PredElection von YourBucky ================================================================================ Kapitel 2: Part II - Playing God -------------------------------- Wissen sie, verprügelt zu werden macht nicht wirklich Spaß. Aber in diesem Augenblick hätte ich's keinem Menschen der Welt übel genommen. Mein wundervoller Traum zerplatzte binnen weniger Sekundenbruchteile wie eine Seifenblase. Es war vorbei Ich hatte mich verraten und ganz nebenbei noch zum Gespött der gesamten Schule gemacht. Jesse Maguire nimmt an einem Schönheitswettbewerb teil! Wie süß! Ich wusste ja, dass sie mich schon vom ersten Tag an für mehr oder weniger verrückt gehalten hatten, aber spätestens jetzt hatte ich die Gewissheit, dass ich in meinem ganzen Leben nie wieder auf diese Highschool gehen konnte. Ich hatte mit meiner unglaublichen Dummheit nicht nur meinen perfekten Plan, sondern auch das letzte bisschen Stolz und Würde zerstört, das mir noch irgendwie geblieben war. "Jesse? Nee, oder?" Es war ausgerechnet Monica Dyson, die mich jetzt mit ihren braunen Rehaugen anglotzte. Wenn ich dieses Mädchen mit einem einzigen Wort hätte beschreiben sollen, dann wäre mir spontan nur das Adjektiv geschwätzig eingefallen. Monica war ein bisschen so etwas wie die schulinterne Bild-Zeitung. Jedes kleine Geheimnis wurde von ihr zu einer nationalen Katastrophe aufpoliert und in einer geringfügig überarbeiteten Version sogleich fröhlich an der ganzen Schule verbreitet. Eine dunkle Ahnung flüsterte mir ins Ohr, dass ich soeben mein eigenes Todesurteil unterzeichnet hatte. "Bist du's echt? Und wenn ja, was machst du hier?!?" Ihre beste Freundin, Tanith Miller, drehte sich ebenfalls zu mir um und musterte mich mit ihren eindringlichen wasserblauen Augen. "Ähm... ich?" Eine bessere Antwort fiel mir leider nicht ein und ganz langsam begann ich das wahre Ausmaß der Katastrophe zu erahnen. Es war erbärmlich. Ich stotterte angesichts dieser kichernden, lästernden Wesen! Das Schicksal meinte es offensichtlich nicht besonders gut mit mir. "Nein, der Weihnachtsmann!" gackerte Monica. "Ist ja mal der Hammer! Bist du jetzt in Wirklichkeit immer ein Mädchen gewesen und wir haben's nur nicht gemerkt, oder stehst du einfach nur auf Frauenfummel?" Sie verschluckte sich an ihrem eigenen Lachen und bekam einen knallroten Kopf. Inzwischen hatten auch die anderen Mädchen und sogar Mrs. Cartwright gemerkt, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte. Ihre Augenpaare starrten mich an wie einen Außerirdischen. Ein bisschen fühlte ich mich auch so wie die hilflose Beute, die von einem geifernden Wolfsrudel umkreist worden war. Monica war in diesem Moment das Alpha-Tierchen und hatte das unumstößliche Recht, mich als erstes zu zerreißen. Ich suchte vergeblich nach einem Loch im Boden, in dem ich hätte versinken können. "Oder vielleicht ist's seine verschollene Zwillingsschwester!" Tanith erntete mit ihrer Bemerkung zwar weitaus weniger Gelächter, schien sie selber dafür umso komischer zu finden. Ich wollte sterben, aber Mrs. Cartwrights strenger Blick verriet mir, dass sie andere Pläne mit mir hatte. Ich zog die Schultern ein wenig höher und spielte nervös mit den Fingern. "Dürfte ich vielleicht auch mal erfahren, was hier eigentlich so unheimlich komisch ist?" Sie sah mich an bei diesen Worten und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. "Das... das weiß ich auch nicht!" Falsche