himmel war wolkenlos blau. Ein Sommernachmittag, wie man ihn sonst nur aus Filmen kannte. Die Wärme vertrieb einfach jeden Gedanken aus meinem Kopf, und ganz kurz begriff ich noch, dass es gerade diese gedankenlose Leichtigkeit war, die ich so dringend wieder gebraucht hatte. Dann verblasste auch diese Erkenntnis, weil einfach alles außer diesem perfekten Sommerhimmel bedeutungslos war. Meine Schritten wurden ganz leicht und ich brauchte gar keinen Grund mehr, um die ganze Zeit über zu lächeln. Mike wartete schon auf mich, als ich das Dolce Vita erreichte. Ich war ein bisschen spät dran, das gebe ich zu, aber es brauchte nun einmal seine Zeit, um von einer abgelegenen Gegend der Stadt in eine andere abgelegene Gegend der Stadt zu gelangen. Trotzdem möchte ich wetten, dass Mike schon sehr viel früher dagewesen war, weil er mich einfach um jeden Preis hatte erwarten wollen. Und es passte, es passte so unsagbar perfekt, wie er vor diesen bunten Sonnenschirmen und den weißen Tischen stand, auf sein Fahrrad gestützt, den Wind in den sowieso wieder einmal vollkommen zerzausten Haaren. Er strahlte über das ganze Gesicht. Ich glaube, ich hatte nie zuvor und habe nie wieder einen Menschen getroffen, der so strahlen kann wie Mike. Dazu dieses italienische Eiscafé, die breiten Straßen der noblen Siedlung, die Bäume am Straßenrand und das Blau des Himmels. Ich konnte gar nicht anders, als zurückzustrahlen. „Hey, Engel!“, rief ich ihm so laut zu, dass sich zwei, drei der eisessenden Gäste umdrehten und mich strafend anfunkelten. Ich war zufrieden und begrüßte Mike und überhaupt alle mit einem fröhlichen Winken. „Du bist ja noch pünktlicher als ich.“ „Ich steh hier schon seit zwanzig Minuten“, grinste er zurück. Der Wind strich ihm wieder durch sein Haar und zerzauste es noch ein bisschen mehr. Ich beschleunigte meinen Schritt ein wenig und trat vor ihn hin. „Wir sind aber erst für jetzt verabredet.“ „Klar“, bestätigte er meine bereits erwähnte Ahnung, „aber ich wollte dir einfach unbedingt einen hollywoodmäßigen Empfang bereiten, verstehst du?“ „Wow. Wie romantisch“, antwortete ich gelangweilt und stützte mich mit dem Ellbogen auf dem Sattel ab. Im Rücken spürte ich die erwartungsvollen Blicke eines Kellners, ließ mich aber durch sein demonstratives Tischeabräumen und Stühlezurechtrücken nicht aus der Ruhe bringen. Man konnte mich ja zu Vielem nötigen, aber ganz bestimmt nicht zum Verzehr eines völlig überteuerten Fertigeisbechers. „Ja, find ich halt auch. Aber pass auf, das war noch gar nichts. Das wird noch viel besser. Der Tag soll perfekt für dich sein, Jessie, weißt du? Immerhin möchte ich meine Wette ja gewinnen.“ „Schön zu wissen, worum es dir heute geht“, grummelte ich und funkelte ihn an, aber meine Lippen wollten einfach nicht aufhören, zu lächeln. „Gehen ist das falsche Wort. Wir wollen fahren, Jessie. Fahren. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied.“ „Toll. Fahren also. Ich kann’s kaum mehr erwarten.“ Ich löste mich demonstrativ wieder von dem Rad, trat einen Schritt zurück und verschränkte meine Arme vor der Brust, während ich mich im Geiste für dieses Flatterkleidchen verprügelte. Hatte mir Mike nicht ganz ausdrücklich gesagt, dass er mich von den Freuden des Radfahrens überzeugen wollte? Doch, er hatte. Und ich Vollidiot kreuzte hier mit diesem Fetzen Nichts auf. Ich presste meine Oberschenkel gegeneinander und starrte das Metallgestell feindselig an. „Dann gib das Ding her und lass mich fahren. Wobei ich’s sogar immer noch toller fände, nebenherzulaufen.“ „Nein, nein, Jessie. Du läufst garantiert nicht nebenher. Keiner von uns läuft nebenher. Ich sagte es doch schon, wir fahren. Beide.“ „Beide?!“ „Beide!“ Mike grinste so breit, dass seine Mundwinkel fast die Ohren berührten. Ich hätte im Schaufenster des Eiscafés nachsehen können, wie blöd ich gerade eben dreinblickte, aber ich wollte es eigentlich gar nicht wissen und bemühte mich stattdessen um einen umso böseren Gesichtsausdruck. „Ich setz mich garantiert nicht auf diesen klapprigen Gepäckträger. Den reißt’s doch unter mir weg, und dann werd ich vom Hinterrad zerfetzt.“ „Du wirst nicht vom Hinterrad zerfetzt. Und auf dem Gepäckträger wirst du auch nicht sitzen müssen. Du setzt dich auf den Sattel.“ „Und was ist mit dir?!“ „Ich trete in die Pedale!“, verkündete er freudestrahlend, und fuhr dann auf meinen zweifelnden Blick hin fort: „Ich stehe. Du hältst dich an mir fest. Das ist gar kein Problem, so hab ich schon hundertmal Kumpel von mir heimgebracht. Da sind auch nur ganz Wenige bei gestorben.“ „Haha. Wirklich sehr komisch!“ „Sehe ich so aus, als würde ich Witze machen?“ „Ja. Tust du. Und außerdem hast du spätestens jetzt verloren. Ich werde das hier nicht lieben. Ich hasse es. Ich hasse es jetzt schon.“ „Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest“, lachte Mike. Dann setzte er sich in Bewegung, wendete sein Rad und machte mir Platz zum Aufsitzen. Ich zögerte noch einmal demonstrativ, bis er mich allzu auffordernd ansah, dann kletterte ich möglichst vorsichtig auf den Sattel. Das warme Plastik klebte sofort an der Innenseite meiner Oberschenkel. Ich konnte mein Röckchen gerade noch so zurechtziehen, dass nicht alle Welt meine Unterhose sehen konnte (wenigstens der Teil der Welt, der es nicht bei der Vorrunde zum Lucky Karma Modelcontest ohnehin schon getan hatte), aber sonderlich sicher war mein Sitz nicht. Ich hatte weder übertrieben noch gelogen. Ich saß auf einem Rad und ich hasste es. „Kann ich jetzt wieder absteigen?“, murmelte ich missmutig, aber Mike grinste mich nur an. Dann stellte er sich mit dem rechten Fuß auf die eine Pedale, schwang sein Bein über die mittlere Stange, platzierte den linken Fuß auf der anderen Pedale und fuhr los. Im ersten Moment war ich mir sicher, dass wir umkippen würden. Ich konnte den Boden zwar noch berühren, aber das Fahrrad machte so einen komischen Schlenker, und da war ja auch einiges an Gewicht drauf – das Rad selber, dazu noch wir beide, ich merkte sofort, dass ich uns nicht stützen konnte. Zu meinem größten Ärger stieß ich einen leisen Schrei aus, was Mike wiederum zum Lachen brachte. „Nehm die Beine vom Boden weg!“, rief er. „Ich kann nicht! Wir fallen!“ „Wir fallen nicht. Nicht, wenn du die Beine wegnimmst. Jetzt mach schon! Lauf nicht so komisch mit, wie das aussieht. Ich hab schon das Gleichgewicht. Und pass auf, dass du nicht mit dem Fuß in die Speichen kommst!“ „Ich hasse, hasse, hasse das!“, jammerte ich. Ich hatte beide Arme um Mikes Oberkörper gelegt, und meine Finger schlossen sich ganz fest um den Stoff seines T-Shirts. Ich spürte, wie meine Handflächen ganz nass wurden. Und meine Oberschenkel sowieso. Ich hatte das Gefühl, einfach vom Plastik des Sattels wegzurutschen. Das Rad wurde schneller, genauso wie mein Herzschlag, und ich gehorchte Mike, weil ich zu allem anderen einfach zuviel Angst hatte. Und dann fuhren wir. Wir kippten tatsächlich nicht um, wenigstens nicht sofort. Das Rad schlingerte noch ein wenig, als ob wir beide betrunken wären, wofür uns die Gäste des Eiscafés wahrscheinlich auch hielten. Aber immerhin, wir fuhren. Und nach kurzer Zeit kehrte in diese Fahrt auch eine gewisse Ruhe ein, eine Gleichmäßigkeit, die mich ebenfalls beruhigte. Wir fuhren geradeaus. Der Fahrtwind war sogar ganz angenehm. Der Sattel klebte zwar, war aber recht breit, sodass ich mehr oder weniger sicher saß. Und Mike schien sich auf seinen Pedalen auch ganz wohl zu fühlen, was mir zusätzlich die Angst nahm. So schlimm, versuchte ich mir einzureden, war das hier doch überhaupt nicht. Dann sah ich den Abgrund. Er tat sich direkt vor uns auf, so nah, dass es mir im ersten Augenblick den Atem nahm. Und ich übertreibe nicht, wenn ich Abgrund sage. Wissen Sie, die Straße vor uns war nicht einfach nur abschüssig, das war… eine Schlucht. Gut, vielleicht kam sie mir von meinem Platz auf dem Fahrrad aus auch nur einfach noch ein bisschen steiler vor, als sie sowieso schon war, aber denken Sie nicht, dass ich übertreibe. Und außerdem war die Schlucht verdammt tief, sprich, die Straße verdammt lang. Die Panik überwältigte mich vollkommen. Ich begann zu schreien. „Halt an, Mike!“, brüllte ich gegen seinen Rücken. „Halt an, bitte, halt an! Da geht es runter!!“ „Ich weiß“, schrie er zurück, aber ohne eine Spur von Angst in der Stimme. „Genau deshalb sind wir hier!“ „Halt an! Halt an, halt an, halt an! Ich will hier runter!“ „Super! Ich will nämlich auch da runter!“ „Nein!“, kreischte ich und klammerte mich noch ein bisschen fester an ihn. Wie er trotzdem die Balance halten konnte, ist mir bis heute ein Rätsel. „Hier runter! Vom Rad! Nicht da! Bitte, Mike, bitte. Bitte! Dreh um! Ich hab Angst!“ „Du musst keine Angst haben“, sagte er ganz sanft, „ich bin doch dein Schutzengel. Dir wird nichts passieren. Du wirst es liebe, Jessie. Und jetzt halt dich gut fest. Es geht los!“ „Nein!!!“ Ich schluchzte fast. Und ich hielt mich nicht einfach nur gut fest, ich zerquetschte dem armen Mike fast seinen Brustkorb. Wobei er es natürlich nicht anders verdient hatte. Mittlerweile zitterte ich wirklich schon am ganzen Körper. Ich traute mich aber auch nicht, mit den Füßen wieder auf den Boden zu gehen oder mich sonst irgendwie zu wehren, aus Angst, dann erst recht zu fallen. Ich trug ja nur dieses Kleidchen, ich hatte überhaupt keinen Schutz am Körper. Mein Herz zerschlug mir mittlerweile fast die Rippen. Ich presste meine Augenlider fest aufeinander. Und dann ging es wirklich los. Es war ein bisschen so wie bei einer Achterbahn. Am Anfang, beim Überqueren des höchsten Punktes, wurden wir sogar wieder ein wenig langsamer, aber vielleicht machte Mike das ja auch mit Absicht. Dann kam die Beschleunigung. Und wie die kam! Binnen weniger Sekunden wurden wir schon so schnell, dass es mir wie verrückt im Bauch kribbelte. Der Fahrwind kühlte mir den verschwitzten Körper, riss an meinen Haaren, hüllte mich ganz und gar ein. Als ich es wagte, ein Auge ganz vorsichtig wieder zu öffnen, sah ich neben mir die Bäume vorbeirasen, die den Abhang säumten, und dahinter einen wilden Farbenrausch. Es war tatsächlich wie in einer Achterbahn, nur ohne Schienen, ohne Bügel, ohne jede Sicherung. Wieder begann ich zu schreien. Aber diesmal nicht aus Angst. Sondern vor Vergnügen. Auf eine Weise fürchtete ich mich immer noch, aber es war diese Furcht, wie man sie bei einem Klingelstreich empfand, so eine aufregende, herrliche Nervosität. Mein ganzer Körper kribbelte. Bei jeder Bodenwelle, über die wir fuhren, machte das Rad einen kleinen Satz, und die Schmetterlinge in meinem Bauch überschlugen sich. Die Vorstadtstraße raste in einem atemberaubendem Tempo an uns vorbei und unter uns hindurch, und der Wind riss jedes Geräusch mit sich fort. Ich wusste plötzlich, dass wir nicht stürzen würden. Wir konnten überhaupt nicht stürzen, weil wir tatsächlich flogen. Ich jauchzte vor lauter Euphorie und schrie gleich noch einmal, weil ich gar nicht mehr wusste, wohin mit meiner Freude. Dann löste ich mich mit einem Arm von Mikes Oberkörper. Ich hatte dabei keine Angst, weil ich einfach wusste, dass ich es konnte. Ich streckte diesen Arm zur Seite weg, spreizte die Finger, dass der Fahrtwind zwischen ihnen hindurchgleiten konnte, dass er sie streifte wie einen Flügel. Dann legte ich meinen Kopf in den Nacken. Über mir zog ein perfekter Sommerhimmel hinweg, und wir beide, Mike und ich, flogen ihm entgegen. Eine weitere, größere Bodenwelle ließ das Rad von der Erde abheben. Einen Moment lang schwebten wir tatsächlich in der Luft, und ich erschauderte, so wunderschön war dieses Gefühl. Dann setzten wir wieder auf, recht hart sogar, und schlingerten ein bisschen hin und her, aber ich lachte nur ganz leise vor mich hin. Ich hatte den Himmel berührt, und jetzt noch war ich ihm so nah, dass ich ganz leicht meine Finger danach ausstrecken konnte. Es war einer dieser sehr seltenen Augenblicke, in denen ich einfach wunschlos glücklich war. Es gab nur noch das hier und jetzt, und mehr brauchte ich nicht. Der Wind spielte mit meinen Haaren, mit meinem Kleid, und er trug mich immer höher und höher und höher hinauf, während Mike und ich auf einem einzigen rostigen Fahrrad eine vorstädtische abschüssige Straße hinunterfuhren. Für diese kurze, kostbare Zeit war das Leben perfekt, so perfekt, dass ich nicht einmal mehr enttäuscht sein konnte, als wir schließlich wieder langsamer wurden. Keiner von uns sprach ein Wort. Das war auch nicht nötig. Ich legte meinen Arm wieder um Mike und lehnte meinen Kopf gegen seinen Rücken. Er fuhr ganz ruhig weiter, während ich stumm vor mich hinstrahlte. Mein ganzes Leben hatte sich in diesem unendlich blauen Sommerhimmel aufgelöst. Es gab keine Walking Skills, keine Performance-Runde, keine Drogen, keine Verpflichtungen und Hoffnungen und Ängste mehr. Es gab diese von Bäumen gesäumte Straße, den Geruch des warmen Asphalts, es gab den Wind, die Sonne und Mikes T-Shirt. Es war Sommer und ich war glücklich. Mehr interessierte mich nicht. Irgendwann lenkte Mike das Rad einfach zur Seite. Da war immer noch diese Grünanlage, die auch schon den Abhang zu unserer Rechten gesäumt hatte. Wir holperten einen kleinen Hügel hinunter, dann hielten wir an. Mike ließ sich einfach von den Pedalen auf den Boden gleiten, und auch ich sprang mit einem so behänden Satz vom Sattel, als ob ich mich mein ganzes Leben lang nicht auf zwei Beinen, sondern auf zwei Rädern fortbewegt hätte. Meine Knie waren ein bisschen zittrig. Mein Mund war trocken vom Schreien. Meine Augen hatten im Fahrtwind getränt und mir war irgendwie schwindlig. Ich strahlte. Ein herrlicher Tag! „Das müssen wir noch mal machen!“, lachte ich so übermütig, wie ich es von mir sonst gar nicht kannte, dann ließ ich mich einfach in das warme Gras fallen. Die Halme kitzelten mich ein wenig, aber auch das war wunderbar. Ich hatte Durst. Trotzdem dachte ich gar nicht daran, überhaupt jemals wieder aufzustehen und diesen Ort zu verlassen. Es war ein Moment, in dem das Leben hätte enden können, weil es schöner eigentlich gar nicht mehr werden konnte. Ich war vollkommen zufrieden mit mir und mit der Welt. Alles war so, wie es sein sollte. Über mir war wieder dieses wunderschöne Blau. Ich hörte, wie sich Mike neben mich hinsetzte und schielte ein bisschen zur Seite, um sein Gesicht im Himmel sehen zu können. Meinen Engel. Jetzt war er genau dort, wo er hingehörte. „Bei Regen ist es auch lustig“, meinte er, „aber dieses Wetter ist natürlich perfekt dafür. Und man rutscht auch nicht so leicht weg.“ „Was hättest du gemacht, wenn uns was entgegengekommen wäre?“, fragte ich, aber nicht einmal dieser Gedanke beunruhigte mich. Mike zuckte nur mit den Schultern und winkte ab. „Da kommt einem nie was entgegen.“ Ich fragte nicht weiter nach. Es interessierte mich nicht. Ich betrachtete wieder den Himmel, dann Mike, dann Beides im Gesamten. „Mike?“, sagte ich dann ganz leise. „Hm?“, machte er und sah mich von der Seite her mit seinen blauen Augen an. Ich sah weg. Meine Handflächen wurden wieder ein bisschen schwitzig. „Danke.“ Mike lächelte wieder. Das sah ich aus den Augenwinkeln. Ich wusste, dass ich gar nichts mehr zu unserer Fahrt sagen musste, weil es einfach offensichtlich war, dass ich es geliebt hatte. Diese Sache mit der Wette sprach Mike trotzdem nie wieder an. Er saß einfach nur weiter neben mir im Gras, während sich über uns beiden der schönste Sommerhimmel aller Zeiten ausbreitete. Die folgenden drei Tage regnete es in Strömen. Der Wetterwechsel kam ganz plötzlich, buchstäblich über Nacht. Ich ging an diesem unbeschreiblich schönen Sommertag ins Bett, draußen funkelten so viele Sterne, dass es einem ganz schwindelig davon werden konnte, und ich lächelte, bis ich schließlich einschlief. In meinem Bauch war immer noch so ein leises Kribbeln. Ich summte eine fröhliche Melodie nach der anderen vor mich hin. Was ich geträumt habe, weiß ich nicht mehr, aber es war auf jeden Fall ein schöner Traum, denn als ich erwachte, war ich ausgeruht und zufrieden. Kurz nachdem ich das Haus verlassen hatte, fielen die ersten Tropfen vom Himmel. Zehn Minuten später war ein Platzregen über die Stadt hereingebrochen, wie ich ihn lange nicht mehr erlebt hatte. Es war beängstigend. Der Sommer war einfach davongelaufen, von einer Minute auf die nächste, und es war zwar immer noch warm, aber auf so eine ganz widerlich feuchte Weise. Die Regentropfen waren kalt. Ich hatte keinen Schirm dabei und war durchnässt, als ich die Tankstelle erreicht hatte, von der ich mir eigentlich nur eine Fertigpizza für den Abend hatte holen wollen. Von da an konnte ich nicht mehr schlafen. Sobald es dunkel wurde, verfiel ich in ein quälendes Grübeln. Ich dachte an Freestyle-Walk und Performance, immer nur an das. Ich sagte mir, dass ich früher daran hätte denken müssen, dass mich so etwas noch erwarten würde. Es war doch so klar gewesen. Freestyle-Walk. Performance. Drei Wochen. Ich hatte gottverdammte drei Wochen, um mir einen so tollen, so einzigartigen Auftritt auszudenken und einzustudieren, dass ich die Jury und diese ganzen widerlichen Püppchen einfach wegblasen würde. Drei Wochen, und keinen Tag mehr. Performance. Freestyle-Walk. Die Hitze in meinem Zimmer erdrückte mich fast. Ich wollte schreien, aber damit hätte ich nur Mum aufgeweckt. Aber was hätte das gebracht? In diesem grauenhaften Nächten war ich mir sicher, dass kein Mensch auf der ganzen Welt mich jetzt noch retten konnte. Um es kurz zu machen: Ich wurde gerettet. Nachdem ich vor lauter Schlafmangel schon Augenringe knapp bis zum Kinn hatte, endete das Prasseln der Regentropfen an meinem Fenster und der Himmel hüllte sich in ein schmutziges, aber wenigstens trockenes Weiß. Ich war von dem höchsten Hoch aller Zeiten in ein furchtbar tiefes Tal gestürzt, aber mit dem etwas besseren Wetter kamen Menschen, die mir halfen, und dafür bin ich heute noch unglaublich dankbar. Die erste helfende Hand kam von meiner Mum. Ich saß gerade wieder mal an dem hässlichen Klapptisch in unserer engen, wie immer ziemlich unaufgeräumten Küche und schlürfte apathisch einen Kaffee. Ich hatte ihn selbst gemacht, also schmeckte er scheußlich. Mir war, auf Deutsch gesagt, kotzübel, und diese widerliche Brühe machte es nicht besser, aber irgendwie musste ich mich ja wach halten, auch wenn mein Körper lautstark nach Schlaf schrie. Jetzt plötzlich. Die paar Stündchen, die ich nachtsüber doch mal weggedämmert war, konnten mich langsam auch nicht mehr auf den Beinen halten. „Hey, Jesse“, begrüßte sie mich mit ihrer rauchigen Stimme. Ich bemerkte sie erst, als sie mich ansprach. Müde hob ich meinen Blick und musterte sie. Erst jetzt fiel mir auf, wie wenig Zeit ich in den letzten aufregenden Tagen und Wochen mit ihr verbracht hatte. Scheiße, ging es mir durch den Kopf, war diese Frau dünn geworden. Noch viel, viel dürrer als sonst. Sie öffnete einen Topf, der neben einem Berg von Schüsseln auf dem Herd stand, und ein durchdringender Gestank von irgendwas längst Verdorbenem drängte sich mir in die Nase. Jetzt musste ich wirklich würgen. Ich schlug mir eine Hand vor den Mund und presste die Augenlider fest aufeinander. Das ist deine Realität, dachte ich. Diese halbtote Nutte ist deine Mutter. Dieses verrottete Loch ist dein Zuhause. Du bist kein süßes, vielleicht ein bisschen zickiges Mädchen, und vor allem kannst du nicht fliegen. Das ist Jessicas Leben, nicht deines. Du sitzt hier und fühlst dich wie ein Stück Dreck und alles um dich herum zerfällt in tausend Stücke und das wirst du auch nicht ändern können. Gottverdammte Scheiße. Ich hasste mich für diese Gedanken. Ich hasse mich noch heute dafür. Aber ich war völlig runter mit den Nerven, ich hätte eigentlich nur noch heulen können. Ich wollte aber nicht. Meine Fingernägel krallten sich in meine Handflächen, ganz automatisch. Plötzlich wünschte ich mir fast, dass von irgendwoher einer von Mums Gorillas auftauchen und mich zusammenschlagen würde, weil diese Art von Schmerz immer noch erträglicher war. Ich wusste einfach, dass ich es nicht schaffen konnte. Drei Wochen. Es war so dermaßen unmöglich, dass es fast schon wieder zum Lachen war. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Hinterkopf. Mums Hand. Sie war dürr und klapprig und ganz zittrig. Ich hatte das Gefühl, mit meinen Fingernägeln jeden Augenblick die Handinnenflächen zu durchstoßen. Aber natürlich fehlte mir die Kraft dazu. Stattdessen blickte ich wieder auf und zwang mich zu einem Lächeln. Es missglückte vollkommen, aber Mum lächelte zurück. Sie sah aus wie eine verfluchte Leiche. Ich wünschte mir, dass sie mich alleine lassen würde, aber sie setzte sich neben mich. „Du siehst nich so gut aus, Jesse“, sagte sie. Ausgerechnet sie! Ich lächelte ein bisschen bitterer, und ich glaube, das bemerkte sie auch. Ganz kurz wurden ihre müden Augen traurig. „Krieg ich nen Schluck?“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf meinen Kaffee. „Klar, Mum“, nickte ich. Meine Stimme klang heiser. Sie hob die Tasse hoch, und im ersten Moment befürchtete ich, sie würde sie gleich wieder fallen lassen, so fahrig waren ihren Bewegungen. Ich schluckte schwer. Mein Hals tat weh dabei. „Schmeckt scheiße“, murmelte sie und verzog das Gesicht. „Ich weiß“, sagte ich. Als sie mir die Tasse zurückgeben wollte, schüttelte ich den Kopf und hob abwehrend die Hände. Sie sah mich wieder an, und ich merkte, dass sie wirklich besorgt war. „Jesse, was is los mit dir? Ist dir schlecht?“ Ich nickte. Sie legte eine Hand auf meinen Unterarm. „Zuviel getrunken?“ „Ich hab überhaupt nichts getrunken, Mum. Ich hab nich schlafen können, das ist alles.“ „Nicht schlafen können?“ „Ja. Seit ein paar Tagen. Seitdem es so pisst, weißt du? Ich bin auch mal nass geworden, keine Ahnung, vielleicht werd ich krank.“ „Ach, Jesse.“ Ihr Griff um meinen Arm verstärkte sich ein bisschen. „Das tut mir so leid. Du siehst nicht gut aus.“ Das hatte sie schon einmal gesagt. Ich unterließ es aber, sie darauf hinzuweisen. Ich hatte auch keine Ahnung, wofür sie sich entschuldigte, aber in dem Moment fand ich’s trotzdem angebracht. Irgendwie machte ich sie plötzlich dafür verantwortlich, dass ich mich schlecht fühlte, weil ich ihr nicht helfen konnte. Ich glaube nicht, dass ich das Recht dazu hatte, das zu tun. Ich fühlte mich auch gleich noch viel schlechter, als ich ihr in die Augen sah. Ich beschloss, heute lieber gar nichts mehr zu denken. „Ich hab ein Problem, Mum“, erklärte ich dann schließlich doch. „Erinnerst du dich an dieses Theaterstück bei uns an der Schule? Ich soll da was vormachen. Irgendwas. Einen Auftritt halt. Aber mir fällt ums Verrecken nichts ein. Jetzt… hab ich Angst, dass ich die ganze Sache kaputt mache. Für alle. Drum denk ich die ganze Zeit drüber nach.“ Mum sah mich an, und zwar anders als zuvor. In ihrem Blick war etwas ganz Seltsames, vielleicht eine Ahnung, dass da irgendetwas Größeres um sie herum vorging, vielleicht aber auch etwas ganz Anderes. Und dann blitzte es in ihren Augen auf. Ich war irritiert. Wissen Sie, es ist verdammt lange her, dass es in ihren Augen das letzte Mal geblitzt hatte. Ich konnte ihren Gesichtausdruck auch immer noch nicht so ganz einordnen, aber jedenfalls lächelte sie. „Einen Auftritt?“, wiederholte sie, langsam und bedeutungsvoll. „Irgendeinen Auftritt. Wirklich irgendeinen?“ „Es sollte halt kein allzu großer Scheiß sein.“ „Also irgendein guter Auftritt.“ Sie nickte. „Ich verstehe. Und damit bringst du dich um den Schlaf? Ach, Jesse. Wofür hast du denn deine alte Mum?“ „Sag bloß, du hast ne Idee?“ Ich zog eine Augenbraue hoch und hoffte, dabei trotzdem nicht allzu kritisch auszusehen. Ich wusste ja, dass sie es nur gut meinte, trotzdem erwartete ich nicht allzu viel. Mum lächelte weiter. Es war nicht zu übersehen, dass meine Skepsis sie nur noch mehr erheiterte. „Würd ich sonst so reden?“ Sie hob ganz lässig ihre abgemagerten Schultern, zögerte dann kurz und kramte in der Tasche ihres abgewetzten Morgenmantels. Zückte eine Schachtel Zigaretten, nahm sich eine und hielt dann mir die Schachtel hin. Ich reagierte nur mit einer kurzen, wegwerfenden Bewegung meiner Finger. Sie würde niemals lernen, dass ich nicht rauchte. „Glaub nicht“, fügte ich hinzu, als ich begriff, dass sie eine Antwort erwartete. „Jessie, ich hab da was für dich. Ich hab was gesehen, weißt du? Als ich das Wort Auftritt gehört habe, musste ich sofort dran denken. Du erinnerst dich an Geenia?“ Ich nickte, und jetzt waren es meine Augen, die blitzten. Natürlich erinnerte ich mich an Geenia! Geenia war kein Mensch, den man vergaß. Sie war unglaublich. Im bürgerlichen Leben, hatte ich mal erfahren, hieß sie Robert Schmidthäuser und war ein hohes Tier bei einem deutschen Verlagshaus. Um es vorsichtig auszudrücken, das sah man ihr nicht an. Sie hatte die schönsten Beine, die ich jemals bei einem Menschen gesehen habe. Jedes Nacktmodell würde daneben vor Neid erblassen, das verspreche ich Ihnen. Überhaupt war Geenia wunderschön. Sie hatte langes dunkles Haar und war stets verrucht, aber niemals übertrieben geschminkt. Gerade das machte sie zu etwas Besonderem. Sie war keine Parodie ihrer selbst, das hatte sie nicht nötig. Die Kleidung, die sie trug… oder vielmehr, die sie nicht trug, ihre Makellosigkeit, ihre ganze Art sorgte sowieso immer dafür, dass sie im Mittelpunkt stand. „Geenia hat eine neue Nummer“, erklärte Mum. „Ist schwer zu beschreiben. Als sie es mir nur beschrieben hat, war ich enttäuscht. Dann hab ich’s gesehen, und das war selbst für sie der Hammer. Du musst dir das anschauen. Ich weiß nicht, ob’s für dich… geeignet ist, aber schau es dir an. Ich find’s genial.“ „Klar, Mum!“ Plötzlich war der Morgen… oder Mittag überhaupt nicht mehr so schlimm. Eigentlich hatte sich zwar noch nichts geändert, das war mir auch klar, aber ich fühlte mich trotzdem besser. In jeder Hinsicht. Auch wenn es durch den Rauch in der Küche nur noch mehr stank. Irgendwie hatte ich in meiner Sackgasse doch noch ein kleines Schlupfloch entdeckt. Ich wusste noch nicht, ob ich durch dieses Schlupfloch hindurchpassen würde, aber immerhin stand ich nicht mehr mit dem Rücken zur Wand, hilflos und ohne irgendeine Chance, zu entkommen. Ich umarmte meine Mum, obwohl es mich aus dieser Nähe nur noch mehr erschreckte, wie knochig sie war. In meinem Inneren vermischten sich Erleichterung, Dankbarkeit, ein bisschen Angst und ein ziemlich schlechtes Gewissen zu irgendetwas Undefinierbarem. Aber damit konnte ich umgehen. Ich war gefallen, aber jetzt stand ich wieder. Vielleicht noch so ein bisschen schwankend und verkatert, aber immerhin auf eigenen Füßen. Außerdem konnte ich es kaum mehr erwarten, die große Geenia wiederzusehen. Natürlich war das Blödsinn, aber für mich regnete es draußen plötzlich noch ein bisschen weniger. Für alle anderen ging der Regen weiter. Ich hatte vor lauter schlechtem Wetter überhaupt keine Lust mehr, aus dem Haus zu gehen, aber wenn ich drinnen saß, fand ich das Prasseln und auch die Vorstellung der feuchten Kälte, die ich mehr oder minder erfolgreich ausgeschlossen hatte, irgendwie ganz gemütlich. Mit Geenia hatte ich mich zum Anfang der kommenden Woche verabredet. Sie freute sich darauf, meinte sie mit so einem Unterton in der rauchigen Stimme. Ich freute mich ebenfalls. Gerade, als ich das Telefon wieder beiseite legen wollte, rief Mike an. „Hey, Jessie!“, begrüßte er mich so gut gelaunt, als ob immer noch richtig Sommer wäre. „Lust auf eine zweite Abfahrt?“ Im ersten Moment war ich derart perplex, dass ich fast den Hörer fallen ließ. Dann atmete ich tief durch und sammelte mich wieder. Meinem Spiegelbild in der Fensterscheibe neben mir warf ich einen strafenden Blick zu. Wirklich ein toller Anfang, ein Gespräch zu beginnen, grummelte ich ihm, also mir, im Geiste zu. Mit entsetztem Schweigen. Einen besseren Eindruck konnte man doch gar nicht mehr machen. „Bei dem Wetter?!“, empörte ich mich dann mit dezenter Verspätung ins Telefon. Mike lachte nur. „Wieso nicht?“ „Hallo? Auch schon gemerkt? Es regnet. In Strömen. Seit Tagen. Und es ist widerlich kalt geworden. Da gehe ich nicht Rad fahren.“ „Gut, dann gehst du eben mit mir ins Kino!“ Ich war so überrascht und entsetzt von dieser dreisten Unverschämtheit, dass ich zusagte. Danach war die Woche ziemlich stressig für mich. Ich übte viel, Laufen und alles. Meine Gedanken kreisten um den Laufsteg, und der Flur unserer Wohnung würde für mich zu einer Art Parallelwelt, in der ich so lange meine Runden drehte, bis mir schwindlig wurde. Dann lehnte ich mich kurz gegen die Wand, trank einen Schluck Wasser und übte weiter. Ich wollte perfekt sein. Alles an mir sollte perfekt sein. Meine Haltung, meine Schritte, meine Mimik und Gestik. Ich übte sprechen und lächeln, immer weiter. Jedes Mal, wenn ich kurz mit mir zufrieden war, erinnerte ich mich selbst daran, dass es immer noch besser werden konnte, und übte weiter. Von der Welt da draußen entfernte ich mich immer mehr. Bis die Welt da draußen an mein Fenster klopfte, und zwar verflucht laut und nachdrücklich. Genauer gesagt war es ein Stein, der durch das Glas direkt auf mein Bett flog. Ich sah es nicht, ich hörte es nur, während ich wieder einmal in High Heels und Miniröckchen zu einem kühlen Elektrobeat auf unsere schäbige Eingangstür zustolzierte. Das Klirren war nicht sonderlich laut, aber dann folgte ein ohrenbetäubender Knall, als meine Zimmertür von dem plötzlich hereinfahrenden Windstoß gegen die Wand geschlagen wurde. Vor lauter Schreck wäre ich beinahe hingefallen. Es wurde dann auch ziemlich schnell kalt, und das Prasseln des Regens klang irgendwie anders. Trotzdem ahnte ich nicht, was geschehen war, bis ich es sah. Meine Scheibe war zertrümmert. Ein riesengroßes Loch prangte in ihrer Mitte, wie von einer Panzerfaust hineingeschossen. Ich weiß noch, dass das mein erster Gedanke war. Der Boden war übersäht mit Glassplittern. Regen peitschte in das Zimmer hinein, durchnässte meine Vorhänge und die Poster, die nah am Fenster hingen. Und meinen Schreibtisch. Nach dem ersten Schock brachte ich erst mal alle Papiere, Zeichnungen, Mangas und Schulbücher in Sicherheit, die dem Höllenloch zu nahe waren. Einiges davon war nicht mehr zu retten, das sah ich sofort. Der Regen war viel zu stark, und der Wind trieb ihn unbarmherzig in das Innere des Zimmers. Eines meiner Bilder zerriss mir sofort, als ich es anfasste. Ich hätte schreien können. Dann hörte ich aber, dass da schon jemand anderes schrie, und zwar draußen. Man hörte es kaum, weil das Unwetter so sehr tobte. Ich war eh schon nass, also wagte ich mich zum Fenster vor und sah hinaus. Sofort wehte mir der Regen in die Augen und ich musste blinzeln. Trotzdem erkannte ich draußen eine Gestalt, die unten vor dem Haus auf- und ablief, wie von Sinnen. Eine große Gestalt, ein Mann. Er tobte. Er brüllte. „Schlampe, blöde Schlampe, ich bring dich um!“ Ich verstand nicht allzu viele seiner Worte, aber es war offensichtlich, dass er zu Mum wollte. Mum war nicht da, aber das konnte er ja nicht wissen. Seine Beleidigungen wollten gar kein Ende mehr nehmen. Außerdem war der Stein auf meinem Bett nicht der einzige, den er bei sich trug. Die anderen waren genauso groß, aber der Mann da unten war kräftig und wütend genug, sie bis zu unserer Wohnung hochzuwerfen. Ich sah, wie ein weiteres Geschoss knapp neben dem Küchenfenster gegen die Hauswand schlug. Der dumpfe Knall ging im Sturm fast vollkommen unter. Da geriet ich in Panik. Wer der Irre da unten war, wusste ich nicht. Ich erkannte ihn vor lauter Regen kaum, glaubte aber, ihn schon irgendwann einmal gesehen zu haben. Es gab so viele Männer in Mums Leben, da konnte ich mir nicht alle Gesichter merken. Außerdem hingen mir mittlerweile schon die Haare vor den Augen, so nass waren sie. Ein weiterer Stein flog gegen die Hauswand. Scheiße, dachte ich, das Küchenfenster. Er hatte es schon fast an den Rahmen getroffen. Beim nächsten Wurf würden wir noch mehr Scherben in der Wohnung haben. Obwohl mich die High Heels beinahe zu Fall brachten, rannte ich in die Küche, so schnell ich eben konnte. Dort angekommen fühlte ich mich dann aber so hilflos, dass ich mehrere Sekunden einfach nur mit Herumstehen und Nichtstun verschwendete. Ich sah sofort, dass unser klappriger Rollladen die schweren Steine nicht abhalten konnte. Die Schreie unten klangen dumpf an mein Ohr. Noch. Wenn das Glas erst einmal zerbrochen war, würde sich das ändern. Einen Moment lang drehte sich alles in meinem Kopf. Ich suchte Halt am Türrahmen, der schon lang keine Tür mehr hatte. Dann stieß ich mich von dem Holz ab, um überhaupt wieder laufen zu können. Taumelte zum Fenster hin. Und öffnete es mit zittrigen Fingern. Der Regen schlug mir entgegen und ließ mich beinahe stürzen. Binnen weniger Sekunden war ich klatschnass. Ich hatte ja nicht viel an, aber diese wenige Kleidung triefte. Ich zitterte. Trotzdem beugte ich mich zum Fenster hinaus und schrie hinunter: „Hau ab, du Arschloch! Hau ab, oder ich rufe die Polizei!“ Keine Ahnung, ob er mich verstanden hat. Jedenfalls sah er mich, denn der nächste Stein flog ganz gezielt in meine Richtung. Ich konnte gar nicht mehr reagieren. Ich hatte ein scheiß Glück, dass ich nicht am Kopf getroffen wurde. Der Stein streifte meine Schulter nur, aber es tat trotzdem so weh, dass ich geschrien habe. Und ich hab wirklich nicht oft geschrien, auch nicht, wenn ich verprügelt worden bin. Jetzt aber fühlte es sich so an, als ob man mir was aus dem Körper gerissen hätte, Haut und Knochen und Muskeln und alles. Es war wirklich ein verdammt schwerer Stein. „Hau ab!“, schrie ich noch einmal, aber dann brachte ich mich in Sicherheit. Ich stürzte aus dem Zimmer. Mir war unglaublich kalt. Ich lief in das Zimmer meiner Mum, zog mir ganz schnell ein paar ihrer Sachen an, und wickelte mich in eine ihrer Decken ein. Die Haare trocknete ich mir nur kurz mit ihrem Bademantel ab. Dann drängte ich mich ganz nah an die Heizung und wartete darauf, dass es endlich vorbei war. Ich glaubte, noch einige Male zu hören, wie Steine gegen die Wand prallten. Einmal flog auch einer in die Küche und irgendetwas ging zu Bruch. Als ich das hörte, fing ich an zu weinen. Mir war immer noch kalt und ich hatte immer noch Angst und ich wusste immer noch nicht, was ich tun sollte. Die Polizei habe ich nicht gerufen, weil ich befürchtete, dass Mum noch irgendwo Stoff in der Wohnung hatte. Ich saß da, bis es dunkel wurde. Dann hörte ich, wie Mum nach Hause kam. Es musste schon spät sein. Als ich von der Heizung aufstand und auf den Flur hinaustrat, war es eiskalt. Kein Wunder, es hatte mehrere Stunden lang von meinem Zimmer in die Küche gezogen und reingeregnet. Als ich einen kurzen Blick in die Küche war, sah ich, dass es fast alles durcheinandergeweht hatte. Der ganze Boden war voll mit Salz und Gewürzdosen und dem ganzen Zeug, was da eben immer so rumlag. Also mit verdammt viel. Der Tisch und der Boden waren eine einzige Pfütze. Ein paar Gläser waren zu Bruch gegangen, also lagen doch wieder Scherben herum. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Mum sah müde aus, als sie in die Wohnung trat. Verflucht müde. Sie hatte ein blaues Auge. Keine Ahnung, ob sie unseren Psychopathen noch vor der Haustür angetroffen hatte. Hätte so ziemlich jeder gewesen sein können. Sie sah mich, glaube ich, gar nicht richtig an. Ob sie bemerkte, dass es kalt war, weiß ich nicht. Sie kam ja von draußen und war auch so noch ganz nass. „Jesse, ich brauch ne Schmerztablette“, begrüßte sie mich. „So ein Arschloch. So ein verdammtes Arschloch.“ „Wer?“, fragte ich. Mein ganzer Körper zitterte. Mir war kalt. „Braucht dich nicht zu interessieren. Ein verdammtes Arschloch. Dein Vater war sicher auch so ein verdammtes Arschloch. Jetzt geh und hol mir meine verdammte Tablette.“ Ich nickte, schluckte schwer und tat dann, wie sie befohlen hatte. Ich trug immer noch High Heels – Stiefel, aus glänzendem Leder, da drang das Wasser auf dem Boden nicht durch. Ich rutschte nur ein bisschen darauf aus. Die Tabletten waren in einer Schublade, also nicht vom Wind in der Küche verteilt worden. Darin war es aber auch nicht weniger chaotisch. Ich fand trotzdem schnell, was ich gesucht hatte. Füllte ein Glas mit Wasser. Dachte erst jetzt daran, das Fenster auch mal wieder zu schließen. Und ging dann zu Mum in ihr Zimmer, wo sie sich mittlerweile auf ihr Bett hatte fallen lassen. „Da“, sagte ich und hielt es ihr das ganze Zeug hin. Sie nahm die Tablette, trank einen einzigen Schluck Wasser hinterher und blieb dann mit geschlossenen Augen liegen. „Jesse, dreh die Heizung auf“, murmelte sie dann nach einigen Sekunden. „Ist schon an, Mum“, antwortete ich. Sie hob ihre Augenlider ein bisschen und sah mich zweifelnd, müde und ungeduldig an. „Ist echt so. Mum… Mum, da ist jemand hier gewesen. Also unten. Der hat Steine auf unser Haus geworfen. Keine Ahnung, was der wollte.“ „Steine?“ Jetzt sah Mum genervt aus. Genervt auf eine ziemlich erschöpfte Art und Weise, aber auf jeden Fall genervt. „Was redest du da für einen Blödsinn, Jesse?“ „Ich red keinen Blödsinn, Mann!“ Ich hatte die Arme vor dem Körper verschränkt, weil mir kalt war, und jetzt grub ich meine Fingernägel in die Haut an meinen Oberarmen. „Schau halt selbst nach. Das Fenster in meinem Zimmer ist kaputt. In der Küche hab ich’s noch aufgemacht, aber da hat er reingeworfen. Alles ist kaputt. Mum, was mach ich denn jetzt?“ „Was… was willst du denn machen?“ Sie verzog das Gesicht. Ich schien ihr wirklich ziemlich auf den Geist zu gehen. Ich starrte sie an, und langsam war es nicht mehr die Kälte, die mich zittern ließ. „Verdammt noch mal, mein Fenster ist kaputt! Da hat’s reingeregnet. Es regnet immer noch rein. Der Teppich ist ein See. Außerdem ist es eiskalt. Das kann ich doch nicht so lassen. Da drin kann ich nicht schlafen! Da drin kann ich nicht leben!“ „Und was soll ich da machen?!“ Ich war lauter geworden, und sie tat es mir gleich. „Warum kannst du mich damit jetzt nicht einfach in Ruhe lassen? Glaubst du, ich hab hier ein neues Fenster unterm Kissen? Das klingt wie kompletter Blödsinn. Wenn es nass ist, putz es weg. Lass mich jetzt einfach damit in Ruhe, Jesse. Ich bin müde, ich will jetzt schlafen. Und mach die Tür zu, es ist kalt.