Antwort. Sie glaubte mir kein Wort, und wenn ich nur halb so verlegen und verschüchtert aussah, wie ich mich in diesen schrecklichen Minuten fühlte, dann konnte ich das sogar sehr gut nachvollziehen. "Mrs. Cartwright, Jesse ist ein Junge aus unserer Klasse!" prustete Tanith heraus. Durch die Reihen der Mädchen ging ein schockiertes Raunen. Sie starrten mich an wie einen mehrfachen Mörder und Vergewaltiger, was vielleicht doch ein wenig übertrieben war, in Anbetracht der Tatsache, dass sie mich vor Taniths Enthüllung zum größten Teil noch nicht einmal wirklich beachtet hatten. "Wie bitte? Aber das kann doch nicht sein!" Ihr stockte der Atem. Wie alles an dieser Frau war auch ihre erschrockene Reaktion vollkommen überspitzt, aber auf eine nicht zu beschreibende Art bedrohlich und einschüchternd. "Ist das wahr?!?" Ich fühlte mich wie ein Lamm vor dem Schlachter. Dies war eine jener verhängnisvollen Situationen, in denen man eigentlich alles sagen konnte - es war so oder so falsch. Log ich, würde das meine Blamage perfekt machen. Außerdem konnte ein einziger Blick in die Klassenliste diese kleine Flunkerei auf einen Schlag zunichte machen. Andererseits, sagte ich jetzt die Wahrheit, würde mir diese Person höchstwahrscheinlich den Kopf abreißen. Ich hatte nur die Wahl, ob ich früher oder etwas später sterben würde, kurz und schmerzvoll oder langsam und noch ein bisschen qualvoller. Offen gesagt, hätte ich in diesem Augenblick meinen Turnbeutel zur Hand gehabt, ich hätte dieser verfluchten Tanith mitsamt Monica den Kopf eingeschlagen. Sie würde doch eh nicht gewinnen - warum musste sie mir dann um jeden Preis meine vielleicht einzige Chance auf so viel Geld ruinieren? Sie hatte doch überhaupt keine Ahnung, worum es hier ging! Und zu allem Überfluss wusste ich mit grausamer Gewissheit, dass ich für meine Mitschüler von nun an nur noch ein Mädchen, eine Tunte, meine verschollene Schwester oder sonst etwas sein würde. Ich fühlte mich erniedrigt wie nie zuvor in meinem Leben. Und da, ganz am Rande dieses bodenlosen Abgrunds, sah ich plötzlich einen schwachen Lichtstrahl am Ende des Horizonts. Eigentlich war es mehr wie eine... Eingebung. Eine vollkommen absurde Idee - aber vielleicht gerade deshalb meine letzte Rettung. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich noch ein letztes Mal Luft holte und dann zur alles entscheidenden Antwort ansetzte. "Es... es tut mir leid... aber das ist ein Missverständnis!" Ich legte mein süßestes und gleichzeitig schüchternstes Lächeln auf. Jetzt kam es ganz auf meine Schauspielkunst an. "Ein Missverständnis? Na, da bin ich aber gespannt!" "Ach, das müssen sie gar nicht sein!" Ich winkte ab. "Die Sache ist ganz einfach so, ich bin tatsächlich Jesses Schwester. Mein Name ist eigentlich Jessica, aber mich nennt kein Mensch so... das war einfach... die Macht der Gewohnheit!" Ich hatte das dumme Gefühl, meine Stimme trotz aller Mühen nicht unter Kontrolle zu bekommen. War da nicht ein leichtes, verräterisches Zittern zu hören? Wieso starrten sie mich denn alle so an? Ich hätte mich treten können. Dies war meine letzte Chance, verdammt, ich konnte mir jetzt keine Fehler mehr leisten! "Langsam scheint sich die Sache aufzuklären. Dieser Jesse ist also ein Junge aus eurer Klasse", sagte Mrs. Cartwright, an Monica und Tanith gewandt. "Aber du bist das natürlich nicht, sondern seine Schwester, Jessica. Na, eure Eltern scheinen ja nicht sonderlich einfallsreich gewesen zu sein bei der Namengebung..." "Na ja, sie hatten bei mir wohl einen Jungen erwartet, also mussten sie mit dem Namen ein wenig improvisieren!" Mein Lächeln kam mir schrecklich falsch und gekünstelt vor. Ich hörte vereinzelte Lacher, aber irgendwie schienen sie von weit, weit herzukommen, so laut rauschte das Blut in meinen Ohren. Mein Herzschlag hatte sich in astronomische Höhen gesteigert. Mein Hals fühlte sich in etwa so an, als wäre ein viel zu enger Metallring darum gelegt worden. Ich konnte kaum noch Schlucken. "So ist das also..." Unsere autoritäre Blondine zog die Augenbrauen hoch, ohne die Stirn dabei zu runzeln. Es sah irgendwie grotesk aus. Ich musste spontan an jene Fernsehsendungen denken, in denen weißgekleidete Halbgötter zu irgendwelchen teuer gekleideten Geschäftsleuten auf die Geburtstagspartys fuhren und ihnen ein nervenlähmendes Gift namens Botox in das Gesicht spritzten um so jegliche Faltenbildung verhindern, zum Beispiel beim Lachen. Das Ergebnis war beängstigend. Eine starre Maske, alterslos, aber irgendwie tot, genauso wie das liebliche Antlitz der Mrs. Cartwright. Trotzdem war ich mir vollkommen sicher, dass sie kein Wort von dem glaubte, was ich ihr so schamlos lächelnd vorlog. "Ihr seht euch... aber wirklich verdammt ähnlich!" Tanith glotzte mich kopfschüttelnd an. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also zuckte ich nur mit den Schultern und schickte im Geiste eine ganze Armada von Stoßgebeten gen Himmel. "Ähm... wir sind ja auch ganz entfernt miteinander verwandt!" erwiderte ich schüchtern, als ich in ihren Wasseraugen sah, dass sie eine Antwort erwartete. Spontan fingen einige der Mädchen an zu kichern. Ich fühlte mich ein kleines bisschen sicherer. "Also Jessica, ich kann mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen, dass ein Junge zu einem Schönheitswettbewerb gehen sollte!" Mrs. Cartwright lachte laut auf, und obwohl ich mich plötzlich aus irgendeinem Grund ein wenig schäbig fühlte, fiel mir eine ganze Gebirgskette vom Herzen. Ich lächelte höflich und warf aus den Augenwinkeln einen ängstlichen Blick zu Tanith und Monica hin. Unser Lästermaul vom Dienst stieß ihre Freundin grinsend in die Seite und maß sie mit einem überlegenen Blick. "Oh man, Tan, kauf dir ne Brille, dann kannst du ihre unglaublich männlichen Gesichtszüge mal aus der Nähe bewundern!" Sie kicherte, und aus irgendeinem Grund fiel Tanith in dieses Kichern ein. Vielleicht wusste sie auch ganz einfach nur nicht, was sie sonst tun sollte. Auf ihren Wangen lag ein Hauch von Rot. "Glückwunsch, Jessica Maguire!" raunte mir die schöne Blonde neben mir zu. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck unverhohlener Enttäuschung. Ihre Augen funkelten mich feindselig an. In diesem Augenblick wusste ich plötzlich, dass ich es geschafft hatte. Wenn ich jetzt so zurückdenke, war es schon ein seltsamer Abend. Da saß ich in meinem fleckigen Beef and Drive-Shirt in der staubigen Schulturnhalle und hielt auf mysteriöse Art und Weise mein Schicksal in den Händen. Zumindest hatte ich damals das Gefühl, endlich die Chance bekommen zu haben, die ich mein ganzes Leben lang verdient hatte. Als ich an diesem Abend mitsamt meinem Sportzeug zuhause in unserer kleinen Wohnung ankam, war ich nicht müde, obwohl ich den ganzen Weg gerannt war. Meine Vorbereitungen begannen noch