“ Das war zuviel. Ich stürmte aus dem Zimmer und, ja, ich machte die Tür zu, aber mit einem verflucht lauten Knall. Ich musste mich beherrschen, mich nicht mit einer Beleidigung zu verabschieden. Natürlich kann ich sie verstehen, jetzt, im Nachhinein. Wenigstens ein bisschen. Aber damals, an diesem verregneten Abend, der gerade dabei war, zur Nacht zu werden, konnte ich das nicht. Ich hatte kein Verständnis für überhaupt niemanden mehr übrig. Ich wollte in mein Zimmer laufen und mich dort verkriechen, aber als ich eintrat, war es eiskalt. Meine schäbigen Vorhänge hingen nass und traurig hinunter. Der Schreibtisch stand unter Wasser. Auf dem Teppich waren riesige dunkle Flecken. Draußen regnete es immer noch. Ich hätte schon wieder heulen können. Stattdessen schlug ich zwei- oder dreimal gegen die Wand, bis mir jeder einzelne Finger wehtat. Und meine Schulter sowieso. Die pochte und stach und schmerzte eben auf so ziemlich jede nur erdenkliche Weise. Aber genau das war es, was ich gewollt hatte. Ich konnte mich ganz auf den Schmerz konzentrieren, und das brachte mich ein bisschen zur Ruhe. Zuerst ließ ich meinen Rollladen ganz runter, dass es nicht mehr reinregnen konnte. Dann kramte ich ein paar Reißnägel hervor, und nahm die Japanflagge von der Wand über dem Bett. Stattdessen hängte ich sie notdürftig vor die zerbrochene Scheibe. Das sah zwar nicht besonders toll aus, aber wenigstens zog es so nicht mehr. Danach sammelte ich vorsichtig die Scherben vom Boden auf. Den Schreibtisch wischte ich mit einem von Mums Tops ab, das sowieso gewaschen werden musste, weil ich irgendein Getränk darauf getropft hatte. Auf den Teppich legte ich ein Handtuch. Dann drehte ich die Heizung auf die höchste Stufe auf. Das alles machte ich ganz ruhig, automatisch, ohne überhaupt irgendetwas dabei zu denken oder zu fühlen. Dann verließ ich das Zimmer. Schloss die Tür hinter mir. Legte einen Zettel vor Mums Tür, auf dem stand, dass ich bei einem Freund übernachten würde. Zog rasch den erstbesten Mantel über und lief dann aus der Wohnung. Einen Regenschirm hatte ich nicht. Und eine Ahnung, wohin ich gehen sollte, erst recht nicht. Erst dachte ich an Mike. Dann fiel mir auf, dass ich seine Adresse gar nicht kannte. Dann dachte ich an Tatsumi, aber zu dem wollte ich nicht. Dann dachte ich an Geenia, aber die ging gerade sicher einer ihrer Arbeiten nach. Und dann fing ich wieder von vorne an. Mike. Tatsumi. Geenia. Wie kam es eigentlich, dass ich in dieser großen, großen Stadt kaum einen Menschen kannte? Es war schon deprimierend. Ich stieg in die S-Bahn und fuhr einfach irgendwohin. Dann stieg ich wieder aus und lief ziellos weiter. In dem kurzen Rock fror ich ganz furchtbar, und die Stiefel waren zwar recht hoch, fast bis zu den Knien, aber auch nicht warm und schon gar nicht bequem. Mein Mantel sah zwar schön aus, er war schwarz und elegant geschnitten, aber er hielt den Regen nicht richtig ab. Meine Kleidung fühlte sich nach kurzer Zeit ganz feucht an und meine Haare trieften eh schon. In diesen Momenten war ich wieder ganz allein. Ich wusste nicht einmal mehr genau, wer ich überhaupt war, als ich da in meinen schönen und nassen Frauenkleidern durch die nächtlichen Straßen irrte, auf deren nassem Asphalt sich die Lichter der Stadt spiegelten. Am Ende landete ich in einer Wohngegend, in die ich nicht passte, vor einem Palast, zu dem ich nicht wollte, in einem Garten, der mir so allein bei Regen irgendwie unheimlich war. Ich stand vor der prunkvoll goldgezierten Eingangstür und ich traute mich nicht, zu klingeln. Der Regen prasselte auf meine Stirn, während ich die gläsernen Einsätze der Tür anstarrte. Ich bewegte mich um keinen Millimeter, weil ich fürchtete, man könnte mich bemerken. Es war verrückt. Ich stand einfach nur da und wünschte mich ganz weit weg, was natürlich nicht erhört wurde. Ich glaube, ich wäre noch die ganze Nacht so dagestanden, wenn mir nicht letzten Endes der Zufall zu Hilfe gekommen wäre. Nach… sicher über einer Viertelstunde ging nämlich in der Küche das Licht an. Das Küchenfenster war direkt neben dem Eingang, darum habe ich es gleich gesehen. Plötzlich fiel ein heller Lichtschein auf mich. Mein Herz schlug mir ganz spontan bis zum Hals. Am liebsten wäre ich davongelaufen, aber selbst das traute ich mich irgendwie nicht. Also änderte ich meinen Wunsch dahingehend, dass man mich doch bitte, bitte, bitte nicht bemerken würde. Dieser Wunsch wäre mir erfüllt worden, das weiß ich. Tatsumi sah zwar aus dem Fenster, aber nicht an meinen finsteren Platz vor der Tür, sondern in den Garten hinaus und zu dem kleinen Ausschnitt der funkelnden Stadt, das man dahinter erkennen konnte. Wenn man sie denn überhaupt sah, bei diesem Regen. Es war ganz merkwürdig, ihn zu sehen, während er sich unbeobachtet glaubte. Er lächelte nicht. In seinem Gesicht war so etwas ganz Ernstes, das aber nur auf den ersten Blick nicht dorthin passte. Seine schwarzen Augen wirkten merkwürdig… leer, und um seine Lippen spielte ein bitterer Zug, den ich von ihm nun wirklich überhaupt nicht kannte. Ich ahnte plötzlich, dass dieser Tag nicht nur für mich nicht besonders gut gelaufen war. Dann merkte ich, dass ich keine Angst mehr hatte. Oder vielmehr, dass es jetzt eine andere Art von Angst war. Die Angst, dass Tatsumi einfach wieder gehen und das Licht hinter sich löschen würde. Dass ich wieder allein im Dunkeln stehen würde, vermutlich noch die ganze Nacht lang, denn Klingeln wollte ich auf gar keinen Fall. Das ging einfach nicht. Also atmete ich tief durch, straffte meinen Körper und streckte mich dann, um an die Scheibe des Küchenfensters zu klopfen. Tatsumi fuhr merklich zusammen, dann wandte er sofort den Blick in meine Richtung. Es war schon fast wieder unheimlich. Hier draußen war es so düster, aber Tatsumi sah mir ganz genau in die Augen. Und dann sah er einen Moment lang furchtbar entsetzt aus. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich musste grauenhaft aussehen. Wahrscheinlich wäre ich bei meinem eigenen Anblick zu Tode erschrocken. Wie gut, dass ich mich nicht sehen konnte. Ich hob eine Hand, ganz verlegen, und winkte ihm zu. Es vergingen kaum zwanzig Sekunden, bis Tatsumi mir die Tür geöffnet hatte. Seine Brust hob und senkte sich rasch. Ich versuchte, ihn anzulächeln, aber ich sah in seinen Augen sofort, dass es mir nicht gelangt. „Frag bitte nicht“, murmelte ich, und meine Stimme zitterte. Sogar meine Zähne klapperten ein bisschen. Ich hatte keinen trockenen Flecken Haut mehr am Körper. Okay, Jessie“, nickte Tatsumi, nachdem er mich noch ein bisschen angestarrt hatte. „Was ist passiert?“ „Hey!“ „Nicht aufregen“, beschwichtigte er mich und rang sich endlich wieder ein Lächeln ab. „War nicht ernst gemeint. Und jetzt komm lieber rein. Scheiße, bist du nass. Es wundert mich, dass du noch nicht erfroren bist.“ „Sehr witzig“, grummelte ich und trat in den Flur. Ich hinterließ sofort eine Pfütze auf den Fließen. „Nicht witzig“, verbesserte mich Tatsumi. „Das war ernst gemeint. Aber jetzt gehen wir erst mal nach oben. Du weißt ja, wo das Bad ist. Wo die Dusche ist. Wo das warme Wasser ist. Wo Handtücher sind. Ich such dir was zum Anziehen raus.“ „Heißt das, ich kann bleiben?“ „Nein. Das heißt, dass ich dich sofort wieder vor die Tür setzte, Jessie. Und jetzt komm mit.“ Ich wollte ihm nachgehen, stolperte aber sofort. Keine Ahnung warum. Ich war den ganzen Tag lang auf diesen dämlichen Schuhen gelaufen, aber jetzt ging es irgendwie nicht mehr. Tatsumi fuhr förmlich herum, als er das Klappern der Absätze und mein erschrockenes Keuchen hörte. Er legte einen Finger auf seine Lippen, und sein Lächeln wirkte plötzlich nervös. „Zieh die lieber aus“, sagte er, wobei mir erst jetzt so richtig auffiel, dass er die ganze Zeit über geflüstert hatte. „Und sei dann auch weiterhin leise, ja? Ich will nicht, dass jemand aufwacht. Wenn ich meine Alten heute noch mal sehen muss, dann dreh ich durch.“ „Wieso?“, fragte ich betont beiläufig, während ich mich ziemlich unsicher aus meinen tödlichen Stiefeln quälte. Übrigens waren selbst sie mittlerweile durchnässt. Meine Haut und meine Strümpfe quietschten, als ich die Schuhe auszog. „Keine Fragen. Belassen wir es dabei.“ Ich nickte, und dann folgte ich Tatsumi endlich doch noch nach oben. Wir schwiegen. Obwohl es noch nicht so wahnsinnig spät sein konnte, brannte im Haus nirgendwo mehr Licht. Irgendwie war es beklemmend hier. Man spürte ganz deutlich, dass in den vergangenen Stunden etwas Unschönes passiert war, aber jetzt herrschte vollkommene Stille. Die Ruhe nach dem Sturm. Ich war froh, als wir das Bad endlich erreicht hatten und ich mich unter die versprochene warme Dusche flüchten konnte. Wieder prasselte Wasser auf mich hinab, aber diesmal war es so herrlich, so angenehm, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Irgendwie brachte mich erst diese Wärme so richtig ins Leben zurück. Auf meiner Odyssey durch die nächtliche Stadt war ich tatsächlich wie in Trance gewesen. Ich hatte mich wie der einsamste Mensch auf der ganzen Welt gefühlt, aber damit hatte sich die Sache mit dem Fühlen auch schon erledigt. Jetzt brachte mich jede dieser warmen Berührungen ein bisschen mehr zu mir selbst zurück. Das war übrigens nicht nur schön, aber es half mir. Ich ging in die Hocke, schlang beide Arme um meinen Körper und starrte auf den glänzend weißen Boden der Dusche. In meiner Brust war ein dumpfer Schmerz, und auch das Pochen in meiner Schulter nahm ich wieder viel bewusster wahr. Dort hatte sich übrigens schon jetzt ein hässlicher blauvioletter Fleck gebildet, der auf einer rot umrandeten Schwellung saß. Es war kein schöner Anblick, aber die warme Massage von oben tat auch dieser Verletzung ganz gut. Irgendwie ging mir in diesen Momenten alles und nichts durch den Kopf. Als ich endlich wieder aus der Dusche stieg, fühlte ich mich wenigstens ein bisschen aufgewärmt. Und irgendwie befreit. Ich nahm ein Handtuch, trocknete mich ab und wickelte mich in ein zweites Handtuch. Als ich die Tür öffnete, sah ich, dass Tatsumi Kleidung davor gelegt hatte. Ich hatte ihn gar nicht gehört. Plötzlich fragte ich mich, ob ich wohl sehr lange dort unter der Dusche gewesen war. Dass Tatsumi sich um mich gesorgt hatte, konnte ich mir zwar nicht so richtig vorstellen, aber über die Kleider freute ich mich wirklich. Sie sahen warm aus. Ich schloss die Tür noch einmal und zog mich um. Die Kleidung war tatsächlich wunderbar bequem. Ein grauer Pulli mit einem Rollkragen, nicht zu dick, aber aus einem angenehm weichen Material. Dazu eine schwarze Hose, die mir eigentlich zu lang und zu weit war und die auch nur deshalb an mir hielt, weil sie oben so ein Band zum Zusammenziehen hatte. Außerdem schwarze Stulpen und graue Wollsocken. Zum ersten Mal seit etlichen Stunden fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Und zwar nicht wie ein frierender Mensch. Das war auf jeden Fall ein angenehmes Gefühl. Tatsumi erwartete mich schon auf seinem Zimmer. Ich glaube, er hatte die Heizung hoch aufgedreht, denn es war unheimlich warm. Er musste sicher schwitzen, aber für mich war die Temperatur einfach herrlich. Außerdem stand auf einem Tablett auf dem Boden eine Teekanne mit zwei Tassen. Die Vorstellung, dass Tatsumi in meiner Abwesenheit für mich Tee gekocht hatte, brachte mich tatsächlich wieder zum Lächeln. Ich nahm neben ihm auf dem nach wie vor wunderbar weichen Bett Platz und lehnte mich gegen die Wand. Jetzt saß ich also schon wieder hier. Irgendwie war das seltsam. „Nimm dir einfach“, forderte Tatsumi mich mit einer Kopfbewegung in Richtung der Kanne auf. Das machte ich tatsächlich. Mein Hals tat weh, und so ein warmes Getränk kam mir da gerade recht. „Danke“, murmelte ich in den Dampf hinein, der aus meiner Tasse aufstieg. Der Tee war übrigens tiefrot und schmeckte nach Himbeeren und Vanille. „Für dich tu ich doch alles, Jessie“, grinste Tatsumi und strich sich durch sein schulterlanges Haar. Jetzt, im Hellen, fiel mir auf, dass er irgendwie müde aussah. Aber ich hatte da ja gut reden. Im Bad hatte ich jeden Blick in den Spiegel tunlichst vermieden, und auch wenn ich mein verlaufenes Make up wohl größtenteils weggeduscht hatte, musste ich ganz bestimmt immer noch gruselig aussehen. „Auch deine Klappe halten?“ „Sicher.“ „Nackt über den Schulhof laufen?“ „Nichts lieber als das.“ „Dir die Haare abrasieren?“ „Also, jetzt hört’s aber auf!“ „Siehst du?“ Ich bleckte die Zähne. Die allgemeine Wärme entspannte mich ungemein, und Tatsumis belangloses Gerede tat sein Übriges dazu. „Ich hab’s ja gleich gewusst!“ „Jessie, du bist so furchtbar. Aber übrigens, wo wir gerade schon mal irgendwie beim Thema Wetten sind: Zorn.“ „Hey, das wollte ich für heute auch sagen!“ „Dann tu’s doch! Ist meines Wissens nicht gegen die Regeln, wenn wir beide an einem Tag mal dieselbe Todsünde begehen.“ „Gut. Zorn. Jetzt hab ich’s auch gesagt. Der Tee ist übrigens gar nicht so schlecht.“ „Find ich auch“, stimmte Tatsumi mir zu. Er sah mich dabei übrigens nicht mehr an, sondern starrte irgendwie in den Raum hinein. Man merkte sofort, dass er nachdachte. Ich stieß mit dem Fuß gegen seinen Unterschenkel, um seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken. „Gib’s auf, Tatsumi“, grinste ich ihn an. „Du kannst einfach nicht denken, auch wenn du’s grad versuchst. Geh einfach in die Ecke und sei schön.“ „Jessie, du bist ja so was von entzückend. Aber wahrscheinlich hast du diesmal sogar Recht. Ich habe nämlich gerade über etwas nachgedacht, das mit dir zu tun hat, und das hast du eigentlich gar nicht verdient.“ „Mit mir?“ Ich hob meinen Blick ein bisschen, aber gerade nur so viel, um mir meine Neugierde nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Eigentlich war es ja nichts Besonderes, wenn Tatsumi mal wieder nervigerweise verkündete, dass er mir ein paar seiner kostbaren Gedanken gewidmet hatte, und vor allem war es ganz bestimmt nicht interessant. Aber jetzt hatte er etwas in der Stimme, das… mehr war. So einen besonderen Ausdruck, wie ihn immer diese Fernseh- und Werbeeltern bekommen, wenn sie ihr Kind mit den Worten locken, dass sie da irgendetwas für es haben. Gut, vielleicht auch ein bisschen so wie ein netter alter Onkel, der einem Mädchen seine Hasen und Ponys zeigen möchte. Aber neugierig war ich so oder so, allem Widerwillen zum Trotz. „Ach, jetzt willst du es also doch wissen? So plötzlich?“ „Ich habe nie gesagt, dass ich… was auch immer nicht wissen möchte. Nur, dass du nicht denken kannst. Das ist ein Unterschied.“ „Wenn ich nicht denken kann, bemerke ich so etwas aber nicht“, schloss Tatsumi triumphierend. Darauf fiel mir leider auch nichts mehr ein, also streckte ich ihm einfach die Zunge heraus. Er lächelte weiter. „Aber das war es überhaupt nicht, was ich sagen wollte. Oder fragen. Sondern: Glaubst… glaubst du an Schicksal, Jessie?“ „Was ist denn das für eine dämliche Frage?“ Ich sah ihn zweifelnd an. „Jetzt antworte doch einfach!“ „Ist ja gut! Also, nein. Eigentlich nicht. Manchmal hab ich halt Zweifel, wenn Zufälle so besonders groß sind, darum nur eigentlich nicht. Aber im Normalfall… nein.“ „Ja, genau so geht es mir auch.“ „Und wieso fragst du dann?“ „Weil das heute so ein eigentlich war.“ „Aha.“ Mein Blick blieb zweifelnd, wurde zusätzlich aber auch noch ein bisschen fragend. „Tatsumi, ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst.“ „Also, alles andere würde mir auch Sorgen machen. Aber andererseits wärst du, wenn du hellsehen könntest, vermutlich nicht so ein riesengroßer Trampel, Jessie, darum hab ich da eher meine Zweifel dran. Na, wie auch immer. Ich hab etwas für dich besorgt, aus… sagen wir, aus aktuellem Anlass. Seitdem hab ich dich nicht mehr gesehen und nichts mehr von dir gehört. Erreichen konnte ich dich auch nicht. Grad heute dachte ich, ich würd dich wahrscheinlich vor dem Schönheitswettbewerb überhaupt nicht mehr sehen. Und dann stehst du plötzlich mitten in der Nacht vor meiner Tür.“ „Du hast etwas für mich?“, fragte ich, wobei ich all seine weiteren Worte einfach ignorierte. Tatsumi betrachtete mich einen Moment lang, dann lachte er. „Jetzt solltest du mal deine Augen sehen, Jessie. Wie ein Kind vor Weihnachten. Mädchen wollen doch wirklich immer nur Geschenke haben!“ „Halt den Mund und gib’s mir endlich!“ „Ich soll’s dir geben? Gerne!“ „Tatsumi! Du Arschloch!“ Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und blickte so wütend drein, wie ich eben konnte. Tatsumi lachte immer noch, stand dann aber sicherheitshalber doch auf und ging zu seinem Kleiderschrank. Ich sah ihm kritisch hinterher. „Ist da jetzt ein Liebhaber für mich drin, oder was?“ „Komm her und schau’s dir an. Ich will ihn nicht herausholen, dafür ist er mir zu schwer.“ „Der Liebhaber?“ „Genau der. Dein Liebhaber. Du wirst ihn schon bald überall auf deiner Haut spüren, weißt du? Auf deiner nackten Haut. Und jetzt komm endlich!“ Ich grummelte noch einmal, stand dann auf, wobei ich mir extra Zeit ließ, und schlenderte zum Schrank hin. Ich erwartete nichts Besonderes – na, was denn auch? Auf einen Liebhaber hatte ich gerade keine allzu große Lust, und was hätte sich denn sonst schon groß in einem Kleiderschrank verstecken sollen? Kleider vielleicht? Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf diese gewagte These gekommen war, aber sie gefiel mir nicht so recht. Irgendwie sah ich’s ja schon vor mir, so einen hautengen Nuttenfummel aus Lack und Leder, dazu passende Overknees. Oder noch besser, ein Krankenschwesternkostüm. Aus Lack und Leder. Mit Overknees. Und mit einem Ausschnitt bis knapp zehn Zentimeter unter den Bauchnabel. Gleichermaßen missmutig wie neugierig schielte ich über Tatsumis Schulter in den Schrank – und erstarrte. Da hing kein Nuttenfummel. Da hing das genaue Gegenteil eines Nuttenfummels. Es war ein Kimono, mit ganz langen Ärmeln und leicht glänzendem Stoff in einem intensiven Türkisblau. Darüber flogen weiße Vögel, Kraniche, glaube ich, außerdem zarte Wolkenbänder in Blau und Gold. Er sah einfach unglaublich aus. So etwas Schönes hatte ich davor nur im Fernsehen gesehen. Mir klappte buchstäblich die Kinnlade herunter. „Nein“, war alles, was ich noch über die Lippen brachte. „Doch!“, strahlte Tatsumi. „Und du wirst wunderschön darin aussehen! Du bekommst dann noch ein ganz weißes Gesicht, wir schminken dir asiatische Augen hin und malen dir schöne rote Lippen. Was glaubst du, wie du die umhauen wirst?“ „Aber… aber wieso…“ „Der Wettbewerb. Diese Performance… oder das andere. Wie hieß das doch gleich? Irgendwas mit Freestyle. Deshalb. Alles, was aus Japan kommt, ist doch gerade furchtbar in. . Mich eingeschlossen, übrigens. Ich habe diesen Kimono gesehen, und ich wusste, das ist es. Da habe ich ihn dir gekauft.“ „Aber… der muss doch unglaublich teuer gewesen sein!“ „Natürlich.“ Tatsumi nickte, aber er hätte überhaupt nicht antworten müssen. Der Kimono sah so unglaublich kostbar aus, dass ich es kaum wagte, ihn auch nur anzu sehen. „Glaubst du, ich kauf dir irgendeinen verwestlichten Billig-Yukata? Also, wenn schon, denn schon!“ „Nein!“ Ich wich demonstrativ einen Schritt vor dem Kunstwerk aus Stoff zurück. „Tatsumi, ich kann das nicht annehmen. Das Ding hier kostet wahrscheinlich mehr, als ich in meinem Leben jemals an Geld besessen habe!“ „Er hat weniger gekostet, als ich von meinen Eltern in einem Monat nachgeschmissen bekomme.“ „Ich… ich will aber keine… keine… Spenden… Spendendinger von dir!“ „Das ist kein Spendending, Jessie!“ Jetzt verschränkte Tatsumi seine Arme vor der Brust. „Das ist ein Geschenk. Es ist ziemlich unhöflich, ein Geschenk nicht anzunehmen.“ „Aber…“ Ich schüttelte noch einmal meinen Kopf. Langsam. Mit Nachdruck. Sah Tatsumi finster an, mit einer unbeugsamen Härte in den Augen. Stemmte beide Hände in die Seiten. Und merkte währenddessen, wie es um meine Mundwinkel zuckte. Wie sich meine Lippen ganz ohne mein Zutun zu einem Lächeln verzogen. Dann zu einem Strahlen. Und dann stieß ich einen leisen Schrei aus und warf mich Tatsumi um den Hals. „Mein Gott, wie geil! Wie nur geil! Danke! Danke, danke, danke!“ „Bitte! Bitte, bitte, bitte!“, stimmte Tatsumi in mein Lachen ein. „Und was bekomme ich dafür?“ „Hey! Für ein Geschenk kriegt man nichts zurück!“, erwiderte ich empört, aber ich strahlte dabei immer noch. Dann sprang ich zwei-, dreimal in die Luft und drückte Tatsumi anschließend einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er sah mich ein bisschen enttäuscht an, und so küsste ich ihn eben außerdem noch auf die Lippen, wenn auch nicht weniger flüchtig. Er nickte trotzdem einigermaßen zufrieden. Und in diesem Augenblick verstand ich, dass ich meine größten Probleme gelöst hatten. Sagen wir, meine momentan größten Probleme. Freestyle-Walk und Performance. Die Worte kreisten immer noch durch meine Gedanken, aber jetzt ängstigten sie mich nicht mehr so sehr. Ich war bereit, mich dem Feind zu stellen. Der Tag, der hinter mir lag, war die Hölle gewesen. Und die Tage davor wie ein böser Traum. Aber jetzt hatte ich es geschafft. Ich hatte mich von meinen Fesseln gelöst und konnte es kaum mehr erwarten, in die große Schlacht zu ziehen. In der folgenden Nacht habe ich wieder nicht geschlafen. Das tat ich aber freiwillig. Oder freiwillig nicht. Tatsumi und ich haben irgendwie beschlossen, uns einen Horrorfilm anzusehen, und dann kam ein Film zum anderen, bis es wieder hell war. Das merkten wir aber gar nicht. Wir hatten den Rollladen runtergelassen und so das Zimmer abgedunkelt, dass es unheimlicher war. Irgendwie haben wir trotzdem die meiste Zeit gelacht. Ich konnte keinen Film mehr ernst nehmen. Jeder Regisseur hätte uns dafür erschlagen, aber ich hatte so viel Spaß wie schon lange nicht mehr. Wir frühstückten nicht, sondern holten uns alles Mögliche auf das Zimmer. Den Rinderbraten vom Vorabend. Surimi-Stäbchen. Sushi zum Selberauftauen. Müsliriegel. Alle mögliche Schokolade. Tortillachips mit Dip. Eis. Es war ein furchtbares Durcheinander und am Ende war mir ganz schlecht davon, aber Spaß machte es mir trotzdem. Ich aß genüsslich, was mir gerade unter die Finger kam, während auf dem Bildschirm vor uns Menschen gehäutet und zersägt wurden. Ich merkte überhaupt nicht, wie die Zeit verging. Müde wurde ich diesmal nicht, nur ein bisschen schläfrig ab und zu, und dann weckte mich Tatsumi meist recht schnell wieder auf. Indem er mir einen Tropfen Eis in den Ausschnitt laufen ließ, beispielsweise. Warum ich das alles schreibe? Nicht, um sie zu schockieren. Es war eine wunderschöne Nacht, die gar nicht mehr aufhörte, und auf eine Weise hat mich diese Nacht nach den Ereignissen des vergangenen Tages gerettet. Es war ein kurzer Rückzug aus der Wirklichkeit, aber mit dem Wissen, dass es genau das, ein Rückzug war. Kein Selbstbetrug also, sondern einfach nur gedankenlose Erholung, bevor es dann galt, in den Krieg zu ziehen. Man kann das nicht… na, beispielsweise mit dem Flug auf den Schwingen meines Chaosengels vergleichen. Das Besondere dieses Erlebnisses war gerade seine selbstverständliche Normalität. Es waren einfach ein paar glückliche Stunden, für die ich wirklich dankbar bin. Ach, um es kurz zu machen: Ich habe völlig die Zeit vergessen. Und das Datum. Und überhaupt alles. Tatsumis Zimmer war an sich zwar furchtbar, aber mit dem überall verteilten Essen, den gestapelten DVDs und der künstlich geschaffenen Dunkelheit war es für mich trotzdem ein wunderbarer Zufluchtsort. Außerdem vergaß ich keine Sekunde lang, dass da hinter mir im Schrank das so ziemlich Schönste hing, was jemals aus Stoff gefertigt worden war. Es war einfach alles in allem ein tolles Gefühl, und ich hatte absolut keine Lust auf mein unterkühltes, zugiges, aufgeweichtes Zimmer mit einer deplaziert wirkenden Japanflagge über dem Fenster. Abgedunkelt war’s dort zwar auch, aber das machte es ganz bestimmt nicht besser. Als ich dann doch wieder ging, dämmerte es schon. Ich umarmte Tatsumi zum Abschied, wir einigten uns einvernehmlich auf Trägheit und Völlerei – für beide von uns – und ich wagte mich dann, mit einem geliehenen Regenschirm bewaffnet, auf den Weg nach Hause. Ich war ganz entspannt, obwohl ich wieder fror, weil Mums Kleidung in der vergangenen Nacht zwar trocken, aber leider auch nicht dicker und wärmer geworden war. Wobei das Wort frieren seit dem gestrigen Tag für mich sowieso eine vollkommen neue Bedeutung bekommen hatte. Erst, als ich aus einer kleinen Seitengasse in die Straße vor unserem Haus trat, bemerkte ich meinen Fehler. Dass ich nämlich etwas vergessen hatte, etwas unheimlich Wichtiges sogar. Etwas mit großen blauen Augen und verstrubbelten dunklen Haaren. Das Wetter war immer noch schlecht – ein perfekter Tag für einen Kinobesuch, für unseren Kinobesuch. Es war absurd, dass ich nicht mehr daran gedacht hatte. Stattdessen hatte ich mir mit einem selbstverliebten Aufreißer schlechte Horrorfilme angesehen, einen nach dem anderen, und das auch noch auf einem mickrig kleinen Fernsehbildschirm. Ich kam mir vor wie eine Ehebrecherin. Was mir zuerst auffiel, war übrigens, dass Mikes Haare nicht mehr so zerzaust waren wie sonst. Sie waren pechschwarz und klebten ihm in welligen, tropfenden Strähnen im Gesicht. Seine Lippen waren schon ein bisschen blau geworden. Er musste verdammt lange da im Regen gestanden und gewartet haben. Ich war mir nicht sicher, ob meine Mum nicht da war oder ihm einfach nicht geöffnet hatte. Mike ging vor dem Haus auf und ab und rieb sich die Hände, aber offensichtlich wärmte ihn auch das nicht. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Seine Augen suchten mich gerade an einem anderen Ende der großen Straße. Einen Moment lang hielt ich den Atem an. Dann machte ich meinen Regenschirm wieder zu, duckte mich und machte zwei große, möglichst lautlose Schritte nach vorne. Mike drehte sich um. Ich ging hastig hinter einem parkenden Auto in Deckung. Mein Herz schlug so schnell, als ob es jeden Moment zerplatzen würde. Meine Handinnenflächen waren feucht, und zwar nicht nur vom Regen. Ich drückte mich gegen den dunkelroten Autolack und zog die Schultern hoch. So wurde ich zwar wieder nass, aber das war momentan zweitrangig. Da stand Mike vor meiner Tür, im strömenden Regen, und er wartete auf mich. Dieser Gedanke war mehr, als ich ertragen konnte. Meine Augen fixierten den Asphalt vor meinen Fußspitzen. Ich wünschte mir, dass er weggeht. Ich wünschte es mir, so fest ich nur konnte. Es war ganz und gar unmöglich, ihm jetzt zu begegnen, ihm in die Augen zu sehen… mit ihm zu sprechen. Fragen zu beantworten. Seinen Blick zu erwidern. Ich wollte mich am liebsten schlagen, aber das hätte möglicherweise Geräusche gemacht, also ließ ich es bleiben. Er durfte mich nicht bemerken. Er sollte gehen, er sollte wütend sein, er sollte sich am liebsten nie mehr wieder bei mir melden. Das hatte ich verdient. Und dann musste ich wenigstens nichts erklären. Eine gerechte Strafe und obendrein die einfachste Lösung. Das war zwar feige, aber ich wünschte es mir trotzdem. Der Regen hörte nicht auf. Es dauerte knapp eine Viertelstunde, bis ich schon wieder ganz nass war. Ich rieb mir die Hände an den Oberarmen. Dann ging ich auf die Knie, beugte mich ganz weit nach vorne und spähte unter dem Auto hindurch. Ich sah keine Beine mehr vor der Tür, aber mein Sichtfeld war auch ziemlich begrenzt. Also wagte ich es eben und erhob mich wieder, ganz langsam, mit angehaltenem Atem. Mir war, als ob ich mich nur um Zentimeter nach oben bewegen würde. Das Plexiglasfenster des Wagens kam immer näher. Mir fiel ein, dass mein Kopf schon im Fenster zu sehen sein würde, bevor ich selbst in der Position war, um nach Mike Ausschau halten zu können. Falls er denn noch da war. Diese Erkenntnis beunruhigte mich. Obwohl es eigentlich natürlich Blödsinn war. Bei diesem Regen würde vermutlich nicht mal ich etwas von ihm erkennen. Aber Angst hatte ich trotzdem. Tatsächlich sah ich durch die Scheibe hindurch nur ziemlich verschwommen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich auf unser Haus blickte, hätte ich’s vermutlich überhaupt nicht erkannt. Die Gestalt, die vor diesem Haus auf- und abging, erkannte ich aber trotzdem sofort. Es war irgendwie schon wieder grausam. Ich sagte mir, dass Mike nicht ewig da stehen konnte. Dass er jetzt schon mehrere Stunden lang auf mich wartete, dass er fror, dass er unheimlich wütend sein musste. Das redete ich mir ein, wie eine Beschwörungsformel, während ich mich wieder hinter das Auto duckte. Ich legte meinen Kopf auf die Knie und wartete weiter. Nach einer Dreiviertelstunde gab ich auf. Die Kälte und die Nässe waren einfach zuviel für mich. Am Anfang hatte ich nur so in etwa alle fünf Minuten nachgesehen, ob Mike endlich verschwunden war. Am Ende hielt ich es kaum mehr als ein paar Sekunden aus, bis ich wieder durch das Autofenster spähte. Dann ergab ich mich. Meinen Schirm fest umklammert, schlich ich wie ein geprügelter Hund… oder wie ein begossener Pudel zur Gasse zurück. Lehnte mich gegen die nasse Hauswand und atmete tief durch. Hoffte auf ein Wunder, dass Mike wenigstens jetzt noch abhauen würde. Und ging dann möglichst wenig panisch auf das Haus zu. Am liebsten wäre ich entweder gestorben oder im Boden versunken. Oder erst das eine, dann das andere. Oder einfach gleich beides auf einmal. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich tun sollte, also ging ich einfach nur langsam weiter. Dann sah mich Mike. Er strahlte. Ganz ehrlich, dieses Bild werde ich im Leben nicht mehr vergessen. Er sah mich an, als ob ich der Engel wäre und nicht er. Dann lief er auf mich zu, durch den Regen und die Pfützen hindurch, und umarmte mich. Einfach so. Ohne ein Wort zu sagen. Mein Kopf lag an seiner Brust, die genauso nass war wie ich. Und wie der Regen, der auf uns hinabfiel. Ich verstand ihn auch so, ich verstand einfach alles, ohne dass er einen Ton über die Lippen brachte. Ich hörte, wie sein Herz schlug. In diesem Moment stiegen mir Tränen in die Augen. Ich konnte gar nichts dagegen machen. Der Regen wischte sie sofort wieder weg. Da war einfach überall Wasser. „Du bist ganz nass“, sagte Mike irgendwann, nach einer Ewigkeit. Er lächelte, während ihm die Tropfen über das Gesicht liefen. „Du auch“, erwiderte ich genauso leise wie er. „Ich weiß“, nickte er, während sein Lächeln zu einem Grinsen wurde. „Aber du hast einen Schirm.“ Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, also lachte ich einfach nur. Es war ein tödlich verlegenes Lachen, und das musste er auch bemerken, aber er sagte nichts dazu. „Ähm… ziemlich kalt hier draußen, findest du nicht? Sollen wir… nach oben gehen?“ Ich hätte mich für diese Worte schon wieder schlagen können. Nach oben gehen. Tolle Idee. Ich sah es bildlich vor mir, wie Mike in unsere schäbige kleine Wohnung kam. In die Küche, in der sich das schmutzige Geschirr stapelte, in der vermutlich immer noch Scherben und Gewürze auf dem ganzen Boden verteilt waren. In mein winziges Zimmer, das vom Regen verwüstet war, mit diesem wunderschönen verhangenen Fenster. Am Ende lag noch Mum zugedröhnt auf ihrem Bett. Oder daneben. Oder im Bad. Oder wo auch immer. Die Vorstellung war fast schon wieder komisch. „Nichts lieber als das“, strahlte Mike. Sah mich an. Und zauberte dann einen ganz hinreißend entschuldigenden Ausdruck auf sein Gesicht. „Aber… ich muss jetzt eigentlich heim. Ich wollte nur kurz bei dir vorbeischauen. Bist du mir böse, wenn ich gleich wieder gehe?“ Darauf konnte ich erst mal nicht mehr antworten. Ich starrte Mike nur an, weil mir einfach die Worte fehlten. Nicht genug damit, dass er offensichtlich meine Gedanken lesen konnte. Da hatte er stundenlang auf mich gewartet, war im Regen gestanden, völlig durchnässt und durchgefroren, und jetzt fragte er nicht einmal nach einem warmen Tee oder ein paar Minuten im Warmen. Ich schaffte es auch nicht, ihm das anzubieten. Ich schaffte es nicht, und das sah er ganz genau. Dabei strahlte er mich an, als ob es so in Ordnung wäre. Er hatte sich den ganzen Tag lang vor meinem Haus nassregnen lassen, für eine Umarmung und ein paar belanglose Worte, und trotzdem strahlte er mich so an, obwohl ich ihn einfach vergessen hatte. Ich war schon wieder kurz vorm Heulen. „Dann ist ja gut“, beantwortete sich Mike seine Frage einfach selbst. „Wir sehen uns dann Morgen im Kino. Wir haben uns für die Vorstellung um 14.35 Uhr verabredet, richtig?“ Ich nickte. Mehr brachte ich jetzt nicht mehr zustande. „Alles klar, Jessie. Dann bis Morgen!“ „Bis Morgen“, flüsterte ich. Mike zwinkerte mir noch einmal zu, dann drehte er sich um und schlenderte davon. Ich sah ihm lange hinterher, obwohl ich dabei noch nasser wurde. Das war mir ganz egal. Was ich da eben erlebt hatte, hatte mich auf eine Weise berührt, die ich davor noch nicht einmal gekannt hatte. Ich stand ein bisschen neben mir, als ich die Tür unten aufschloss. Ich ging in den Treppenflur des Hochhauses, und ich war dabei in einem Zustand, der weder glücklich noch traurig war, sondern irgendwo dazwischen… oder vielleicht beides auf einmal. Warum ich ausgerechnet jetzt noch in den Briefkasten sah, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich hatte keinen Grund dazu und war absolut nicht in der Stimmung für so eine banale, überflüssige Aktion. Wer schickte mir und Mum denn schon Briefe? Die Stadtwerke vielleicht, na toll. Und wen interessierte das überhaupt, nach diesem Tag… nach diesen Minuten?! Vielleicht war es eine Art Vorahnung. Jedenfalls fand ich im Briefkasten zwei Dinge: Einen Werbeprospekt von einem großen Supermarkt in der Nähe. Und einen Zettel. Der Prospekt teilte mir mit, dass 250g Hackfleisch diese Woche nur 99 Cent kostete. Und dass es jetzt Waschmittelaktionspackungen mit 25 % mehr Inhalt zum gleichen Preis gab. Der Zettel war mit einer auffallend sauberen Handschrift beschrieben. Darauf standen genau sieben Worte: „Ich weiß, wer du bist, Jessica Maguire.“ Ende des sechsten Teiles Kapitel 7: Part VII - Apokalypse now ------------------------------------ Oh je, es hat mal wieder lange gedauert, aber nun ist's endlich fertig: Das neue PredElection-Kapitel! Hurra! Mein Weihnachtsgeschenk, sozusagen. ^_^ Ich werde mich bemühen, diesmal schneller weiterzuschreiben, immerhin spitzt sich die Handlung jetzt dramatisch zu und das Ende naht. Alles in allem ist das ein sehr emotionales Kapitel mit der einen oder anderen (hoffentlich!) schockierenden Wendung. Ach, die ganzen Charas wachsen mir wirklich immer mehr ans Herz. ^.^ Viel Spaß beim Lesen und seid gespannt, in der nächsten Episode steht eine große Entscheidung bevor... Und, natürlich: Frohe Weihnachten euch allen!!! Ich gebe zu, dass ich unvorsichtig, dumm und naiv gewesen bin. Aber ich hatte ja auch einen der unglaublichsten Tage meines Lebens hinter mir, und den wollte ich mir um nichts in der Welt kaputtmachen lassen. Der Gedanke an die zurückliegenden Ereignisse tat weh, aber auf eine so wunderschöne Weise, dass ich den ersten Schrecken über das, was ich da auf diesem kleinen Stück Papier las, gar nicht richtig an mich heranließ. Es ist schwer, das jetzt im Nachhinein zu erklären oder zu verstehen. Ich war so aufgekratzt und gleichzeitig so fertig, das lässt sich nicht mit Worten beschreiben. Ich hab den Zettel einfach in irgendeine Ecke geworfen und dann mich selbst auf mein Bett. Mum hab ich an dem Abend gar nicht mehr gesehen. Binnen kürzester Zeit war ich eingeschlafen. Die kommenden Tage waren ziemlich verplant und stressig. Trotzdem war ich gut gelaunt, weil ein Termin bevorstand, auf den ich mich wirklich, wirklich freute. Erinnern Sie sich? Geenia. Geenia und ihre unglaubliche neue Nummer. Ich hatte einige von Geenias alten Nummern gesehen und war jedes Mal sprachlos gewesen. Dementsprechend groß war meine Vorfreude, und ich sag’s ihnen, sie wurde mit jedem Tag noch ein bisschen größer. Ich war eigentlich ganz froh darüber, dass ich so viel zu tun hatte und die Zeit entsprechend schnell verging. Ich traf mich mit Tatsumi am frühen Nachmittag. Nachdem ich ihm ein bisschen von meiner Idee und von Geenias Beinen erzählt hatte, bestand er darauf, mich zu begleiten, und ich war froh über eine Mitfahrgelegenheit. Außerdem war ich genau in der richtigen Stimmung für ein Treffen mit Tatsumi. Meine gute Laune sorgte dafür, dass mich die Arroganz in seinem Grinsen nicht störte, und die kleinen Streitereien und Sparwitze am Rande stimmten mich gleich noch viel ausgelassener. Das Ganze gab mir ein Gefühl der Sorglosigkeit, das zwar verlogen, aber trotzdem verdammt befreiend war. Geenia erwartete uns schon. Sie sah wie immer unwerfend aus. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie hoch am Hinterkopf zusammengebunden. Ihre Augen waren schwarz umrandet und gaben ihrem Blick etwas Katzenhaftes. Ansonsten trug sie ein sehr hoch geschlitztes chinesisches Kleid in leicht schimmerndem Schwarz, verziert mit zarten goldenen Blüten. Sie war barfuß. Die schlichte, stilvolle Eleganz ihrer Erscheinung war wirklich beeindruckend, und mir entging nicht, dass auch Tatsumis Lippen ein lautloses „Wow!“ formten, als er sie sah. „Hallo Jessie“, begrüßte mich Geenia und musterte meinen Begleiter mit einem Blick, der nicht weniger angetan wirkte. Ich hatte sie übrigens in meinen ganzen verrückten Plan eingeweiht, weil das Risiko sonst einfach zu groß gewesen wäre. Außerdem wusste ich, dass ich ihr vertrauen konnte, und sie können sich gar nicht vorstellen, wie befreiend mein Gespräch mit ihr gewesen war. Es hatte mir ein bisschen was von der Last abgenommen, die ich trug, und bestätigt hatte es mich auch. In Geenias Worten lag immer so eine Sicherheit, eine Gewissheit, die wenigstens für die Dauer eines Gespräches jeden Zweifel vernichten konnte. „Hi, Geenie!“, grüßte ich zurück. „Konnichi wa!“ Tatsumi deutete eine Verneigung an und setzte ein Lächeln auf, das so widerlich gut aussah, dass ich ihm einfach den Ellenbogen in die Seite rammen musste. Geenia sah es und lachte auf ihre wundervoll unaufdringliche Weise. „Ich wusste doch immer, dass du Geschmack hast, Jessie!“ „Der gehört doch nicht mir“, verbesserte ich ruhig. „Den hab ich dir als Opfergabe mitgebracht, dass du mich in deine hohen Künste einweist.“ „Danke, dass du mir das vorher gesagt hast!“ Tatsumi bleckte die Zähne. Ich grinste zurück. „Nein, ich habe zu danken!“ Geenia lachte wieder, wenn auch nur ganz kurz. Dann wandte sie sich um, so schwungvoll, dass ihr strenger Pferdeschwanz einen eleganten Halbkreis in der Luft beschrieb, und ging… oder schwebte vielmehr in ein Nebenzimmer. Ihr Allerheiligstes. Der Ort, an dem sie sämtliche Kostüme, ihr Make up, ihre Schuhe, Schmuck und etwa fünfzigtausend weitere faszinierende Dinge aufbewahrte. Spontan schlug mein Herz mir bis zum Hals, und es war mir vollkommen unmöglich, noch länger an meiner trotzigen Empörung über ihren kleinen Flirt mit Tatsumi festzuhalten. Stattdessen grinste ich von einem Ohr bis zum anderen. Das schien auch Geenia nicht zu entgehen, als sie sich noch einmal kurz zu uns umdrehte und uns mit einer einzigen Kopfbewegung unmissverständlich zu verstehen gab, ihr zu folgen. Und, verdammt, ja, wie gern ich dieser Aufforderung doch nachkam! Geenias Kostümzimmer war ein Märchenland, ein wunderbar bunter Kurztrip durch aller Herren Länder, durch zahllose Epochen und Filme und Geschichten. Ich hätte Stunden damit verbringen können, mich einfach nur umzusehen, und wie viel besser war es, wenn Geenia all die Wunder und Edelsteine auch noch an ihrem makellosen Körper präsentierte! Der Gedanke, dass ich ein kleines Stück von dieser Pracht abbekommen sollte, war ein bisschen so wie Weihnachten oder Geburtstag oder auch wie beides zusammen. Kapitel eins von Jessie im Wunderland. Meine Augen wurden vor lauter Vorfreude größer und größer, während ich einen Schatz nach dem anderen bewunderte. Inmitten des Raumes stand Geenia, die Fingerspitzen aufeinandergelegt, mit einem Lächeln auf den Lippen, das wirklich alles Gute der Welt verhieß. Ich hatte zwar noch keine Ahnung, was genau ich da nun Tolles von ihr lernen sollte und ob sie wirklich ein passendes Kostüm dazu aussuchen würde, aber ich hätte sie jetzt schon für Beides küssen können. In diesem Moment war mir noch nicht klar, auf was für einen Pakt mit dem Teufel ich mich da eingelassen hatte. Dass ich leiden und verzweifeln und am Boden liegen würde. Aus verschiedensten Gründen. Ich hatte von all dem keine Ahnung, und ehrlich gesagt, ich bin auch verdammt froh darüber, weil ich sonst vermutlich schleunigst davongelaufen wäre. „Ich habe etwas ganz Besonderes für dich“, verkündete Geenia geheimnisvoll, und meine Erwartungen stiegen spontan durch die Decke bis irgendwo über die Hochhausdächer. Mit einer langsamen Halbdrehung wandte sie sich einem der zahlreichen Regale zu und schaffte es auf eine für mich unbegreifliche Weise, mit einem einzigen sicheren Griff sofort das richtige Kleid hervorzuziehen. Ich war ein bisschen eifersüchtig, weil ich an die Suchorgien im Chaos meines Kleiderschrankes denken musste. Und dann war ich erst einmal ziemlich überrascht. Was Geenia mir unter die Nase hielt, war schwarz und rot und wirkte wie eine Mischung aus Cheerleader- und Gothic Lolita-Kleidchen, mit Schleifen und Spitze und langen transparenten Stoffbahnen. Es sah großartig aus, aber es war nicht unbedingt das, was ich erwartet hatte. „Geenia, du weißt, zu welchem Anlass ich das hier brauche?“, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach, weil ich mir einfach nicht so ganz vorstellen konnte, zu welcher Art von Performance ich ausgerechnet dieses Kleid anzuziehen sollte. Ohne dass die anständigen älteren Damen und Herren und Jungchristenvorsitzenden der Jury spontan einen Herzschlag erleiden würden, versteht sich. „Natürlich weiß ich das!“ Geenias Stimme sollte wohl entrüstet klingen, doch der amüsierte Unterton in ihren Worten war nicht zu überhören. „Aber um eines mal klarzustellen: Wenn du einen Folklore-Tanz oder ein Geigensolo oder ein religiöses Gedicht oder etwas ähnlich… spießig Gewöhnliches vortragen willst, darfst du nicht zu mir kommen. Was erwartest du denn? Meine Zuschauer wollen Unterhaltung. Wenn deine Zuschauer das anders sehen, kann ich dir nicht helfen. Dann könnte ich dir den Gospel-Chor der kleinen Kirche hier um die Ecke empfehlen, der ist wirklich toll. Die Chorleiterin muss man erlebt haben. Was für eine Frau!“ „Jetzt hör schon auf!“, grummelte ich und streckte Geenia die Zunge heraus, aber mit dem Grinsen konnte ich trotzdem nicht aufhören. „Das… Ding da sieht toll aus. Würd ich auch auf der Straße anziehen. Ich frag mich nur…“ „Ich weiß schon, was du dich fragst. Was für eine… wie nennt ihr das? Performance. Was für eine Performance dazu wohl passen könnte. Das werde ich dir gleich zeigen. Es würde Jahrzehnte brauchen, wenn ich das jetzt im Detail beschreiben wollte.“ „Ja… das hat meine Mutter auch schon gesagt. Nicht, dass ihr mich irgendwie neugierig machen wolltet oder so, nein!“ „Nein, wirklich nicht!“ Geenia hob kurz beide Hände und lächelte auf eine Weise, die ich absolut nicht deuten konnte. „Das, was du jetzt sehen wirst, ist… einfach so unsinnig, dass es schon wieder genial ist. Und ich habe ewig gebraucht, um es mir auszudenken. Um es bis ins Detail zu perfektionieren. Ich warne dich gleich: Du wirst Tag und Nacht dafür üben müssen. Aber wenn du es kannst, wirst du jeden damit umhauen. Und jetzt komm endlich, ich möchte dich mit deinem Werkzeug bekannt machen.“ „Mit meinem… bitte was hast du vor?!“ Geenia bleckte kurz ihre perfekt weißen Zähne, und jetzt war ich doch ein bisschen beunruhigt. Ich konnte mir ja noch vorstellen, mit diesem niedlich-makabren Fummel vor die Jury zu treten und, na, beispielsweise zu tanzen. Aber wie ich in dem Ganzen auch noch Werkzeuge unterbringen sollte, überstieg sogar die Grenzen meiner Vorstellungskraft. Und das wollte schon etwas heißen. Vielleicht waren meine Erwartungen ja dementsprechend etwas übersteigert, aber als Geenia mir dann endlich ihr mysteriöses und ach so geniales Etwas unter die Nase hielt, mein Werkzeug, so besonders, dass man es nicht mehr in Worte fassen konnte, da war ich schlicht und ergreifend verdammt enttäuscht. Ich glaube, das hat man mir auch angesehen. Meine Mundwinkel zogen sich binnen weniger Sekunden immer tiefer und tiefer nach unten, obwohl ich tapfer versuchte, dagegen anzukämpfen. Auch mit Geenias Gesicht ging eine Veränderung vor sich. Wenn sie zuvor gelächelt hatte, dann grinste sie jetzt, und zwar ziemlich breit. Trotzdem sah sie nach wie vor umwerfend aus. Geenia war und blieb mir ein Rätsel. „Geenia“, stellte ich so kritisch wie nur irgendwie möglich fest, „das ist kein Werkzeug. Das ist ein Barhocker!“ „Ja“, strahlte Geenia, „ich muss zugeben, so sieht es aus.“ „Und was ist es in Wirklichkeit? Ein Elefant?!“ „Etwas, das du lieben wirst.“ Sie verließ ihr Allerheiligstes und stellte draußen ihren Barhocker ab, der kein Barhocker sein sollte, aber seltsamerweise wie ein Barhocker aussah – mit einem sogar relativ plumpen schwarzen Fuß, aus dem eine schwarze Stange aufragte, die eine unbequem dünn wirkende, mit schwarzem Leder bezogene Sitzfläche trug. „Und außerdem ist das hier ja noch längst nicht alles. Am Anfang ist jeder enttäuscht, aber wart ab, bis zu den Tanz siehst, der dazugehört.“ „Ein Tanz mit Stuhl?“ Auf wundersame Weise wurde meine Stimme sogar noch ein bisschen kritischer. „Ich weiß nicht. Findest du das nicht irgendwie… Porno?!“ „Ein wenig vielleicht. Na und?“ Geenia hob die Schultern, und dann deutete sie mit einer gebieterischen Handbewegung in den Raum hinein. „So, und jetzt geht dort in die Ecke und seid schön. Und kuck nicht so, Jessie. Schau es dir erst mal in Ruhe vom Anfang bis zum Ende an, bevor du darüber urteilst. Wenn du dann noch sprechen kannst, werde ich mir deine Kritik gerne gefallen lassen.“ Nach einem kurzen Moment trotzigen Zweifelns nahm ich schließlich doch in besagter Ecke Platz. Tatsumi setzte sich neben mich. Er war in den vergangenen Minuten so ungewohnt still gewesen, dass ich seine Anwesenheit beinahe vergessen hatte. Ich warf ihm einen flüchtigen Blick zu, den er aber gar nicht zu bemerken schien. Irgendwie wirkte er urplötzlich so in Gedanken versunken, aber dann spürte er endlich meinen Blick und lächelte wieder gewohnt arrogant, also schenkte ich meine Aufmerksamkeit lieber wichtigeren Dingen. Geenia begann nämlich, zu tanzen. Dann vergaß ich sowieso alles andere um mich herum. Wie kam es eigentlich, dass Geenia am Ende immer Recht behalten musste? Ich war tatsächlich sprachlos. Und ich fragte mich, wie um alles in der Welt ich das bis zum Schönheitswettbewerb noch lernen sollte. In noch einem Punkt sollte Geenia Recht behalten: Ich musste Tag und Nacht üben. Gott, und wie anstrengend das war! Erinnern Sie sich noch an diesen Cheerleadertanz, den wir bei der Vorentscheidung aufgeführt haben? Der half mir ein bisschen, aber er war ein Witz gegen das, was ich jetzt plötzlich können sollte. Ich lernte Muskeln kennen, von denen ich noch nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie im Körper trug. Es verging keine Sekunde mehr, in der ich nicht vor Schmerzen hätte schreien können. Irgendwann kam es mir so vor, als ob mir selbst das Blinzeln wehtun würde. Und ich konnte mich ja nicht ausruhen, ich musste weiter und weiter üben, weil mir die Zeit mit riesigen Schritten davonlief. Ehrlich gesagt, ich war an diesen Tagen nicht so gut drauf. Nicht unbedingt schlecht gelaunt oder deprimiert, aber… frustriert, das trifft es eher. Ich plagte mich pausenlos ab und es wurde einfach nicht besser. Ich wurde nur immer müder. Mir war klar, dass ich dringend ein bisschen Ruhe und Abstand gebraucht hätte, um überhaupt noch einmal Fortschritte machen zu können. Aber sobald ich mich mal fünf Minuten hinsetzte, quälte mich sofort ein schlechtes Gewissen, das noch schmerzhafter war als mein Muskelkater. Ich kam immer erst sehr spät am Abend aus Geenias kleinem Trainingsraum nach Hause, und dann fiel ich meistens sofort ins Bett, ohne noch was zu essen. Die Nächte schlief ich tief und traumlos, was ich sonst überhaupt nicht von mir kannte. Was für eine Gnade das war, begriff ich aber erst, als ich eines Tages wie gehabt lange nach Sonnenuntergang mein Zimmer betrat, mich wie immer zu Tode erschöpft auf meine unbequeme Matratze fallen ließ – und dann etwa drei Stunden später noch genauso dalag, die Augen starr an die Decke gerichtet, in meinem Kopf tausend Gedanken und in meiner Brust so ein latenter Druck, die unangenehme Last der Panik. Irgendwann stand ich auf und holte mir ein Thunfischsandwich aus dem Kühlschrank. Legte mich wieder hin. Wartete eine halbe Stunde. Und holte mir dann was zu Trinken. Nach einer weiteren halben Stunde musste ich aufs Klo. Tja, und dann lag ich wieder da und betrachtete die Decke. Mit jeder Minute schien es in meinem Zimmer ein bisschen stickiger und wärmer zu werden, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, gar nicht mehr richtig atmen zu können. Dann sah ich auf die Uhr und es war gerade mal halb Zwei. Ich hätte heulen können. Davon wurde ich aber leider auch nicht schläfriger. Ja, und irgendwie kam es dann, dass ich einen Telefonhörer in der Hand hielt. Fragen Sie mich bitte nicht nach einer detaillierteren Erklärung. Ich habe das bestimmt nicht gewollt! Ganz ehrlich, ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, dass ich eine Nummer gewählt habe. Muss ich aber wohl oder übel, denn am Ende hat jemand abgenommen. Und zwar erstaunlich schnell, wenn man bedenkt, dass es ja schon bald zwei Uhr nachts war! „Häh?“, meldete sich eine verschlafene Stimme, und spontan fühlte ich mich grottenschlecht. Ich hätte am liebsten sofort wieder aufgelegt, aber ich wusste ja nicht, ob meine Nummer angezeigt worden war, und das wär dann erst richtig peinlich geworden. Noch peinlicher. Ja, das ging. Aber auch so war ich vor lauter Scham erst einmal wirklich sprachlos. „Tut mir leid“, murmelte ich dann hastig ins Telefon, und im nächsten Moment hätt ich mich schon wieder dafür schlagen können. Was für eine herzliche Begrüßung! „Ich meine, ich hab dich aufgeweckt, oder?“ „Ehrlich gesagt, ja“, wurde meine vollkommen überflüssige Frage erstaunlich ungenervt beantwortet. „Jessie, bist du das? Ist was passiert?“ „Nein… oder ja, vielleicht. Ich weiß nicht.“ Ich kam mir mit jedem gestammelten Wort noch ein bisschen dümmer vor. Vor allem, weil Mike wirklich kein bisschen vorwurfsvoll, sondern einfach nur ehrlich besorgt klang. Ich hätte mir für so einen Anruf den Kopf abgerissen! „Tut mir echt leid. Ich… ich kann nur einfach nicht schlafen. Ich lieg seit Stunden wach und ich fühl mich so scheiße.“ Einen Moment lang Stille. Dann, deutlich wacher als zuvor: „Soll ich vorbeikommen?“ „Du willst…“ Ich musste ehrlich nach Luft schnappen. Dass Mike so etwas nur dachte, haute mich schon um… oder hätt’s halt getan, wenn ich nicht sowieso gelegen wäre. Dass er es dann auch noch ohne zu zögern und mit vollkommen aufrichtiger Stimme tatsächlich vorschlug, war in der Situation irgendwie zuviel für mich. „Du bist so krank, weißt du das eigentlich?!“ „Klar! Und?“ Ich hörte, dass Mike grinste – ja, so etwas ist möglich. „Hey, so kann ich zu dir ins Bett kommen und mich danach noch als großer Held aufspielen, ist doch perfekt, oder?“ „Mike, das geht nicht!“, widersprach ich etwas zu vehement, und fügte dann beschwichtigend hinzu: „Meine Mum schläft. Ich will sie auf keinen Fall wecken. Die hatte nen langen Tag hinter sich.“ „Du aber auch, oder?“ „M-hm“, nickte ich nach einigem Zögern. „Schon. Was weiß ich, warum ich jetzt nicht schlafen kann.“ „Sollen wir uns irgendwo treffen? Du könntest auch zu mir kommen. Ich hab ein Gästebett, von dem mir jeder schwört, es sei das Beste, in dem er jemals geschlafen hat. Also nicht nur von Gästebetten, sondern allgemein. Aber wir können uns auch einfach so treffen, wenn dir das sonst zu sehr nach zu dir oder zu mir klingt!“ Gegen meinen Willen musste ich lachen. „Nein… das passt schon, wirklich. Das ist zwar total absurd, aber ich bin eigentlich todmüde. Ich kann nur nicht einschlafen. Ich möcht jetzt nicht in irgendeiner Bar oder so was rumhocken. Wir… können bei dir ja noch ein bisschen Fernsehen oder so. Wenn du Lust drauf hast.“ „Klar, immer!“ Mike holte tief Luft, und ich ahnte, dass auch für ihn gerade alles recht plötzlich kam. Trotzdem klang er genauso wenig nervös, wie ich mich fühlte. Ich hatte gerade die Einladung eines an sich ja noch vollkommen Fremden angenommen, bei ihm zu schlafen, aber es fühlte sich nicht falsch an. Und eigentlich auch überhaupt nicht fremd. „Weißt du was? Ich hol dich ab. Dann musst du nicht allein durch die Stadt laufen. Und du wirst sehen, so weit ist’s gar nicht von dir zu mir.“ „Okay, dann bis gleich.“ Ich hatte schon irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil ich Mike so unverschämt herzitierte, aber ehrlich gesagt war ich froh, nicht allein durch die nächtlichen Straßen irren zu müssen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Mein Orientierungssinn war nicht der Beste, und ich wollte nicht erst früh morgens bei Mike vor der Tür stehen und ihn aus dem Bett klingeln. Ihn und… wen auch immer. Ich wusste ja nicht mal, wie Mike wohnte. Ich konnte ihn mir gut in einer WG vorstellen, mit mindestens fünf Mitbewohnern in einer uralten Dachwohnung, in der ständig etwas kaputt war. Vielleicht mit einer versteckten Hanfplantage in irgendeinem Kleiderschrank. Und mit ganz vielen Postkarten an der Klotüre. Ich zog mir schnell was über – einen Rock und ein knappes Top, weil es mir sogar in meinem Schlafshirt noch zu warm war –, schlüpfte in dazu passende Stiefel und schlich mich aus der Wohnung. Dann eilte ich die morsche Treppe hinab ins Freie. Die erhoffte Kühle blieb aus, es war genauso stickig wie in meinem Zimmer. Trotzdem fühlte ich mich ein bisschen wohler als in meinem Bett. Ich lehnte mich gegen die Hauswand, starrte auf die gegenüberliegende Bruchbude und wartete. Um ehrlich zu sein, ein bisschen habe ich das Ganze schon bereut. Meine Zweifel, das Richtige getan zu haben, wurden mit jeder Sekunde größer – meine Gewissheit, das denkbar Falscheste getan zu haben, strebte gegen Unendlich. Ich kannte Mike doch gar nicht, aber immer, wenn ich ihn sah, endete es irgendwie so, dass ich ihn ausnutzte oder schlecht behandelte. Und er schien es mir kein bisschen übel zu nehmen. Mir war schon klar, was das bedeutete. Mike musste es verdammt ernst sein. Oder er wollte mich unbedingt ins Bett kriegen und war einfach nur ein ziemlich guter Schauspieler. Aber dieser Gedanke kam mir so lächerlich vor, dass ich mich vor mir selbst dafür schämte. Ich wusste einfach, dass Mike nicht so war. Wenn es an einer Sache keinen Zweifel gab, dann daran. Tatsächlich erreichte Mike mein Haus sogar erstaunlich schnell. Sein dunkles Haar war noch zerwühlter als sonst, aber sein Lächeln strahlte wie eh und je. „Hey, Jessie“, rief er mir entgegen, ohne sich um die späte… oder eigentlich schon wieder frühe Uhrzeit und eventuell in Kürze erbost zu uns herunterbrüllende Nachbarn zu kümmern. In diesem Augenblick lösten sich all meine Zweifel in Luft auf, einfach so. Ich hatte keine Angst und keine Bedenken mehr. Ich spürte nur noch das unbedingte Bedürfnis, zurückzulächeln, und gab dem auch ohne längeres Zögern nach. „Abend, Mike!“, erwiderte ich und begrüßte ihn mit einer Umarmung, wie einen alten Freund. Wenn man allerdings bedachte, dass ich zuvor nie wirklich Freunde gehabt hatte, war der Gedanke gar nicht mehr so verkehrt. Es war ganz merkwürdig: Gerade als ich Mike so umarmte, fiel mir auf, wie einsam ich mein Leben lang gewesen war. Ich hatte in einer kleinen Parallelwelt gelebt, in der es nur Platz für Mum und mich gegeben hatte. Seltsamerweise machte mich diese Erkenntnis kein bisschen traurig, ganz im Gegenteil. Da war nur eine tiefe Dankbarkeit. Für viele Dinge, vor allem aber für dieses Mädchen namens Jessica Maguire, die mich so gewaltsam in die Außenwelt gezerrt hatte. „Ist noch ziemlich heiß heute, hm?“, riss mich Mike aus meinen merkwürdigen Gefühlen und Gedanken. Ich überspielte mein Zusammenzucken mit einem Nicken. „Ich will gar nicht wissen, wie heiß es morgen am Tag sein wird!“ Ich musste an Geenias kleinen, schlecht belüfteten Übungsraum denken und verzog das Gesicht. „Ich auch nicht. Und eine schlechte Nachricht hab ich außerdem: Wir werden rennen müssen. Jetzt gleich. Dann schaffen wir’s nämlich noch auf die nächste S-Bahn.“ „Kommt danach keine mehr?“ „Doch, klar. Eine lächerliche Stunde später.“ „Rennen wir“, gab ich mit einem resignierten Schulterzucken zurück. Mike grinste nur, dann nahm er meine Hand und wir liefen los. Wir sprangen durch die Türen der S-Bahn, als sie gerade dabei waren, sich zu schließen. Bis zu Mike war es wirklich nicht allzu weit, und die drei Stationen, die wir fuhren, brauchte ich auch dringend, um wieder zu Atem zu kommen. Ich lächelte die ganze Zeit über. Ein kurzer Moment der Enttäuschung stellte sich dann allerdings doch ein, als ich Mikes Haus sah. Es war nicht annähernd so alt und… bruchbudig, wie ich mir das ganz selbstverständlich ausgemalt hatte. Eigentlich ein schönes Haus, dreistöckig, mit weißer Fassade und grau umrandeten Fenstern. Nichts Besonderes, aber definitiv sehr einladend und irgendwie freundlich. Trotz meiner zerbröckelnden Fantasien fühlte ich mich sofort wohl hier. Mike schloss die Tür auf, trat in einen sogar recht aufgeräumten Eingangsflur und stieg über die Treppen nach oben. Ganz nach oben. Wenigstens in einem Punkt schien ich Recht zu behalten. Allerdings war das Haus nicht sonderlich groß und die Dachwohnung musste logischerweise noch etwas enger sein als die unteren Stockwerke. Noch eine Gewissheit, die sich verflüchtigte. „Hier passen aber keine sechs Personen rein“, murmelte ich und sah noch im nächsten Moment, dass auf dem Schild an der Klingel nur ein einziger Name stand, nämlich der von Mike. Ich muss ihn daraufhin wirklich angestarrt haben, denn er hob eine Augenbraue und fasste sich ganz unbewusst prüfend ins Gesicht. „Stimmt irgendwas nicht?“, fragte er, während er flüchtig seine Wangen abtastete. „Und welche sechs Personen eigentlich?!“ „Nichts… vergiss es“, antwortete ich etwas verlegen, fügte dann aber doch erklärenderweise hinzu: „Ich war mir sicher, du würdest in so einer Chaos-WG hausen. Wohnen. Wie auch immer.“ „Wieso?“, fragte Mike und fuhr sich ausgerechnet bei diesen Worten durch die Unordnung auf seinem Kopf, die es sich anmaßte, als Frisur bezeichnet werden zu wollen. Dann schloss er endlich auf. „Das klingt zwar jetzt total spießig, aber die Wohnung gehört meinen Eltern. Die wohnen übrigens ein Stockwerk unter uns. Früher haben meine Großeltern hier oben gelebt, aber dann haben die ganz spontan beschlossen, an die Küste zu ziehen. Ich wollte eh immer so früh wie möglich ausziehen, und hier hab ich beides, meine Familie, auch mal Hilfe beim Kochen und so, aber trotzdem eine eigene Wohnung. An sich ziemlich cool.“ „Das find ich allerdings auch! Und warum spießig? Die meisten wohnen in unserem Alter noch bei den Eltern mit in der Wohnung oder im Haus oder so. Ich wohn ja auch mit meiner Mum zusammen.“ Wer von uns beiden da erwachsener war, Mum oder ich, ließ ich einfach mal gedanklich dahingestellt. Mikes Wohnsituation fand ich aber wirklich sehr cool. Es war eine gute Mischung aus Distanz und Nähe. Man konnte sich sehen, aber man war nicht dazu verpflichtet. Jeder hatte Freiräume, ein eigenes Leben, aber wenn man darauf mal keine Lust mehr hatte, musste man nur eine einzige Treppe überwinden, auf die Klingel drücken und hoffen, dass jemand zuhause war. Man war selbstständig, aber im Notfall nicht auf sich allein gestellt. Eigentlich perfekt. Der Anblick von Mikes Wohnung besänftigte mich dann noch ein bisschen mehr. Die Einrichtung sah aus, als ob man sie von diversen Möbelhäusern und Flohmärkten wild zusammengekauft hätte, dunkle Regale neben hellen Schränken, ein etwas abgewetztes Großmuttersofa, ein eleganter schwarzer Tisch. An den Wänden hingen etwas wahllos positionierte Poster von allem Möglichen, von Frauen und Stränden und diversen Musikgruppen. Hier und dort dienten Ecken und Stuhllehnen als zusätzlicher Kleiderschrank. Es war chaotisch, ohne schmutzig zu wirken. Ich nickte zufrieden und trat ein. „Klein, aber mein“, fasste es Mike treffend zusammen und betrachtete sein Reich mit liebevollem Stolz in den blauen Augen. „Sieht gemütlich aus“, fügte ich hinzu und ließ mich auf dem herrlich altmodischen Sofa nieder. Einfach so, ohne zu fragen. Ich hatte nicht das Gefühl, um Erlaubnis bitten zu müssen. Die Wohnung schien mich förmlich dazu einzuladen, mich ganz wie zuhause zu fühlen und mich auch entsprechend zu verhalten. „Und fühlt sich auch so an.“ „Danke!“ Mike strahlte spontan noch ein bisschen mehr. „Aufgeräumt ist was anderes, aber ich finde, es geht. Man kann hier jedenfalls ganz gut leben. Es… geht doch, oder?“ „Klar!“ Ich lehnte mich entspannt zurück und musterte die gegenüberliegende Wand. Durch ein Fenster mit Spitzengardine fiel warmes Straßenlaternenlicht zu uns herein. Die Tapete war ein bisschen rau und nicht ganz weiß, sondern eher so bräunlich beige. Auch eine Oma-Tapete. Die Wohnung wuchs mir immer mehr ans Herz, schon jetzt. Trotzdem bemerkte ich sofort, dass etwas fehlte. „Hey, wo ist der Fernseher?!“, fragte ich etwas beunruhigt. „In meinem Zimmer. Da kann ich ihn besser brauchen als hier.“ „Und? Darf ich da auch hin oder muss jeder sterben, der diese verbotene Kammer betritt?“ „Klar!“ Mike bleckte die Zähne, was bei ihm aber kein bisschen bedrohlich, sondern schon wieder nur wie ein Grinsen aussah. „Aber wenn dir das nichts ausmacht, kannst du’s gerne sehen.“ „Okay.“ Ich zuckte mit den Schultern und stand auf. „Hauptsache Fernsehen.“ Neugierig folgte ich Mike und spähte an seinem Rücken vorbei in sein Zimmer hinein, kaum dass er dessen Tür geöffnet hatte. Und ich muss sagen, wieder wurden meine Erwartungen aufs Sympathischste erfüllt. Das Bett sah aus wie selbstgebaut. Die Wände waren auch hier kreuz und quer mit Postern zugepflastert. Der Schreibtisch passte nicht zum Schrank, der Schrank nicht zum Regal, das Regal nicht zum Fernsehtisch, der Fernsehtisch nicht zum Schreibtisch. Es war gar nicht mal so unaufgeräumt, aber der Raum kam mir trotzdem unglaublich chaotisch vor. Ich beschloss spontan, dass es sich hier gut aushalten ließ. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ ich mich auf das Bett fallen, das sogar erstaunlich gemütlich war. „Fernsehen!“, befahl ich. Mike streckte mir die Zunge heraus. Er kramte die Fernbedienung zielsicher unter einem Haufen eng beschriebener Blätter, vermutlich Schulsachen, hervor und warf sie neben mich aufs Bett und dann sich selbst beinahe auf sie drauf. Ich sah ihn strafend an, aber Mike kümmerte sich nicht weiter darum. „Was kommt eigentlich um diese Uhrzeit?“, fragte er. „Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wie spät es ist. Ich glaub, es kommt grad die Wiederholung von irgendeiner Nachmittagstalkshow.“ „Cool. Wo?“ „Such doch einfach!“ Mike stieß mir mit dem Ellenbogen in die Seite, tat dann aber brav, wie ich ihm geheißen hatte. Tatsächlich lief besagte Talkshow, noch dazu mit einem großartigen Thema. ‚Ich kann jeden haben’, etwas in der Art. Aus irgendeinem Grund musste ich sofort an Tatsumi denken, und kurz hatte ich so ein komisches Gefühl in der Brust, das aber schnell wieder verschwand. Ich warf Mike einen verstohlenen Blick von der Seite her zu. Er betrachtete den Bildschirm ganz konzentriert, was angesichts der vollkommen hirnrissigen Unterhaltungssendung zwar absurd, aber auch irgendwie verdammt… niedlich war. Ich kann’s nicht anders nennen. Wenn ich eine Talkshow ansehe, muss ich mich andauernd lautstark aufregen oder mich über die Gäste lustig machen oder dem Fernseher meine eigene Meinung zu dem geballten geistigen Müll entgegenrufen. Mike sah aus, als ob er einem höchst anspruchsvollen wissenschaftlichen Vortrag lauschen würde. Ich wollte ihn nicht stören, also konzentrierte ich mich eben auch auf den Fernseher. Nach kurzer Zeit überkam mich die Müdigkeit. Fernsehen machte mich sowieso immer ein bisschen müde, und ich ertappte mich dabei, wie mir immer öfter die Augen zufielen. Irgendwann reichte es mir und ich ließ mich einfach seitlich auf die Matratze sinken. Die Beine streckte ich hinter Mikes Rücken aus, bevor ich mich wieder den großen Ausschnitten und solariumbraunen Hungerhaken auf dem Bildschirm zuwandte. Ich weiß, dass sich irgendwann zwei Frauen die Oberteile vom Leib gerissen und sich aufeinander gestürzt haben. Dann schlug ich die Augen auf, und es war wieder hell. Es war schon ein bisschen beängstigend. Ich lag in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer, und ich war allein. Der Fernseher schwieg. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Zeit vergangen war, aber an den Rändern der zugezogenen Vorhänge drang Tageslicht in Mikes kleine Chaosbehausung. Außerdem fühlte ich mich erstaunlich wach. Und ich war zugedeckt. Nach einigen Momenten bemerkte ich auch, dass Kaffeegeruch in der Luft lag. Ich richtete mich auf, strich mit den Fingern durch meine Haare und schlich ganz vorsichtig zur Tür. Es konnte nicht mehr früh am Morgen sein, aber ich fühlte mich irgendwie trotzdem dazu verpflichtet, leise zu sein. Nach einem kurzen Zögern und einem ausgiebigen Durchatmen wagte ich es, die Tür zum Nebenzimmer zu öffnen. Dort sah ich allerdings nicht viel mehr als eine halb zu Boden gesunkene Decke, die in der vergangenen Nacht… oder auch am vergangenen Morgen definitiv noch nicht auf dem Sofa gelegen hatte. Außerdem hörte ich leise Musik aus der Richtung einer weiteren Tür, der ich bislang noch keine Beachtung geschenkt hatte. Wohl zu Unrecht, denn dort schien sich die Küche zu befinden. Jedenfalls war der Raum dahinter eindeutig die Quelle des Kaffeeduftes. Mike öffnete besagte Tür, noch bevor ich es tun konnte. Er wirkte kurz ein bisschen überrascht, als er mich sah, fand aber schnell sein Lächeln wieder. „Hey, schon wach? Ich hab gedacht, du schläfst noch ne Weile.“ „Wie spät ist es denn?“, fragte ich. „So zwölf Uhr rum.“ „Hm. Ist ja echt noch gar nicht so spät.“ Ich lockerte kurz meine Schultern, dann verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah Mike herausfordernd an. „Ich hoffe für dich, dass du den Kaffee da für mich gekocht hast!“ „Nein, hab ich nicht“, antwortete er, und fügte dann rasch hinzu, als er sah, wie sich meine Augenbrauen zusammenzogen: „Für uns beide. Hey, ich muss auch wach werden, und ohne Kaffee nach dem Aufstehen funktioniere ich den ganzen Tag lang nicht.“ „Na gut, dann will ich mal nicht so sein“, erklärte ich großmütig, während ich mich auf dem Sofa breit machte. „Wow, danke. Und darf ich mich auch setzten? Ich meine, ich will dir ja nicht den ganzen Platz wegnehmen oder so.“ „Ach, kein Problem!“ Ich winkte ab und streckte mich noch ein bisschen mehr. Wundersamerweise fand Mike trotzdem noch Platz neben mir. Nach ein paar Sekunden stand er aber sowieso wieder auf, verschwand in der Küche und kam mit zwei großen Tassen wieder zurück, von der eine mit den Worten: „Ich kann nichts dafür, ich bin so“, die andere mit einem großen gelben Smiley mit Kopfschuss bedruckt war. Ich nahm ihm schnell den toten Smiley aus der Hand, bevor er auf dumme Gedanken kommen konnte. „Jetzt einen Fernseher!“, seufzte ich sehnsüchtig. „Geh doch und hol ihn!“, grummelte Mike und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Ich beschloss, ihm das erst einmal nachzumachen, bevor ich ihn wieder strafend ansah. „Hey, ich bin hier der Gast!“, protestierte ich dann. „Ich hab immer Recht! Und ich will bedient werden, so. Jetzt weißt du’s.“ „Soll ich dir jetzt die Fußsohlen massieren oder was?“ „Kannst du das denn?“ „Ähm… muss man da was können?“ „Ja!“ Ich zog hastig meine Füße zu mir und richtete mich wieder ein bisschen auf. „Sonst kitzelt es fürchterlich, und glaub mir, dann tret ich wild um mich und ich kann nicht sagen, wo ich dich dann am Ende treffen werde!“ „Ich hab aber schon nen Kumpel von mir massiert, und der fand’s toll!“ „An den Füßen?!“ „Nein, an den Schultern!“ „Du massierst deinen Kumpels die Schultern, soso.“ Ich verzog meine Lippen zu einem sehr zweideutigen Grinsen, aber Mike ließ sich davon nicht provozieren. „Ja, einem Kumpel, zu dessen voller Zufriedenheit“, wiederholte er gelassen. „Ich kann nicht besonders viel, aber was Schultern massieren angeht, bin ich ein Naturtalent!“ „Ich glaub dir kein Wort.“ „Soll ich’s dir beweisen?“ „Mach doch!“ Ich nahm noch einen tiefen Schluck von meinem Kaffee – ehrlich gesagt, er schmeckte weitaus besser als das Gesöff, das Ma und ich bei uns zuhause immer verbrachen – und wandte ihm dann den Rücken zu. Ehrlich gesagt, ich rechnete nicht wirklich damit, dass Mike seine Drohung (oder sein Versprechen?) wahr machen würde, sonst hätte ich womöglich anders gehandelt. Hätte ich das? Keine Ahnung, aber jedenfalls legte Mike schon nach wenigen Sekunden seine Hände auf meine Schultern. Ich erschauderte. Was genau in diesem Augenblick passierte, kann ich nicht beschreiben. Ein leises Zittern lief durch meinen ganzen Körper und mir wurde fast ein bisschen schwindelig. In meinem Bauch kribbelte es, als ob ich Achterbahn fahren würde, und dieses Kribbeln wanderte quälend und wunderbar langsam bis in meine Finger-, Zehen- und Haarspitzen. Ich schloss die Augen und lehnte meinen Kopf zurück, Mikes Hand entgegen, die immer noch reglos auf meiner Haut verharrte. Ich spürte, dass seine Finger ganz leicht bebten, als ich sie mit meiner Wange streifte. Und dann lag ich plötzlich in seinen Armen, ohne so recht zu wissen, wie ich dorthin gekommen war. Ich zitterte immer noch, sogar ein bisschen stärker als zuvor. Mir war, als ob ich fallen würde, und Mike war das Einzige, an dem ich mich noch festhalten konnte. Und das tat ich. Meine Hände schlossen sich um den Stoff seines Oberteils, während er seine Lippen auf meine presste. Ich wich nicht zurück, ganz im Gegenteil, ich stürzte mich Hals über Kopf in diesen ganz und gar nicht zögerlichen, diesen hungrigen, leidenschaftlichen Kuss, als ob es die letzten Sekunden meines Lebens wären. Die Welt um Mike und mich herum verschwand einfach, es gab nur noch seinen Mund und meinen Mund und seine Finger, die mir langsam über den Rücken strichen, meine Hüften umfassten, mich an ihn zogen und festhielten, als ob sie mich nie mehr wieder loslassen würden. Dafür ließ ich Mikes T-Shirt los, fühlte stattdessen jede Linie seines Rückens, ließ dann meine Hand unter sein Oberteil fahren, weil ich seine Haut berühren wollte, weil mich nichts und niemand von dieser wunderbaren Wärme fernhalten sollte. Ich habe keine Ahnung, wie ich unter all den Küssen überhaupt noch atmen konnte. Irgendwann ließ Mike von meinen Lippen ab, wanderte über mein Kinn zu meinem Hals hinab, und es machte mich ganz wahnsinnig, wie sein Atem meinen Nacken streifte. Seine langen, etwas rauen Finger schoben den Stoff meines Tops nach oben, strichen über meine Seiten, und diese Berührung jagte neuerliche Schauer über meinen Rücken… und über einfach alles, was danach kam. Bis mir im allerletzten Augenblick einfiel, dass ich eine kleine, aber nicht ganz unwichtige Nebensache vergessen hatte. Ich war nicht Jessica Maguire. Mike konnte und würde auf seiner Erkundungstour über meinen Körper nicht finden, was er zu finden glaubte. Sondern andere Dinge, von denen Mums Brustimplantate noch das Harmloseste waren. Kalte Panik stieg in mir auf. Ich wollte nicht weg von Mike, ich wollte ihm noch viel, viel näher kommen, aber das war nicht möglich, weil ich nicht mehr als ein gottverdammter Lügner war, der sich in seiner eigenen Traumwelt verlaufen hatte. Ein grauenvoller Schmerz bohrte sich mitten in meine Brust, und ich habe mich selten so gehasst wie in diesem Augenblick, als ich Mikes Hände von meinem Körper riss und aufsprang. Er starrte mich an – vollkommen verwirrt, fast ängstlich, flehend… fassungslos. Ich habe keine Ahnung, wie ich zurückgestarrt habe, aber Mike sagte kein Wort. Vielleicht wagte er es nicht. Vielleicht dachte er, dass er derjenige gewesen war, der einen Fehler gemacht hatte. Ich wollte es ihm erklären, wollte ihn vom Gegenteil überzeugen, wollte etwas retten, das nicht mehr zu retten war. Und ich begriff, dass ich ihm nie mehr wieder in die Augen sehen konnte. „Es tut mir leid“, flüsterte ich, und meine Stimme zitterte nicht weniger als ich selbst. „Es tut mir so leid.“ Dann lief ich aus der Wohnung, ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen. Offen gesagt – in den kommenden Tagen fühlte ich mich hundeelend. Nach dem ersten Schock wurde es so richtig übel, mir tat einfach alles weh und ich konnte kaum noch in den Spiegel sehen, weil ich dort das Gesicht des schlechtesten Menschen auf der ganzen weiten Welt ertragen musste. Ein furchtbar schlechtes Gewissen quälte mich… und etwas anderes, das vielleicht noch deutlich schlimmer war. Ich konnte mich nicht bei Mike melden, ich wollte ihn im Leben nie mehr wiedersehen. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite wollte ich einfach nur bei ihm sein. Ich vermisste ihn, obwohl ich ihn kaum kannte, und meine Gedanken kreisten in allen möglichen und unmöglichen Situationen nur um ihn. Ich werde das jetzt nicht im Detail aufschreiben, vergessen sie’s. Das tut nichts zur Sache, und sie würden ja doch nur schlecht über mich denken. Außerdem hatte ich keine Wahl – die Show musste weitergehen. Ich stürzte mich mit ganz neuer Energie ins Training, weil es mich mit seinen körperlichen Schmerzen so wunderbar von jedem anderen Schmerz ablenkte. Es forderte meine ganze Konzentration und Aufmerksamkeit, es bescherte mir Stunden der Einsamkeit, in denen ich mir selbst nicht feindselig gegenübertreten konnte, weil ich mich ja schließlich brauchte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, glaube ich, dass ich es ohne diesen morgendlichen Sturzflug mit Mike niemals geschafft hätte, die ganze mörderische Choreographie zu lernen. Es war Untergang und Rettung im selben Augenblick, und ich kämpfte mit einer Leidenschaft, die ich gar nicht von mir kannte. Tatsumi war ein bisschen merkwürdig in der folgenden Zeit. Er war und blieb Tatsumi, er grinste mich immer noch so arrogant und nervig an, wie er es eben meistens tat, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mir aus dem Weg ging. Und weniger redete als sonst, was bei ihm ja schon auffiel. Ich dachte nicht groß darüber nach, weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt war, aber ich konnte es auch nicht ganz ignorieren. Außerdem gab es immer wieder Momente, in denen mir die Einsamkeit einfach zuviel wurde. In denen ich die belanglosen Unterhaltungen mit Tatsumi als Erlösung empfand. Mir fiel nicht auf, dass er niemals ein Wort über sich selbst verlor. Ich war froh, wenn er mich nach meinem Training fragte und ein paar dämliche Witze riss und mich, wie die Übungsstunden, von meinem Weltschmerz ablenkte. Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet an diesem einen Abend beschloss, nach dem Tanzen noch bei ihm vorbeizuschauen. Eigentlich war ich todmüde, mir tat wieder mal (oder eher immer noch) alles weh und ich hatte einen Mordshunger. Aber ich wollte einfach nicht nach Hause. Ich wollte nicht allein auf meinem Zimmer rumhängen und mir selbst leid tun. Ich stieg einfach in die S-Bahn, ohne groß nachzudenken. Vielleicht war es für mich in den zurückliegenden Tagen selbstverständlich geworden, dass ich Tatsumi in jeder Lebenslage auf die Nerven gehen konnte, wenn wir mir gerade danach war. Er ging mir ja auch auf die Nerven, also wo war das Problem? Vermutlich hätte ich umkehren sollen, als ich die Stimmen hörte. Laute, sogar ziemlich laute Stimmen. Sie zerrissen die Stille in dem großen, schönen Garten, aber nur solange, bis ich die Türschwelle erreicht hatte. Noch ein lauter Schlag irgendwo im Inneren der Prachtvilla, dann kehrte wieder nächtliche Ruhe ein. Etwas unschlüssig blieb ich vor der Tür stehen, aber ans Gehen dachte ich merkwürdigerweise nicht. Es war ein Gefühl, als ob mich die Vorgänge innerhalb dieses Prunkhauses gar nichts angehen, mich einfach nicht berühren würden, solange ich noch vor seinen Pforten stand. Was da geschah, hatte nichts mit mir zu tun, war für mich gar nicht wirklich real. Ich zückte mein Handy und ließ dreimal bei Tatsumi anklingeln. Das war unser Signal, dass ich da war, weil er nach wie vor nicht wollte, dass ich an der Tür klingelte. Mich beleidigte das ein bisschen – so peinlich und asozial war ich nun auch wieder nicht, oder wenigstens sah man mir das nicht auf den ersten Blick an –, aber dann dachte ich, dass Tatsumi schon seine Gründe haben würde, und ich hatte ja auch keine Lust auf peinliche Begegnungen mit diesen unbekannten Eigentümern eines so unfassbar großen Hauses. Ja, lachen Sie nur darüber. Das ist auch nicht böse gemeint, Sie müssen einfach bedenken, wo ich herkomme, dann verstehen Sie diese Gefühle vielleicht besser. Wie auch immer, Tatsumi ließ mich in dieser Nacht ganz schön lange warten. Ich rechnete fast nicht mehr damit, dass er mir überhaupt noch öffnen würde, und ich wollte schon beinahe wieder beleidigt abziehen, als ich endlich doch ein Geräusch hinter der Tür wahrnahm. Von innen drehte sich ein Schlüssel im Schloss, und dann öffnete sich das Tor zum Palast des Prinzen und selbiger begrüßte mich mit einem Nicken. Ich muss gestehen, dass ich doch ein bisschen erschrocken bin. Tatsumi lächelte zwar, aber das hätte er sich auch sparen können, weil es einfach nur offensichtlich falsch war. Er legte sich einen Finger auf die Lippen, als er mich hereinwinkte, aber ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich sagen sollte. Auf Zehenspitzen schlich ich ins Innere des Hauses. Es war so still wie meist, aber auf eine ganz andere Art – ein bedrückendes Schweigen, die Ruhe nach dem Sturm. Ich schluckte schwer und wäre am liebsten sofort wieder gegangen, wagte es aber nicht. Nicht, nachdem ich gerade erst im unpassendsten Moment hereingeplatzt war. Schweigend folgte ich Tatsumi auf sein Zimmer und setzte mich auf die äußerste Kante seines Betts. Irgendwie war es mir unangenehm, jetzt etwas zu berühren oder durcheinander zu bringen. Mir war es ja schon unangenehm, überhaupt hier zu sein. Ich starrte auf meine Hände. Wartete darauf, dass Tatsumi irgendeine dämliche Bemerkung machen und damit das Eis brechen würde, aber er sagte nichts und mir wurde immer kälter. Nervös scharrte ich mit einem Fuß über den Boden, aber schon dieses Geräusch erschien mir viel zu laut, unverschämt laut. Ein Fremdkörper in all der Stille. Ich hätte mich am liebsten irgendwo vergraben, aber das wär vermutlich auch nicht viel unauffälliger gewesen. „Was is denn passiert?