am nächsten Tag. In der Schule schminkte ich mir die Augen noch ein kleines bisschen schwärzer als sonst und kramte die gefährlichsten Klamotten aus dem Schrank, die ich nur irgendwie in dessen düsteren Untiefen finden konnte. In der Klasse bemühte ich mich, ein ganz besonders grimmiges Gesicht zu wahren, aber gleichzeitig Monica und Tanith nicht öfters anzufunkeln, als ich es unter normalen Umständen getan hätte. Ich stapfte durch die Gänge wie ein Footballer mit Kreuzschmerzen, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Kurzum: ich verhielt mich so, wie ein süßes Pseudo-Model namens Jessica es nie, nie im Leben getan hätte. Die Stunden erschienen mir wie der reinste Spießrutenlauf. Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so froh gewesen, als ich endlich unser hässliches Schulgebäude hinter mir lassen konnte. Ich hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Ich wusste, dass Mum heute nicht da war und das musste ich ausnutzen. Im Treppenhaus nahm ich je zwei Stufen auf einmal und es war mir so egal wie sonst etwas, dass ich mir bei dieser Aktion ein paar Mal beinahe den Hals gebrochen hätte. Als ich endlich keuchend vor unserer Haustüre stand und mit zittrigen Fingern den Schlüssel im Schloss herumdrehte, kamen mir zum ersten Mal leise Zweifel an meinem Vorhaben. Was tat ich hier eigentlich? Ich führte mich auf wie ein noch größerer Idiot, als ich ohnehin schon war, aber damit nicht genug - jetzt wollte ich mich doch tatsächlich in das Zimmer meiner Mum schleichen und ihre Kleider durchprobieren! Ich kam mir vor wie ein Perverser. Gleichzeitig wusste ich natürlich, dass es jetzt zu spät war, um noch umzukehren. Es lag nicht einmal unbedingt daran, dass die Mädchen oder Mrs. Cartwright sich unter Umständen darüber hätten wundern können, wenn die reizende Jessica Maguire plötzlich nicht mehr aufgetaucht wäre. Das Problem war, dass die Idee in meinem Kopf schon längst beschlossene Sache war und dass ich es mir niemals hätte verzeihen können, nicht jede winzigste Chance zu nutzen, wenn ich Mum nur irgendwie damit helfen konnte. Ich stieß ruckartig die Türe auf, stapfte breitbeinig in die Wohnung und drehte den Schlüssel dreimal im Schloss herum, als ich die Höllenpforte wieder lautstark hinter mir zugeworfen hatte. Ich weiß nicht, ob sie schon irgendwann einmal ein Horror-Videospiel gespielt haben, in denen die Gänge aus atmosphärischen Gründen oft in alle möglichen und unmöglichen Perspektiven verzerrt und verdreht sind. Jedenfalls erschien mir unsere kleine Wohnung an diesem Tag aus irgendeinem Grund ungleich düsterer und bedrohlicher als jemals zuvor und jeder einzelne Boden schien ein kleines bisschen oder auch ein bisschen mehr in Schieflage geneigt zu sein. Natürlich wusste ich, dass es unmöglich war und mir meine übersteigerte Phantasie wieder einmal einen Streich spielte, trotzdem schlug mir mein Herz in jeder einzelnen Sekunde bis zum Hals und ich ertappte mich beunruhigend oft dabei, wie ich nervöse Blicke über meine Schulter warf. Als ich endlich vor dem großen Kleiderschrank meiner Mum stand, aus dessen angelaufenen, uralten Spiegel mir ein keuchendes Abbild meiner selbst entgegenstarrte, fühlte ich mich wie ein Mörder, der einen ganzen Haufen von Leichen vor der unmittelbar herannahenden Polizei zu verstecken hatte. Ich holte tief Luft, rannte in mein Zimmer und legte hastig meine neuste Zetsuai-CD ein. Noch im Zurückhasten drehte ich die Lautstärke noch ein wenig mehr auf und sprintete geradewegs an den Tatort zurück. Meine Finger zitterten, als ich die verspiegelten und unangenehm laut quietschenden Schranktüren öffnete und einer dichten Mauer von vielfarbigen Stoffen gegenüberstand. Etwas hilflos griff ich nach den erstbesten Sachen, setzte mich aufs Bett und begutachtete meine Beute: einen etwa knielangen, mit bunten Blumen bedruckten Sommerrock und eine knallpinke Chiffonbluse. Ein weiterer Griff brachte eine kurze Jacke aus hellem Kunstleder mit einem überdimensionalen Zottelkragen hervor. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Wenn ich nicht so aussehen wollte wie meine eigene Großmutter auf Extasy, musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Ich sah auf die Uhr. So viel Zeit, wie ich gerne gehabt hätte, blieb mir beim besten Willen nicht mehr. Also beschloss ich kurzerhand, nach einer etwas resoluteren Methode zu greifen, trat mit festem Schritt direkt auf meinen hölzernen Feind zu und riss ihm ohne noch lange zu zögern seine gesamten blauen, schwarzen, roten und getigerten Eingeweide heraus, nur um diese dann zu einem großen Scheiterhaufen auf dem Boden aufzutürmen. So weit, so gut. Jetzt wusste ich wenigstens, was mich erwartete. Nach einigem Suchen entschied ich zunächst für eine Kombination aus einem pechschwarzen Minirock mit Reptilienmuster und einer lackartig glänzenden Oberfläche, dazu einem eng anliegenden Leopardentop und einer transparenten schwarzen Bluse. Ich schlüpfte in Windeseile aus meiner gewohnten Kleidung und zog dann weitaus weniger euphorisch die Sachen meiner Mum an. Als ich endlich fertig war, atmete ich noch ein letztes Mal tief durch und wagte dann den prüfenden Blick in den Spiegel. Das Ergebnis übertraf all meine Erwartungen - leider nicht unbedingt meine Besten. Die Kleider passten mir zwar überraschend gut, allerdings wirkte das Top auf meinem doch nicht ganz weiblich geformten Oberkörper in etwa so erotisch wie ein ausgeleierter Spannbettbezug. Meine Beine konnten zwar genauso gut auch zu einem Mädchen gehören, allerdings nur zu einer Dunkelhaarigen, die sich noch nicht auf die nahende Minirocksaison vorbereitet hatte. Den letzten Schliff verlieh mir mein nicht unbedingt dezentes Augen-Make up, sodass ich im Großen und Ganzen so aussah wie ein schlecht verkleideter, heroinsüchtiger Transvestit, der gerade eben seinem eigenen Grab entstiegen war. Ich schüttelte energisch den Kopf. So knapp die verbleibende Zeit auch sein mochte, ich musste etwas an meinem absolut unweiblichen Erscheinungsbild ändern. Ich streifte hastig die Kleidung wieder ab - wobei ich feststellen musste, dass meine schwarzen Boxershorts auch nicht gerade zu einer femininen Ausstrahlung beitrugen - und rannte ins Badezimmer. In den folgenden Minuten entwickelte ich einen tiefen Respekt für alle Mädchen, die sich jeden Sommer Tag für Tag selbst verstümmelten, nur um mit kurzen Röckchen und ärmellosen Tops ihre wundervoll glatt rasierte Haut präsentieren zu können. Ich schickte ein Stoßgebet in den Himmel, dass meine Mum keine Blutflecken an ihrem Mordinstrument mit der leuchtend blauen Aufschrift "Lady Comfort" bemerken würde und machte mich leise fluchend an die lästige Arbeit des Abschminkens. Nach einigen kläglichen Fehlversuchen schaffte ich es tatsächlich, mir lediglich ein dezentes Make up aufzutragen, das