“, brachte ich irgendwann – endlich! – über mich, zu fragen. Diese seltsame Anspannung in meiner Brust wuchs mehr und mehr. Gott, warum antwortete Tatsumi nicht endlich? Ich sah ihn verstohlen von der Seite an. Hinter den hellblonden Haarsträhnen, die ihm vors Gesicht fielen, konnte ich sehen, dass er irgendwo durch den Boden hindurchstarrte. Ich wollte ihn gerade unauffällig berühren, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen, da blickte er von selbst wieder auf, wenn auch nur ein bisschen und nicht in meine Richtung. „Stress“, murmelte er wenig aussagekräftig vor sich hin. „Mal wieder.“ „Und wieso?“, hakte ich schon etwas selbstbewusster nach. Tatsumi zog die Augenbrauen zusammen und dann die Schultern hoch. Er zog die Schultern hoch! Was um alles in der Welt war passiert?! „Wie immer halt“, murmelte Tatsumi weiter, und fügte auf einen kritischen Blick meinerseits ganz unvermittelt und deutlich lauter hinzu: „Das ist doch jedes verdammte Mal dasselbe! Die kommen mir wieder mit ihrem BWL-Hirnfick, und darauf hab ich einfach keinen Bock und werd auch niemals Bock drauf haben! Nur, weil die mich aus der Scheiße geholt haben, brauchen die mich nicht bei irgendeiner gottverdammten Elite-Uni oder was auch immer anmelden, ohne mich vorher zu fragen!!! Die sollen ihr scheiß verzocktes Spießerleben doch an einem anderen auslassen!!“ Ich war, vorsichtig ausgedrückt, überrascht. Tatsumi starrte mich an, als ob er mir gleich den Kopf von den Schultern reißen wollte, und, ich meine, ich hatte Tatsumi immerhin schon so ein bisschen kennen gelernt, und er war und blieb ja schließlich Tatsumi, und dann fluchte er da plötzlich vor sich hin und zwar nicht gerade leise und... ja. Können Sie sich das vorstellen? Na gut... vermutlich können sie das. Aber ich, hey, ich war wirklich sprachlos, und das kommt weiß Gott nicht oft vor. „Was denn?!“, fragte Tatsumi, immer noch ziemlich wütend, als er meinen erstaunten und, ja, hilflosen Blick bemerkte. Ich schluckte schwer und fragte dann, wieder deutlich vorsichtiger: „Und... was machst du jetzt?“ „Den Rest meines Lebens mit diesem kotzlangweiligen Müll verschwenden, nur weil die mich für ein Stück Dreck halten, das die großen Helden unter dem Gürtel seines Vaters weggerissen haben? Ja, klar!“ Er schnaubte wütend, und dann fuhr er herum und schlug mit der Faust gegen die Wand. Ich rutschte auf dem Bett von ihm weg und schnappte nach Luft. Tatsumi fixierte die weiße Tapete wie ein Raubtier seine Beute, und ich sah, dass sein ganzer Körper zitterte. Ich saß daneben, wie gelähmt und vollkommen überfordert, und ich begriff nur ganz langsam, dass da vor meinen Augen etwas geschah und vermutlich schon lange und oft geschehen war, von dem ich noch nicht mal ansatzweise geahnt hatte. Ich wollte gerade etwas sagen, da ließ Tatsumi seinen Arm wieder sinken und murmelte so laut, dass ich es gerade noch hören konnte: „Ich hau ab.“ „Was?!“ Meine Reaktion kam so laut und so plötzlich, auch für mich, dass ich mir unwillkürlich eine Hand vor den Mund schlug. Tatsumi schien es jedoch nicht im gleichen Maße zu stören, wie es das normalerweise getan hätte, denn er sah sich nicht einmal um. Er schloss nur die Augen, atmete zwei-, dreimal tief durch und fuhr dann, immer noch mit gesenktem Blick, fort: „Ach komm, jetzt tu doch nicht so.“ Er presste kurz die Lippen aufeinander, wirkte ansonsten aber schon deutlich gefasster. „Und fang bitte nicht wieder mit deinen Moralpredigten an von wegen tolle Villa und andere wären froh über mein Leben und der ganze Blödsinn. Dafür hab ich jetzt wirklich keinen Nerv mehr!“ „Tatsumi, du kannst nicht einfach abhauen!“, antwortete ich und ignorierte den letzten Teil seiner Worte einfach. Ich wusste ja, dass ich bei unserem ersten Krisengespräch nicht gerade sensibel gewesen war, dass er frustriert war und... ach, keine Ahnung. Es traf mich nicht, was er sagte, es interessierte mich nicht mal, ich war einfach noch viel zu schockiert und hatte momentan weiß Gott andere Sorgen. „Überhaupt nicht und erst recht nicht vor dem Wettbewerb!“ „Und wieso nicht?“ „Weil... weil wir Verbündete sind!“ Ich schrie fast und ich kam mir so lächerlich dabei vor, erst recht, als ich in Tatsumis Gesicht sah. „Ja, klar, und darum bleib ich hier, um dich bei Laune zu halten.“ Er verzog die Lippen wieder zu einem Lächeln, aber wirklich erleichternd war der Anblick nicht, weil es so unglaublich... bitter war. „Als ob’s dich interessieren würde. Als ob du dir nicht einen anderen Idioten suchen könntest, den du genauso wenig leiden kannst wie mich!“ „Hör auf!“ Mit einem Satz war ich auf den Beinen, aber ich wagte es nicht, mich Tatsumi zu nähern, weil er mich schon wieder so todbringend anstarrte. Ich hätte vermutlich enttäuscht und gekränkt sein müssten, aber aus irgendeinem Grund fühlte ich mich eher so, als ob ich ihn im Stich lassen würde und nicht umgekehrt. Und dieses Gefühl, Sie können es sich vielleicht schon denken, machte mich ganz unglaublich wütend. „Hör auf, so einen Scheiß zu reden! Nur, weil deine Eltern so abgehen, musst du’s an mir nicht auslassen!“ „Es sind nicht meine verdammten Eltern!“ „Sei doch froh!“ „Oh, glaub mir, das bin ich!!“ Er schnaubte und strich sich... fast schon aggressiv die Haare aus der Stirn. „Und drum juckt’s mich auch noch viel weniger, was sie von mir wollen. Ein Grund mehr, endlich von hier wegzukommen.“ „Und was ist mit mir?!“ Jetzt machte ich doch einen Schritt auf ihn zu, und schrie dafür gleich noch ein bisschen lauter, um... ihn einzuschüchtern, um selbst auch ein bisschen bedrohlich zu wirken, was auch immer. „Warum bin ich denn hier, wenn ich dich nicht leiden kann? Verrat mir das doch bitte mal!“ „Weil ich nützlich bin?! Weil ich dich überall hinkutschieren, dir Zeug kaufen und ab und zu deinen privaten Entertainer spielen kann? Reicht das?!“ „Sag mal“, erwiderte ich, und jetzt schrie ich wirklich, „warum wunderst du dich eigentlich, dass dich kein Mensch leiden kann, wenn du andauernd raushängen lassen musst, was für ein gottverdammtes Arschloch du doch bist?!“ Das hatte gesessen! Tatsumi riss die Augen auf, und dann brüllte er zurück: „Dann geh doch! Nimm deine ganzen billigen Klamotten aus meinem Schrank und aus meinem Zimmer und aus meinem Haus und hau...“ „Ruhe, verdammt noch mal!!“ Eine tiefe Männerstimme ertönte – die Stimme aus dem Off, sozusagen – und dann ein dumpfes Pochen, als ob jemand irgendwo im Haus gegen die Wand oder gegen die Decke schlagen würde. In diesem Augenblick erstarrten wir beide, Tatsumi und ich. Wir standen uns gegenüber, quasi immer noch in unseren Kampfesposen, fixierten uns, aber nicht mehr wie Feinde, sondern... wie ertappt, irgendwie. Ganz, ganz langsam, fast ein bisschen beschämt, ließ ich meine zu Fäusten geballten Hände sinken. Dann sahen wir uns weiter schweigend an, bis es mir irgendwann zu peinlich und zu beklemmend wurde und ich meinen Blick sinken ließ. „Tut mir leid“, flüsterte ich nach einer halben Ewigkeit, und, glauben Sie mir, ich meinte es auch so. Ich fühlte mich schon wieder so schlecht, dass mir sogar das Atmen wehtat. „Tut mir wirklich leid. Ich hab’s nicht so gemeint.“ Vorsichtig hob ich den Blick, aber Tatsumi hatte die Augen geschlossen und in seinem Gesicht konnte ich überhaupt nichts lesen. Wieder standen wir einige Zeit schweigend da, ich immer angespannter, Tatsumi undurchschaubar, und dann plötzlich hob er den Kopf und – lächelte. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich Tatsumis Lächeln nicht ein kleines bisschen unsympathisch fand. „Zorn“, sagte er dann, immer noch mit diesem... ja, vorsichtigen Lächeln auf den Lippen. „Himmelschreiende Dummheit“, murmelte ich zurück und bemühte mich ebenfalls, zu lächeln. „Das gilt nicht, Jessie“, antwortete Tatsumi und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist überhaupt keine Todsünde.“ „Auch nicht, wenn’s wahr ist?“ „Dann erst recht nicht!“ „Okay“, entgegnete ich mit einem Schulterzucken. „Dann eben auch Zorn. Obwohl’s langweilig ist.“ „Gibt Schlimmeres.“ Jetzt zuckte auch Tatsumi mit den Schultern. Irgendwie war es wie in einem Sketch oder in einer dieser zahllosen skurrilen Prime-Time-Serien, als ob alles nach einem absurden Drehbuch ablaufen würde. Dann ging Tatsumi an mir vorbei und setzte sich auf sein Bett. „Wenn du willst“, fuhr er ganz ruhig fort, immer noch lächelnd, aber wieder viel mehr er selbst, „kannst du jetzt gehen. Ich glaube, das war genug Terror für heute.“ Ich sah ihn noch ein paar Sekunden an, dann setzte ich mich neben ihn und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand. „Sollen wir fernsehen?“, fragte ich. Tatsumi nickte und lächelte mich an wie eh und je. In dieser Nacht hab ich nicht geschlafen. Tatsumi und ich saßen bis zum Morgengrauen da und schauten uns irgendwelchen Müll an, keine Ahnung mehr was. Wir stellten den Fernseher ziemlich leise, und manchmal machte Tatsumi den Ton ganz weg und sagte irgendwas Lustiges, das zugegebenermaßen furchtbar gut zu den meisten Szenen passte. Ich war nicht mehr müde, ich hätte vermutlich auch nicht schlafen können. Die Situation... war so vollkommen anders als bei Mike, nicht so entspannt, locker, selbstverständlich. Ich bemühte mich, zu lachen, wenn es angebracht war, aber ich hatte so ein komisches Gefühl, das einfach nicht mehr weggehen wollte. Als ich ging, war es Viertel nach Sieben. Tatsumi und ich umarmten uns zum Abschied, aber da war immer noch so eine merkwürdige Befangenheit. Vermutlich hätte ich zuhause todmüde ins Bett fallen und mir meine wohlverdiente Ruhe gönnen sollen, aber ich tat es nicht. Ich lag ein paar Stunden vor dem Fernseher – schon wieder – und bin dann zu Geenia zum Trainieren. Sie können sich denken, wie das Training an dem Tag ausgesehen hat. Ich hab überhaupt nix auf die Reihe gekriegt und bin irgendwann frustriert nach Hause gegangen. Und obwohl ich dann außerdem noch erschöpft war, konnte ich trotzdem nicht einschlafen. Absurd, aber leider wahr. Ich lag wach und mir gingen komische Dinge durch den Kopf, die ich teilweise überhaupt nicht verstand. Ich schreibe das alles, um ihnen begreiflich zu machen, warum ich am nächsten Tag so schlechte Laune hatte. Normalerweise bin ich nicht so, und vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich nicht mit einer Grabesmiene durch die Welt gelaufen wäre, die noch zehn Meter gegen den Wind nach Friedhof gestunken hat. Sie kennen ja das Prinzip von Aktion und Reaktion. Lächle, und die Welt lächelt zurück. Lächle nicht, und die Welt tritt dir in den Hintern. Besagter Fußtritt traf mich, als ich mich gezwungenermaßen und furchtbar demotiviert in Geenias Studio schleppte. Ich hatte mir ein Thunfischsandwich vom Bäcker geholt, das ich noch schnell auf dem Weg herunterschlang. Ich schwöre – ich war einfach mit Essen und Hetzen und Genervtsein beschäftigt, ich habe sie nicht freiwillig angerempelt. Ich hab ja nicht mal gleich erkannt, dass mir ausgerechnet Barbies Reinkarnation entgegenkam. Sie war so ziemlich der letzte Mensch, dem ich an diesem Tag begegnen wollte, also warum hätte ich mich mit ihr anlegen und einen Zickenkrieg provozieren sollen? Vielleicht hat sie es mit Absicht getan, jedenfalls erkannte sie mich, kaum dass unsere Schultern aufeinandergeprallt waren. Sie starrte mich mit ihren riesigen blauen Augen an, presste ihre enormen Lippen wütend aufeinander und warf sich mit einer furchtbar übertriebenen Bewegung das wasserstoffblonde Haar über die Schulter. „Was soll das?“, fauchte sie, und der Tonfall ihrer Stimme trieb mir einen eisigen Schauder über den Rücken. „Willst du mich auf die Straße stoßen, Bitch?“ „Ja“, erwiderte ich nüchtern, nachdem ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte. „Klar will ich das. Aber leider wäre ein Mordprozess so ziemlich das einzige, was mich jetzt noch den Sieg beim Schönheitswettbewerb kosten könnte, also lass ich’s doch lieber bleiben.“ „Ach, ist das so?!“ Barbie zog ihre Augenbrauen hoch, wodurch ihre Augen sogar noch größer wirkten, und verschränkte die Arme vor den Silikonhügeln ihrer Brust. „Worauf du dich verlassen kannst“, gab ich so arrogant wie nur irgendwie möglich zurück. „Und jetzt geh mir besser aus dem Weg, bevor ich’s mir noch anders überlege!“ „Willst du mir etwa drohen?“, fauchte sie. „Und wenn es so wäre?“ Ich reckte mein Kinn noch ein kleines bisschen weiter in die Höhe und bemühte mich um mein boshaftestes Lächeln. Wozu war ich auf einer Ghettoschule gewesen? Ich wusste, wie man dreinblicken musste, um dem anderen allein dadurch unmissverständlich klar zu machen, dass man im nächsten Moment seine Faust in seinem Gesicht platzieren würde. Bis hier hin und nicht weiter, sagte mein Blick. Doch wider erwarten reagierte Barbie nicht mit einem taktisch klugen Rückzug, sondern ihrerseits mit einem Frontalangriff. „Ich glaube nicht, dass du überhaupt jemandem drohen solltest“, säuselte sie, und ihr Gesicht strahlte eine widerwärtige Siegessicherheit aus. Sie streckte mir ihren Zeigefinger entgegen, als ob sie mich damit erstechen wollte, und kam noch einen weiteren Schritt auf mich zu. Offensichtlich machte ich irgendetwas falsch. „Ich hab dich nämlich in der Hand, weißt du?“ „So?“ Ich stemmte mir die Hände in die Seiten und kam ganz und gar nicht ladylike auf das blonde Gift zugestapft. „Aber jetzt hör mir mal gut zu, ich will eigentlich gar nicht wissen, was du schon alles in der Hand hattest, verstanden?“ „Noch ein Wort, und du bist erledigt, Schlampe!“ Barbies süßliches Getue ging von einer Sekunde auf die nächste in ein aggressives Fauchen über. Und dann wurden ihre Augen plötzlich noch viel größer als sonst, und ihr Mund klappte auf, aber ohne einen Ton über die rosa glänzenden Schlauchbootlippen zu bringen. Dabei hatte ich doch gar kein weiteres Wort gesagt. Ich hatte ihr einfach nur ins Gesicht geschlagen. Was soll ich sagen? Ja, es war dumm von mir. Ja, ich hätte nicht die Beherrschung verlieren sollen, nicht einmal bei ihr... schon gar nicht bei ihr! Ich hätte wenigstens eine Sekunde lang über ihre Worte nachdenken sollen, nur ganz kurz. Ich weiß nicht, ob ich dann anders gehandelt hätte. Wissen Sie, die Art, wie sie dieses Wort aussprach, Schlampe, da... da brannten alle Sicherungen bei mir durch. Das war etwas, auf das ich generell empfindlich reagierte, und dann auch noch in dieser Stimmung, in diesem Moment, an diesem Tag... ganz ehrlich, das war einfach zuviel. Ich zitterte vor Wut am ganzen Körper, hatte meine Faust immer noch erhoben und ich starrte sie an wie ein Raubtier seine Beute. „Halt bloß dein Maul, oder du kannst deine Hackfresse von der Straße abkratzen!“, brüllte ich, und, verdammt noch mal, was für ein erleichterndes, berauschendes Gefühl das doch war! Leider hielt mein zerstörerisches Hoch nicht lange an, denn schon in dem Augenblick, als sich Barbies Lippen zu einem höhnischen Lächeln verzerrten, dämmerte es mir, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Keine Ahnung, warum ich es so schlagartig begriff, nachdem ich vorher vollkommen blind und taub für die drohende Gefahr gewesen war, aber das kalte Grauen überkam mich schon, bevor sie mir mit eisiger Stimme den Todesstoß versetzte. „Das wirst du bereuen“, zischte sie, und dabei lächelte sie so triumphierend, dass mir schlecht wurde. „Ich weiß, was für ein mieses Spielchen du abziehst. Und ich weiß, dass du was von diesem Typen willst. Ich hab doch gesehen, wie du mit ihm gefahren bist. Ich weiß alles, und glaub mir, bald wird er es auch wissen, du abgefuckter Freak!!“ In diesem Augenblick war ich wie gelähmt. Plötzlich fügten sich Puzzleteile, die ich vergeblich hatte verstecken wollen, zu einem unschönen Bild zusammen. Ich wusste, was sie vorhatte, ich wusste, was sie tun würde und was sie noch tun konnte, und alles brach über mir zusammen. Ich war außer Stande, zu antworten, ich konnte mich nicht mal mehr bewegen. Ich starrte diese Person an, die quasi mein ganzes Schicksal in den Händen hielt und die mit diesen wenigen Worten den vielleicht schönsten Tag meines Lebens mit Füßen getreten hatte. Ich hab doch gesehen, wie du mit ihm gefahren bist. Verdammt, wieso traf mich dieser Satz wie ein Messerstich in den Rücken? Natürlich hatte man uns gesehen, Mike und ich waren an diesem Tag ja nicht allein auf der Straße gewesen. Es war nur einfach so, dass es sich so angefühlt hatte, als wären wir allein gewesen. Mir war kein Mensch aufgefallen, aber ich hatte auch nicht darauf geachtet. Ich war in eine andere Welt geflogen, die nur meinem Chaosengel und mir gehörte. Und, verdammt, ich wär am liebsten für immer und ewig dort geblieben. Aber irgendwie hatte Barbie diese Welt mit ihren Worten kaputt gemacht, einfach so. Nicht, dass der Flug mit Mike deshalb weniger schön gewesen wäre, aber in diesem einen Augenblick war etwas für mich zerbrochen, das nicht hätte zerbrechen dürfen. Und das war noch lang nicht alles. Ich wusste nicht, ob ich mit meiner Feigheit und meiner überstürzten Flucht aus Mikes Wohnung die ganze Sache zwischen uns nicht sowieso schon kaputt gemacht hatte, doch dann dachte ich wieder daran, wie er mich im Regen angestrahlt hatte. Ich hatte ihn versetzt, enttäuscht und außerdem noch abblitzen lassen, und trotzdem hat er mich so angelächelt wie den tollsten Menschen auf der ganzen Welt. Die Erinnerung an dieses Lächeln weckte in mir eine Zuversicht, die ich auf gar keinen Fall von Barbie zerstören lassen wollte. Und sie weckte gleichzeitig auch eine lähmende Panik, weil ich begriff, dass ich nur eine einzige Chance hatte, jetzt noch etwas zu retten, das ich nicht verlieren durfte, bevor ich es überhaupt richtig besessen hatte. Versteht man, was ich meine? Es tut mir leid, wenn ich jetzt in Rätseln spreche, denn im Grunde genommen war die Lösung des gigantischen Problems ja so grauenvoll einfach. Ich musste Mike die Wahrheit sagen, bevor Barbie es tun konnte. Kapitel 8: Part VIII - Heaven is not enough ------------------------------------------- Da ist eeeeer! Ja, unglaublich, aber wahr, ein neues Kapitel von PredElection. Ich hoffe, es liest jemand. ^^; Dies ist nicht nur das vermutlich vorletzte, sondern das wohl entscheidenste Kapitel mit der entscheidensten Szene der gesamten Geschichte. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass keiner die Geschichte so empfindet, wie ich selbst das tue. ^^;;; Mal sehen, was hierzu geschrieben wird, wenn jemand einen Kommentar schreibt, was mich übrigens sehr freuen würde. Ach ja, in dem Kapitel sind (natürlich auf Deutsch übersetzt) Zitate aus zwei Liedern versteckt, die mich sehr zu Levi inspiriert haben. Eines davon ist extremst gut versteckt, aber eines hat wirklich denselben Wortlaut wie im Lied selbst. Wer etwas davon findet, bekommt einen Preis. ^^ Viel Spaß beim Lesen! Was wäre passiert, wenn ich an diesem Abend einfach nach Hause gegangen wäre? Wenn ich nicht in Panik durch die Straßen der Stadt gerannt wäre, auf der einen Seite getrieben von der Angst, zu spät zu kommen, auf der anderen Seite wie gelähmt von der Vorstellung, was mich erwarten würde? Oh Gott, stellen Sie sich das doch bitte mal vor. Versetzen Sie sich in meine Lage. Ich weiß, dass es für Sie nicht einfach und möglicherweise befremdlich ist. Aber mal ehrlich, hätten Sie gewusst, wie Sie diesen ganzen Wahnsinn einem halbwegs normal denkenden Menschen erklären sollen? Ich versuche es ja jetzt gerade schon wieder, und Sie sehen selbst, wie viele Seiten ich dafür benötige. Dabei ist die Sache bei Ihnen doch sehr viel weniger emotional, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und ich muss Ihnen glücklicherweise nicht in die Augen sehen, während Sie das hier lesen. Und wir haben keine unbeschreiblich peinliche, fast-intime Begegnung mit anschließender Flucht hinter uns, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich sag’s Ihnen, ich bin mindestens zwanzigmal bei Mike um den Block gelaufen, bevor ich mich getraut hab, auch nur in die Nähe seiner Tür zu kommen. Ich meine, er hätte mich ja von seinem Fenster aus sehen können oder so. Ich weiß, es ist ziemlich dämlich, sich davor zu fürchten, von einem Menschen vom Fenster aus gesehen zu werden, den man sowieso gerade besuchen will. Aber naiv, wie ich war, glaubte ich tatsächlich daran, dass irgendwann auf meinem sinnlosen Irrweg durch die Straßen um Mikes Haus so ein Augenblick kommen würde, in dem ich schlagartig bereit für meine Konfrontation mit dem Unvermeidlichen wäre. Zack, und plötzlich hatte ich die perfekte Rede im Kopf, um alles einfach so richtig zu stellen. Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass dieser Augenblick nicht gekommen ist und vermutlich auch niemals gekommen wäre. Ich hätte noch bis in alle Ewigkeiten abwechselnd ums Haus laufen oder vor der Tür stehen können, nur um dann doch wieder umzudrehen und im Gehen mit mir zu ringen, ob ich nun abhauen oder endlich klingeln sollte. Tja, was mir wieder einmal zum Verhängnis wurde... oder mich davor rettete, irgendwann auf meiner einsamen Wanderung zu verhungern, war wieder einmal der Regen. Ist es Ihnen aufgefallen? Der Regen war für Mike und mich irgendwie schicksalhaft. Er hat mich in diesen Wochen ziemlich oft begleitet, manchmal war er mein größter Feind und dann wieder mein treuster Verbündeter, auch wenn ich das nicht immer gleich erkannt habe. Welche Rolle von beiden er in dieser Nacht gespielt hat, kann ich beim besten Willen nicht sagen, auch im Nachhinein nicht. Ich weiß nur, dass irgendwann, wie so oft in diesem Sommer, quasi von einer Sekunde auf die nächste ein Platzregen über die Stadt hereinbrach. War das der eine, erleuchtende Moment, auf den ich gewartet hatte? Ein bisschen war der Wolkenbruch ja schon wie ein Zeichen, so plötzlich und gewaltig, wie er auf mich herunterprasselte und meine Kleider und Haare durchtränkte. Und obwohl es den Tag über ziemlich warm gewesen war, sogar etwas schwül und drückend, kühlte die Temperatur nun schon mit den ersten Regentropfen schlagartig ab (und bei einem solchen Platzregen fielen die ersten Tropfen ja ziemlich schnell). Es war ein Wetter, bei dem nur Masochisten freiwillig einen Fuß vor die Tür setzten. Schon nach anderthalb Runden um Mikes Haus fror ich so sehr, dass mir die Zähne klapperten. Ja, am Ende habe ich geklingelt. Ich tat es nur aus einem einzigen Grund, nämlich weil der Gedanke, jetzt noch bis zur U-Bahn-Station laufen zu müssen, dort auf selbige zu warten und dann klatschnass auf klebrigen Plastiksitzen in zugigen Abteilen vor mich hinzufrieren, einfach unerträglich für mich war. Mich vor Mike zu Tode zu blamieren , erschien mir tatsächlich als die angenehmere Alternative zu einem nassen, kalten Grab irgendwo in der Linie 7. Es war also eigentlich nicht Mut, sondern Feigheit, die mich letztlich dazu brachte, den kleinen runden Knopf neben dem Schildchen zu drücken, auf dem in krakeliger Schrift Mikes Name geschrieben stand. „Wer ist da?“, fragte er. Seine Stimme klang fröhlich, und unwillkürlich atmete ich auf. Ich meine, natürlich war Mike eine Frohnatur, aber wenn Barbie in den Stunden davor bei ihm angerufen und ihm meine wahre Identität enthüllt hätte, wäre doch selbst er ein bisschen erschüttert gewesen. Na ja, ich gebe zu, ganz kurz hab ich mir den Luxus erlaubt, zu hoffen, dass Barbie ihm doch schon die Wahrheit gesagt hatte, und dass es für ihn einfach vollkommen okay war. Sie hatte den unangenehmen Teil der Arbeit für mich erledigt, und jetzt war alles gut und ich konnte mich bedenkenlos in Mikes Arme werfen und die Früchte meines feigen, unrühmlichen Tuns ernten. ...oder so ähnlich. Ach, seien Sie doch mal ehrlich mit sich selbst, haben Sie sich in unangenehmen Situationen nie gewünscht, dass eine höhere Macht oder wer auch immer alles für Sie regeln würde, einfach so? Obwohl Sie es überhaupt nicht verdient haben? So ging es mir in diesem Augenblick, und ich gab mich der wunderschönen Illusion ganz einfach hin, bis Mike mir ein weiteres Mal, jetzt deutlich fragender, ins Ohr rief: „Hallo? Ist da jemand?!“ Sofort wurde mir noch ein bisschen kälter. Ich atmete tief durch, und dann flüsterte ich, so laut ich noch konnte, in die Sprechanlage: „Ich bin’s.“ Stille. Mike antwortete mir nicht. Hatte er mich nicht gehört? „Ich bin es, Jessie“, murmelte ich etwas lauter, deutlicher, doch es kam immer noch keine Antwort. Die Tür blickte mir weiß und stumm entgegen. Hatte ich zu spät was gesagt, war Mike schon wieder vom Lautsprecher weggegangen? Oder wollte er mich einfach nicht sehen? Ich hätte noch mal klingeln und es drauf ankommen lassen sollen – diesmal sofort und auch verständlicher was sagen, dass er mich auf jeden Fall hörte. Aber die kalten Regentropfen, die mir über den Rücken liefen, froren meinen Körper ein. Ich konnte nicht gehen, aber es war mir auch vollkommen unmöglich, noch einmal auf diesen dämlichen kleinen Knopf zu drücken. Keine Ahnung, ich schaffte es einfach nicht. Wissen Sie, ich hatte niemals ernsthaft in Betracht gezogen, dass ich Mike mit meinem Verhalten vielleicht so sehr gekränkt hatte, dass er mich bereits jetzt, ohne neue schockierende Nachrichten, nicht mehr wiedersehen wollte. Natürlich hatte ich Angst davor gehabt, aber mein Vertrauen in Mikes unerschütterliche Geduld war die ganze Zeit über stärker gewesen. Und nun stand ich da, im eisigen Regen, und wusste nicht, wohin mit mir. Was war, wenn Barbie doch schon bei ihm angerufen hatte, und er mir deshalb nicht die Tür öffnete? Um ehrlich zu sein, ich wollte die Antwort eigentlich gar nicht wissen. Mir war einfach nur kalt, innerlich und äußerlich, so sehr, dass ich nicht mal mehr Angst haben konnte. Doch dann, ganz leise, verzerrt vom Rauschen und Prasseln des Regens, hörte ich Schritte auf der Treppe. Ich glaube, das war das Befreiendste, was ich jemals in meinem ganzen Leben gehört habe. Die Schritte waren schnell, fast ein bisschen hektisch. Sie näherten sich mehr und mehr, wurden immer deutlicher, nur um schließlich wieder zu verstummen. Ein Klappern und Klirren ertönte, dann öffnete sich die Tür. Für diesen einen Augenblick blieb mein Herz ganz einfach stehen. Die wenigen bangen Sekundenbruchteile, in denen ich Mikes Gesicht noch nicht sehen konnte, aber wusste, dass ich es gleich sehen würde. Hatte ich mir nicht geschworen, ihm nie wieder in die Augen zu blicken? Ich verfluchte mich für meine Inkonsequenz, und nur mit sehr großer Mühe widerstand ich dem dringenden Bedürfnis, doch noch abzuhauen. Dann sah ich Mike. Diesmal lächelte er nicht. Er starrte mich an, und ganz kurz war ich mir sicher, dass er die Tür sofort wieder zuschlagen würde. Doch dann verflog meine erste Angst, und als ich etwas genauer hinsah, erkannte ich einfach nur Besorgnis in Mikes Gesicht. Er war nicht entsetzt oder empört, als er mich betrachtete. In seinem Blick war nichts Böses, nichts Abweisendes. Keine Verletztheit und kein Vorwurf. Und nachdem er mich ein paar Sekunden lang so angesehen hatte, schrak er kurz zusammen und verzog seine Lippen zu einem aufrichtig entschuldigenden Lächeln. „Oh Gott, Jessie, du bist ja klatschnass!“ Eilig machte er einen Schritt zur Seite und winkte mich in den Treppenflur. „Und ich hab nichts Besseres zu tun, als dich in der Tür stehen zu lassen und dich dumm anzugaffen. Hey, tut mir leid. Komm endlich rein!“ Ich folgte ihm einfach, ohne ein Wort zu sagen. Erstens hatte ich Angst, dass ich sonst wirklich noch lautstark mit den Zähnen klappern würde. Zweitens fehlten mir, wie so oft, die Worte. Ich stieg hinter Mike die Treppe hinauf, bis zu seiner Wohnung, deren Tür halb offen stand. Mikes chaotische, altmodische Wohnung. Ich hatte sie tatsächlich ein bisschen vermisst. „Zieh dir erst mal was anderes an,“ lächelte Mike, und mir fiel erst jetzt auf, dass er schon ein wenig verlegen wirkte. „Und was?“, fragte ich. Meine Stimme klang zittrig, aber das konnte ich ja glücklicherweise auf die Kälte schieben. Ich fror tatsächlich immer noch, auch hier, in der beheizten Wohnung. Die Nässe meiner Kleidung und meiner Haare drang durch meine Haut bis tief in den Körper hinein. Mike legte mir eine Hand auf den Rücken, um mich mit sanfter Gewalt in Richtung seines Zimmers zu schieben, und ich spürte, dass er leicht zusammenzuckte, als er das Zittern meines Körpers bemerkte. Sofort wurde aus seinem Lächeln wieder dieser besorgte Gesichtsausdruck. „Hey, nur weil meine Kleidung immer gleich aussieht, heißt das nicht, dass ich wirklich nur ein einziges Hemd und eine Hose habe. Wird dir zwar alles ein kleines bisschen zu groß sein, aber ich bin mir sicher, du wirst darin trotzdem besser aussehen als ich.“ Wir gingen zusammen in sein Zimmer, und er legte mir einen dünnen Pulli, warme Socken und eine Sporthose mit Gummibund hin, außerdem ein Handtuch. Dann ließ er mich erst mal alleine. Es war wirklich unglaublich – ich war so erleichtert, endlich aus meinen nassen Sachen rauszukommen und in kuschelige, trockene, wärmende Kleidung zu schlüpfen, dass ich darüber beinahe vergaß, warum ich eigentlich hergekommen war. Ich rubbelte mich und meine Haare ab und genoss das Gefühl, wieder ein Mensch zu sein, und nicht mehr nur ein wandelndes Stück Schüttelfrost. Ich fühlte mich ganz ruhig, als ich Mikes Zimmer wieder verließ. Irgendetwas war in dieser schlichten Behausung, das jede Angst und Aufregung von mir nahm und mich in einen ruhigen, zufriedenen Menschen verwandelte, selbst jetzt. Ein köstlicher Duft empfing mich, als ich die Tür öffnete und zurück ins Wohnzimmer ging. Auf dem Sofa lag eine Decke, in die ich mich dankbar einhüllte, und es vergingen nur wenige Minuten, bis Mike mit zwei Tassen dampfenden Tees wiederkam. Die Tasse mit dem toten Smiley war wieder dabei, die andere war schwarz und hatte ein leuchtend gelbes Bio Hazard-Zeichen aufgedruckt. Einen Moment überlegte ich, aus nostalgischen Gründen wieder zum Smiley zu greifen, aber dann beschloss ich, dass die andere Tasse doch noch ein bisschen cooler war und nahm sie mir. Aber cooler Aufdruck hin oder her, letztlich kam es ja auf die inneren Werte an, und die schmeckten wirklich großartig. Es war himmlisch, das heiße Getränk ganz langsam die Kehle herunterlaufen zu lassen, zu genießen, wie es mich von innen wärmte. Plötzlich merkte ich, wie erschöpft ich war, und schon wieder hätte ich einfach einschlafen können. Es musste wirklich irgendwie an dieser Wohnung liegen. „Trägheit“, murmelte ich, immer noch eingehüllt in diese absurde, absolut unangebrachte Selbstzufriedenheit. „Häh?“, machte Mike und zog fragend eine Augenbraue hoch. Ich lächelte nur und winkte ab. „Vergiss es einfach.“ „Bleibt mir was anderes übrig?“ Mike hob gespielt resignierend die Schultern, und dann sagte er noch irgendetwas, das ich aber nicht hörte, weil ich vollkommen unerwartet von einem Déjà-vu überwältigt wurde. Es war mir am Anfang gar nicht aufgefallen, aber dieser köstliche Tee, der es in mir so wohlig warm werden ließ, schmeckte nach Himbeere und Vanille. Ich konnte nicht umhin, zu lächeln. Das war doch wirklich Ironie des Schicksals! Wieder war ich an einem grauenhaften Tag durch den Regen geirrt, nur um am Ende eine sichere Bleibe und Himbeer-Vanille-Tee zu finden. Erinnern Sie sich? Das war genau der Tee, den mir meine Nachbarin, dieser Engel auf Erden, dem ich das alles hier verdankte, als Kind immer serviert hat. Ich habe keine Ahnung, wieso ich nicht ein einziges Mal an meine Nachbarin gedacht hatte, als ich den Tee bei Tatsumi getrunken habe, aber jetzt tat ich es, und ein leises Gefühl der Melancholie stieg in mir auf. Und dann fragte ich mich plötzlich, wie es Tatsumi wohl gerade ging. Ob er überhaupt noch hier war. Ob er wieder Stress zuhause hatte und auf die Wände seines makellosen Zimmers einschlug. Ich wollte mich das nicht fragen, ich wollte überhaupt nicht an Tatsumi denken, aber ich konnte einfach nicht anders, weil dieser Tee so wunderbar nach unserem absolut bescheuerten Horrorfilm-Fressgelage schmeckte. „Jessie? Huhu, schläfst du schon?“ „...was?!“ Ich schreckte tatsächlich ein bisschen hoch, als Mike mich vorsichtig in die Seite stieß. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen, aber als er mein verwirrtes Blinzeln sah, spielte sofort wieder so ein amüsierter Zug um seine Lippen. „Nein, tu ich nicht! Wieso? Hast... hast du was gesagt?“ „Ich hab nur gefragt, ob irgendwas passiert ist oder ob du einfach nur so klatschnass vor meiner Haustür stehst“, wiederholte er seinen missachteten Satz, und dabei grinste er von einem Ohr zum anderen. Offenbar sah man mir an, dass mir mein gedankliches Abschweifen ziemlich peinlich war. Er konnte ja nicht ahnen, welch beklemmendes Gefühl bei diesen Worten in meine Brust zurückkehrte. Ich schlucke schwer, und auch das entging Mike nicht, denn sofort fügte er hinzu: „Hey, du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst!“ Ich zuckte mit den Schultern, um ein bisschen Zeit zu gewinnen. Ehrlich gesagt, ich wusste nicht, was ich wollte und was nicht. Ich wusste, was ich tun sollte, aber andererseits war mir meine eben erst wiedergewonnene Ruhe zu kostbar, als dass ich sie einfach so wieder opfern wollte. Ich starrte auf meine Finger, die alle möglichen komischen Verrenkungen machten, und richtete mich ein bisschen auf. Keine Ahnung, vielleicht hoffte ich, dass mir das Kraft geben würde, aber es funktionierte nicht. „Wie lang ist’s eigentlich noch bis zu deinem Wettbewerb?“, fragte Mike, vermutlich, um das Thema zu wechseln, aber dadurch wurde ich nur gleich noch viel nervöser. Ich dachte an meine vermasselte Probe von gestern, an meine erst gar nicht stattgefundene Probe von heute, und ein eisiger Schauer lief mir den Rücken hinab. Außerdem fiel mir das Atmen schwer, als ob jemand seine Hände um meinen Hals gelegt hätte und jetzt fester und fester zudrücken würde. „Fünf Tage“, antwortete ich, musste mich dann aber verbessern: „Nein, eigentlich vier. Der Tag heute ist ja fast wieder vorbei.“ Vier Tage. Vier verdammte Tage, und ich setzte immer noch andauernd meine Choreo in den Sand. Außerdem durchlebte ich ein emotionales Chaos, hatte eine Todfeindin am Hals, die mein gefährliches Geheimnis kannte, und war gerade ewig lang frierend durch den Regen gelaufen. Wirklich eine super Idee, wenn man in etwa einer halben Woche topfit sein musste. Ich wollte mir am liebsten eine reinhauen, aber das hätte auf Mike vermutlich ziemlich befremdlich gewirkt. „Wow“, machte er und stieß die Luft zwischen den Zähnen hervor, „dann wundert’s mich aber gar nicht mehr, dass du so durch den Wind bist. Hab ich schon gesagt, dass du jederzeit herkommen oder mich mit Anrufen belästigen kannst, wenn du Panik vor dem großen Tag bekommst? Ja, ich weiß, ist ein bisschen dämlich, dich jetzt drauf hinzuweisen, wo du sowieso schon hier bist, aber... öhm... lieber spät als nie, oder?“ Und dann legte er mir einen Arm um die Schultern, einfach so. Er zog mich sogar ein bisschen zu sich her, und ich ließ dankbar meinen Kopf gegen ihn sinken. Ich hatte so fest damit gerechnet, mit meiner Flucht aus der wachsenden Intimität diese selbstverständliche Vertrautheit zwischen uns zerstört zu haben, aber in seinem Verhalten war keinerlei Befangenheit zu erkennen. Ganz selbstverständlich hielt er mich fest, als ob er keine Sekunde lang daran dachte, dass es mir unangenehm sein könnte. Aber auch überhaupt nicht aufdringlich oder so. Er schien einfach zu spüren, dass ich nichts dagegen hatte, egal, wie merkwürdig ich mich davor verhalten hatte. Ich bin mir sicher, wäre es mir tatsächlich Unrecht gewesen, hätte er es nicht getan. „Danke“, murmelte ich, so leise, dass ich mich selbst kaum verstehen konnte. Und dann nahm ich all meinen Mut zusammen und fügte dem hinzu: „Und... es... es tut mir leid, dass ich... dass ich letztes Mal so... so abgehauen bin, das... ich meine, ich wollte nicht... es war nicht, weil... ich...“ „Jessie, das ist okay“, fiel Mike mir in mein sinnloses Gestammel. „Ich bin dir nicht böse. Ich... ehrlich gesagt, ich bin einfach froh, dass du jetzt da bist. Dass du wiedergekommen bist. Wenn’s dir letztes Mal zu schnell ging, tut mir das ehrlich leid.“ „Nicht entschuldigen!“, befahl ich etwas kläglich. „Es... es ging mir nicht zu schnell! Das... ich meine, das war nicht der Grund, warum... das... das ist nicht so einfach. Das ist alles überhaupt nicht einfach.“ „Jetzt hör mir mal zu“, antwortete er, und dabei legte er eine Hand an mein Kinn und hob meinen Kopf ein bisschen an. „Jessie, ich mag dich wirklich sehr. Ich glaube, das weißt du auch. Aber wenn du irgendwas nicht willst, oder nicht sofort willst, hab ich damit kein Problem. Ich kann dir nicht böse sein, ich könnte es nicht mal, wenn ich es wollte oder einen Grund dazu hätte, was ich aber nicht habe. Also mach dir wegen mir bloß keinen Kopf. Trink lieber deinen Tee, wärm dich auf und... sag mal, wie kommt es eigentlich, dass du jetzt schon seit mindestens einer halben Stunde hier bist und noch nicht ein einziges Mal nach Fernsehen gefragt hast?“ Ich betrachtete ihn einige Momente lang, einfach so, ohne ein Wort zu sagen. Seine unfassbar zerzausten Haare. Seine blauen Augen, die selbst in der schlechten Beleuchtung seiner Wohnung so blitzten und strahlten wie an einem sonnigen Sommertag. Sein kompromissloses Lächeln, das kein bisschen penetrant, sondern einfach nur unwiderstehlich war. Und da begriff ich, dass er es wirklich ernst meinte. Dass es in Ordnung war, was ich bislang getan hatte, dass es in Ordnung war, was ich in Zukunft tun würde. Dass ich ihm alles, einfach alles sagen konnte, und dass er mich niemals wegstoßen und dafür hassen oder verachten würde. Möglicherweise würde ihn meine große Enthüllung schockieren, aber sie wäre trotz allem nicht das Ende. Ich würde es ihm erzählen. Ich würde ihm die Wahrheit sagen, da gab es für mich keinen Zweifel mehr. Ein bisschen fürchtete ich mich immer noch davor, natürlich, aber dieses lähmende Gefühl der Panik war verschwunden. Ich wollte und ich würde es tun, aber nicht mehr an diesem Tag. Halten Sie mich für feige? Für... noch feiger, als Sie es vermutlich sowieso schon getan haben? Wahrscheinlich liegen Sie da ganz richtig. Aber mal ehrlich, selbst wenn Mike mich für mein Geständnis nicht hassen würde, es stand außer Frage, dass sich zwischen uns etwas verändern musste, wenn auch möglicherweise nur vorübergehend. Ich war mir immer sicherer, dass Mike bereit war, uns beiden gegen alle Hindernisse und Widerstände ein Happy End zu bereiten. Trotzdem war ich vorsichtig genug, es nicht drauf ankommen zu lassen. Ich wollte nur noch einen einzigen perfekten, unkomplizierten Abend zu zweit genießen. War das etwa zuviel verlangt? Ich konnte ja nicht ahnen, was am nächsten Tag geschehen würde und vermutlich niemals geschehen wäre, wenn ich in diesem Augenblick anders gehandelt hätte. Dabei ging alles so gut los. „Mike, ich kann’s dir erklären“, sagte ich zu ihm, und kam mir dabei schon so unglaublich mutig vor. „Ich kann dir alles erklären. Aber bitte... nicht jetzt. Nicht mehr heute. Ich hab seit zwei Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Jeder Zentimeter meines Körpers tut mir weh. Ich bin fertig. Können wir’s einfach auf morgen verschieben und heute, öhm... fernsehen?