meine grünen Augen zum funkeln brachte und gleichzeitig meine blasse Hautfarbe wunderbar betonte. Ich musste grinsen. "Na, du bist aber ein hübsches Mädchen!" flötete ich in höchsten Tönen und bekam unweigerlich einen Lachanfall. An meiner weiblichen Stimme musste ich in jedem Fall noch ganz gewaltig arbeiten! Aber sie müssen sich das einmal vorstellen: Da stehen sie vor ihrem eigenen Spiegelbild und haben das dumme Gefühl, ihnen blickt mit einem Mal ihr eigener Zwilling entgegen, der nur dummerweise dem anderen Geschlecht angehört. Es war absurd! Und trotzdem muss ich gestehen, dass die ganze Sache langsam aber sicher begann, mir einen Heidenspaß zu machen. Ich zwinkerte meiner reizenden Schwester im Spiegel zu und hüpfte im Takt der Musik, die von meinem Zimmer aus die ganze Wohnung durchflutete, pfeifend in das kleine Reich meiner Mum zurück. Zum Glück wusste ich, wo sie ihre Sammlung von beinahe lebensechten Brustimitationen versteckte, die sie ab und zu als kleine Schummelei in ihren BH steckte. Mit einem triumphierenden Grinsen auf dem Gesicht zauberte ich eine bunte Plastikkiste unter dem Bett hervor, angelte mir einen der pechschwarzen BHs und stellte einige Augenblicke später kichernd fest, wie ich als beinahe komplettes Mädchen aussah. Endlich konnte meine Anprobe beginnen. Ich schlüpfte erneut in das Outfit meiner Wahl und trat mit einem viel besseren Gefühl vor die unbarmherzige Spiegel-Jury. Tatsächlich sah ich ungleich besser aus als beim ersten Versuch - allerdings hätte ich mir nur noch eine Netzstrumpfhose und hohe Stiefel anziehen müssen, um problemlos meiner Mum bei der Arbeit helfen zu können. Ich schüttelte den Kopf und suchte weiter. Diesmal suchte ich mir einen minimal längeren schwarzen Rock mit einem Überrock aus transparentem blauem Stoff und ein weißes, bauchfreies Oberteil mit einer kurzen hellen Jeansjacke auf. Langsam besserte sich das Ergebnis. Ich spielte ein wenig mit meinen Haaren herum und legte den unschuldigsten Blick auf, den nur irgendwie finden konnte. Mein Gott, schoss es mir durch den Kopf, ich hatte gar nicht gewusst, wie niedlich ich eigentlich aussehen konnte. Ich stieß ein übermütiges Lachen aus und drehte mich im Kreis. Das Mädchen im Spiegel ahmte jede meiner Bewegungen genauestens nach. Wir tauschten ein Lächeln aus und fuhren mit der Anprobe fort. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass meine wohl verständliche Angst und mein Zögern sich vollends in Wohlgefallen aufgelöst hatten. Verstehen sie mich nicht falsch, mein Glücksgefühl kam nicht wirklich daher, dass ich bislang mein ganzes Leben lang im falschen Körper gelebt hatte, oder dass es mich in irgendeiner Art und Weise erregte, die Kleider meiner eigenen Mum zu tragen. Es war viel eher so, dass mein anfangs so absurd scheinender Plan nun mit riesigen Schritten Gestalt annahm. Ich realisierte plötzlich, dass ich eine Chance hatte, diesen Wettbewerb zu gewinnen. Wer sollte bitteschön dieses entzückende Wesen, das mir aus der von dunklen Fäden durchzogenen Spiegelscheibe entgegenstrahlte, für irgendetwas anderes halten als ein Mädchen, das einen wunderschönen Traum vom Modelleben träumte? Ich war so in meine euphorische Beschäftigung vertieft, dass ich zunächst gar nicht hörte, wie jemand den Schlüssel in das Türschloss steckte - oder genauer gesagt, es versuchte, da ich in weiser Voraussicht meinen eigenen Schlüssel stecken