“ Ein Lächeln huschte über Mikes Gesicht, aber dann sah er mich wieder so ernst an, wie ihm das eben möglich war. „Wenn du’s lieber erst auf nächste Woche verschieben möchtest, würd ich dir auch nicht den Kopf abreißen!“ „Auch nicht dafür, dass ich schon wieder in dein Zimmer gehe?“ Ich nahm ihm das Gefühl, so ernsthaft dreinblicken zu müssen, indem ich einfach selbst lächelte. „Du hast letztes Mal schon vergessen, mich dafür umzubringen.“ „Was heißt hier vergessen?!“, protestierte Mike und stemmte sich die freie Hand in die Seite. „Ich bin einfach nicht dazu gekommen!“ „Tja, jetzt weißt du ja, weshalb ich weggelaufen bin.“ Ich streckte ihm die Zunge raus, und dann löste ich mich mit leisem Bedauern aus seiner Umarmung, um aufzustehen. Es überraschte mich, wie leicht es mir jetzt schon fiel, Witze über diesen Vorfall zwischen uns zu reißen, der doch eben noch so belastend für mich gewesen war. Aber ich fühlte mich alles andere als schlecht, als ich in Mikes Zimmer ging. Ich war so gelöst, so befreit wie schon lange nicht mehr. Ich wusste irgendwie, dass morgen alles gut werden würde. Und ich wusste, dass ich diesen Abend aller Last zum Trotz genießen konnte. Ich ließ mich, meine Decke im Schlepptau, auf Mikes Bett fallen und machte es mir dort gemütlich. Mike setzte sich neben mich, deckte sich ebenfalls zu und schaltete dann den Fernseher ein. Die Fernbedienung lag praktischerweise schon auf seinem Bett, nahe dem Kopfkissen. Ich lehnte mich wieder gegen ihn, und wieder legte er seinen Arm um mich. Obwohl ich so entspannt war, dass ich sofort hätte einschlafen können, blieb ich noch eine überraschend lange Weile wach und genoss das niveaulose Programm. Ab und an wandte ich auch meinen Blick, um Mike zu beobachten, wie er so konzentriert auf den Bildschirm starrte. Und dann nahm ich es mir sogar heraus, die Fernbedienung an mich zu nehmen. Ich tat es nicht, weil ich umschalten wollte, sondern weil ich auf besonders lustige Momente wartete, in denen ich den Ton des Fernsehers ausschaltete, um stattdessen selbst zu synchronisieren. Mike lachte darüber so warm und herzlich, dass ich beschloss, es lieber für mich zu behalten, dass das ja eigentlich gar nicht mein Witz gewesen war. Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen. Es passierte wieder einfach so, mitten in einer Fernsehsendung und ohne, dass ich es gewollt hätte. Aber, um ehrlich zu sein, ich war auch nicht böse darüber. Ich hatte diesen Schlaf wirklich dringend nötig. Ich glaube, ich hab auch ziemlich lange geschlafen, und zwar so tief und fest, dass ich mich nach dem Aufwachen seit Tagen das erste Mal wieder richtig erholt und ausgeruht fühlte. Mike hielt mich immer noch im Arm, obwohl er schon vor mir aufgewacht war, und so erfüllte mich, noch bevor ich die Augen öffnete, wieder diese tiefe Gewissheit, dass ich weglaufen konnte, so oft ich wollte, dass ich tun konnte, was ich wollte, und dass Mike mich trotzdem immer mit einem Lächeln auf den Lippen und mit offenen Armen begrüßen würde. Sein Lächeln war auch das erste, was ich sah, als ich den Blick zu ihm hob. „Morgen“, strahlte er mich an, und schlagartig war jedes Aufflackern von Nervosität und Angst wieder vergessen. „Morgen“, murmelte ich zurück, gähnte ausgiebig und streckte mich. Dann setzte ich mich ein bisschen widerwillig auf. Ich wusste ja, dass ich viel zu wenig Zeit hatte, um noch den halben Tag im Bett zu verbringen, also quälte ich mich wenig motiviert auf die schmerzenden Füße. Meine Schultern knackten laut, als ich sie kreisen ließ – so laut, dass sogar Mike erschrocken die Augenbrauen hochzog. „Braucht da jemand eine Massage?“, fragte er, und seine Worte ließen mich nicht mal zusammenzucken, weil sein Tonfall es einfach unmöglich machte, sie als Anspielung auf unser letztes unglückliches Zusammentreffen zu missverstehen. Ich lächelte ihn an, ganz frei, ganz ohne bitteren Beigeschmack, und nickte. „Aber erst mal“, fügte ich dem hinzu, „braucht da jemand einen Kaffee. Und zwar zügig, ich hab immerhin nicht den ganzen Tag Zeit!“ „...denn Kaffee am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen, ich weiß.“ Mike verzog noch einmal kurz das Gesicht, erhob sich dann aber doch – betont langsam, schwerfällig, den Oberkörper vornüber gebeugt wie ein alter Mann – und schleppte sich nicht weniger theatralisch zur Türe. Gegen meinen Willen musste ich lachen. Laut und ehrlich und so richtig ausgelassen. Es war ein befreiendes Lachen, das einen weiteren schweren Stein von meiner Brust abfallen und auf dem Boden in tausend Stücke zersplittern ließ. Ich stolzierte leichtfüßig und hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei, um mir meinen Platz auf dem Sofa zu sichern. Dort betrachtete ich den Regen, der wie ein glucksender und plätschernder Vorhang das Fenster bedeckte, während köstlicher Kaffeeduft die Wohnung erfüllte und Mike in der Küche ein fröhliches Liedchen pfiff. Ach, wenn er es mir doch nur nicht immer so schrecklich einfach gemacht hätte. Mike fragte nicht nach, was ich am Vorabend mit ihm hatte besprechen wollen. Mit keinem einzigen Wort erwähnte er diesen oder irgendeinen anderen Vorfall, der jemals zwischen uns hätte stehen können. Er verbreitete einfach nur gute Laune, wie er das eigentlich immer tat, und ich nahm seine Hand und ließ mich mitreißen. Ja, ich wurde übermütig. Aber bitte versetzen Sie sich doch mal in folgende Lage: Sie stehen an einem Scheideweg. Auf der einen Seite ist ein steiler Bergpfad, übersäht mit tückischem Geröll, scharfkantigen Felsen und verborgenen Schluchten, in denen Sie sich jederzeit das Genick und sämtliche anderen Knochen brechen können. Auf der anderen Seite ist eine idyllische, weite Wiese, hinter der gerade rötlich golden die Sonne untergeht, um die zarten Blumen auf der Erde und die fedrigen Wolken am Himmel in ein magisches Glühen zu tauchen. Na gut... ich gebe zu, dieser Vergleich ist jetzt vielleicht doch ein klein wenig pathetisch geraten. Aber Sie verstehen, worauf ich hinauswill. Und seien Sie doch mal ehrlich, würden Sie nicht auch lieber den wunderschönen Weg des geringsten Widerstandes gehen? Ich tat es. Statt mich einfach meinem Schicksal zu stellen, wie ich es mir am Vorabend noch so fest vorgenommen hatte, ließ ich mich von der süßen Aussicht verführen, dass ich es doch nicht mehr eilig hatte. Dass ich Mike jederzeit einfach alles gestehen konnte, ohne irgendetwas kaputt zu machen. Es war nicht so, dass ich vorhatte, mein Geständnis bis in alle Ewigkeiten vor mir herzuschieben. Ich hatte schon vor, es ihm noch an diesem Tag zu sagen, wie versprochen. Das hatte ich mir vorgenommen, das wollte ich auch halten. Aber eben nicht an diesem schönen, gemütlich verregneten Morgen. Ich war doch so frei, so unbeschwert. Es war einfach genau die Stimmung, die ich schon so lange gebraucht hatte, um wieder einmal richtig gut trainieren zu können. Immerhin hatte der Schönheitswettbewerb allerhöchste Priorität. Höher als mein Glück, höher als mein Privatleben, höher als ein guter Vorsatz oder ein Versprechen, das ich mir selbst nur innerlich gegeben hatte. Sie halten das für eine billige Ausrede? Na gut, vermutlich haben Sie Recht. Wenigstens zu einem Teil. Dass ich dringend wieder üben musste, wenn ich mich in vier Tagen nicht bis auf die Knochen blamieren und all die Mühen der vergangenen Wochen in den Sand setzen wollte, war eine Tatsache. Aber wissen Sie, was der größte Witz an der ganzen Sache ist? Ich kam mir auch noch unheimlich mutig vor, als ich ganz tief Luft holte, meinen Kaffeebecher zur Seite stellte und zu Mike, auf dessen Schoß ich mittlerweile meine Füße platziert hatte, sagte: „Möchtest du heute mitkommen, zum Training?“ Ein etwas irritierter Blick – dann ließ auch Mike seine allmorgendliche Droge sinken und fragte: „Häh?“ „Ich hab dir doch erzählt, dass ich für diesen Schönheitswettbewerb so einen Tanz übe. Na ja... ‚Tanz’. Und den muss ich halt trainieren, hab ja nicht mehr so viel Zeit bis zu meinem Auftritt. Was ‚möchtest du mitkommen’ bedeutet, muss ich nicht erklären, oder?“ „Sehr witzig!“ Mike streckte mir die Zunge heraus. Dann aber verzog er seine Lippen zu einem sogar für seine Verhältnisse sehr breiten Grinsen. „Aber hey, mal ehrlich – du bietest mir an, dich bei deinem geheimnisvollen was-auch-immer begaffen zu dürfen, und da fragst du noch, ob ich das möchte?“ „Ist das ein ja?“ „Aber mal so was von!“ „Gut“, sagte ich und stand auf, diesmal kein bisschen widerwillig, sondern mit so einem gewissen Gefühl nervöser Vorfreude in der Brust. „Dann zieh ich mir meine Sachen wieder an und los geht’s.“ „Worauf du dich verlassen kannst!“ Mit zwei Sätzen war ich in Mikes Zimmer, und obwohl es draußen immer noch regnete, sogar ziemlich stark, und meine Kleidung nicht nur noch nass war, sondern vermutlich auch sehr bald wieder nass werden würde, war ich in diesem Augenblick wirklich, wirklich glücklich. Das änderte sich auch nicht so bald. Mike hatte natürlich einen Regenschirm, der aber nicht viel brachte, weil es ziemlich windig war. Trotzdem lachten wir die ganze Zeit, während uns der Regen ins Gesicht spritze und die nassen Böen ein ums andere Mal den Schirm nach außen bogen, an ihm rissen und zerrten, dass wir ihn mit vereinten Kräften festhalten mussten. Ich sprang in jede Pfütze, die meinen Weg kreuzte, obwohl ich überhaupt nicht die richtigen Schuhe dafür anhatte. Wenn ich kurz zuvor bei Tatsumi eine bedrückende Ruhe nach dem Sturm erlebt hatte, war das hier die Ruhe im Sturm, und zwar eine wunderschöne. Ich war ausgelassen wie ein kleines Kind. Als wir bei Geenia ankamen, konnte ich erst mal gar nicht aufhören, zu kichern. Ich gebe zu, ein bisschen gemein bin ich schon gewesen, immerhin hatte ich im Gegensatz zu Mike dort ja trockene Kleidung, in die ich schlüpfen konnte. Aber ihn schien es kein bisschen zu stören, dass er bei jedem Schritt kleine Pfützen auf dem Boden hinterließ. Er beugte sich vornüber, schüttelte sich wie ein Hund und fuhr sich dabei mit beiden Fingern durch die Haare, die danach, eben noch nass an seinen Kopf geklatscht, endlich wieder in alle Himmelsrichtungen abstanden. So, wie sich das für ihn gehörte. Ich lächelte und wies ihm einen Platz neben der Heizung zu, wo er sich wieder ein bisschen aufwärmen konnte. Ich wärmte mich ebenfalls auf, allerdings eher mit Dehn- und Laufübungen, das Übliche halt. Dann holte ich mein Werkzeug und tanzte los. Und obwohl ich diesmal Publikum hatte, war ich wirklich besser denn je. Sagte ich nicht, dass Mike mir geholfen hat, diese Unmöglichkeit doch noch rechtzeitig einzustudieren? Erst war es der Schmerz und die Wut auf mich selbst gewesen, die mich nach unserer schicksalhaften Begegnung auf seinem Sofa so angetrieben hatten, und jetzt war es diese merkwürdige Erleichterung und Ausgelassenheit, die mir Flügel verlieh. Die ganze Zeit über spürte ich, wie Mike mich mit offenem Mund anstarrte. Ganz so, wie ich damals Geenia angestarrt hatte, als sie mir mein mögliches Ticket zum Sieg präsentierte. Natürlich, Mike hatte sie nicht gesehen und damit keine Vergleichswerte, aber es machte mich trotzdem stolz. Als ich den Tanz ein paar Mal durchgegangen war, fühlte ich mich so stark, als ob ich Bäume, Straßenlaternen und Hochhäuser ausreißen könnte. Ich umarmte Mike und Mike umarmte mich, und er schien genau zu merken, was dieser Moment des Triumphes für mich bedeutete. Wir hielten uns bei den Händen und drehten uns durch den Raum, und dann ließen wir uns neben die Heizung sinken. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter, schloss die Augen und wünschte mir, so fest ich nur konnte, genau in diesem Moment die Zeit anhalten zu können. Vielleicht ahnte ich ja schon, wie es weitergehen würde? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich deshalb jede Sekunde so kompromisslos genossen habe. Auch den Heimweg, obwohl der sehr viel ruhiger und... ja, einfach weniger spektakulär war als der Hinweg. Der Sturm hatte sich gelegt, und wir gingen einfach schweigend nebeneinander her, ich bei Mike eingehakt. Den Schirm hielt er. Meine Kleider waren nicht getrocknet, obwohl ich sie neben die Heizung gelegt hatte, und ich fror schon ein bisschen. Aber es war mir egal. Es störte mich nicht, es sorgte nur dafür, dass ich mich noch mehr auf Mikes gemütlich warme Wohnung freute. Ich freute mich solange, bis wir angekommen waren und die Tür geöffnet hatten, denn genau in diesem Moment klingelte Mikes Telefon. Ganz ehrlich – für einen Wimpernschlag vergaß mein Herz einfach, zu schlagen. Und meine Lungen, zu atmen. Ich wusste sofort, dass das nur Trish sein konnte. Ich wusste, dass es jetzt vielleicht doch alles aus war, dass ich zu lange gewartet hatte und nun zu spät gekommen war. Wie in einem Alptraum stand ich neben mir, beobachtete mich selbst und Mike, wie ich in der noch offen stehenden Tür erstarrte und wie er ganz unbedarft auf das Telefon zuging, das absurderweise neben dem Sofa auf dem Boden stand. Wer stellt ein Telefon auf den Boden, wenn er doch ein Tischchen in greifbarer Nähe hat?, ging es mir durch den Kopf, während Mike sich hinkniete und den Hörer abnahm. Er bemerkte nicht, wie ich entsetzt durch seinen Rücken hindurchstarrte. Wie ich nach Luft schnappte, weil mir tausend Gedanken durch den Kopf gingen und keinen Raum mehr für Atem ließen. Ich wusste, dass ich irgendetwas tun musste, dass mir nur noch Sekundenbruchteile blieben, in denen ich das Ruder herumreißen und mich vor dem sicheren Untergang retten konnte. Und ich handelte. Ohne zu denken und ohne Rücksicht auf Verluste. Vermutlich wäre die ganze Aktion sogar verdammt lustig gewesen, wenn es dabei nicht um so unglaublich viel gegangen wäre. Ich hechtete förmlich in die Wohnung hinein, dem Telefon entgegen, machte eine ziemlich ungelenke Rolle auf dem Boden, und dann hämmerte ich in Panik auf den Auflege-Knopf. Ich lag in einer komisch verdrehten Position und schlug auf dieses Ding ein, als ob es dabei um mein Leben ginge. Ich muss so unfassbar dämlich ausgesehen haben, das will ich mir heute lieber gar nicht mehr vorstellen. Mike sah mich an, als ob er mich gleich einweisen lassen wollte. Kennen Sie diese Augenblicke, in denen Sie sich nichts sehnlicher wünschen, als einfach an Ort und Stelle im Boden versinken zu können? Ich will jetzt mal außen vorlassen, dass ich dann vermutlich bei Mikes Eltern auf dem Sofa gelandet wäre. Und es wird Sie auch nicht überraschen, wenn ich schreibe, dass es mir nicht gelungen ist. Ich musste meine Gliedmaßen wieder zusammensuchen, mich aufrappeln und – das Schlimmste von allem – dem entgeisterten Mike in die Augen sehen. Da stand er vor mir, den Telefonhörer noch am Ohr, den Mund schon zum Sprechen geöffnet, der Blick so fragend wie noch nie zuvor. Und mir dämmerte langsam, dass ich jetzt nicht mehr um eine Erklärung herumkam. „Mike, ich kann das erklären“, begann ich dann auch prompt. Ganz kurz sah ich so etwas wie ernsthaften Zweifel in Mikes Blick, aber dann lächelte er und sagte: „Davon geh ich einfach mal aus.“ Er ließ die Hand sinken, um den Telefonhörer wieder auf die Station zu legen, und weil es jetzt sowieso nicht mehr schlimmer werden konnte, riss ich ihm selbigen aus der Hand und versteckte ihn hinter meinem Rücken. Ich konnte einfach nicht riskieren, dass Trish gleich noch einmal anrief und meinen ganzen Körpereinsatz zunichte machte. Obwohl Mike mich nun endgültig für geisteskrank halten musste, ich hatte zuviel riskiert, um am Ende doch noch zu verlieren. „Okay“, sagte ich und atmete tief durch, um noch mal etwas Bedenkzeit zu gewinnen. „Das... oh Gott... das ist jetzt eine etwas... merkwürdige Geschichte. Aber ich bin nicht verrückt. Es ist nur ganz wichtig, dass du nicht mit ihr sprechen darfst. Darum habe ich aufgelegt.“ „Mit ihr sprechen?“ Mike zog kurz die Augenbrauen hoch, und ich begriff, dass mein Einstieg in dieses alles entscheidende Gespräch vielleicht doch nur mäßig gelungen war. „Jessie, ich verstehe kein Wort. Von wem um alles in der Welt sprichst du? Und warum nimmst du mir deshalb mein Telefon weg?“ „Du kennst sie nicht. Sie sieht aus wie Barbie, und sie... sie... ach, das ist nicht so einfach. Aber sie hasst mich, sie hat irgendwie was gegen mich, weil ich ihr mal eine reingeschlagen hab, und... und... jetzt will sie sich an mir rächen! Verstehst du? Darum ruft sie dich an, weil sie sich an mir rächen will!“ Jetzt starrte Mike mich wirklich an, als ob er ein sprechendes Auto vor sich hätte. Oder etwas ähnlich Absurdes. Einen rot und blau gefleckten Hund, beispielsweise, der ein sprechendes Auto fährt. Dann lachte er auf, was aber eher entsetzt als belustigt klang, und verzog die Lippen zu so etwas Ähnlichem wie einem Lächeln. „Jessie“, sagte er in einem krampfhaft ruhigen Tonfall, „ich hab immer noch keine Ahnung, was du mir da gerade sagen willst und was du heute Mittag heimlich geraucht hast, aber das war keine Sie. Das war ein Kumpel von mir. Ich hab seine Nummer auf dem Display gesehen.“ „Das war...“ Diesmal war ich derjenige, dem die Kinnlade herunterklappte. „Das war nicht Barbie?“ „Nein, das war nicht Barbie.“ „Oh.“ Mehr fiel mir in diesem Augenblick nicht ein. Und auch nicht im nächsten, genauso wenig wie im darauf folgenden. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, bis mein Kopf irgendwann so heiß war, als ob er jeden Moment explodieren würde. Gleichzeitig begann ich zu zittern. Oder war das nur der mühsam unterdrückte Impuls, mir selbst kräftig eine runterzuhauen, der meine Muskeln zucken ließ? Ich wusste es nicht – ich wusste eigentlich nur noch eines, nämlich dass ich mich gerade völlig umsonst zum Affen gemacht hatte. Zum Affen? Vermutlich eher zum Psychopathen erster Güte! Lassen Sie Ihre Augen doch bitte wieder ein bisschen nach oben wandern und lesen Sie sich das Ganze noch mal durch. Spielen Sie es im Geiste ab wie einen Film, wobei Sie die Rolle von Mike einnehmen. Und jetzt verraten Sie mir bitte eines – wen würden Sie eher anrufen, den psychiatrischen Notdienst oder die Polizei? Da war es ja fast gut, dass ich immer noch das Telefon hinter meinem Rücken versteckte. „Jessie, bist du sicher, dass du okay bist?“, fragte Mike, jetzt viel mehr besorgt als ratlos, entsetzt. „Du siehst aus, als ob du einen Geist gesehen hättest!“ „Schlimmer“, murmelte ich und schloss meine Finger so fest um das Plastik des Telefonhörers, dass ich Angst hatte, er könnte zerbrechen. „Viel schlimmer.“ Und dann spürte ich plötzlich Mikes Hände auf meinen Schultern. Ich blickte auf, so schwer mir das auch fiel, und ich las wieder einen fragenden Ausdruck auf Mikes Gesicht. Aber diesmal war die Frage eine völlig andere, und ich verstand ihn sofort, ohne jegliche weitere Worte. Ich nickte nur, und dann zog er mich an sich und hielt mich im Arm, nicht zu fest, nicht aufdringlich, sondern einfach nur verdammt beruhigend. Sofort fühlte ich mich wieder ein bisschen menschlicher, wenn auch nur ein kleines bisschen. Angst hatte ich immer noch, das will ich gar nicht leugnen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und meine Knie fühlten sich nach wie vor so an, als ob sie jeden Moment unter mir nachgeben würden. Kurz gesagt: Ich fühlt mich weiterhin grauenvoll, aber dieses Gefühl war irgendwie trotzdem ein wenig erträglicher. „Also“, sagte Mike nach einiger Zeit, und wieder einmal hörte ich an seiner Stimme, dass er lächelte, „was möchtest du: Erklären oder lieber einen Kaffee? Oder beides? Du kannst auch erst mal trockene Kleidung haben. Ja, ich glaube, das ist überhaupt die beste Idee, die ich seit heute Morgen habe, als ich dich zu deinem Training begleitet hab.“ Gegen meinen Willen musste ich ebenfalls lächeln, und wieder erfüllte mich so eine Wärme, die mich die klamme Kälte besagter Kleider beinahe schon vergessen ließ. Ich löste mich ein kleines bisschen von Mike, dass ich ihm ins Gesicht sehen konnte, was mir deutlich leichter fiel als noch kurz zuvor. Meine Augen trafen seine Augen, und irgendwie war es ein schicksalhafter Moment. Nach der ersten Verwunderung war in Mikes Blick das übliche Funkeln zurückgekehrt, und wie immer sagte mir dieser Blick, dass es in Ordnung war, was ich getan hatte. Ich hatte mich blamiert wie selten zuvor in meinem Leben, aber das war überhaupt nicht schlimm. Und wenn ich wollte, konnte ich mich, nach all dem, auf das Sofa werfen, mich in frische, trockene Kleidung kuscheln und gemütlich einen heißen Kaffee schlürfen. Ohne ein einziges unbequemes Wort der Erklärung. Einfach so. „Kaffee klingt gut“, sagte ich, „und warme Kleidung noch viel besser. Aber das geht noch nicht. Mike, ich muss dir erst etwas sagen. Ich muss. Es ist sehr, sehr wichtig.“ Mike sah mich ein paar Sekunden lang an, ganz ernst – ein bisschen so, wie er sonst immer den Fernseher angesehen hatte. Dann nickte er. Vorsichtig löste ich seine Hände von meinen Schultern und nahm sie stattdessen in meine eigenen. Meine Finger in seinen Fingern. Eigentlich konnte jetzt überhaupt nichts mehr schief gehen. „Okay“, sagte er, ein Lächeln auf den Lippen. „Leg los.“ „Mike, das wird dir vermutlich nicht gefallen“, begann ich. „Aber ich sage es dir trotzdem, weil ich dir vertrauen kann. Ich muss jetzt einfach ehrlich zu dir sein, weil... weil ich weiß, wie viel ich dir bedeute. Und es wär nicht fair, wenn ich’s nicht tun würde. Weißt du, du... bist immer so nett zu mir. Egal, was für einen Scheiß ich mache. Ich hab nicht gewusst, dass irgendwer zu mir so nett sein kann, echt nicht.“ „Aber natürlich bin ich so nett zu dir!“ Mikes Griff um meine Schultern wurde ein bisschen fester, aber auf keinen Fall so, dass es irgendwie unangenehm gewesen wäre. „Jessie, du hast das verdient, dass dich endlich mal jemand gut behandelt!“ „Das ist überhaupt nicht natürlich! Mike, das... das ist für mich so dermaßen unnatürlich, dass ich’s manchmal noch gar nicht glauben kann! Ich red normal nicht so, aber das... ich mein, seit ich dich kenne, das war die schönste Zeit in meinem ganzen Leben. Ehrlich. Du sagst immer Dinge, die mich zum Lachen bringen. Egal, wie schlecht es mir geht, wenn du da bist, ist’s irgendwie gleich gar nicht mehr so schlimm. Mike, du... du bist einfach zu perfekt, um wahr zu sein. Aber ich bin das leider überhaupt nicht. Ich hab dich angelogen, die ganze Zeit, und das tut mir leid, das tut mir so furchtbar leid. Du bist wirklich der allerbeste Mensch, den ich jemals getroffen habe, aber ich... ich liebe dich nicht.“ Und dann stand ich erst einmal unter Schock. Wissen Sie, ich hatte einfach gesprochen, ohne zu begreifen, was ich tat. Ich hatte das so nicht geplant, ich verstand noch nicht einmal wirklich, was da gerade eben geschehen war. Ich sah einfach nur in Mikes wunderbare blaue Augen – die Augen dieses Menschen, der doch eigentlich alles war, was ich wollte, alles, was ich brauchte, der genau so war, wie ich mein Leben lang gerne gewesen wäre, der immer im richtigen Moment genau das Richtige sagte. Ich konnte nicht begreifen, weshalb ich ihm das antat. Ich wusste es einfach nicht. Was ich sehr wohl wusste, war, dass ich die Situation immer noch hätte retten können. Weil ich tun und lassen konnte, was ich wollte, und weil Mike mir alles, einfach alles vergeben würde, ohne es mir jemals vorzuhalten. Ich tat es nicht. Ich rettete überhaupt nichts, weder die Situation noch mich selbst. Ich starrte Mike noch einige Sekunden lang an, versuchte, mir jede einzelne Linie seines Gesichtes einzuprägen. Dann hielt ich es nicht mehr länger aus und lief davon. Nein, ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe. Glauben Sie mir, ich bin alles andere als stolz darauf. Es gibt wenige Situationen in meinem Leben, die ich später öfter im Geiste durchgegangen bin, um wieder und wieder zu überlegen, was ich anders hätte machen können und sagen können. Ob ich es bereut habe? Auf jeden Fall. So, wie es passiert ist, hätte es niemals passieren dürfen, daran ist auch im Nachhinein nichts schönzureden. Manche Dinge werden auch dann nicht weniger schlimm, wenn man genau weiß, was danach geschehen und wie es letztlich ausgegangen ist. Wieder einmal bin ich durch den Regen gelaufen. Nicht ziellos, nicht stundenlang, aber ich habe um jede S-Bahn-Station einen großen Bogen gemacht. Vielleicht wollte ich mich damit bestrafen, vielleicht wollte ich wieder einen klaren Kopf bekommen. Um zu verstehen, was ich getan hatte. Was ich tun sollte. Ich wusste, wo ich hinwollte, aber ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich dort hingelangen konnte. Was mich zu der unschönen Erkenntnis brachte, dass es möglicherweise auch Feigheit war, die mich den längstmöglichen Weg nehmen und so wenigstens noch ein bisschen Zeit gewinnen ließ. Aber irgendwann bin ich doch bei Tatsumis Haus angekommen. Ich stand da und starrte die makellos weiße Fassade an, während der Regen so heftig auf meine Schultern prasselte, dass es fast schon schmerzte. Ich starrte auf die schwarzen Fenster, die hinter dem Wasserschleier wie verschwommene, formlose Löcher in all dem perfekten Weiß wirkten. Ach, wie metaphorisch! Ich wurde den Eindruck nicht los, dass das Haus mich feindselig anstarrte. Hau ab, schrieen diese Fenster, und ich hätte am liebsten drauf gehört. Weil ich einfach Angst hatte. Ich lief aber nicht davon. Es war längst zu spät, um noch umzukehren. Wenn ich mir jemals wieder im Spiegel in die Augen sehen wollte, konnte ich nicht mehr davonlaufen. Ich ging so langsam auf die Haustür zu, dass ich fast glaubte, ich würde mich rückwärts bewegen. Vielleicht tat ich das auch, ab und an, aber immerhin drehte ich nicht wieder sinnlose Runden um den Block herum. Gut, da hätte ich bei den ganzen Prachtvillen hier auch eine Menge zu laufen gehabt. Aber der eigentlich Grund, warum ich nicht wieder kehrt machte und weiter durch den strömenden Regen stapfte, war die ungute Ahnung, dass ich dann niemals den Mut finden würde, endlich das zu tun, wofür ich hergekommen war. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich Mühe hatte, mein Handy festzuhalten. Ich verwählte mich zweimal, bevor es mir gelang, Tatsumis Nummer einzutippen. Und dann musste ich mich beherrschen, nicht gleich wieder aufzulegen und die ganze Arbeit zunichte zu machen. Dabei wusste ich eigentlich gar nicht, wo mein Problem war. Tatsumi konnte ja nicht ahnen, was für ein Schlachtfeld ich heute schon hinterlassen hatte. Er konnte nicht wissen, wie es mir ging – um ehrlich zu sein, das wusste ja nicht mal ich selbst. Er würde mich in sein Zimmer führen, in diesen seltsamen Raum mit den leeren Wänden, in dem man die ganze Welt da draußen vergessen konnte, und dann wäre erst einmal alles gut. Natürlich nicht wirklich, aber wen interessierte das, wenn man sich so überzeugend selbst belügen konnte, dass man es irgendwann gar nicht mehr bemerkte? Es war absurd: Ich hatte diesen Gedanken kaum zuende gedacht, da konnte ich es plötzlich gar nicht mehr erwarten, dass Tatsumi mich endlich reinlassen würde. Meine Angst davor war komplett verfolgen. Ich fror ganz furchtbar, und ich sehnte mich nach einer warmen Dusche. Genau wie an diesem einen denkwürdigen Abend, als ich so kopflos durch die Nacht gerannt war und dann bei Tatsumi Zuflucht gefunden hatte. War ich deshalb hergekommen, weil ich mich genau danach sehnte? Ich ahnte, dass es mehr war als das, aber ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Einfach vergessen. Nicht nur vor dem Regen, sondern auch vor diesem verdammten Tag davonlaufen. Es dauerte länger als sonst, bis Tatsumi mir die Tür öffnete. Jetzt hatte ich doch wieder ein kleines bisschen Angst – Angst, dass er unseren merkwürdigen Streit nicht vergessen hatte, dass er mir meine Worte immer noch übel nahm. Ich hätte es verstanden, aber irgendwie konnte ich es mir nicht vorstellen. Das passte nicht zu Tatsumi, so... so war er einfach nicht. Und dann hörte ich es auch schon, das Geräusch von Schritten hinter der Tür, dann ein Schlüssel, der im Schloss herumgedreht wurde. Ich atmete auf und bemühte mich um ein Lächeln, noch bevor Tatsumi mich sehen konnte. Ich merkte, dass es mir nicht so recht gelang, dass ich trotzdem furchtbar aussah, und natürlich merkte Tatsumi das auch. Er lächelte nicht, als er mich ansah. Er versuchte es nicht einmal. Ich konnte nicht genau sagen, was für ein Ausdruck auf seinem Gesicht lag... nichts Gutes jedenfalls. Nicht das, was ich gehofft hatte, dort zu finden. Ich lächelte weiter, bis meine Mundwinkel schmerzten, als ob ich Tatsumi auf diesem Wege telepathisch hätte mitteilen können, wie sehr ich mir in diesem Augenblick doch wünschte, dass er dieses Lächeln erwidern würde. Warum tat er es nicht endlich? Ich hatte das verdammt ungute Gefühl, von einer Katastrophe in die nächste gestolpert zu sein, nur dass ich diesmal die Schlacht verpasst hatte. Die Verwüstung, die sie hinterlassen hatte, war jedoch leider unübersehbar. Ich hätte schreien können. Ja, ich weiß, dass das egoistisch war, aber ich wollte einfach nicht, dass Tatsumi ausgerechnet jetzt schlecht drauf war. Und überhaupt, Tatsumi, schlecht drauf, das waren in meiner Welt nach wie vor Dinge, die nicht zusammenpassten. Obwohl ich es eigentlich besser hätte wissen müssen. Aber verstehen Sie mich doch bitte, ich konnte nicht noch mehr Probleme gebrauchen, es ging einfach nicht. Ich hatte genug, ich hatte so dermaßen genug, und ich gebe zu, dass ich mir mit jeder Sekunde weniger Mühe gab, das zu verbergen. Gott, es war so erbärmlich! Trotzdem hatte ich wenigstens insofern Erfolg, dass Tatsumi tief Luft holte, sich ein unmotiviertes Lächeln abrang und mich – Hurra! – hoch auf sein Zimmer brachte. Obwohl meine Kleider immer noch nass waren, fühlte ich mich sofort viel besser und... wärmer. Klar, die Heizung war an, aber das war nicht alles. Wie kam es, dass ich plötzlich bemerkte, wie sehr mir dieses kalte, unpersönliche Zimmer ans Herz gewachsen war? Warum eigentlich? Ich dachte nicht weiter darüber nach, ich setzte mich lieber auf das Bett – wieder mal ganz an die Kante, aber diesmal nur deshalb, weil ich die Matratze nicht durchweichen wollte. Tatsumi ging zum Schrank, und jetzt musste ich wirklich lächeln. Die Stimmung war nach wie vor seltsam gedämpft, aber die Vorfreude auf warme, trockene Kleidung machte verdammt vieles wieder gut. Einmal mehr stellte ich fest, wie leicht ein Mensch doch mit ganz simplen Dingen zufrieden zu stellen war, wenn er nur ein paar Stunden auf sie hatte verzichten müssen. Doch Tatsumi holte keine warme, trockene Kleidung für mich heraus. Wenigstens nicht die Art von Kleidung, die ich in diesem Moment erwartet hätte. Stattdessen nahm er meinen Kimono – seinen Kimono, den er mir geschenkt hatte –, legte ihn sorgfältig zusammen und packte ihn in eine längliche Kiste aus Holz. Diese hüllte er in eine Plastiktüte und dann das gesamte Paket in eine zweite Plastiktüte. Dem Ganzen folgte ein kunstvoll verzierter japanischer Schirm, den er ebenso sicher verpackte, und jede Menge Make up. Außerdem eine Sporttasche, randvoll bepackt mit Kleidung, die ich bei ihm für den Wettbewerb zwischengelagert hatte. Dabei schwieg er die ganze Zeit. Überhaupt wurde mir erst jetzt so richtig bewusst, dass noch keiner von uns ein einziges Wort gesprochen hatte. Langsam wurde mir die Situation verdammt unheimlich. Ich wollte etwas sagen, das Schweigen brechen, aber ich konnte nicht. Quasi von einer Sekunde auf die nächste war eine so bedrückende, fast bedrohliche Atmosphäre aufgekommen, dass ich davon regelrecht überwältigt wurde. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sah Tatsumi ins Gesicht, aber er schien sich voll und ganz auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Schon zum zweiten Mal stellte ich fest, dass es erschreckend war, wie starr und ausdruckslos seine schwarzen Augen doch sein konnten. Als ob darin überhaupt keine Gefühle mehr wären... als ob er eigentlich schon gestorben wäre. Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Diese absurde Behaglichkeit, die das Zimmer kurzfristig gewonnen hatte, war nun wieder reiner, anonymer Kälte gewichen. Ich fröstelte mehr und mehr. „Hier“, sagte Tatsumi nach einer grauenhaft langen Ewigkeit und stellte mir meine Habseligkeiten vor die Füße. „Ist eigentlich ganz gut, dass du vorbeikommst. Dann kannst du deine Sachen gleich mitnehmen und ich muss nicht extra noch mal bei dir vorbeifahren“ Ich starrte die Tüten und die Tasche an wie Fremdkörper; Dinge, die nichts mit mir zu tun hatten. Das alles hatte nichts mit mir zu tun. Das war ein Traum, und ich stand neben mir und beobachtete mich selbst dabei, wie ich von einer Situation in die nächste stolperte, jede einzelne viel zu absurd, um wahr zu sein. „Warum?“, flüsterte ich. Ich hauchte diese Worte ganz leise und zittrig, wie in einer furchtbar kitschigen Seifenoper. Nein, das konnte nicht wirklich geschehen. „Ach, stimmt“, antwortete Tatsumi, und in seiner Stimme war plötzlich etwas fast schon... Grausames. Unwillkürlich zuckte ich zurück. „Das kannst du ja noch gar nicht wissen. Du hast ja die letzten Tage mit deinem Freund verbracht.“ „Mit meinem... bitte was?!“, stammelte ich, und dabei klang ich nicht nur wie eine ertappte Ehefrau, ich fühlte mich auch so. Sofort stellte sich ein Schalter in meinem Inneren auf Verteidigungsmodus, und ich starrte Tatsumi viel argwöhnischer und zweifelnder an, als mir das eigentlich zustand. „Ja, bitte was ist ein ziemlich treffender Ausdruck für ihn.“ Tatsumi verzog die Lippen. Als er weitersprach, lag ein so verächtlicher Tonfall in seiner Stimme, wie ich ihn selbst bei ihm noch nie zuvor gehört hatte: „Ich hätte nicht gedacht, dass du eine solche Vorliebe für... Mittelmaß hast, aber du kannst mir nicht erzählen, dass dein Freund wirklich derart langweilig ist, dass selbst du ihn schon wieder vergessen hast.“ Und mit diesen Worten überschritt er eine Grenze zu einem verdammt gefährlichen Krisengebiet in meinem Inneren, einem emotionalen Minenfeld, das den wunderschönen Namen Mike trug. Meine Angst und Beklommenheit wandelten sich wenigstens kurzfristig in blanke Wut, und mit einem Satz war ich auf den Beinen. „Sag mal, was soll der Scheiß? Hast du’s einfach mal wieder nötig, das arrogante Arschloch raushängen zu lassen und jemanden zu beleidigen, oder warum führst du dich so auf? Was interessiert dich das überhaupt, mit wem ich die letzten Tage zusammen war? Wir sind verdammt noch mal nicht verheiratet!“ „Nein, wir sind ja nur Verbündete, richtig?“ Er stieß ein kurzes, abfälliges Lachen aus und schüttelte dann langsam seinen Kopf. „Ich versteh nur nicht, warum du dann letztes Mal so geredet hast. Das hättest du dir auch sparen können. Weißt du, ich fand’s auch nicht toll, wie das gelaufen ist, und da dachte ich mir, okay, siehst du nach, wie es Jessie so beim Training geht. Scheint dir jedenfalls viel Spaß gemacht zu haben. Aber gut, warum du ein paar Tage vor dem Wettbewerb lieber mit dem netten Jungen von nebenan rummachst, statt zu üben, muss ich nicht verstehen. Geht mich auch nichts an. Eigentlich geht mich das alles nichts an, das ist dein Leben, also mach damit, was du willst.“ „Tatsumi, bist du eifersüchtig?!“ „Nein, das bin ich nicht!“ Tatsumi starrte mich schon wieder so an, und langsam verstand ich wirklich die Welt nicht mehr. Es war doch einfach nicht möglich, dass er derart die Nerven verlor, nur weil er mich mit Mike zusammen gesehen hatte! Ich meine, es war ja nicht gerade so, dass wir es in Geenias Übungsraum wild und animalisch miteinander getrieben hätten. Wir hatten ein bisschen Spaß gehabt, das letzte bisschen Spaß meines ganzen Lebens, wie es mir langsam vorkam. Also warum diese plötzliche Weltuntergangsstimmung? „Das ist deine Sache. Das geht mich nichts an, und es zwingt mich ja auch keiner dazu, dir nachzuspannen oder so. Ja, ich gestehe, das gerade war lächerlich, und vermutlich habe ich mir einfach nur was eingebildet.“ „Tatsumi, er... er ist nicht mein Freund!“, stellte ich hastig, vielleicht etwas zu hastig richtig, und wieder war ich hin- und hergerissen zwischen viel zu vielen Gefühlen, die ich allesamt nicht verstand. Es war klar, dass sich Tatsumi nicht wirklich, oder jedenfalls nicht nur wegen Mike so aufregte. Da... da war auf jeden Fall noch mehr, das wusste ich einfach. Aber eine ganz, ganz, ganz leise Stimme, irgendwo in einem dunklen Abgrund meiner Seele, flüsterte mir zu, dass ich es auf eine völlig perverse Weise eigentlich gar nicht so schlimm fand, dass es Tatsumi eben nicht egal war, wenn ich einen anderen in meinen wahnwitzigen Plan einweihte, der bislang irgendwie... uns gehört hatte. Dass er sich aufregte, weil ich vermeintlich einen Freund hatte. Dass ich nicht tun und lassen konnte was immer ich wollte, und am Ende würde es trotzdem völlig okay sein. Finden Sie, dass es ein Kompliment ist, wenn ein Mensch zu gut ist, um wahr zu sein? Irgendwie war ich mir plötzlich nicht mehr sicher. „Es ist mir egal, wer er ist!“, erwiderte Tatsumi, immer noch so... kalt. Langsam, fand ich, übertrieb er es ein wenig, aber das änderte nichts daran, dass mir auf einmal wieder ganz warm ums Herz wurde. „Das ist nur ein Kumpel“, erklärte ich ruhig, und dann lächelte ich: „Neid, hm?“ Tatsumi lächelte nicht zurück. Er sah mich an, noch viel seltsamer als zuvor, und ganz kurz presste er seine Lippen fest aufeinander. Um ruhig zu bleiben? Er wirkte überhaupt nicht mehr aufgebracht. Es hatte mich ja schon schockiert, ihn wütend zu sehen, aber das jetzt war noch viel, viel schlimmer. Vor allem, weil ich es einfach nicht begreifen konnte. Und das war vielleicht auch besser so. „Ich sag doch, dass es mich nicht interessiert“, antwortete Tatsumi dann nämlich. „Mich interessiert’s eher, ob du dich noch an Trish Hedger erinnerst. Diese Silikonbarbie vom Schönheitswettbewerb.“ „Ähm... ja“, murmelte ich, während ich das wunderbare Gefühl hatte, von einem Eimer eiskalten Wassers übergossen zu werden. Mit Eiswürfeln drin. Und das draußen, nachts, im Winter. „Sie hat mich heute angerufen“, fuhr Tatsumi fort, und die bedrohliche Ruhe in seiner Stimme lähmte mich endgültig. „Warum starrst du mich jetzt so an? Du weißt doch, was sie mir gesagt hat. Du bist ja scheinbar die Einzige, die das weiß. Nein. Entschuldige. Der Einzige. Oder was auch immer.“ „Tatsumi, was soll das? Die Frau hasst mich, das hast du doch gesehen! Keine Ahnung, was sie über mich erzählt hat, aber es ist Müll. Es kann nur Müll sein! Sie... sie kennt mich ja nicht mal wirklich!“ „Sag mal, glaubst du eigentlich langsam selbst, was du da redest?!“ Ganz kurz erhob Tatsumi die Stimme, aber dann fuhr er wieder in diesem furchtbar eisigen Tonfall fort: „Es gibt keine Jessica Maguire. Jesse Maguire ist ein Einzelkind. Du bist ein Einzelkind. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie du’s geschafft hast, die gesamte Belegschaft dieses Wettbewerbs und... jeden anderen Menschen in deiner Umgebung so dermaßen zu verarschen. Aber du hast dir Jessica Maguire... ausgedacht. Alles, was du in den letzten Wochen getan und gesagt hast, war eine einzige verdammte Lüge.“ „Tatsumi, das ist nicht wahr! Ich... ich kann’s dir erklären!“ „Was?! Dass du keine Wahl hattest? Dass du das Geld brauchst?“ Tatsumi stieß ein unglaublich zynisches Lachen aus, aber dabei sah er mich so an, dass ich fast nicht mehr atmen konnte. „Gratuliere. Da hab ich dir ja sicher helfen können.“ Spätestens jetzt wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich brauchte meine ganze Kraft, um nicht vor Tatsumi in Tränen auszubrechen. Das hätte nicht passieren dürfen, schoss es mir durch den Kopf, ein ums andere Mal. Dabei war ich ja eigentlich selber Schuld. Was heißt eigentlich eigentlich? Ich konnte nicht begreifen, wie dumm ich gewesen war. Ich hatte keine Sekunde lang an Tatsumi gedacht, als Barbie mir mit ihrem Verrat gedroht hatte. Nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde lang. Vermutlich hatte ich schon deshalb verdient, was da gerade eben passierte. „Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, sagte Tatsumi, und seine Stimme klang dabei furchtbar endgültig. „Es tut mir leid“, murmelte ich, als ob ich damit noch irgendetwas hätte ändern können. „Es tut mir alles so schrecklich leid. Ich weiß, dass das jetzt verdammt scheiße aussieht, aber so... so war das nicht geplant. Das Ganze hat sich einfach... verselbstständigt.“ „Ja, das habe ich gemerkt.“ Tatsumi schüttelte den Kopf, und ich senkte den Blick, weil ich diesen Ausdruck in seinen Augen nicht mehr ertragen konnte. „Weißt du, Jessie, du hast immer gemeint, du kannst mir alles sagen und mich behandeln, wie du willst. Und mir hat das auch noch gefallen. Aber irgendwo reicht es. Das war zuviel. Das war zuviel, und ich möchte überhaupt nichts mehr dazu hören.“ „Es war nicht alles gelogen“, schluchzte ich jetzt doch noch. Ich konnte nicht anders. Ich ließ mich sogar dazu herab, Tatsumi flehend anzustarren. Ich musste mich beherrschen, nicht auch noch nach seinem Arm zu greifen und mich daran festzuhalten, dass er mich nicht einfach so herauswerfen konnte. Jetzt war er derjenige, der den Blick abwandte, und spontan kam ich mir noch viel schäbiger vor. „So was kannst du nicht machen. Selbst mit mir nicht. Nimm einfach deine Sachen und geh.“ „Tatsumi, bitte!“ „Nein! Nein, hör auf!“ Er hob abwehrend beide Hände, drehte sich halb von mir weg und machte einen Schritt in Richtung Bett, nur um sich dort wiederum umzudrehen. Dann legte er den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Irgendwie schien ihn das zu beruhigen, aber in seinen Augen war immer noch diese furchtbare Leere – und etwas, von dem ich erst seit Kurzem geahnt hatte, dass es überhaupt existierte, und das mich seitdem irgendwie verfolgt hatte. Ist es nicht absurd? Man nehme bitte mal Tatsumis Leben und vergleiche es mit meinem Leben. Fertig? Gut. Und jetzt erklären sie mir, wie um alles in der Welt ich auf die Idee kam, dass ich vielleicht deshalb von Mike davongelaufen bin, weil ich das Gefühl gehabt hatte, dass nicht er der einzige mir bekannte Mensch war, der mich möglicherweise doch irgendwann einmal verstehen würde. Aber jetzt war es sinnlos, darüber nachzudenken. Ich wollte Tatsumi nicht noch weiter quälen und mich nicht noch weiter erniedrigen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging ich zum Bett, hängte mir die Tasche um und nahm jeweils eine Tüte in jede Hand. Ich wusste, dass ich nichts mehr ändern konnte, nicht in diesem Augenblick. Ich sah Tatsumi noch einmal an, und sein Blick sprach mehr als tausend Worte. Ich nickte nur, ein stummes Zeichen, dass ich mich geschlagen gab. Ganz kurz hoffte ich, dass Tatsumi doch noch einlenken, dass er einfach lächeln, mich in den Arm nehmen und mir sagen würde, dass alles in Ordnung war. Dass er mir einen Himbeer-Vanille-Tee machen und danach irgendwelche belanglosen TV-Shows einschalten würde. Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich dann vermutlich gar nicht hier wäre. Stattdessen öffnete er mir demonstrativ die Tür und trat zur Seite. Ich hatte keine Ahnung, was ich noch hätte sagen sollen – eine simple Verabschiedung kam mir jetzt so fehl am Platze vor, aber etwas Besseres fiel mir auch nicht ein. Also begnügte ich mich mit einem missglückten Lächeln. Dann ging ich. Tatsumi schloss die Zimmertür hinter mir und ließ mich allein durch das Haus gehen. Ich tat es auch, auf dem schnellsten Wege. Ich schenkte der prunkvollen Umgebung gar keine Beachtung mehr, sondern eilte hinaus in den kalten Regen, vor dem ich vor nicht allzu langer Zeit noch hatte fliehen wollen. Und gerade, als ich ins Freie getreten und die Tür hinter mir geschlossen hatte, fiel mir ein, dass ich etwas vergessen hatte. „Neid“, murmelte ich, und ich meinte damit Neid auf jeden anderen Menschen dieser Welt, der das unglaubliche Glück hatte, nicht ich zu sein. Aber jetzt konnte ich natürlich nicht mehr umkehren und es Tatsumi noch sagen. Vielleicht denken Sie, dass es dumm und lächerlich ist, sich in einer Situation wie dieser über unser blödsinniges Spiel den Kopf zu zerbrechen. Es war nur leider nicht das erste Mal, dass ich an diesem Tag zu spät kam. Ich habe die Sachen nach Hause gebracht, aber ich bin nicht dort geblieben. Kurz umgezogen hab ich mich noch, weil es mittlerweile nicht mehr ganz so stark regnete und ich es ja nicht um jeden Preis darauf anlegen musste, doch noch krank zu werden. Außerdem zog ich mir eine Jacke an und nahm einen Schirm mit, nur für den Fall. Ich gebe zu, ich habe darüber nachgedacht, zu Mike zu gehen. Ich wusste ja, dass er mich mit offenen Armen empfangen würde. Ich wusste, dass er mir in den kommenden Tagen beistehen und mich zum Wettbewerb begleiten würde. Aber ich konnte das nicht tun. So ein schlechter Mensch war ich nun auch wieder nicht. Langsam stieg ich die Stufen zur nächtlichen Straße herab. Das gelblich orange Straßenlaternenlicht ließ die neblige Luft und den feuchten Asphalt leuchten. Hier stand ich also – genau dort, wo ich vor einer scheinbaren Ewigkeit angefangen hatte. Allein. Wieder hatte ich nichts zu verlieren. Vielleicht war das ja in dieser Situation gar nicht das Schlechteste. Ich lief los, ohne lange darüber nachzudenken, wohin. Das war auch überhaupt nicht nötig. Ich rannte einfach, setzte einen Fuß vor den anderen, so schnell es eben ging, ohne hinzufallen. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr sich meine Kondition in der letzten Zeit verbessert hatte – ich konnte lange rennen, ohne ein Stechen in der Seite zu spüren. Und als ich es dann endlich doch spürte, war ich dankbar dafür, weil es irgendwie dazugehörte. Es war ein seltsam nostalgischer Augenblick, als ich mich erschöpft in das Gras des kleinen Parks am Fluss fallen ließ, in dem ich Tatsumi damals zum ersten Mal wirklich begegnet war. Eine Weile lag ich dort und starrte hinauf in den Himmel. Das Gras war nass, aber der Regen hatte aufgehört. Ich betrachtete die schweren grauen Wolken, dann die glitzernde Skyline und das Schwarz des Flusses. Den schmalen, in Schlangenlinien geschwungenen Weg, der durch den Park führte. Die dunklen Umrisse der Bäume um mich herum. Ich war lange nicht mehr hier gewesen, aber die ganze Umgebung kam mir trotzdem so vertraut vor. Nach einer Weile setzte ich mich hin und betrachtete mein Spiegelbild im Wasser. Mein Make-up war verwischt, aber ich sah gut aus. Kein Monster mehr, kein geschlagenes Ding, das auf Rettung wartete. Ich wusste ja, dass niemand kommen würde. Solche Zufälle gab es nur einmal im Leben, außer vielleicht für die Helden kitschiger Fernsehschnulzen. Gut, natürlich wäre es möglich gewesen, dass Tatsumi aus ähnlichen Gründen den Weg zurück zu diesem seltsamen kleinen Ort finden würde, wie ich es getan hatte. Möglich, aber trotzdem so unwahrscheinlich, dass ich gar nicht darüber nachdenken wollte. Ich quälte mich nicht mit unsinnigen Hoffnungen. Ich hörte den Geräuschen der Nacht zu, dem Glucksen und Rauschen des Flusses, dem Flüstern der Bäume und all den undefinierbaren Tönen, die unter anderen Umständen vielleicht unheimlich gewesen wären. Dem gedämpften Großstadtlärm. Irgendwie war alles wie ein weicher Teppich, auf den ich mich fallen lassen konnte. Ganz ehrlich – ich habe nicht nachgedacht. Ich saß einfach da, starrte vor mich hin und ließ die nächtliche Umgebung auf mich wirken. Um es kurz zu machen: Ich saß etwa eine Stunde da, und natürlich ist niemand gekommen. Mir war nicht kalt. Ich stand irgendwann einfach auf, bin nach Hause gegangen und habe geschlafen. Ja, ich konnte schlafen, sogar ziemlich gut. Fest, traumlos. Die nächsten beiden Tage habe ich von früh bis spät trainiert. Am letzten Tag vor dem Wettbewerb ließ ich es ruhiger angehen – ich hab schon geübt, aber eben nicht so viel. Ich gönnte mir eine lange, ausgiebige Dusche, legte mir meine Kleidung zurecht, ein Bikini, Geenias makabres Cheerleader-Outfit, Tatsumis Kimono. Dann ging ich früh ins Bett, las noch eine Weile und schlief erfreulich schnell ein. Das Piepsen meines Weckers riss mich am nächsten Tag um neun Uhr früh aus dem Schlaf. Ich schlug die Augen auf und starrte an die Decke. Durch die Japanflagge am Fenster fiel trübes Licht in mein Zimmer. Sonnenstrahlen. Der Regen hatte aufgehört. Es war angenehm warm, nicht zu heiß, aber es war ja auch noch recht früh am Morgen. Ich hoffte, dass es so bleiben würde, die Temperatur war wirklich ideal. Es war still in der Wohnung, nur ab und an fuhr unten ein Auto vorbei. Ich nahm an, dass Mum nicht zuhause war, also konnte ich mich in aller Ruhe für den Wettbewerb fertig machen. Für den Wettbewerb. Wissen Sie, wie verrückt dieser Gedanke war? Vor allem, weil er mir im ersten Augenblick so banal vorkam. Heute war der Wettbewerb, und für den musste ich mich herrichten. War ja immerhin ein Schönheitswettbewerb. Ich wusch und föhnte mir die Haare, erledigte den lästigen Rasierjob, schminkte mich, überprüfte noch einmal, ob ich alles, was ich brauchte, auf einem Haufen hatte, zog mich an. Es war alles so einfach, reine Routine. Das Einzige, was anders war, war so ein merkwürdiges Gefühl in meiner Brust. Irgendwie ein bisschen beklemmend, aber auch ein bisschen so wie Achterbahnfahren. Das Gefühl des freien Falls. Ich erschauderte in regelmäßigen Abständen. Wirklich ein seltsamer Morgen. Es war tatsächlich niemand da. Nicht nur in der Wohnung, wie mir nach kurzem Nachdenken auffiel. Meine Mum hatte die ganze Sache vermutlich längst vergessen... zumindest solange, bis sie sich in einem kurzen klaren Moment wieder daran erinnern würde. Aber nicht heute, bestimmt nicht heute. Mike wollte ich nicht sehen, in seinem Interesse – und Tatsumi wollte mich nicht sehen, auch in seinem Interesse. Geenia wusste von dem Wettbewerb, war aber gerade geschäftlich in Berlin oder in Frankfurt, jedenfalls verdammt weit weg. Und soll ich Ihnen sagen, was das Absurdeste an der ganzen Sache war? Ich war erleichtert darüber, verdammt erleichtert. Haben Sie sich im Sportunterricht nicht auch manchmal gewünscht, dass einfach alle Schüler und der Lehrer verschwinden würden und Sie erst mal ganz alleine üben könnten? Ohne kritische Blicke, ohne peinliche Momente, denn Sie konnten sich ja schlimmstenfalls vor sich selbst blamieren. Gut, ich würde bei dem Schönheitswettbewerb nicht allein sein. Mir würde ein ganzer Haufen Menschen zusehen, sogar eine Jury, die ja quasi... auch wie ein Lehrer war, nur eben mal drei. Nicht besser. Aber trotzdem, es war doch etwas vollkommen anderes als die Augen von Menschen, die man kannte. Die irgendwie selbst ein Teil der ganzen Sache waren... immer noch. Die zum Teil sogar wussten, wer ich war, wer ich wirklich war. Ich würde zwar auf der Bühne wieder voll und ganz zu Jessica Maguire werden, aber es war trotzdem unglaublich viel schlimmer, wenn wirklich ich persönlich als Versager dastand. Die Strapazen der letzten Tage hatten glücklicherweise keine Spuren hinterlassen. Ich war vermutlich einfach zu angespannt, um müde zu sein, und auch sonst fühlte ich mich fit. Ich verließ rechtzeitig das Haus und fuhr mit der S-Bahn zum Lucky Karma Arcadium. Das Wetter war wirklich angenehm, der Himmel strahlend blau. Ich fand schon immer, dass so ein wolkenlos blauer Himmel etwas verdammt Schönes ist, ein Anblick, der mich automatisch ein bisschen beruhigte. Lachen Sie ruhig darüber, aber irgendwie fühlte ich mich dann immer so... klein, nur ein Teil eines riesigen Ganzen, und ich war mir jedes Mal sicher, dass ich doch nicht völlig allein auf der Welt war. Natürlich war mein Gepäck insgesamt ziemlich schwer, aber ich hatte mir ja glücklicherweise in den vergangenen Wochen ganz schön Muskeln antrainiert. Meine Arme und Beine waren immer noch furchtbar dünn, doch unter der harmlos wirkenden Oberfläche ruhten erstaunliche Kräfte. Na ja, als wir dann vor der Tür noch ein bisschen warten mussten, wurde es schon anstrengend, aber ich wollte die Sachen auf gar keinen Fall abstellen, obwohl der Boden trocken war. Es waren bereits einige Mädchen da, aber nicht alle. Mindestens zwei von ihnen sahen so müde aus, dass ich mich ernsthaft fragte, ob sie nicht vor der Halle gecampt hatten. Oder vielleicht waren sie ja nur noch nicht geschminkt. Irgendwann kam Melinda Farley und führte uns zu den Umkleidekabinen. Ich erkannte sie sofort wieder, auf den allerersten Blick. Dabei hatte ich sie erst einmal gesehen – Sie wissen schon, als sie uns von Freestyle Walk und Performance erzählt hatte. Ihre brünette Fönfrisur war gigantisch. Ihre Lippen waren knallrot geschminkt, so groß und leuchtend, dass man gar nicht aufhören konnte, sie anzustarren. Ihr Kleid hatte dieselbe Farbe. Es war bis über die Hüften ganz eng und ein bisschen gerafft, nur um sich dann in einem üppigen Wasserfall aus Mengen von Stoff bis auf den Boden zu ergießen. Jeder ihrer Schritte wurde nicht nur von einem ausladenden Hüftschwung, sondern auch von einem leisen Rascheln begleitet. Es gab nur einen einzigen großen Umkleideraum, der noch mehrere abgetrennte Kabinen hatte, die man mit Vorhängen verschließen konnte. Gegenüber jeder dieser Kabinen war an der Wand ein von runden Lämpchen umrahmter Spiegel. Auch sonst hatte man einige Strahler in die Wand eingesetzt, den Boden mit schickem schwarzem Laminat bezogen, die Decke sogar verspiegelt. Aber das alles konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns in einem umgebauten Lagerraum befanden. Dort, wo die Wände frei lagen, sah man hässlichen, nackten Beton. Der Kleiderständer in der Ecke sah nicht weniger nach Warenlager aus, nur weil tolle Ballkleider daran hingen. Na ja, mich störte es nicht. Ich war zufrieden, solange ich mich ungestört umziehen konnte. Mir wurde die Kabine mit der Nummer Siebzehn zugeteilt. Ziemlich weit hinten, aber wenigstens eine schöne Zahl. Ich meine, ich konnte mir denken, dass das auch meine Startnummer sein würde, und ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass eine lange Wartezeit ein annehmbarer Preis dafür war, als einer der Schlusspunkte der Show einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu können. Ich legte sorgsam meine Sachen auf dem Brett ab, das an den Wänden der Kabine angebracht war und wohl als Sitzgelegenheit dienen sollte. Solche Hungerhaken wie die meisten Mädchen hier konnte es vermutlich auch wirklich tragen, aber ein bisschen misstraute ich der Sache trotzdem. Ich wollte nicht im letzten Moment noch eine Verletzung riskieren. Ich packte mein Kleidchen für die Tanznummer lieber schon mal aus, schließlich sollten die Stoffbahnen nicht verknickt sein, sondern schön fliegen können. Dieser Tanz hatte mich nicht nur Nerven und Schlaf gekostet, er hatte mir auch mehr Schmerzen bereitet als die meisten von Mums Exfreunden. Es war nicht einfach nur eine einstudierte Performance, es war mein Baby. Ich wollte, dass alles dafür perfekt war. Ich wusste, ich würde unzufrieden sein, wenn auch nur die kleinste Kleinigkeit schief ging, selbst, wenn das außer mir überhaupt keiner bemerkte. Nachdem ich mein Territorium markiert hatte, ging ich wieder raus und suchte auf dem Kleiderständer nach meinem Outfit. Und, siehe da, ich erlebte schon wieder eine positive Überraschung: Mein Abendkleid war nämlich wirklich, wirklich schön. Es war in so einem dunklen Türkis... Petrol nannten es die anderen Mädchen, glaube ich. Der Rock war bodenlang, mit einer Lage transparenten Stoffes in etwas hellerem Türkisblau darüber. Das Oberteil war ganz schlicht, mit dünnen Trägerchen, in die so winzige silberne Fäden eingenäht waren. Ja, ich hatte definitiv Glück gehabt, wenn ich mir ansah, was andere Mädchen so in ihren Händen hielten. Direkt neben mir stand eine eher kleine und ziemlich dünne Asiatin, die unglücklich auf ein leuchtend gelbes, flattriges Monstrum starrte. „Oh jeee“, seufzte sie in meine Richtung, als sie meinen Blick bemerkte. „Das Ding ist ja größer als ich! Und diese tolle Farbe!“ „Ja, aber echt“, grinste ich zurück. „So... unauffällig.“ „Ich hasse Gelb!“ „Ich auch.“ „Cool! Wie heißt du?“ Sie lächelte mich so offen und ehrlich an, dass mich ihre – in diesen Kreisen doch eher ungewöhnliche – Freundlichkeit überhaupt nicht misstrauisch machte. Da war keine Falschheit in ihrer Stimme, die ein todsicheres Indiz dafür gewesen wäre, dass sie sich gleich über mich lustig machen würde. Offensichtlich suchte da ein ziemlich nervöser Mensch wenigstens irgendeinen Gesprächspartner, und ich nahm ihr Angebot dankbar an. Spontan warfen uns einige der anderen Mädchen verächtliche Blicke zu. „Ich heiße Jessica“, antworte ich gleich noch ein bisschen freundlicher. „Und ich bin Mi Cha.“ Sie deutete eine Verneigung an und zwinkerte mir zu. Offenbar hatte sie die Blicke unserer Konkurrentinnen auch bemerkt. „Woher kommst du?“ „Ich bin eigentlich schon hier, seit ich denken kann. Aber geboren bin ich in Daejon, das ist in Südkorea.“ „Nicht schlecht! Ich bin...“ Und dann stockte ich, weil ich zum ersten Mal an diesem Tag Barbie sah. Es war absurd – sie stand einfach so da, mit ihren wasserstoffblonden Locken und den riesigen glänzenden Lippen, ein knallpinkes Kleid in ihren Händen. Ein wahr gewordener Alptraum. Sie hatte mich offenbar schon eine Weile beobachtet, denn sie erwiderte meinen Blick sofort, und in ihren großen blauen Augen blitzte unverhohlene Schadenfreude auf. Ich spürte, wie mir übel wurde. Mit aller Gewalt rammte ich mir die Fingernägel in die Handflächen, weil ich mich sonst vermutlich nicht mehr hätte zurückhalten können. Das Bedürfnis, mich auf sie zu stürzen und ihr wieder und wieder und wieder in ihre dümmliche Silikonfresse zu schlagen, war so überwältigend, dass ich kaum mehr atmen konnte. Sie hatte alles kaputt gemacht. Ich war zum ersten Mal seit so, so langer Zeit wirklich glücklich gewesen, und ich wusste, dass ich die Chance gehabt hatte, noch viel glücklicher zu werden, und zwar auf Dauer. Na ja, vielleicht nicht für immer, das konnte man ja nie wissen. Aber ich hatte Möglichkeiten gehabt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Barbie hatte mir das weggenommen. Es war schwer, die Wut und den Schmerz, die immer weiter und weiter in mir hochkrochen, wieder zurückzudrängen. Und als ich gerade drauf und dran war, all die Arbeit der vergangenen Wochen mit ein paar Faustschlägen und Tritten in Trümmer zu legen, schallte aus einem der Lautsprecher in den oberen Ecken des Raumes eine süßliche Frauenstimme auf uns herab: „Nun, meine Schönheiten – Zeit zum Umziehen, dann werdet ihr den Catwalk näher kennen lernen und wir gehen noch einmal die Aufstellung nach der Walk-In-Sequence durch!“ Und auf einen Schlag war alles wieder weg. Die ganzen überwältigenden Emotionen, einfach aufgelöst. Ich war wieder Teil dieses Wettbewerbs, und, so blöd das jetzt vielleicht klingt, mein Privatleben hatte da nichts zu suchen. Jetzt kam es nur noch auf den Sieg an. Ich würde laufen, ich würde tanzen, ich würde lächeln und ich würde gewinnen. So sah mein Plan für den heutigen Abend aus. Über alles Weitere konnte ich mir später noch Gedanken machen. Ich lächelte Mi Cha zu, die mich etwas besorgt anblinzelte. Sie lächelte zurück und nickte, und dann verschwanden wir wieder in unseren Kabinen. Es war Zeit, sich für die große Schlacht zu rüsten. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir mit langweiligen, immer gleichen Proben: Aufstellen, den Kopf genau im richtigen Winkel drehen, Zähne zeigen, aber nicht zu sehr. Es war eine angenehme, beruhigende Routine, und obwohl wir wieder und wieder das Gleiche machten, ging die Zeit erstaunlich schnell rum. In dem tollen, großen Zuschauerraum konnte man den Himmel nicht sehen, und als wir eine kurze Pause machten, war es draußen schon dunkel. Die meisten, die rausgingen, taten es, um zu rauchen – ich wollte einfach frische Luft schnappen, drum entfernte ich mich ein bisschen von der Masse. Wir durften nur noch durch den Hinterausgang raus, also vermutete ich, dass vor dem Haupteingang schon Zuschauer und vielleicht sogar ein paar Presseleute herumlungerten. Ich war froh darüber, nicht mehr lange warten zu müssen. Ich wollte einfach nicht mehr. Mir war es bis jetzt gelungen, die Unruhe, die sich wie ein Gift in meinem Körper ausbreitete, eben als das zu bewahren, was sie war – Unruhe. Aber langsam merkte ich, wie sie mehr und mehr in Angst umschlug. Angst, vielleicht sogar Panik. Diese Art von Panik, bei der einem furchtbar übel wurde, die einen zittern ließ und die einem die Luft abschnürte, während einem abwechselnd heiß und kalt war. Der ultimative Adrenalinrausch. Ich wusste, dass er früher oder später sowieso kommen würde, aber dann wollte ich ihn bitteschön nicht länger als irgendwie nötig ertragen müssen. Zuerst sah alles danach aus, als ob das Schicksal ein Einsehen mit mir hätte. Ich musste nur noch etwa zehn Minuten warten, dann wurden wir alle wieder in die Halle gerufen und es ging los. Natürlich noch lange nicht mit dem Schönheitswettbewerb – aber mit fertig Schminken, Haare machen, Schmuck anlegen, all das eben. Jedem Mädchen war ein so genannter Personal Coach zur Seite gestellt, der Tips beim richtigen Make up und der passenden Frisur gab. Mir verhalf eine junge, hübsche Frau mit Sommersprossen und einem wilden roten Lockenkopf zu einer blauen bis hellblauen Augenumrandung, verziert mit ein bisschen silbrigem Glitzer. Meine Lippen schminkte sie ziemlich hell, was am Ende irgendwie unwirklich aussah. Dazu noch streng zurückgebundene Haare, und ich erkannte mein Spiegelbild kaum mehr wieder. Es war mir ein bisschen peinlich, aber ich konnte nicht anders, als mich in jeder freien Sekunde bewundernd anzustarren. Leider zeigten mir Blicke in die nähere Umgebung, dass die anderen Mädchen mit diesem gewissen Hauch professioneller Unterstützung fast genauso umwerfend aussahen wie ich – naja, manche auch ein wenig übertrieben, mit künstlicher Bräune am ganzen Körper und mehr Glitzer im Gesicht als Strass auf ihren Abendkleidern. Barbie stach da besonders heraus – sollte es mich wundern? –, mit ihrem pinkfarbenen, hautengen, großzügig berüschten Fummel, um die großen blauen Augen herum ein unvergleichlich nuttiges Kunstwerk aus Pink, noch mehr Pink, Rosa und ein bisschen Gold, die Lippen… fast genauso Pink wie der Lidschatten. Grauenhaft. Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, dass ich von diesem Anblick Alpträume bekommen würde. Aber immerhin vertrieb die gegenseitige Musterung die nun quälend langsam dahinkriechende Zeit. Ich beobachtete auch, wie Mi Cha geschminkt wurde. Erstaunlicherweise sah das neongelbe Etwas an ihr sogar richtig gut aus, mit seinen komischen transparenten Flatterärmeln und den meiner Meinung nach vollkommen überflüssigen, ebenfalls transparenten… Flatterbändern am Rücken. Trotzdem, zu ihr passte es. Sie war ja eh so klein, und dann halt noch Asiatin. Ihr Haare wurden, Klischee ahoi, zu einem Knoten hochgesteckt und mit schwarzen Haarnadeln verziert. Als sie meinen Blick bemerkte, lächelte sie nervös und zwinkerte mir mit ihren langen Wimpern zu. Ich verbrachte etwa eine weitere Viertelstunde damit, die Konkurrenz zu begutachten. Ich hatte so ein ungutes Gefühl im Magen, das jeden Augenblick in Übelkeit umschlagen konnte, und meine Hände waren furchtbar zittrig. Ich verschränkte die Füße hinter dem einen runden Bein meines Stuhles, um nicht ständig damit herumzuzappeln. Einfach weiter dasitzen und dich umschauen, sagte ich mir. Ganz ruhig. Momentan konnte ich sowieso nichts ändern, und wenn ich jetzt die Nerven verlor, konnte ich der Jury meine tollen Walking Skills auch nicht besser präsentieren. Tja, und dann war es plötzlich so weit. Eine gestresste dürre Frau in Jeans und T-Shirt schaute zur Tür hinein und winkte uns hektisch zu sich. Durch einen langen, schmalen, vollkommen schmucklosen Korridor stöckelten wir einer Treppe entgegen, die nur durch einen roten Vorhang von der Bühne getrennt war. Von draußen hörte man die gedämpften Stimmen des wartenden Publikums und die elektronisch kühle Lautsprechermusik. Es roch nach Menschen, nach verdammt vielen Menschen und ihren typischen, undefinierbaren Gerüchen, eben irgendsoeiner wilden Mischung aus Schweiß, Parfum, Haarspray und, ja, Körpergeruch. Außerdem nach Plastik, nach Staub, nach Hitze. Ich merkte, dass mir schwindlig wurde, und stütze mich lieber schnell an der nackten Wand ab. Mi Cha stand fast direkt hinter mir, nur durch ein einziges Mädchen von mir getrennt – ich rechnete aus, dass sie folglich die Startnummer neunzehn haben musste. Ich hob die Hand zu einem fahrigen Gruß, aber sie schien mich gar nicht zu bemerken. Ihre schönen Mandelaugen fixierten starr den Boden, ihre Arme umklammerten ihren Bauch, und ihr Gesicht war so bleich, als ob man durch sie hindurchsehen könnte. Bei ihrem Anblick fühlte ich mich spontan noch miserabler, noch nervöser. Ich bohrte mit der Spitze meines türkisfarbenen High Heels in dem hässlichen grauen Bodenbelag herum, aber das half mir auch nicht weiter. „Alles okay?“, fragte ich vorsichtig. Vielleicht zu vorsichtig, denn zuerst kam von Mi Cha überhaupt keine Reaktion. Sie starrte weiterhin vor sich hin, der Ohnmacht weitaus näher, als mir lieb war, und das konnte ich so nicht akzeptieren. Es war möglicherweise ein bisschen verrückt, aber ich hatte plötzlich das unbedingte Bedürfnis, ja den Zwang, ihr helfen zu müssen, um selbst durchzuhalten. Die Situation wurde mit jeder Sekunde unerträglicher, und ich wusste, dass ich etwas tun musste, wenn kein Unglück geschehen sollte. „Du siehst grad nicht so gut aus.“ Ich wollte Mi Cha damit keinesfalls beleidigen – natürlich war sie immer noch wunderschön, und sie können sich ja denken, wie ich’s gemeint habe. Aber Mi Cha hob auf meine Worte hin derart plötzlich und entsetzt den Kopf, als ob ich sie weiß Gott wie schlimm beleidigt hätte. Ich kannte Beleidigungen, die eine derartige Reaktion bei meinen Mitmenschen hervorriefen, zweifellos, und ich hatte es schon oft genug erfolgreich ausprobiert. Im aktuellen Fall hatte ich aber eigentlich nur besorgt und freundlich klingen wollen, und Mi Chas erschrockener Blick erschreckte mich meinerseits so sehr, dass ich schon drauf und dran war, mich bei ihr zu entschuldigen. Dazu kam ich aber gar nicht mehr. Bevor ich noch ein weiteres Wort sagen konnte, fuhr Mi Cha herum, drängte sich mit hektischen, fahrigen Bewegungen an unseren gemeinsamen Konkurrentinnen vorbei und stürzte in Richtung des so genannten Backstagebereiches von dannen. Ich überlegte kurz, ihr nachzulaufen, aber dann war meine Angst, den Anfang des Wettbewerbes zu verpassen, doch zu groß. Klar schämte ich mich ein bisschen für diese egoistische Entscheidung, aber Sie wissen ja selbst, dass man manche Chancen nur einmal im Leben bekommt, und bei meiner Chance hier ging es um alles oder nichts. Ich verfluchte mich für diesen Gedanken, kaum dass er mir durch den Kopf gegangen war. Super, jetzt war zwar mein Gewissen beruhigt, dafür spürte ich den Druck, der auf meinen Schultern lastete, mit hundertfachem Gewicht. Einen Moment befürchtete ich, in den Boden gestemmt zu werden. Ich gratulierte mir selbst zu dieser Meisterleistung und trippelte auf meinen Absatzschuhen herum, um nicht doch noch umzufallen. Warum ging es denn nicht endlich los? Doch dann musste ich wieder an Mi Cha denken und wurde noch nervöser, weil ich hoffte, dass sie rechtzeitig wieder zurückkommen würde. Langsam fragte ich mich, ob es gerade überhaupt noch irgendetwas gab, das mich nicht nervöser machte. Und dann wurde draußen die Musik leiser. Ja, ich weiß, eigentlich das genaue Gegenteil von einem spektakulären Ereignis, aber ich wusste genau, was es bedeutete: Der Elektrosoundteppich wurde eingerollt, um in den Gehörgängen der Zuschauer Platz für das penetrant fröhliche Geschwafel des Ansagerduos zu machen. Sie lesen richtig, wir hatten ganze zwei Ansager. Wenn das kein Grund war, sich wichtig vorzukommen, weiß ich’s auch nicht mehr. Ich konnte nicht genau verstehen, was Mr. J. Anderson und Mrs. Patty Stepford sich da in ihre bühnentauglich überschminkten Gesichter säuselten, aber die Tatsache, dass sie es taten, machte uns hinter der Bühne natürlich sofort klar, dass es gleich losgehen würde. Meine Knie zitterten so sehr, dass ich sie schon nach kurzer Zeit kaum mehr spürte. Was natürlich die allerbeste Voraussetzung für eine eindrucksvolle Demonstration meiner Walking Skills war. Noch dazu in Abendkleid und High Heels. Ach, und habe ich schon erwähnt, dass mich meine Nervosität langsam umbrachte? Ich wusste, gleich würden sie uns holen. Und, ja, genau das war der Wortlaut meiner Gedanken: Sie werden dich holen. Ich fühlte mich, als ob ich sterben müsste. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, bis es beinahe weh tat, und plötzlich fiel mir kein Grund mehr ein, warum ich nicht lieber schreiend weglaufen sollte. Was vermutlich in erster Linie daran lag, dass die Panik mein Gehirn lahmgelegt hatte. Wäre ich ein Computer gewesen, hätte man mich jetzt vermutlich gewaltsam neu starten müssen. Tja, was soll ich sagen? Dieser Neustart kam tatsächlich, und zwar in Gestalt von Mi Cha, die in ihrem gelben Flatterkleidchen den Korridor hinuntertrippelte. Sie war extrem bleich, aber perverserweise machte sie das eher noch ein bisschen schöner. Gegen meinen Willen atmete ich auf. Ich wusste nach wie vor, dass die Show gleich beginnen würde – wie hätte ich das vergessen können? –, und ich war froh, dass für das mit Abstand sympathischste Mädchen hier nicht schon alles vorbei war, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Während mir durch den Kopf ging, dass ich verdammt nochmal nicht mehr ans anfangen denken sollte, wurde meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt, das ich im ersten Moment noch gar nicht so recht begreifen konnte. Irgendetwas stimmte nicht mit Mi Chas Gesichtsausdruck. Sie wirkte nicht mehr so nervös wie zuvor, nicht mehr so völlig in sich gekehrt, fast abwesend. Eher… besorgt, aber selbst da war ich mir nicht sicher, ob es das richtige Wort dafür war. Doch bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, war Mi Cha auch schon auf mich zugetrippelt und drängte sich hinter mich. Sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen, sondern zupfte mit ihren winzigen Fingerchen an meinem Kleid herum. Ich war so verwirrt, dass ich für einen kurzen Augenblick tatsächlich vergessen konnte, dass ich vor wenigen Sekunden noch beinahe verendet wäre. „Du, Jessie“, flüsterte sie ganz aufgeregt, „ich hab grad da hinten im Umziehraum etwas gesehen, das war total komisch!“ „Wieso?“, fragte ich zurück, und gegen jedes winzige bisschen meines Willens wurde ich neugierig. Es war einfach unmöglich, sich diesem Tonfall in Mi Chas Stimme zu entziehen, der schon ohne große Worte von dem bedeutsamsten Geheimnis der Menschheitsgeschichte erzählte – oder wenigstens von etwas, das dem sehr nahe kam. Außerdem, und das war fast das Bemerkenswerteste, hatte sie in ein Handy in der Hand. Wissen sie eigentlich, wie unfassbar streng verboten es für uns war, Handys mit hinter die Bühne zu nehmen? Wenn Mi Cha dieses Risiko freiwillig auf sich nahm, dann musste es hier verdammt noch mal um etwas wirklich Wichtiges gehen! „Da war dieses Mädchen“, erklärte sie endlich, „diese Blonde, die du vorher so angestarrt hast, und die ist in deine Umkleidekabine gegangen.“ „Wer?!“, fauchte ich, obwohl ich die Antwort natürlich schon kannte, bevor Mi Cha ihr Handy hob und mir ein etwas pixeliges, aber doch unverkennbares Bild von Barbie präsentierte, wie sie in ihrer ganzen pinkfarbenen Pracht in meine Kabine schlich. Ich sah sogar, dass sie ziemlich verschlagen lächelte, aber das hätte es gar nicht gebraucht, um zu begreifen, dass diese Person ganz bestimmt nichts Gutes im Sinne hatte. Und bei diesem Anblick überkam mich etwas, womit ich um wirklich nichts auf der ganzen Welt gerechnet hätte. Freude. Erleichterung. Ein Gefühl, als ob eine tonnenschwere Last von mir abfallen würde, von der ich zuvor noch nicht einmal richtig begriffen hatte, dass ich sie überhaupt mit mir herumschleppte. Mi Cha hielt in ihren schmalen Fingern nicht weniger als meine Rettung. Das Gegenmittel... oder vielmehr Gegendruckmittel zu Barbies Wissen, mit dem sie mich nach wie vor ins Verderben reißen konnte. Natürlich, Barbie konnte auch weiterhin da raus gehen und der Jury erzählen, dass die liebreizende Jessica Maguire eigentlich weder liebreizend noch weiblich war, aber von der jetzigen Sekunde an konnte ich ihr nachlaufen und schreien: „Okay, dieses eine Mal hat sie Recht, aber dafür schleicht sie in ihrer Freizeit gerne heimlich in den Umkleidekabinen der Konkurrenz herum, was sagt ihr dazu?“ Ja, ich gebe zu, ich habe wieder einmal zu wenig nachgedacht. Ich war einfach nur glücklich darüber, Barbie jetzt genauso erpressen zu können, wie sie mich erpressen konnte. Ich fühlte mich sicher, ich fühlte mich stark und gut, und vielleicht war das ja in diesem Moment auch das Beste, was mir hätte passieren können. Als Mi Cha fragte, ob wir das Foto nach dem Freestyle Walk den Preisrichtern zeigen sollten, lehnte ich das ab. Ich konnte ihr diese Entscheidung natürlich nicht bis ins Detail erläutern, aber ich glaube, als ich sagte, dass ich gegen Barbie gerne noch etwas in der Hand haben würde, verstand mich Mi Cha, obwohl sie doch gar nicht wirklich verstehen konnte. Als wir dann von unfreundlichen Backstage-Helfern zu unserem ersten Lauf auf den Catwalk geholt wurden, fühlte ich mich ganz und gar nicht mehr wie ein Lamm vor dem Schlachter. Ich war immer noch groß und mächtig, ich war unbesiegbar und ich lächelte jetzt schon wie eine Gewinnerin. Ich bin mir sicher, dass der Jury das gefallen hat. Der Lauf war vermutlich der beste, den ich jemals gehabt habe. All die Zuschauer saßen zu meinen Füßen, in einem schwarzen Saal mit glitzerndem Boden, und ich kam mir so vor, als ob ich über ihre Köpfe fliegen würde. Da war kein Hauch mehr von Nervosität, ich genoss jeden einzelnen eleganten Schritt, den ich machte. Ich fühlte mich wie befreit, und als ich wieder hinter der Bühne verschwand, da grinste ich wie ein Clown auf Drogen. In diesem Moment hatte ich einfach alles vergessen. Ich hatte sogar vergessen, warum ich so unglaublich selbstbewusst und glücklich war, und wem ich das eigentlich zu verdanken hatte. Ich schwebte weiter, den sterilen Gang entlang hinter die Bühne. Ich wusste, dass ich mich ein bisschen beeilen musste, um meinen Kimono rechtzeitig anzuziehen und das ganze komplizierte Make up und die Frisur hinzubekommen, aber selbst dieser Gedanke erschreckte mich nicht mehr. Der erste Schritt war geschafft. Ich hatte meine Walkings Skills zeigen sollen, und ich hatte sie verdammt noch mal so was von gezeigt! Jetzt würde ich den Rest, auf den ich so viel mehr geprobt hatte, auch noch irgendwie hinbekommen. Ich trat in den großen Umkleideraum und zog als erstes meine Schuhe aus, obwohl ich mich auch an die Absätze inzwischen ganz gut gewöhnt hatte. Aber ich wollte schon mal ein Gefühl dafür bekommen, jetzt auf weniger hohen Schuhen laufen zu müssen. Immer noch ziemlich dümmlich grinsend trippelte ich in meine Umkleidekabine und stolperte dort beinahe über etwas, das am Boden lag. Als ich überrascht nach unten blickte, stellte ich fest, dass es der Schleier meines Cheerleaderkleides war. Die langen, transparenten Bänder lagen abgeschnitten und –gerissen in dem kleinen Raum verteilt, und auch der Rest des Kleides war übel zugerichtet. Die Schleifchen waren bis auf eine einzige alle abgerissen worden, und diese letzte hing in Fetzen herunter. Die Spitze war völlig zerschnitten, und in dem Stoff des ehemals so schönen Cheerleaderkostüms des Todes prangten mehrere große, unregelmäßig gezackte Löcher. Vermutlich habe ich nur deshalb nicht geschrien, weil mir jeder Laut im Hals stecken blieb. Von einer Sekunde auf die nächste hatte sich meine Begeisterung in blanken Horror verwandelt, und obwohl ich es ja immer noch eilig hatte, war ich vollkommen unfähig, mich auch nur um einen einzigen Millimeter zu bewegen. Nur in Ohnmacht zu fallen hätte ich vielleicht gerade noch hinbekommen. Ganz, ganz langsam begriff ich, dass ich mit diesem einen verdammten Foto von Barbie zwar etwas gewonnen, dass ich aber auch etwas ungleich Wichtigeres verloren hatte. Meinen Tanz. Mein Baby. Alles, wofür ich in den vergangenen Wochen bis zum Äußersten gekämpft und gelitten hatte, lag nun in Fetzen vor mir auf dem Boden. Kapitel 9: Part IX - The last High ---------------------------------- Kaum zu glauben, aber wahr: Hier ist der letzte Teil von PredElection! It's finally... over. Falls noch jemand auf das Ende gewartet hat, tadaa, hier werden hoffentlich alle Fragen beantwortet. ^^ Vielleicht sind Jesse, Tatsumi und co. ja dem einen oder anderen ein wenig ans Herz gewachsen. Wenn es jemanden interessiert, meine größten musikalischen Inspirationen für PredElection waren She will be loved von Maroon 5 und Everything you want von Vertical Horizon. So, und jetzt viel Spaß beim Lesen - und DANKE für alle Kommentare! Der Anblick des Schlachtfeldes in meiner Kabine hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt wie eine glühende Zigarette in die Haut. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich jedes Detail dieser alptraumhaften Szenerie vor mir, und ich glaube, dass ich dieses Bild und dieses Gefühl, als ob ich abstürzen würde, niemals vergessen werde. Manchmal verfolgt es mich in meinen Träumen, noch heute, obwohl doch eigentlich längst schon alles vorbei ist. Die Minuten, die danach kamen, sind dafür so verschwommen, als ob ich im Drogenrausch gewesen wäre. Ich weiß noch, dass ich aus der Kabine hinaus auf den Gang und dann wieder zurück in die Kabine gelaufen bin. Irgendwo auf halbem Wege habe ich wohl Mi-Cha aufgegabelt, aber daran erinnere ich mich nicht mehr so genau. Jedenfalls stand sie neben mir, als ich das nächste Mal die Verwüstung anstarrte, immer noch total unter Schock. Sie machte ein entsetztes Geräusch, ein Keuchen vermutlich, und das riss mich ein bisschen aus meiner Trance. „Verdammt“, fluchte sie mit einer Aufrichtigkeit in der Stimme, für die ich sie noch jetzt küssen könnte, „ich hätte sie niederschlagen sollen, als ich sie vorhin gesehen hab. Tut mir leid, Jessie, wirklich.“ „Nein, du… ich… sie…“ Ich brach ab, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen. Stattdessen presste ich meine Lippen fest aufeinander, als das Bedürfnis, in Tränen auszubrechen, beinahe übermächtig wurde. Das Einzige, was mich davon abhielt, war das Wissen, dass Barbie mich sehen würde, und diesen verdammten Triumph gönnte ich ihr einfach nicht. „Jessie, du musst zu den Veranstaltern gehen. Du musst denen das erzählen. Ich meine… damit darf diese Schl… schreckliche Frau nicht durchkommen!“ „Aber das kann ich nicht!“ Jetzt schluchzte ich doch noch, zwar nur einmal, aber dafür nicht gerade leise. Ich krallte meine perfekt manikürten Fingernägel in die Handinnenflächen und verfluchte mich dafür, dass ich sie so kurz geschnitten hatte, dass es gar nicht mehr richtig weh tat. Trotzdem lenkte es mich wenigstens ein kleines bisschen davon ab, dass ich gerade knapp vor dem Nervenzusammenbruch stand. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich wie verrückt am ganzen Körper zitterte. Und leider auch meine Stimme, als ich weitersprach: „Sie… sie hat was gegen mich in der Hand, okay? Wenn ich sie verrate, kann ich gleich mein Zeug packen und gehn. Aber ich sag’s dir, ich schlag jetzt dieser dummen kleinen Schlampe ihre abgefuckte Hurenvisage ein, bis sie sich wünscht, nie geboren worden zu sein!“ Ich sollte an dieser Stelle vielleicht anmerken, dass ich mich nicht unbedingt um einen leisen Tonfall bemühte – ich sah auch keinen Grund dazu, ganz im Gegenteil. Sollte Silikonbarbie ruhig meine Kampfansage hören, und ehrlich gesagt, die entgeisterten Blicke von so etwa siebenundneunzig Prozent meiner Konkurrentinnen gingen mir zielsicher am (entschuldigen Sie den Ausdruck) Arsch vorbei. Fehlte nur noch, dass sich mir vor Kampfeslust die Nackenhaare zu einem bedrohlichen Kamm aufrichteten, so wütend und, ja, gefährlich war ich. Immerhin einen Erfolg konnte ich schon in diesem Moment verzeichnen: Ich hatte es tatsächlich geschafft, dass all diese Modepüppchen ihre eifrigen Stylingbemühungen unterbrachen, und dass sich alle Augen zeitgleich auf mich richteten. Manche wirkten erschrocken, gar verängstigt, andere mussten sich ganz offensichtlich das Lachen mühsam verkneifen. Damals brachte mich das nur noch mehr in Rage, heute kann ich es ihnen nicht mehr verdenken. Da stapfte ich in meiner Abendrobe auf meine Todfeindin zu wie die letzte Ghetto-Bitch, breitbeinig und mit zornesrotem Gesicht. Eines kann ich Ihnen sagen – ich wäre unter Garantie bei denjenigen gewesen, die gelacht haben. Barbie hingegen lachte nicht. Fürchten tat sie sich leider genauso wenig, sie empfing mich vielmehr ganz ruhig und gelassen. Schon dafür hätte ich sie verprügeln können, und schon dafür hatte sie es mit Sicherheit verdient. Eines merkte ich jedenfalls ganz genau: Diese Frau spielte nicht nur das Unschuldslamm, sie fühlte sich auch so. Sie sah mir in die Augen und sie war sich keiner Schuld bewusst, weil sie in ihrer Welt einfach das Recht dazu hatte, eine Konkurrentin mit derart hinterfotzigen Mitteln aus dem Weg zu räumen. Umso mehr eine Konkurrentin wie mich, die in ihren Augen vollkommen wertlos war. „Ich bring dich um, du gottverdammte Schlampe“, begann ich, wenig diplomatisch, das Gespräch. „Ich zertrümmer dir deine Hackfresse, bis jedem aus der Jury bei deinem Anblick das Kotzen kommt!“ Oh mein Gott, bist du peinlich, antwortete Barbie mit einem bloßen Hochziehen ihrer rechten Augenbraue. Ein wütendes Schnauben bahnte sich den Weg durch meine Nasenlöcher, und dann schlug ich zu – mit der Faust auf den Tisch, fürs Erste. Die Schminktuben, Nagellackfläschchen und Lidschattendöschen machten einen kurzen, erschrockenen Hüpfer. „Was soll das?!“, keuchte die Blondine in offensichtlich gespieltem Entsetzen, unterbot diese schauspielerische Tiefstleistung aber gleich darauf mit einem Gesichtsausdruck, der wohl Verständnis darstellen sollte, dem die boshafte Schadenfreude aber überdeutlich anzusehen war. „Hey, ich weiß, wir sind alle nervös, aber komm mal wieder runter. Keine Ahnung, was der Auftritt hier soll, ich hab kein Problem mit dir, Drama-Queen, also reg dich nicht künstlich auf.“ „Du hast mein Kleid kaputt gemacht, du elendes Flittchen!“, zischte ich, die Hände immer noch zu Fäusten geballt. „Na sicher doch, Mrs. Verfolgungswahn“, flötete sie, begleitet von einer wegwerfenden Handbewegung. „Weißt du, im Gegensatz zu dir spiele ich fair und muss nicht versuchen, meine Konkurrentinnen fertig zu machen, nur um selbst zu gewinnen!“ Einen Moment lang dachte ich ernsthaft darüber nach, ob ich wirklich noch weitersprechen oder ihr einfach gleich die Nagelfeile in die Kehle rammen sollte. Da dies jedoch mit größter Wahrscheinlichkeit meinen Ausschluss vom Wettbewerb bedeutet hätte, ließ ich es bleiben. Stattdessen zog ich, zitternd vor Wut, meine große Trumpfkarte aus dem Ärmel. „Ich kann es beweisen, Schlampe! Jemand hat ein Bild von dir gemacht, deine Unschuldsnummer kauft dir kein Mensch mehr ab, Pech gehabt.“ „Tja, dann geh halt zur Jury und verpetz mich, Jesse Maguire. Ich kann gerne mitkommen und mich auch ein bisschen mit ihnen unterhalten, hm?“ Sie lächelte, ohne einen Funken Kälte in den Augen, so unschuldig, als ob sie mir gerade eine Liebeserklärung gemacht hätte. Dann sprach sie weiter, noch freundlicher als davor, und erst in dem Moment begriff ich, dass sie die letzten beiden Sätze deutlich leiser gesprochen hatte, nur für meine Ohren bestimmt. „Ich bin mir sicher, das ist ein Missverständnis und wird sich bald aufklären. Aber jetzt konzentrieren wir uns bitte wieder auf den Wettkampf, in Ordnung?“ In dem Moment war es um meine Selbstbeherrschung geschehen. Ich fühlte mich so hilflos und wütend wie selten zuvor – abgesehen davon, dass Barbies lipglosspinker Schmollmund und ihre exaltierte Weise, jedes einzelne Wort völlig übertrieben zu betonen, einfach so sehr zum Reinschlagen animierten. Und wenn ich hundertmal disqualifiziert werden würde, es interessierte mich nicht mehr. Der Blutrausch war stärker als jeder klare Gedanke, ließ mich einen Satz auf die Silikonkönigin zumachen, ausholen und mit voller Wucht zuschlagen. Leider (oder besser gesagt, zum Glück) traf meine Faust nicht ihr Ziel. Was sie aufhielt, war allerdings nicht meine Vernunft, sondern Mi Cha, mein rettender Engel. Todesmutig sprang sie in die Schusslinie, krallte sich förmlich in meinen Arm und riss mich mit dem Mut der Verzweiflung zurück. Ein erschrockenes Raunen ging durch die Menge, und im selben Moment wurde mir schwindlig. Später, das versichere ich Ihnen, habe ich mich überschwänglich bei Mi Cha für ihren engagierten Körpereinsatz bedankt, doch erst einmal konnte ich nur auf dem Absatz kehrt machen und zurück in meine verwüstete Kabine stürzen. Dort schlug ich mehrmals fest gegen die Wand, schnappte nach Luft und sank dann reglos in mich zusammen. In diesen schrecklichen Sekunden war ich so verzweifelt, dass ich keine Hoffnung mehr für mich sah. Meine Motivation lag tot am Boden, und ich verdankte es wiederum nur der tatkräftigen Unterstützung meiner neu gewonnen Mitstreiterin, dass ich es überhaupt noch schaffte, mich in meinen sündteuren Kimono zu quälen. Sie half mir beim Anziehen, Schminken und Haare hochstecken, und was noch wichtiger war: Sie lenkte meine Gedanken von blanker Mordlust wieder etwas mehr zur eigentlichen Aufgabe. Ehrlich, es erscheint mir im Nachhinein unglaublich, dass schon wieder ein Mensch aus dem Nichts aufgetaucht war, um mich zu retten. Keine Ahnung, ob man’s Schicksal nennen kann. Das ist so ein schrecklich esoterisches Wort, aber andererseits, wie viele unglaubliche Zufälle können wirklich noch Zufall sein? Vermutlich werde ich niemals eine Antwort auf diese Frage bekommen, und eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Dieser Zauber des Unerklärlichen, der meine ganz persönliche Geschichte umgibt, bestärkt mich manchmal, wenn ich mich frage, ob ich tatsächlich das Richtige getan habe. Erst mal stand ich aber da, ganz verloren in all den kostbaren Stoffen, und fühlte mich so gar nicht zauberhaft. Bei der Vorstellung, jetzt vor Jury und Publikum treten zu müssen, packte mich das kalte Grausen. Und doch – ich tat es. Wie in Trance ließ ich mich hinter die Bühne bringen, hörte, wie mein Name angesagt wurde und die ersten Klänge meiner Musik durch die Halle schallten. Ich hatte mich für ein traditionelles japanisches Stück entschieden, das mehr aus Geräuschen als aus Tönen bestand. Es war auf eine fremdartige Weise schön, genauso, wie mein Freestyle-Walk eigentlich auch hätte sein sollen. Ob er es war, keine Ahnung, ich war geistig vollkommen abwesend, während mein Körper in oft trainierter Weise über den Catwalk schwebte. Ich hatte gehofft, dass die Routine meine Verzweiflung vertreiben würde, doch sie tat es nicht. Mir war, als ob ich unter meinen engen, wunderschön gemusterten Obi kaum mehr atmen könnte. Wissen Sie, ich wollte mich ja zusammenreißen, aber ich konnte es nicht. Mir wuchs alles über den Kopf, und ohne dass ich es hätte verhindern können, merkte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich versuchte, sie unauffällig wegzublinzeln, erreichte aber nur, dass mir quälend langsam zwei dicke Tropfen über die Wangen liefen und mein Make-up ruinierten. Jetzt ist alles aus, dachte ich nur, auf eine seltsam distanzierte, sachliche Weise. Ich wusste einfach, dass der Wettbewerb für mich nun endgültig gelaufen war, und irgendwie war es absurderweise auch eine Erleichterung. Ich meine, ich hatte bis zum Umfallen trainiert, aber mit der Zerstörung meines Kleides war der große Auftritt so oder so ruiniert gewesen. Jetzt musste ich mir wenigstens keine Gedanken mehr machen, ob die Situation doch noch irgendwie zu retten war. Nennen Sie’s feige, aber nach diesem Tiefschlag war ich einfach müde geworden, noch weiter zu kämpfen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass das Publikum wenige Sekunden später zu klatschen beginnen würde. Auch nicht, dass ich auf den Gesichtern der Juroren nicht herablassendes Mitleid, sondern eine merkwürdige Art der Faszination erkennen sollte. Als ich so vor ihnen stand und wie ein Schlafwandler posierte, die mit Blumen verzierten Silbernadeln in meinen kunstvoll hochgesteckten Haaren leise klimpernd, die tiefroten Lippen fest aufeinander gepresst, die Wangen nicht nur von der hellen Schminke bleich wie Schnee, da sah ich, wie einer von ihnen anerkennend nickte. Anerkennend? Ich konnte es nicht glauben, blinzelte einige Male mit meinen tiefschwarz umrandeten Augen, und doch: Der Traum löste sich nicht auf, er wurde sogar noch absurder! „Sehr ausdrucksstark“, murmelte eine Frau undefinierbaren Alters, die aussah, als ob jeder Millimeter ihres Gesichtes schon mindestens einmal vom Schönheitschirurgen bearbeitet worden wäre. Es war schwer zu sagen, ob ihre Stirn so unglaublich glatt war, weil sie mehrere Liter Botox intus hatte, oder ob die Haut vielmehr von den unglaublich streng zurückfrisierten Haaren unbarmherzig gestrafft wurde. Doch trotz ihrer völligen Unfähigkeit, mit dem Gesicht noch irgendwelche Gefühle auszudrücken, erschien mir ihre Mimik im weitesten Sinne positiv. Jetzt war ich, vorsichtig ausgedrückt, verwirrt. Da stand ich auf dem Catwalk, oder stand eigentlich eher neben mir, und versaute mir die wichtigste Mission meines Lebens, weil ich mich verdammt nochmal schon wieder nicht unter Kontrolle hatte. Und was passierte? Den Zuschauern gefiel’s! Das war so absurd, dass ich mich mit einem Mal beherrschen musste, nicht laut zu lachen. Finden Sie nicht auch, dass das Leben manchmal einen wirklich abartigen Sinn für Humor hat? Jedenfalls war ich wie bekifft, als ich vom Laufsteg wieder runterkam und mit meinen hohen hölzernen Geta hinter die Kulissen stöckelte. Ich fühlte mich wie im freien Fall, so durcheinander war ich – und so ratlos. Als ich im Backstage-Bereich angekommen war, setzte ich mich erst mal einfach nur in das Chaos, das einmal meine Umkleidekabine gewesen war, zog Tatsumis Kimono aus und drückte den schimmernd türkisblauen Stoff fest an mich. Plötzlich wünschte ich mir so sehr, ihn bei mir zu haben, dass es schmerzte wie ein Messer in der Brust. Trotz der Ernsthaftigkeit der Aufgabe war mit ihm alles viel einfacher gewesen. Es war ein furchtbar nostalgischer Moment, ich meine, die ganze Sache war unser gemeinsames Projekt gewesen, und das wollte ich so gerne wiederhaben. Es hätte die Katastrophe erträglicher gemacht für mich. Ich bekam fast einen Herzinfarkt, als ich plötzlich eine mir fremde Stimme hörte. Fremd? Nein, nicht ganz – es war meine persönliche Assistentin, die mich in der ersten Runde schon auf Vordermann gebracht hatte. Das Styling für unseren Freestyle-Walk hatten wir alleine bewältigen müssen (das Ding hieß ja nicht umsonst Freestyle!), aber in Runde Drei, die ja eigentlich noch viel freier war als so ein bisschen Laufen im selbst ausgedachten Kostümchen, ließen sich die Veranstalter dann seltsamerweise wieder dazu herab, uns in Form ihrer freundlichen Schminksklaven zur Hand zu gehen. Im Moment war ich von dieser Unterstützung allerdings wenig begeistert, da ich keine Ahnung hatte, wie ich Mrs. Lockenkopf das Stoffmassaker in meiner Kabine hätte erklären sollen. „Alles in Ordnung?“, fragte mein Personal Coach noch einmal, und diesmal verstand ich sie sogar. „Eh… ja. Sofort. Ich komme gleich!“, stammelte ich, legte mit einer vorsichtigen Bewegung den Kimono in seine Schachtel und nahm dann meinen ganzen Mut zusammen. Ruckartig zog ich den Vorhang zur Seite, grinste schief und deutete auf das zerfetzte Cheerleaderkleidchen. „Ich… also… ich fürchte, ich habe da ein kleines Problem. Als ich vorher zurückgekommen bin, da war das hier so, ich… ich weiß nicht, wer… ich meine…“ „Das gibt’s ja nicht“, fiel mir die Rothaarige ins gestammelte Wort, wobei ihr Blick überdeutlich sagte, dass sie mir keinen einzigen Ton glaubte. „Ich hab schon Gerüchte gehört, dass es vorher hinter der Bühne wegen einem angeblich kaputten Kleid fast zu einer Schlägerei gekommen wäre, aber ich hätte nicht gedacht, dass es ausgerechnet dein Kleid gewesen ist… und dass es wirklich kaputt ist. Also, sowas von kaputt!“ Sie strich sich energisch eine ihrer feuerroten, gekringelten Haarsträhnen aus der Stirn, und irgendetwas an ihrem Gesichtsausdruck machte mir ein bisschen Angst. „Ich will echt keinen Ärger machen“, lenkte ich hastig ein. „Ich meine… ich… ich kann ja nicht beweisen, wer das getan hat“ – Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer mir diese Lüge fiel, und wie sehr mir jedes Wort in der Seele wehtat, aber ich wollte mir nicht schon wieder eine Erklärung aus den Fingern saugen müssen, warum ich Barbie trotz des sehr wohl vorhandenen Beweises nicht melden konnte – „und ich will auch nicht anders bewertet werden als die anderen oder so, wenn die Jury das erfährt. So von wegen Mitleidsnummer. Oder am Ende werfen sie mich noch raus, wenn ich ihnen sage, dass ich kein Kleid mehr hab und nicht auftreten kann! Ich… ich muss nur… irgendwie…“ Ja, was musste ich eigentlich? Etwas retten, das nicht mehr zu retten war? Ich hatte keine Ahnung wie es weitergehen sollte, und wären mir die lustige Lady mit dem Lockenkopf und Mi Cha nicht zur Seite gestanden, wäre ich vermutlich bis ans Ende meiner Tage hilflos und verzweifelt in der verwüsteten Kabine gesessen. Die beiden ersetzten mir meinen in Schockstarre gefallenen Kampfgeist, dabei musste sich meine koreanische Verbündete doch selbst noch auf ihren Auftritt vorbereiten! Aber verrückterweise hatte ich den Eindruck, dass sie jetzt viel weniger nervös war als zuvor – erfüllt von Tatkraft, nicht mehr von Panik, mutig und zu allem entschlossen. Ich bewunderte sie dafür und ich ließ mich dankbar von ihrer Motivation anstecken. „Das bekommen wir hin!“, verkündete auch meine Stylistin, ohne jeden Zweifel in der Stimme. „Ich hol uns ein paar Sicherheitsnadeln und Haarnadeln, und dann, meine Liebe, wird gezaubert.“ Also, Zaubern war definitiv eine ziemlich gute Umschreibung für das, was Madame Rotschopf in den folgenden Minuten mit mir und meiner Kleiderleiche anstellte. Nachdem ich mich in das gequält hatte, was von meinem Cheerleaderdress noch übrig geblieben war, wurde mit sämtlichen Einzelteilen wild improvisiert. Die abgeschnittenen Schleier wurden um mich herumgewickelt, um die Schnitte im Stoff zu verdecken. Längere Teile wurden als improvisierte Mini-Schleierchen an meine Arme gebunden. Einige Schleifchen, die das Abreißen einigermaßen heil überstanden hatten, wurden mit Sicherheitsnadeln wieder an passenden Stellen befestigt. Das Endergebnis war, ehrlich gesagt, wenig berauschend – kein Vergleich zum ursprünglichen Zustand. Gut, immerhin sah ich wieder so halbwegs angezogen aus, ein bisschen wie die Billigversion des eigentlichen Outfits, doch das war natürlich besser als gar nichts. Das Wichtigste aber war, dass ich meinen Mut zurückgewonnen hatte, und vor allem meinen trotzigen Stolz. Barbie sollte schon sehen, dass sie mich mit ihrer lächerlichen kleinen Sabotageaktion nicht kleinkriegen würde. Der Anblick des zusammengeflickten Kleides, das einmal ein so vollkommenes Kunstwerk gewesen war, machte mich auf eine beflügelnde Weise wütend. Ich wusste, ich durfte mir von dieser Wut nicht den Kopf vernebeln lassen, ich musste sie für mich nutzen, und in dem merkwürdigen Moment vor dem Spiegel glaubte ich fest daran, dass ich das schaffen würde. Dieser Anflug einer Hochstimmung schlug extrem brutal ins genaue Gegenteil um, als wir uns nach mehr oder weniger erfolgreichem Styling wieder hinter der Bühne versammelten und ich die perfekten Kleider der anderen Mädchen bewundern durfte. Von Cheerleadern über bunt glitzernde Cowgirls bis hin zu einem wild geschminkten Rollschuhmädchen war alles vertreten, und jede einzelne war durchgestylt von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln. Auch Mi Cha war fast beängstigend schön. Sie trug koreanische Tracht mit einem sehr weiten, unter der Brust angesetzten Rock in leuchtendem Rot und einem weißen, kimonoähnlichen Oberteil mit bunt verziertem Kragen und tiefblauen, schön gemusterten Ärmeln. Auf der Brust saß eine große dunkelrote Schleife, deren eines Ende lang, fast bis auf den Boden hinabhing. Ihr schwarzes Haar war schön geflochten und mit Blumen geschmückt. Sie wollte einen traditionellen Tanz vorführen, und ich bedauerte wirklich, dass ich ihn nicht sehen konnte, da Mi Cha nach mir auftreten würde, wenn ich schon wieder hinter der Bühne sitzen und zittern musste. Der absolute Hammer aber war Barbie. Oh mein Gott war vermutlich in jeder Hinsicht der perfekte Satz, um ihr Erscheinungsbild zu beschreiben, denn Mrs. Silikon trug ein bodenlanges, schneeweißes, mit glitzernden hellrosa Sternchen verziertes Kleid. Der Abschuss waren jedoch die zwei Engelsflügel, die auf ihrem Rücken befestigt waren. Ihre wasserstoffblonde Haarpracht fiel ihr in entzückenden Ringellöckchen über die Schultern und war ebenfalls mit Glitzerkram geschmückt. Mit ihren silbrig weiß geschminkten Lippen und den glitzerrosa umrahmten, mit Strasssteinchen verzierten Augen sah sie in der Tat wie ein Himmelswesen aus, allerdings mehr wie ein Alien als wie ein Engel. Ich musste mir größte Mühe geben, mich bei diesem Anblick nicht vor versammelter Mannschaft zu übergeben. Das Beste war, Barbie stand nur zwei Plätze vor mir, ich hatte ihr Flügelwerk also quasi direkt im Gesicht. Großartiges Gefühl. Damit hatte ich für meinen Auftritt schon mal den heiligen Segen der Schönheitsindustrie. Wissen Sie, unter anderen Umständen hätte ich mich über diese peinliche Aufmachung totgelacht – ein wandelndes Silikonimplantat im Engelskostüm, bitte, stellen Sie sich das doch mal vor! Ich jedoch war viel zu aufgeregt, um an sowas wie Lachen auch nur zu denken. Es ist mir unmöglich, zu beschreiben, wie nervös ich in diesem Augenblick war. Selbst wenn ich noch ein ganzes Jahr am Laptop sitzen würde, es gibt einfach keine Worte für das, was ich während der Wartezeit im sterilen Gang hinter der glamourösen Bühne durchgemacht habe. Ich war so verloren mit meinem notdürftig zusammengeflickten schwarz-roten Kleid und dem schmucklosen Barhocker in der Hand. Soviel zum Thema Kampfgeist! In diesem Moment wollte ich einfach nur noch wegrennen. Ich ahnte ja nicht, dass mir der schlimmste Augenblick erst noch bevorstand. Vielleicht können Sie sich’s schon denken, falls nicht: Es war Barbies Performance, die alles andere an Schrecklichkeit übertraf. Ich konnte sie von meinem Warteplatz aus unangenehm gut beobachten – besser, als mir lieb war –, und sie war grässlicher als alles, was ich mir jemals in meinen grauenvollsten Alpträumen hätte ausmalen können. Für sich allein gesehen, und weil sie mich außerdem begreifen ließ, wie unglaublich fehl am Platz ich mit meiner Tanzeinlage doch war. Mit ihrem Vortrag, daran zweifelte ich keine Sekunde lang, hatte Barbie den Wettbewerb gewonnen. „Tolles Outfit!“, raunte sie mir noch zu, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem Auftritt machte, ein gezielter, schmerzhafter Schlag in mein ohnehin schon angeknackstes Ego. Als ob es ein Kommando gewesen wäre, ging genau in diesem Moment das Licht im Saal aus. Barbie trippelte, etwas beschwert von der Last ihrer Engelsschwingen, in die Mitte der Bühne. Ein einzelner Spot flammte auf und hüllte die himmlische Erscheinung in gleißendes Licht. Ihre Hände hielt sie züchtig vor der operierten Brust gefaltet. „Hier ist unsere nächste Teilnehmerin, Trish Hedger, und sie singt uns ein Lied, das sie selbst geschrieben hat!“, verkündete eine Lautsprecherstimme, und mir fiel spontan die Kinnlade runter. Barbie sang?! Ich wollte es nicht glauben, doch tatsächlich begann die Silikonblondine mit unvergleichlich kitschiger, musicalmäßiger Stimme zu trällern, jedes Wort begleitet von einer untermalenden Geste: I love my Dad, I love my Bro I like my teacher, too But there’s one man, that I love most I’m gonna tell you who… Eine kurze Pause in der Musik, im Gesang, bevor es dann richtig losging. Barbie drehte sich mitsamt ihrer Flügel einmal um die eigenen Achse, öffnete die Arme, als ob sie das ganze Publikum in selbige schließen wollte, und dann sang sie, den Blick verklärt gen Himmel gerichtet: I’m in love with Jesus And he’s in love with you I only think of Jesus No matter what I do In summer, in spring If I’m near or far I’m in love with Jesus Like he loves America Aber das ist nicht fair!, wollte ich am liebsten schreien. Das ist Betrug, das ist Manipulation, das… Das war ein verdammt kluger Schachzug. Keine halbwegs vernünftige Jury eines solchen Wettbewerbes konnte es verantworten, ein High School-Mädchen nicht gewinnen zu lassen, das von ihrer Liebe zu Jesus und von Jesus‘ Liebe zu Amerika sang! Dies hier war also das offizielle Ende meines Traumes. Die Nummer mit dem zerschnittenen Kleid hätte sich Barbie bei dieser Performance eigentlich auch sparen können. Der Auftritt direkt vor mir war vergleichsweise belanglos – Stepptanz, ich hab ehrlich gesagt kaum was davon mitbekommen –, und dann, noch bevor ich es geschafft hatte, dieses Jesus-Liedchen wieder aus meinen Gehirnwindungen zu vertreiben (I’m in love with Jesus, and God bless America!, hatte die Schlussstrophe gelautet), war ich an der Reihe. Können Sie sich das vorstellen? Ich hatte so lange auf diesen Tag hingearbeitet, trainiert, gebangt, gezittert und gelitten. Sie sehen ja selbst, durch wie viele Zeilen Sie sich schon quälen mussten. Aber in diesem Moment hatte ich trotzdem das Gefühl, dass alles viel zu schnell gegangen war. Ihnen geht’s da vermutlich ganz anders, und Sie zählen mit Sicherheit schon die Seiten, bis Sie’s endlich hinter sich haben. Ich hingegen wünschte mir nichts mehr, als einfach noch ein, zwei Wochen länger Zeit zu bekommen, auch wenn’s natürlich vollkommen sinnlos gewesen wäre. Doch die aufgesetzt euphorische Ansager-Stimme kannte sowieso keine Gnade mit mir: „Und jetzt Bühne frei für unsere nächste Kandidatin, Jessica Maguire, mit einer Tanznummer!“ Tanznummer? So konnte man es auch nennen. Vorerst fühlte es sich jedenfalls eher an wie ein Trauerspiel, als ich mit zittrigen Knien, in meinen Flickenteppich gehüllt, ins Scheinwerferlicht stöckelte. Über meine Haut liefen pausenlos Schauer, als ob mich jemand nebenbei mit Elektroschocks foltern würde. Ich konnte in diesem Zustand nicht auftreten, das war ganz ausgeschlossen, aber ich spürte, wie hunderte von Augenpaaren aus dem Publikum mich fixierten und genau das von mir erwarteten. Wie in Trance stellte ich meinen hässlichen schwarzen Barhocker exakt in der Mitte der glanzvollen Stage ab (irrte ich mich, oder starrte mich die Jury tatsächlich halb entsetzt, halb verächtlich an? Ich konnte es dank der Scheinwerfer nicht genau erkennen) und setzte mich, den Rücken zum Publikum gewandt, auf die Lederfläche. Dann wurde es dunkel. Ein letzter Atemzug, und es ging los. Mit dem ersten Beat meiner Hintergrundmusik flammte ein einzelner, gleißend heller Spot auf. Schwungvoll drehte ich mich samt Sitzfläche um, drückte mich in die Höhe und blickte verführerisch in die graue Masse der Zuschauer. Ich legte eine Hand auf den Hocker, stolzierte einmal um diesen herum, bereitete mich innerlich auf den ersten kritischen Moment vor. Muskeln in Armen und Beinen anspannen, so fest ich konnte, dabei weiterhin umwerfend lächeln – dann drückte ich mich vom Boden ab und ging in einen Handstand auf dem Sitz, der sich weiterhin drehte und mich in eine kopfstehende Spieluhrballerina verwandelte. Nicht nach unten sehen, befahl ich mir ein ums andere Mal, nicht nach unten sehen und bloß nicht dem Schmerz in den Armen nachgeben, der dir sagt, die überanstrengten Muskeln locker zu lassen. Glücklicherweise hatte das harte Training meinem Körper ungeahnte Kräfte verliehen, und so hielt ich durch, ließ meine Beine langsam, bis in die Zehenspitzen gestreckt wieder zu Boden sinken. Es blieb allerdings keine Zeit zum Durchatmen, denn nach einem kurzen Hüftschwung nahm ich wieder Platz. Lehnte mich zurück und schlug erst das linke Bein über das rechte, dann umgekehrt – wie ein Showgirl. Sollte doch die ganze Jury vor Entsetzen einen Herzinfarkt bekommen! Das ließ mich nur umso anzüglicher Lächeln. Trotzige Angriffslust erwachte in mir, während ich mich auf der Bühne bewegte. Also gut, Barbie war ein Engel, der Jesus und das Vaterland liebte, schön für sie. Dann war ich eben das Teufelchen… ihr gefallenes Gegenstück. Sieben Todsünden zum Preis von einer. Und es ging ohne Pause weiter mit der Show, denn schon war ich mit einem Satz wieder auf den Beinen, griff zwischen selbige und umfasste den schlanken Fuß des Hockers, um ihn ein Stück weit nach vorne zu ziehen. Ich beugte mich vor, suchte Halt mit der Schulter, und drückte wieder meine Beine nach oben, das eine angewinkelt, das andere ausgestreckt. Im Absprung gab ich dem Barhocker erneut Schwung, drehte mich in einer schnellen Pirouette. Die Stoffbahnen formten keine so schöne Figur, wie das eigentlich der Fall hätte sein sollen, aber sie tanzten doch tapfer mit mir, umspielten mich in halbtransparenten Schleiern. Angespornt von ihrem Mut legte ich mich gleich noch mehr ins Zeug und kam, jeden Muskel in meinem Körper angespannt, elegant wieder zu Boden. Ich versetzte der Sitzfläche einen weiteren kräftigen Stoß – und riss sie dann mit einer raschen Bewegung vom Stuhlbein herunter. Ging da ein kurzes Raunen durch die Menge? Die Musik tönte so laut, dass ich mir nicht sicher sein konnte, und meine Konzentration galt ohnehin dem Tanz. Langsam hob ich das Polster über meinen Kopf, ließ es direkt vor mein Gesicht sinken. Blickte auf beiden Seiten daran vorbei, vollführte eine schnelle Drehung, und schließlich zog ich die Lederhülle weg. Zwischen dem polsternden Bezug und der stützenden Sitzfläche aus Kunststoff waren nämlich zwei halbrunde, fächerförmige Plastikplatten versteckt. Es war der erste große Überraschungseffekt in meiner Show – eben noch stand ich da mit diesem hässlichen, plumpen Sitz in den Händen, im nächsten Moment zauberte ich daraus zwei hauchdünne schwarze Plastikfächer hervor. Den überflüssigen Ballast ließ ich unauffällig fallen, dann überkreuzte ich die Arme, hob die Fächer mit kunstvollen Schwüngen vor mein Gesicht, drehte sie, beschrieb Kreise und Achten, während ich die Hände vom Körper wegführte. Es war ein langsames Innehalten in meiner sonst so kraftvollen, schnellen Performance. Ich bewegte mich über die Bühne wie eine Tempeltänzerin, geschmeidig und geheimnisvoll, meine Fächer mal mir folgend, mal mich verdeckend, mal nach ihrem ganz eigenen Willen tanzend. Schließlich kehrte ich mit einer mehrfachen Drehung in die Mitte der Spiegel-Stage zurück, streckte die Arme nach beiden Seiten hin aus und ließ die Fächer zu Boden sinken. Unmerklich stieß ich die Luft zwischen den Zähnen hervor. Den mit Abstand schwierigsten Teil der Choreographie hatte ich jetzt vor mir – den Teil, bei dem jede falsche Bewegung alles ruinieren konnte, der nicht nur höllisch anstrengend und gefährlich war, sondern auch allerhöchste Konzentration erforderte. Kurz mischte sich in die Routine doch wieder ein Anflug von Aufregung. Ich spürte, wie mir die Handflächen ganz nass wurden, und das war eine Katastrophe. Verdammt, ich musste mich zusammenreißen, wenn ich nicht noch alles ruinieren wollte! Ich lenkte meine Gedanken voll und ganz auf das Einzige, das in diesem Augenblick zählte: Die Überreste des Stuhles, der massive Sockel und das umso schlankere Bein. Dieses stand nun im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ich strich behutsam mit den Fingerspitzen darüber, drehte es dabei ein wenig, um es zu lockern. Mit einer Hand hielt ich es fest, ging um den enthaupteten Hocker herum, drückte mich dann kraftvoll vom Boden ab und drehte mich auf der Stange im Kreis, mit durchgestreckten Armen abgestützt, die Beine gespreizt wie eine Ballerina im Sprung. Ich hatte kaum Halt, es tat höllisch weh in den Handinnenflächen, und sie können sich vielleicht vorstellen, was alles hätte passieren können, wenn mir die Kraft versagt hätte und ich auf diese Stange gefallen wäre. Ein hässliches Zittern jagte mir von den Handgelenken bis zu den Schulterblättern, gefolgt von einem noch hässlicheren Ziehen. Ich biss die Zähne zusammen, versuchte, mir das nicht im Gesicht anmerken zu lassen – weiterlächeln, nur immer weiterlächeln. Im Geiste zählte ich die Sekunden, die mir wie Jahrzehnte vorkamen, doch dann war die Drehung vorbei und ich landete sicher wieder auf dem Boden. Die Anstrengung ließ mir einen Moment lang übel werden. Ich gab dem aber nicht nach, sondern kämpfte mich tapfer durch den Auftritt. Ein weiteres mal drehte ich das lange, schwarze Stuhlbein, bis ich spürte, dass es locker genug war. Eine einzige Bewegung, und dann, mit Schwung, zog ich es aus der Halterung und hielt es wie einen Stab vor mich. Ich begann, diesen in den Fingern zu wirbeln – Gott, meine Hände waren immer noch ganz verschwitzt, ich stand Todesängste aus. Im Geiste sah ich schon, wie mir das verdammte Ding entglitt und eines der Jurymitglieder pfählte. Trotzdem drehte ich es so schnell, als ob ich das Publikum damit hypnotisieren wollte – erst vor mir, dann zur rechten und zur linken Seite, dabei marschierte ich auf der Stelle, als ob ich eine Orchesterparade anführen würde. Danach riss ich den Stab über meinen Kopf, tanzte über die Bühne wie eine elegante Kämpferin, die in leichtfüßigem Wettstreit einen unsichtbaren Gegner bezwang. Ein Ruck, und ich stellte den Stab auf den Boden, ließ die Hüften kreisen und verwandelte mich von der Kriegerin in eine Showtänzerin. Schließlich riss ich den Stab wieder hoch, drehte ihn erneut mit Hochgeschwindigkeit und ging diesmal sogar wirklich vorwärts, direkt auf die Jury zu. Mein Kopf war hoch erhoben, mein Blick zu allem entschlossen, mein Körper gestrafft und aufrecht. In diesem Moment fühlte ich mich plötzlich so stark wie selten zuvor. Das gab mir Kraft für den letzten Akt – den wirbelnden Stab vor mich halten, meine Konzentration sammeln… es ging um alles oder nichts. Kräftig warf ich den Stock in die Luft, drehte mich einmal, und dann kam die Sekunde, in der ich meinen schwarzen Tanzpartner hinter dem Rücken wieder auffangen sollte. Doch meine Hände waren glatt, der Stock in voller Fahrt, und ich spürte, dass er meinen Fingern entglitt. Mein Herz setzte ungelogen mehrere Schläge lang aus. Ich wusste, dass ich jeden Moment sterben würde, wenn es mir jetzt nicht gelang, dieses verdammte Stück Leichtmetall zu fassen zu bekommen. Ich krallte meine Finger um den Stab und in meine Handfläche, und dann riss ich, ohne Rücksicht auf Verluste, den Arm samt Stuhlbein zur Seite weg, genau in dem Moment, in dem der letzte Ton meiner Musik durch die Lautsprecher hallte. So stand ich da, die Arme ausgebreitet, völlig außer Atem und mit einem Herzschlag, der lauter und heftiger hämmerte als ein Schlagbohrer. Mir wurde schwindlig, aber ich blieb stehen, vollkommen reglos. Und dann kam der Applaus. Eine Woge von Applaus, die mich fast umhaute, im wahrsten Sinne des Wortes. Ehrlich, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich meine Sachen zusammengepackt und hinter die Bühne geschafft habe. Plötzlich war ich wieder in meiner Kabine – stellte fest, dass ich ein Schleifchen verloren hatte und hoffte, dass keine nachfolgende Konkurrentin darüber stolpern und sich den Hals brechen würde. Gut, es wäre eine Rivalin weniger gewesen, aber ich wollte ja nicht, dass man mir am Ende noch einen Mord anhängen würde. Ich wusste nicht, wie ich auf der Bühne ausgesehen hatte, aber es hatte sich gut angefühlt. Keine größeren Patzer, verdammt nochmal, ich hatte sogar den Stock gefangen! Die Drehungen hatten funktioniert, mir hatten nicht die Arme nachgegeben, ich hatte mich weder vor den Augen des Publikums aufgespießt noch mit irgendeinem Utensil niedergeschlagen. Das war immerhin ein erster Erfolg. Ich hatte anders ausgesehen, als es hätte sein sollen, aber das wusste außer mir (und Barbie) ja niemand. Was den Rest des Auftritts anging, hatte sich das harte Training wirklich gelohnt. Wenigstens ein Trost, das wusste ich jetzt, würde mir bleiben, egal, wie die ganze Sache ausging: Ich hatte mein Bestes gegeben – der Rest lag in den Händen der Jury. Der letzte Gang vor genau diese Jury fühlte sich allerdings eher an wie ein Gang zum Schlachter. Wir wurden wieder in die Abendkleider gesteckt, die man für uns ausgesucht hatte. Offenbar traute uns das Lucky Karma-Team nicht zu, einen besseren Kleidergeschmack zu haben als sie, oder vielleicht wollten sie auch einfach nur ein möglichst glamouröses Bühnenbild haben. Für mich war das die Hölle, weil in diesen verdammten Roben leider wirklich jede von uns so unglaublich gut aussah. Jede? Ah, nein, es gab natürlich eine Ausnahme, und das war Mrs. Silikon. Die sah auch im edlen Glitzerkleid noch aus wie frisch vom Straßenstrich, strahlte dabei aber schon wie eine Gewinnerin. Ich hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht! Vielleicht wäre das ja auch eine Performance gewesen, die der Jury richtig gut gefallen hätte. Wahrscheinlich hätte mich die Sache aber eher direkt in den Knast gebracht, also ließ ich es, bedauerlicherweise, doch lieber bleiben. Wie zur Belohnung für so viel Disziplin betrat eine alte Bekannte die Bühne. Melinda Farley in ihrem leuchtend roten Kleid, das greller strahlte als jede Signalrakete. Mit dem blendenden Grinsen einer Homeshopping-Verkäuferin winkte sie, selbst ganz Beauty Queen, ins artig applaudierende Publikum. „Ist hier vielleicht irgendjemand gespannt, ob wir eine Gewinnerin haben?“, flötete sie völlig überflüssigerweise – nein, die Zuschauer interessierte es natürlich nicht, wer diesen verdammten Wettbewerb gewinnen würde, die hatten sich nur zum Spaß stundenlang in dieser blöden, kitschigen Halle den Hintern plattgesessen. Ja, ich gebe zu, ich war ungeduldig, und ja, das dümmliche Gerede und das debile Grinsen von Lady Föhnfrisur machten mich aggressiv. Oder war es doch eher Barbies unschuldiger Augenaufschlag? Im Endeffekt tat ich wohl beiden Unrecht. Ich war einfach nervös bis zum Abwinken, und irgendwie machte ich plötzlich jedes Mädchen dafür verantwortlich, dass sie allesamt gar nicht begreifen konnten, was dieser Sieg für mich bedeutete, wie sehr ich ihn brauchte. Mi Cha bildete da die einzige rühmliche Ausnahme, für ihre Gegenwart war ich wirklich dankbar. Ich hätte gerne ihre Hand genommen, doch das ging natürlich nicht. Man musste ja stark sein, Haltung bewahren, schön das Lächeln auf dem Gesicht festtackern. Ich hielt mich tapfer aufrecht, auch wenn mir schwindlig war, als ob ich zehn Vodkaflaschen auf ex geleert hätte. „Aber zuerst ein glitzernd glamouröses Dankeschön an unsere fantastische Jury!“ Ja, sie sagte es genau so, mit exakt diesen Worten: glitzernd glamourös. Ich presste die Lippen aufeinander, um nicht hysterisch aufzulachen. Allerdings schien auch Melinda dieser Dank nicht allzu viel wert zu sein, denn sie ließ das Publikum nicht mal fertig applaudieren. Offenbar hatte sie es eilig, mit der Show durchzukommen, denn schnell, mit festgefrorenem Lächeln, zückte sie drei Umschläge. Gold, Silber und Bronze, damit es auch der letzte Depp im Publikum kapierte, worum es dabei ging. Die Frau mit den knallroten Lippen fand diese Aufgabe wohl nicht ganz so einfach – es war deutlich zu sehen, wie sie einen Moment lang zögerte und überlegte, welches nun der goldene und welches der bronzene Umschlag war. Glücklicherweise wendete sie einen möglichen Skandal aber gerade noch ab, öffnete den richtigen Umschlag für Platz drei und zog in schlecht gespieltem Erstaunen die dünn gezupften Augenbrauen hoch. „Wow!“, gab sie in einem unbeschreiblich übertriebenen Tonfall von sich, „wir haben einen dritten Platz! Dieses Mädchen gewinnt einen randvoll gefüllten Kosmetikkoffer von Lucky Karma, mit unserer gesamten neuen Produktserie!“ Spontan rutschte mir das Herz in allertiefste Körperregionen. Ein Kosmetikkoffer? Na, damit wäre Mum ja ganz toll geholfen! Und ich meine, von all diesem Schönheiten den dritten Platz zu machen, das war schon mal nicht schlecht, ganz und gar nicht. Es war eine ziemliche Leistung, und in diesem grässlichen Moment war ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt das geschafft hatte. „Und unsere Drittplatzierte ist…“ Pause. Trommelwirbel vom Band. Und dann, begleitet von einem Tusch und einem Scheinwerferwirbel, die Stimme unserer ganz privaten Glücksfee: „Alisha McAllister!“ Ein unterdrückter Freudenlaut ertönte, und ein zierliches Mädchen mit brünettem Pagenkopf machte, die Hände vor den Mund geschlagen, einen Schritt nach vorne. Die Kleine schien sich über ihren Platz zu freuen, jedenfalls strahlte sie über das ganze Gesicht, als sie von einem älteren Herren mit solariumtiefbrauner Knitterhaut eine Schärpe umgehängt und einen Blumenstrauß in die Hand gedrückt bekam. Sie wirkte ein bisschen wie eine arabische Prinzessin mit ihrem blaugoldenen Kleid, wirklich sehr hübsch. Wenn diese Schönheit nur den dritten Platz belegte, wer sollte denn dann noch vor ihr liegen? Mein Selbstbewusstsein jagte sich unweigerlich eine Kugel in den nicht vorhandenen Kopf. Die Drittplatzierte war umso glücklicher, und obwohl ich ihre Platzierung nicht hatten haben wollen, beneidete ich sie um ihre Erleichterung. Man gönnte der orientalischen Königin ihre dreißig Sekunden im Rampenlicht, dann wurde ihr Freudentaumel jäh beendet und sie von dem unangenehm freundlichen Jurymenschen beiseitegeschoben, um wieder für Melinda und ihre beiden noch verbliebenen Umschläge Platz zu machen. „Es gab zwei Girls, die unserer Jury ganz besonders aufgefallen sind“, trällerte sie ins Mikrofon, ohne ein einziges Wort des Glückwunsches an das Mädchen von Platz Drei zu richten. „Ich rufe diese beiden Mädchen jetzt nach vorne, und dann werde ich die Zweitplatzierte und die Gewinnerin verkünden. Für den zweiten Platz gibt es einen traumhaften Strandurlaub, doch nur unsere Siegerin bekommt den begehrten Geldpreis und die Chance auf weitere tolle Modelaufträge!“ Höflicher Applaus aus dem Publikum, da Miss Farley das offenbar erwartete, dann wieder gespanntes Schweigen. Die Zuschauer wollten endlich das Ergebnis hören, und mir ging es nicht anders. Ich konnte nicht mehr. Ich fühlte mich wie kurz vor dem Zusammenbrechen, und ich hatte das Gefühl, dass die Anspannung mich umbringen würde, wenn ich nicht bald erlöst wurde. Wissen Sie, Mums Leben ruhte in diesem Moment einzig und allein auf meinen Schultern. Wenn ich versagt hatte, war die vielleicht letzte Chance, sie zu retten, endgültig verloren. Ich hatte das die ganze Zeit über irgendwie ausgehalten, aber jetzt wurde es einfach zuviel. Das Publikum, die Lichter, die Arena, alles begann vor meinen Augen zu flackern. Ich wusste nicht, wie lange ich mich noch aufrecht halten könnte, und ich betete innerlich, dass bald endlich alles vorbei war. „Und die beiden Mädchen, die von der Jury die meisten Punkte bekommen haben, sind… Trish Hedger und Jessica Maguire!“ In diesem Moment bin ich gestorben. Wirklich, ich hätte mich freuen wollen, aber ich tat es nicht. Ich konnte es nicht. Ich glaube, ich schaffte es gerade noch, zusammen mit Barbie nach vorne zu treten, danach hatte ich einen Filmriss, oder zumindest so etwas Ähnliches. Ich sah, wie Melinda ihre signalroten Lippen bewegte, doch ich hörte sie nicht mehr, keinen einzigen Laut. Wie die Blondine in der Talkshow, die ich damals bei Tatsumi auf dem Bett gesehen hatte. In meinen Ohren tönte nur noch ein unangenehm lautes Rauschen und Pfeifen, und mir wurde so schlecht, dass ich mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Ich war wirklich kurz vorm Umkippen, aber diese Peinlichkeit wollte ich mir ersparen, mit allen Mitteln. Krampfhaft krallte ich mir die Fingernägel in die Handinnenflächen, ja, ich ging sogar so weit, meinen Blick auf Barbie zu richten, um mich wütend zu machen, weil mir das jetzt nur helfen konnte. Die Strategie ging auf – als ich ihren triumphierenden Gesichtsausdruck sah, flammte spontan wieder heftige Mordlust in mir auf. Ich stand da, zerfressen von Angst und Selbstzweifeln, während Barbie einfach ganz gelassen war, weil sie wusste, dass sie gewinnen würde. Sie wusste es, und ich wusste es auch. Rasch wandte ich mich wieder von ihr ab, sah stattdessen Melinda an. Was sagte sie? Was hatte ich in den letzten Sekunden verpasst? Großer Gott, die Frau sah aus, als ob der große Moment kurz bevorstehen würde! „…und das ist… surprise, surprise, Sie werden vielleicht nicht damit gerechnet haben: Es ist Trish Hedger!“ Nein!, schrie es in mir auf, so laut, dass mir von innen heraus das Trommelfell zu platzen schien. Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Ich hatte doch alles getan. Mir so große Mühe gegeben, so sehr gekämpft wie nie zuvor in meinem Leben, und jetzt? Jetzt hatte Barbie gewonnen. Die Frau, die es überhaupt nicht nötig hatte. Die das Geld nicht brauchte, die vermutlich nie in ihrem Leben Geld gebraucht hatte, und die diese nette Finanzspritze doch eh nur in noch eine Körbchengröße mehr investieren würde. So viel zum Thema Gerechtigkeit! Aber was hatte ich denn erwartet? Was half es, ein kleines akrobatisches Kunststück aufzuführen, wenn sich so ein blondiertes Flittchen mit Engelsflügeln auf die Bühne stellte und ein christlich-patriotisches Liedchen sang? I’m in love with Jesus, like he loves America. Verdammt, ich hatte doch genau gewusst, dass man das gar nicht mehr überbieten konnte! Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich wollte ausrasten, wollte Barbie und Melinda durch den verspiegelten Catwalk prügeln, wollte am liebsten die ganze Halle mitsamt Jury und Publikum in die Luft springen. Nein, ich bin kein Mörder und auch kein Terrorist, aber vielleicht verstehen Sie ja, wie unglaublich wütend ich war. Weil nun alles, alles vorbei war, und weil das Leben in diesem Moment einfach so viel ungerechter war, als ein Mensch es aushalten konnte. Dieses elende Miststück hatte gelogen, betrogen, sabotiert… hatte mir alles kaputt gemacht, viel mehr noch als den Wettbewerb. Und jetzt sollte sie als Gewinnerin aus der ganzen Sache herausgehen? Das war zuviel, das war einfach zuviel. Ich war so niedergeschlagen wie vielleicht noch nie zuvor in meinem Leben. Bis ich bemerkte, dass Barbie gar nicht strahlte, als man ihr eine Schärpe umhängte und ihr einen üppigen Strauß in die Hände drückte. Ganz im Gegenteil – ihr Gesicht war eine erstarrte Maske, das Lächeln verkrampft, die Augen nicht freudig, sondern hasserfüllt blitzend. Nun war ich verwirrt, umso mehr, als ich bemerkte, dass alle Blicke nicht auf Mirs. Silikon, sondern auf mich gerichtet waren. Auch Melinda sah mich auffordernd, mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich blinzelte mehrmals, versuchte, zu verstehen, was da gerade vor sich ging, als die Königin der Föhnfrisuren erneut ihr Mikrofon an die üppigen Lippen setzte. „Und damit, Sie ahnen es mit Sicherheit schon, ist unsere Erstplatzierte, unsere Siegerin die bezaubernde Jessica Maguire!“ Oh Gott, war alles, was ich jetzt noch denken konnte. Ich starrte Melinda an, als ob sie das Monster von Loch Ness, der Yeti oder sonst ein übersinnliches Phänomen wäre, weil ich einfach nicht glauben konnte, was ich da hörte. Ich hatte mich bereits geschlagen gegeben, da kam dieser Triumph einfach viel zu plötzlich, zu unerwartet, als dass ich es gewagt und geschafft hätte, daran zu glauben. Dabei war es doch eigentlich so logisch! Unsere Ansagerin hatte den zweiten Platz zuerst genannt. War gar nicht so schwer, darauf zu kommen, aber ich war mir so sicher gewesen, dass nur Barbie diesen Wettbewerb gewinnen konnte, dass ich mir keinen Funken Hoffnung mehr erlaubt hatte. Ja, verdammt, ich habe aufgegeben, und darum war es mir unmöglich, zu begreifen, dass ich dieses hinterhältige Flittchen am Ende doch besiegt haben sollte. Dass ich sie besiegt hatte, und dass sie nichts dagegen ausrichten konnte, weil ich sie mit Mi Chas Foto genauso in der Hand hatte, wie sie mich mit ihrem gefährlichen Wissen in der Hand hatte. Ich hatte es geschafft! Ich war für meine Mum in den Krieg gezogen, und ich war siegreich aus der Schlacht hervorgegangen. Aus irgendeinem Grund konnte ich trotzdem nicht aufhören, zu weinen. Ich war noch nicht erleichtert, konnte es nicht sein, als man mich energisch dem Publikum entgegenschob, mir eine breite Schärpe umhängte und mich mit einem Strauß beglückte, der sogar noch prunkvoller und dekadenter war als der von Barbie. Nur ganz langsam, zögerlich, vorsichtig, stieg ein Gefühl in mir auf, das gleichzeitig heiß und kalt und unglaublich berauschend war. War es Triumph? Vermutlich, denn ganz plötzlich musste ich lächeln. Ich ging nach vorne, den Catwalk entlang, um mich der jubelnden Menge zu präsentieren. Sofort entflammte ein Blitzlichtgewitter zu meinen Füßen. Ich ging diesem Licht entgegen, immer noch fassungslos, aber mehr und mehr erfüllt von einem so ungetrübten, überwältigenden Glück, wie ich es selten zuvor gespürt hatte. Ich breitete die Arme aus, und es fühlte sich an, als ob ich fliegen würde. Das war mein Moment. Mein Abend. Ich war im zerschnittenen Kleid auf die Bühne gegangen, und ich hatte trotzdem gewonnen. Das war so wunderbar, dass es für ein paar Minuten einfach alles andere verschwinden ließ. Alles Schlimme, alles Traurige. Für diese Augenblicke, als ich über den Laufsteg aus blitzendem Licht schwebte, war die Welt perfekt. Ich hatte das Geld für Mums Therapie gewonnen, und ich wusste einfach, dass von jetzt an alles gut werden würde. Drei Tage später ist Mum abgehauen. Ich hatte hin- und herüberlegt, wie ich die Sache mit dem Entzug am besten regeln konnte. Mum durfte das Geld nicht in die Hände bekommen, denn ich wusste ganz genau, dass sie ja doch nur wieder Drogen davon kaufen würde. Die Sucht war einfach stärker als Vernunft oder Dankbarkeit. Sie ahnen ja nicht, wie schwer es mir gefallen ist, meinen Gewinn in die Wohnung zu schmuggeln und meine Freude ganz für mich zu behalten. Ja, ich war die neue Miss Lucky Karma, aber ich hatte keinen einzigen Menschen, mit dem ich das feiern konnte. Ich musste oft daran denken, wie Tatsumi und ich nach meinen ersten, vergleichsweise unwichtigen Sieg wie betrunken durch die Nacht getaumelt waren, feiernd und singend. We are the Champions. Jetzt war ich es wirklich, aber ich fühlte mich viel weniger so als damals. Jedenfalls kam ich zu dem Entschluss, dass es das Beste war, selbst im Krankenhaus anzurufen und einen Termin für Mum zu vereinbaren. Kann sein, dass sie etwas davon mitbekommen hat. Vielleicht hat sie mein Telefonat belauscht, vielleicht einen Brief abgefangen, vielleicht gab es auch eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Gut möglich, dass sie in dem Moment, da ihre große Chance zum Greifen nahe gewesen war, doch noch kalte Füße bekommen hat. Mit Sicherheit war auch ihr neuer Lover nicht ganz unschuldig an der ganzen Sache. Ich hatte mal mitbekommen, wie die beiden sich voll Sehnsucht über ein Leben am Meer unterhalten haben. Vermutlich haben sie sich an irgendeine Küste abgesetzt. Fest steht nur, dass die beiden ein Auto geklaut haben und so aus der Stadt getürmt sind. Das hat die Polizei herausgefunden, die ich eingeschaltet habe, als von Mum nach vier Tagen immer noch jede Spur fehlte. Das gestohlene Auto wurde auf einem Parkplatz nahe der Staatengrenze entdeckt, die beiden Diebe waren und blieben verschwunden. Ich habe meine Mutter niemals wiedergesehen. Die Frau, für die ich all diese Mühen auf mich genommen hatte, war ganz heimlich, still und leise aus meinem Leben geschlichen. In den folgenden Tagen stand ich völlig neben mir. Ich befand mich im freien Fall, hoffte darauf, wenigstens irgendwann auf dem Boden aufzuschlagen, doch selbst darauf wartete ich vergebens. Da war ich, ganz allein mit einer Menge Geld und ohne jegliches Ziel, an dem ich mich noch festhalten konnte. Das, wofür ich gekämpft hatte, war gleichzeitig erreicht und zerschlagen. Jetzt gab es keinen Grund mehr für mich, in eine weitere Schlacht zu ziehen. Ich konnte und ich wollte nicht mehr. Alles, was ich tat, war stundenlang durch die Stadt zu streifen, ohne auf den Weg zu achten, während mein Jackpot unberührt in meinem Zimmer vergammelte. Irgendwann, in einem Moment absoluter Resignation, als ich begriff, dass Mum nicht mehr zurückkommen würde, habe ich noch in der Klinik angerufen, um den Termin wieder abzusagen. Das war die einzige sinnvolle Handlung, zu der ich fähig war, ansonsten gab es nichts als meine einsamen Streiftouren. Ehrlich, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich mich nicht irgendwann, bewusst oder unbewusst, zu Tatsumis Haus verirrt hätte. Es war ein hässlicher grauer Tag, die Luft widerlich nasskalt, weil es schon seit Stunden ununterbrochen geregnet hatte. Bitte glauben Sie mir, ich bin nicht mit Absicht dorthin gegangen. Ich bin vielleicht mit Absicht dort geblieben, das gebe ich zu, aber mein Weg dorthin war reiner Zufall. Trotzdem kam ich mir vor wie ein Stalker, als ich vor dem großen weißen Märchenschloss stand und auf dessen perfekte Fassade stand, während mir der Regen in Strömen über das Gesicht lief. Die Haare klebten mir in der Stirn, meine Kleidung war wie eine zweite, ekelhaft aufgeweichte Haut. Ich zitterte am ganzen Körper, aber ich ging trotzdem nicht weg. Ich stand einfach da und wartete auf ein Wunder, das aber nicht kommen sollte. Nicht an diesem Tag. Ach verdammt, ja, ich bin wiederkommen. Mehr als einmal. Mich wunderte es damals wirklich, dass mich nicht irgendwann die Polizei weggeschleppt hat. Seltsamerweise kam ich gar nicht auf die Idee, dass das Haus gerade leer stehen könnte, obwohl während meiner langen Wartezeiten kein einziges Mal jemand herausgekommen oder hineingegangen war. Diese Einsamkeit schob ich auf das Wetter, denn es blieb grottenschlecht, aber das störte mich nicht. Irgendwie passte es sogar. Um mich selbst für meine Treibjagd zu bestrafen, um jeden hässlichen Gedanken durch bloßes Frieren zu vertreiben. Und weil ich mir aus tiefstem Herzen einen Mike-Moment wünschte. Damals, als er stundenlang im Regen vor meinem Haus auf mich gewartet hatte, war ich so unbeschreiblich gerührt gewesen, dass mir der Gedanke daran, auch heute noch, immer noch auf eine seltsame Art und Weise wehtut. Ich hoffte ganz egoistisch, dass auch Tatsumi so einen Moment erleben würde, wenn er mich sah, und dass er mir allein deswegen alles verzeihen könnte. Um es kurz zu machen: Irgendwann ist mir Tatsumi tatsächlich begegnet, nur leider sah er dabei nicht unbedingt gerührt aus. Eine Sekunde lang wirkte er vielmehr eigenartig entsetzt, danach versteinerte seine Miene so schnell und gründlich, dass an ihr überhaupt nichts mehr abzulesen war. Das war nicht die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte. In meinem Kopf hatte es genau zwei mögliche Wiedersehensszenarien gegeben, die sich dort quasi pausenlos abgespielt hatten: Einmal eine herzzerreißende Versöhnungsszene, wie man sie eben so aus Hollywoodschnulzen kennt. Mit kissing in the rain, einer Menge Tränen und allem, was sonst noch so dazugehört. Die zweite Version war die absolute Katastrophe – Tatsumi rastet völlig aus (ja, in meiner Vorstellung tat er das, auch wenn es zugegebenermaßen nicht unbedingt seine Art ist), schreit mich an, beleidigt mich aufs Übelste und jagt mich dann, notfalls mit Gewalt, von Haus und Hof. In der Realität war ich nun irgendwo in einem undefinierbaren Bereich dazwischen gefangen und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. „Was machst du hier?“, lautete, wenig romantisch, seine Begrüßung. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also stand ich einfach weiter da und starrte ihn an. Muss ziemlich gruslig gewesen sein, und ich rechne es ihm noch heute hoch an, dass er mich nicht spätestens jetzt von den netten Männern mit den lustigen weißen Jacken hat abholen lassen. Ich verstand erst mit kurzer Verspätung, dass er es vermutlich nur deshalb nicht tat, weil er mich in den Tagen zuvor noch gar nicht gesehen hatte, wie ich ihm pausenlos vor seiner Villa aufgelauert hatte. Langsam ging mir ein Licht auf, dass das Haus wohl nicht nur wie ausgestorben gewirkt hatte, sondern war es auch wirklich gewesen war. Ich hatte tagelang ganz umsonst in der Eiseskälte gewartet, aber ich war nicht enttäuscht darüber, sondern erleichtert. „Ich… ich weiß nicht“, antwortete ich schließlich doch noch, als mir klar wurde, dass Tatsumi mir die unangenehme Aufgabe, als Erster weiterzusprechen, nicht abnehmen würde. „Gut, dann solltest du jetzt besser verschwinden, weil ich nämlich keine Zeit habe“, meinte er knapp und machte Anstalten, einfach an mir vorbeizugehen, dem Hauseingang entgegen. „Nein, warte, bitte!“ Ich konnte ihn jetzt nicht gehen lassen. Mir war klar, dass dann wirklich alles verloren gewesen wäre. Da mir aber dummerweise zu dieser brillanten Erkenntnis kein passender genialer Plan einfiel, wie ich ihn hätte zurückhalten sollen, versuchte ich es einfach mal mit der Holzhammermethode. Hinterherlaufen, am Arm packen, flehenden Blick aufsetzen. Ziemlich billig, das bestreite ich nicht, aber das Schlimmste daran war, dass ich es nicht mal aus bloßer Berechnung tat, sondern weil ich einfach nichts Besseres auf Lager hatte. „Tatsumi, bitte, es tut mir leid. Es tut mir so furchtbar leid.“ „Bist du hergekommen, um mir das zu sagen?“, entgegnete er kühl. Bei diesen Worten sah er mich nicht an, aber immerhin blieb er stehen, und damit hatte ich das wichtigste Ziel ja schon erreicht. Ist Ihnen auch mal aufgefallen, dass die schlechtesten, unsubtilsten Strategien meistens am besten funktionieren? „Ja. Nein. Ich meine… ich… ich dachte nur, du willst vielleicht wissen, dass… der Wettbewerb…“ „Ich weiß“, unterbrach er mich. „Ich weiß, du hast gewonnen. Gratuliere. Und jetzt lass mich los.“ „Woher weiß du das?“ „Stand in der Zeitung. Komisch, dass die nicht mal recherchiert haben, dass es überhaupt keine Jessica Maguire gibt, hm? Ziemlich mieser Journalismus hierzulande, das sag ich schon seit Jahren. Soweit alles bekannt, also geh endlich, ich hab es eilig.“ „Wieso hast du es so eilig?“ Ich fragte, weil ich aus irgendeinem Grund spürte, dass Tatsumi mich nicht einfach nur möglichst schnell loswerden wollte. Er hatte es eilig, und er wirkte auf eine merkwürdige Weise gehetzt, wie ich es bei ihm noch nie gesehen hatte und wie ich es ihm auch niemals zugetraut hätte. Ich sah, wie seine Augen immer wieder die Straße absuchten, als ob er nach feindlichen Spionen Ausschau halten würde, die sich hinter jedem noch so harmlos scheinenden Busch verbergen konnten. Das war nicht gespielt, das war eindeutig echt. Hätte er in diesem Moment nicht so ausgesehen, dann wäre ich vermutlich wirklich gegangen, dann hätte ich aufgegeben und eingesehen, dass es zu spät war. Doch so blieb ich und ließ meine Finger beharrlich um Tatsumis Oberarm geschlossen. „Warum willst du das wissen?“, fragte er, immer noch mit diesem abweisenden Tonfall, aber ich konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. Schon deshalb ließ ich nicht locker. „Weil ich es eben wissen will, also sag schon. Wenn du es mir sagst, dann gehe ich. Sofort. Versprochen!“ Er zögerte noch immer, aber schließlich, nach einem kurzen Verziehen der Lippen, antwortete er mir doch: „Okay. Gut. Wenn du’s unbedingt wissen willst: Ich haue ab. Meine Eltern sind grad im Urlaub, und die Gelegenheit muss ich nutzen. Sie hatten mich zu einem Praktikum abgeschoben, aber ich bin weggelaufen. Ich weiß nur nicht genau, wann sie zurückkommen, also sollte ich, wenn möglich, nicht noch übermorgen hier vor dem Haus dumm herumstehen.“ „Du gehst weg.“ Diese Antwort versetzte mir einen Stich, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Nein, wollte ich schreien, nein, nicht auch noch du, aber ich brachte keinen Ton mehr hervor. Ich musste mehrmals heftig schlucken, bevor ich weitersprechen konnte. Meine Finger spielten irgendein absurdes Spiel miteinander, und mein Hals fühlte sich an, als ob man ihn von innen mit Reißnägeln gespickt hätte. „Warum? Wieso… wohin willst du überhaupt gehen?“ „Zu einem Kumpel… erst mal. Ich hab in den letzten Tagen alles geregelt, ich bin nur noch hier, um ein paar Sachen abzuholen.“ Es klang so endgültig, wie er das sagte. Vielleicht wäre es leichter für mich gewesen, wenn sein Blick, seine Stimme… irgendetwas an seinem Verhalten mir gesagt hätte, dass er noch wütend auf mich war. Dass er mich hasste. Damit hätte ich umgehen können, aber nicht mit dieser Ungewissheit. Das Schlimmste war jedoch, dass trotz allem, schon während dieser wenigen Worte, sofort wieder diese… Zwanglosigkeit zwischen uns war. Wie damals, als er mich am Flussufer gefunden hatte. Als wir gefeiert hatten. Als wir uns zusammen zahllose grottige Horrorfilme angesehen und dabei einfach die Zeit vergessen hatten. Wäre es völlig anders gewesen als in unserer kurzen gemeinsamen Zeit… hätte ich gespürt, dass alles endgültig verloren und vorbei war, dann wäre das zwar verdammt traurig gewesen, aber nicht unerträglich. Unerträglich war das, was ich jetzt spürte, und deshalb lief ich weg. Ja, sie lesen richtig: Ich hatte tagelang auf Tatsumi gewartet, auf genau so eine Gelegenheit wie diese. Nun war der große Augenblick gekommen, eine Chance, miteinander zu sprechen und vielleicht doch noch etwas zu retten. Ich merkte sogar, dass Tatsumi eigentlich ganz froh darüber war, jemandem zum Reden zu haben, auch wenn er das vermutlich niemals zugegeben hätte. Etwas Besseres hatte ich realistischerweise nicht erwarten können, aber was machte ich? Abhauen! So wie meine Mutter es getan hatte, und so wie mein ehemaliger Ritter in der strahlenden Rüstung es bald tun würde. Ich konnte nicht anders, als sie beide in diesem Moment dafür zu hassen. Ehrlich, ich fühlte mich wie der einsamste Mensch auf dem ganzen Planeten, verraten und von allen im Stich gelassen. Auch wenn ich vermutlich nicht das Recht dazu hatte, ich hoffe, Sie verstehen wenigstens ein kleines bisschen, dass mir die Sache einfach über den Kopf gewachsen ist. Jedenfalls machte ich auf dem Absatz kehrt und lief in den kalten Regen hinein, ohne mich noch einmal umzudrehen, um Tatsumi wenigstens ein allerletztes Mal sehen zu können. Sehr weit kam ich allerdings nicht, denn es passierte etwas, womit ich um nichts in der Welt gerechnet hätte. Ehrlich, ein vom Himmel stürzendes Klavier, das mich unter sich begrub, hätte mich wohl weniger überrascht als das, was tatsächlich geschah. Tatsumi rief mir nämlich etwas hinterher, das mich wie vom Blitz getroffen stehen bleiben ließ: „Warte mal, Jesse!“ Schlagartig hatte ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Mein Stolz schrie mich an, dass ich einfach weiterlaufen sollte, doch meinem Körper war das vollkommen egal. Immerhin schaffte ich es gerade noch, die Arme vor der Brust zu verschränken, während ich mich umdrehte. Das war aber auch schon alles, was ich an offener Gekränktheit hinbekam. „Was denn?“, fragte ich und versuchte, dabei wenigstens ein kleines bisschen trotzig zu klingen, was mir aber nicht so recht gelingen wollte. Ich weiß, dass dieser Zorn sowieso ziemlich kindisch und falsch war, weil Tatsumi ja, objektiv betrachtet, wirklich jedes Recht der Welt hatte, bis in alle Ewigkeiten wütend auf mich zu sein. Ich hatte ihn auf eine Weise belogen und benutzt, die schäbig und verdammt egoistisch gewesen war. Nicht alles, was ich getan hatte, war aus bösem Willen heraus geschehen, sondern weil ich die Wahrheit einfach sehr lange erfolgreich verdrängt hatte. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob das irgendetwas besser macht. Trotzdem nahm ich mir das Recht heraus, verletzt zu sein, und das wollte ich auch zeigen. Seltsamerweise sah Tatsumi aber gar nicht so aus, als ob er mir meinen Tonfall übel nehmen würde. Er strich sich eine seiner triefnassen blonden Strähnen hinters Ohr, und dann kehrte völlig unerwartet dieses gottverdammte arrogante Lächeln auf seine Lippen zurück, das ich mehr vermisst hatte, als ich es überhaupt in Worte fassen kann. „Für einen Kerl hast du ziemlich heiß getanzt.“ Er sagte nur diesen einen (ziemlich dämlichen) Satz, doch mehr musste in diesem Moment auch nicht gesagt werden. Ich musste nicht mehr fragen, woher er wusste, wie genau ich getanzt hatte. Woher er wusste, dass ich gewonnen hatte. Ich wehrte mich mit aller Macht dagegen, doch ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Bei dem Regen konnte man sie sowieso nicht sehen, aber eigentlich war das auch gar nicht so wichtig. Bevor ich irgendeinen klaren Gedanken fassen konnte, war ich schon auf Tatsumi zugelaufen und hatte mich ihm um den Hals geworfen. Weil er mich nicht hasste. Weil er da gewesen war. Weil er mich, trotz allem, bei dem großen Finale doch nicht ganz alleingelassen hatte. Es war alles in allem nicht die Versöhnungsszene, die ich mir in meinen Tagträumen ausgemalt hatte, aber wen kümmerte das schon? Es war perfekt, gerade deshalb, weil es nicht perfekt war. Und es gab mir etwas zurück, dass ich in den vergangenen Tagen schon fast verloren geglaubt hatte. „Wolllust“, flüsterte ich gegen Tatsumis Brust und verzog dabei die Lippen zu einem schiefen Grinsen. „Wolllust?“ „Ja. Deine Todsünde für heute. Weil du immer nur an das Eine denkst. Sogar jetzt denkst du nur an das Eine. Weißt du eigentlich, wie abartig das ist?“ „Danke“, entgegnete er und verschränkte die Arme vor der Brust – keine Ahnung, ob er damit protestieren oder doch wieder ein bisschen auf Distanz gehen wollte, ich konnte es ihm beides nicht verdenken. Natürlich bildete ich mir nicht ein, dass ich einfach einen Schalter umlegen konnte, der die ganze Sache vollkommen vergessen machte. Dass zwischen uns schlagartig alles wieder genau wie früher wäre. Sowas passierte eben doch nur in Filmen, und deshalb gab es keinen Kuss im Regen, kein tränenreiches Happy End. Aber damit konnte ich leben. Ich konnte es, weil ich verstanden hatte, dass es nicht nur für mich, sondern offenbar auch für ihn irgendetwas gab, etwas zwischen uns, das stärker war als Logik und Stolz und Vernunft. Nennen sie es, wie sie wollen. Mir war und ist das egal, solange es nur dafür gesorgt hat, dass dieses einsame Treffen im Regen nicht die letzte Begegnung von mir und Tatsumi gewesen ist, ohne dass wir uns dabei nur einziges Mal in die Augen gesehen hatten. „Was ist eigentlich deine Sünde für heute?“, schob sich Tatsumi mit erhobener Augenbraue zwischen mich und meine Gedanken. Ich hob den Kopf. Sah ihn an. Und dann musste ich plötzlich lachen, als ich wahrheitsgemäß antwortete: „Es… ich… ich hab keine Ahnung.“ „Keine Ahnung?“ Er strich sich mit einer Hand durch die Haare und grinste ebenfalls – nicht ohne eine gewisse Unsicherheit im Blick, die ich zuvor niemals in seinen dunklen Augen gesehen hatte, die mich nach allem, was passiert war, aber auch nicht weiter verwunderte. „Tja, das heißt dann wohl, dass ich gewonnen habe.“ „Ja“, nickte ich nach einer kurzen Pause. „Du hast gewonnen.“ „Du hattest von Anfang an keine Chance gegen mich. Aber hey, diesen und von mir aus auch deinen Sieg feiern wir bitte drinnen, weil es nämlich verdammt kalt hier draußen ist, falls du’s noch nicht bemerkt hast. Außerdem will ich immer noch gerne weg sein, bevor meine Alten hier vorfahren. Dann wäre hier nämlich wirklich die Hölle los, da brauchst du keine Todsünden mehr.“ Er öffnete die Pforte zu dem riesigen Märchengarten, und ich musste unweigerlich an die Nacht denken, als ich zum ersten Mal hier gewesen war. Seltsamerweise hatte das Haus seine einschüchternde Wirkung in all der Zeit nicht verloren, auch jetzt nicht. Ich denke, wenn ich wirklich noch einmal die Gelegenheit bekommen werde, dieses Anwesen zu betreten, werde ich immer noch die Schultern hochziehen und versuchen, sogar das Atmen lieber bleiben zu lassen. Wenn ich ganz ehrlich bin, ich hätte dort auch nicht leben wollen, und wenn es hundertmal ein Palast war. Das war aber nicht die einzige Erkenntnis, die mich auf dem Weg durch den Vorgarten überkam. Da war noch etwas: Ein ganz verrückter Gedanke, der jedoch beängstigend schnell in meinem Kopf heranwuchs und der mir sagte, dass das, was mir vor wenigen Augenblicken noch als halber Weltuntergang erschienen war, vielleicht in Wahrheit eine Chance für mich sein konnte. „Sag mal, Tatsumi“, begann ich ganz vorsichtig, „hättest du eigentlich was dagegen, wenn ich auch abhauen würde?“ Tatsumi blieb so plötzlich stehen, dass ich um ein Haar in ihn hineingelaufen wäre. Er blickte über die Schulter zurück, offensichtlich überrascht, und trotz des immer noch strömenden Regens schien er völlig zu vergessen, dass wir das schützende Dach über dem Kopf ja noch gar nicht erreicht hatten. „Sag mal, woher kommt denn das jetzt plötzlich?“, fragte er zweifelnd. „Du willst weg von zuhause? Was ist mit deiner Mum? Ich hatte immer den Eindruck, ihr beiden seid so dicke miteinander.“ Ja, verdammt, das war ein Stich mitten in die Brust. Ich hatte das Gefühl, sofort wieder in Tränen ausbrechen zu müssen. War das ein Wunder? Ich denke nicht, trotzdem wollte ich nicht schon wieder zum heulenden Elend mutieren. Weil ich so sehr genug davon hatte, und weil ich befürchtete, in diesem Moment vielleicht mehr die Kontrolle zu verlieren, als es gut für unsere vorsichtige Annäherung gewesen wäre. Also zwang mich zu einem Lächeln, und ich war überrascht davon, wie gut das nach kleineren Anlaufschwierigkeiten funktionierte. Als ich meine Mundwinkel erst einmal nach oben gezogen hatte, spürte ich einen Anflug von etwas, für das ich mich damals hasste, das ich aber heute, mit etwas Abstand, durchaus verstehen kann: Erleichterung. Unendlich tiefe, befreiende Erleichterung. „Ich glaube, meine Mum braucht mich jetzt nicht mehr“, antwortete ich. „Außerdem… ich hab da noch so ein bisschen Geld übrig, von dem Wettbewerb. Ein bisschen viel Geld sogar. Und ich hatte bis gerade eben keine Ahnung, was ich damit machen sollte. Also, wenn du zufällig noch ein bisschen Bares für eine Wohnung brauchst…“ „Ne, ich dachte eigentlich daran, im Wald zu schlafen. Wo doch gerade so herrliches Wetter ist! Was ist, willst du immer noch mitkommen?“ Es folgte ein herausforderndes Lächeln, und damit war das Thema, wenigstens vorerst, für ihn erledigt. Tatsumi fragte nicht weiter nach, was zwischen Mum und mir geschehen war, und dafür war ich ihm unendlich dankbar. Wir gingen einfach nach drinnen und ich habe, in eine warme Decke eingewickelt, Tee getrunken, während er seine Sachen zusammengepackt hat. Die folgende Nacht hat er bei seinem Kumpel verbracht, ich in meiner Wohnung. Am nächsten Morgen haben wir Tatsumis Auto mit Gepäck vollgestopft und dann die Stadt, meine Heimat, mit all ihren tausend Erinnerungen für immer verlassen. Und damit komme ich zum Ende meiner Erzählung, meines Berichtes… meiner Rechtfertigung. Ich habe ihnen alles geschrieben, von vorne bis hinten, und zwar so ehrlich, wie sie es sich vielleicht gar nicht gewünscht haben. Wenn ich sie irgendwo beleidigt oder gar verletzt habe, tut es mir leid. Wenn ich sie zu Tode gelangweilt habe, dann nicht, denn dies hier war im Endeffekt ja ihre Idee, da müssen Sie auch mit den Konsequenzen leben. Nein, im Ernst: Seien Sie mir nicht böse. Das hier ist ein Friedensangebot von mir, weil ich möchte, dass Sie mich und vor allem auch Tatsumi besser verstehen können. Entschuldigen, dass es derart ausführlich geworden ist. Wissen Sie, wir leben jetzt seit fast drei Jahren zusammen. Aus einer verrückten Idee heraus haben wir beschlossen, es mit einem Journalismus-Studium zu versuchen, und bislang läuft es auch so einigermaßen. Tatsumi macht nebenher immer noch Musik, ich schreibe und zeichne, und auch wenn wir noch auf unsere große Entdeckung warten, wir kommen ganz gut über die Runden. Ich kann mir schon denken, dass wir in Ihren Augen Versager sind, aber wissen Sie was? Wir sind glücklich. Wir haben jedes mal einen Heidenspaß dabei, in Tatsumis Angeberkarre vor der Uni vorzufahren und die neidischen Blicke der Kommilitonen zu genießen. Als ob wir weiß Gott wie viel Geld hätten. Haben wir nicht, aber ich denke, solange wir recht bequem durchkommen, ist es in Ordnung. Das Geld vom Schönheitswettbewerb haben wir im Endeffekt in unsere Wohnung und das Studium investiert. Es hat mir wehgetan, aber ich denke, dass wir es damit ganz gut angelegt haben. Ich frage mich oft, ob ich Mum nicht doch hätte retten können, wenn ich nur irgendetwas anders gemacht hätte. Auch wenn ich mir hundertmal sage, dass es nicht meine Schuld ist, wie sich die Dinge im Endeffekt entwickelt haben, das schlechte Gewissen lässt sich niemals ganz vertreiben. Trotzdem, ich habe jetzt mein eigenes Leben, und darum war das, was ich getan habe, nicht umsonst. Ich konnte Mum nicht helfen, aber ich konnte mir selbst helfen. Vielleicht wird sie irgendwann wieder auftauchen, doch unsere gemeinsame Wohnung gibt es jetzt nicht mehr. Ich bin mir sicher, sie ist nicht mehr im Land, sonst hätte die Polizei sie ja irgendwie ausgegriffen. Ich wünsche ihr, dass sie es ans Meer geschafft hat und dass sie glücklich ist, auf ihre Weise. Trotz allem wird sie immer einen Platz in meinem Herzen haben, genauso wie die anderen Menschen, die mir auf meinem Weg geholfen und mich begleitet haben. Wie Geenia, wie Mi Cha, und natürlich wie Mike. Einmal habe ich ihn wiedergesehen, als ich mit Tatsumi in der Stadt unterwegs war. Er hat mich nicht erkannt. Ich musste lächeln, als mein Chaosengel an mir vorbeigeschwebt ist, den Wind in den zerzausten Haaren, obwohl es ganz tief in meiner Brust auch ein bisschen wehtat. Nicht, weil binnen einer einzigen Sekunde unzählige Erinnerungen durch meinen Kopf rasten – Mike, wie er nur für mich strahlte, Mike, wie er mir in dieser einen schicksalhaften Nacht der Vorentscheidung zur Rettung eilte, Mike, wie er im Regen vor meinem Haus stand und wartete, und dazwischen immer wieder Mike und ich auf dem Rad, wie wir dem perfekten Sommerhimmel entgegengeflogen sind. Was mich traurig machte, war der Gedanke, dass ich ihn belogen hatte. Ich hatte ihm gesagt, dass ich ihn nicht liebte, aber das stimmte nicht. Ich, Jesse Maguire, war es, der Mike nicht liebte. Jessica würde für immer nur ihm gehören. Ich denke oft darüber nach, ob ich ihm nicht auch einen Brief schreiben und ihm alles erklären soll. Jetzt, wo ich es bei Ihnen geschafft habe, erscheint es mir nicht mehr als ein Ding der Unmöglichkeit. Vielleicht werde ich mich ja, nachdem ich diese Zeilen beendet habe, gleich an die nächste Aufgabe machen. Aber erst einmal will ich das hier richtig abschließen. Wissen Sie, ich habe Tatsumi inzwischen alles erzählt, und ich merke, dass es ihn traurig gemacht hat. Nicht nur meinetwegen, da bin ich mir sicher. Auch wenn er natürlich versucht, sich nichts anmerken zu lassen, ich bin mir sicher, dass er auf eine Weise eifersüchtig auf die Beziehung ist, die ich zu meiner Mutter gehabt hatte. Und das Verrückte ist: Ich kann ihn verstehen. Inzwischen kann ich es. Ich glaube auch nicht, dass er Sie wirklich hasst, das hat er nie getan. Er ist weggelaufen, weil er selbst über sein Leben bestimmen wollte, das ist alles. Ich bitte Sie, versuchen Sie, dafür wenigstens ein bisschen Verständnis zu haben. Tatsumi hat so viel für mich getan, das habe ich jetzt begriffen: Er hat mir ein Selbstbewusstsein gegeben, das ich ohne ihn niemals gehabt hätte. Er hat mir bei dem Wettbewerb geholfen, und er hat mir eine zweite Chance gegeben. Manchmal treibt er mich in den Wahnsinn, aber ich würde ihn um nichts in der Welt wieder hergeben. Darum, ihm zuliebe, möchte ich Sie bitten: Geben Sie sich einen Ruck und melden Sie sich bei uns. Sie sind doch seine Eltern, und vielleicht bin ich ja auch ich gar nicht mehr so schlimm, wenn Sie mich mal ein wenig besser kennengelernt haben. Unsere Adresse kennen Sie, und ich werde Ihnen jetzt noch unsere Telefonnummer schreiben, falls Sie Tatsumi mit einem Besuch, einem Brief oder einem Anruf überraschen wollen. Wenn diese Zeilen hier dazu beitragen, dass Sie unsere Entscheidung… unsere Flucht nur ein kleines bisschen verstehen können, war es all die Mühe, die Zeit und die Heimlichtuerei vor Tatsu wert. Falls Sie das hier wirklich noch lesen: Danke, dass Sie so lange durchgehalten haben. In einigen Punkten, die Sie offenbar um den Schlaf gebracht haben, kann ich Sie ja auch beruhigen: Keiner von uns ist kriminell geworden, wenn man mal davon absieht, dass meine Teilnahme am Schönheitswettbewerb so insgesamt als Betrug durchgehen könnte. Sie müssen also nicht die Polizei rufen, wie Sie das in ihrem letzten Schreiben angedeutet haben – das Geld, das wir auf, wie Sie es nennen, dubiose Art und Weise aufgetrieben haben, stammt weder aus einem Diebstahl noch aus einem Banküberfall. Darum bitte ich sie inständig, mich nicht ans Messer zu liefern, auch wenn Sie jetzt den passenden Beweis dazu Schwarz auf Weiß in den Händen halten. Aber ich habe mich, nach langem Nachdenken, dazu entschlossen, in diesem Punkt Vertrauen zu Ihnen zu haben. Weil ich denke, dass ich mir dieses Geld, trotz allem, wirklich verdient habe. Vielleicht sehen Sie das ja inzwischen genauso? Ich weiß nicht, was aus Tatsumi geworden wäre, wenn ich ihm an diesem Nachmittag im Regen nicht vor Ihrem Haus aufgelauert hätte. Ich bin mir allerdings sicher, dass sowohl Sie als auch ich ihn niemals wieder gesehen hätten. Nun, und das kann ich Ihnen versichern, möchte ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen. Natürlich weiß ich nicht, was nun aus Ihrem Konzern werden wird. Aber wenn es Ihnen um mehr geht als das, und wenn Sie mir zustimmen, dass es größere Katastrophen gibt als die, dass Ihr Adoptivsohn seinen Posten als Ihr Thronfolger aufgegeben hat, um zusammen mit mir ein Leben als mittelmäßiger Schreiberling zu führen, dann könnte, und daran glaube ich ganz fest, am Ende doch noch alles gut werden. Geben Sie sich einen Ruck, bitte. Springen Sie über Ihren Schatten, seien Sie Tatsumi nicht mehr böse, und wenn Sie ganz mutig sind, lernen Sie mich kennen. Trauen Sie sich? In der Hoffnung, bald nicht von Ihrem Anwalt, sondern von Ihnen persönlich zu hören, und mit ehrlich freundlichen Grüßen, Ihr Jesse Maguire Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)