gelassen hatte. Erst ein lautes Klopfen riss mich aus meinen siegessicheren Fantasien. "Jesse? Jesse, bist du da?" Ich wollte gerade aus bloßer Gewohnheit herumfahren und meiner Mum die Türe öffnen, als es mich mit einem Mal wie ein Blitz durchzuckte: Wie bitte konnte ich Mum die Türe öffnen, wenn ich gerade ihre Kleidung und ihre BH-Einlagen trug? Kalte Panik stieg in mir hoch, als mein Blick auf den vollkommen chaotischen Kleiderstapel fiel, der sich mittlerweile auf das halbe Zimmer verteilt hatte. "Jesse, hast du den Schlüssel stecken lassen?" Mums Stimme klang ebenso müde wie genervt. Ich konnte sie nur allzu gut verstehen und verfluchte mich im Geiste tausendmal dafür, dass ich Idiot die Uhrzeit übersehen hatte. "Warte! Ich - ich komme sofort, Mum! Eine Sekunde!" Mit fahrigen Bewegungen begann ich, so schnell wie nur irgendwie möglich die zahllosen Stoffhäufchen aufzusammeln und irgendwie auf die Kleiderbügel zu verteilen. Die Hektik machte dieses Vorhaben allerdings weitaus schwieriger, als sie sich vielleicht vorstellen können. Ich hörte, wie an dem Türgriff gerüttelt wurde und stieß einen Fluch aus, den ich hier lieber nicht wiedergeben möchte. "Was machst du denn da?" Ich bemühte mich, noch ein bisschen schneller zu arbeiten und hätte am liebsten losgeheult, als die Bügel viel zu schnell zuende gingen und mich ein großer Stapel von hauchdünnen Seidenfetzen, die förmlich danach schrieen, vorsichtig behandelt und im Kleiderschrank auf keinen Fall zusammengelegt zu werden, vorwurfsvoll aus der Ecke anfunkelte. "Ich... ich bin im Bad, Mum! Dauert nur noch einen Moment!!!" Kurzerhand beschloss ich, dass die am empfindlichsten wirkenden Sachen sich auch mal einen Bügel mit einigen Röckchen und Blusen teilen konnten. Die restlichen Kleider legte ich zugegebenermaßen mit weitaus weniger Liebe zusammen, als sie es vielleicht verdient hatten oder gewohnt waren und als der Platz langsam aber sicher knapp wurde, stopfte ich die störenden Überbleibsel ziemlich rabiat hinterher und schlug mit einem triumphierenden Lächeln die verspiegelten Türen zu. "Geht es dir nicht gut, Jesse?" Mum schaffte es irgendwie, trotz ihrer wahrscheinlich blank liegenden Nerven noch ehrlich besorgt zu klingen. Ich hätte mich ohrfeigen können. "Nein, ich... bin schon fertig! Augenblick noch, ich komme!" Ich ließ mit einem Fußtritt die Plastikkiste wieder unter dem Bett verschwinden, stürzte aus Mums Zimmer heraus - und prallte prompt mit der Hüfte gegen eine der Kanten ihres Bettes. Ein stechender Schmerz durchzuckte mein gesamtes rechtes Bein, aber ich biss tapfer die Zähne zusammen und rannte so schnell ich nur konnte zum Eingang hin, drehte den Schlüssel im Schloss herum und riss die Türe auf. "Hey, Mum!" Erst als ich den vollkommen verständnislosen Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, begriff ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. "Jesse? Oh mein Gott, wie... wie siehst du denn aus?" Sie riss ihre blauen Augen weit auf. "Sind das meine Kleider? Und du... du... du..." Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und deutete stattdessen mit einem Finger auf meine nur bedingt natürliche Oberweite. Ich blinzelte ebenso entsetzt zurück und hatte mit einem Mal keine Ahnung mehr, was ich in dieser Situation noch sagen sollte. "Mum, das... ich... du wunderst dich jetzt vielleicht, aber... es gibt eine ganz einfach Erklärung hierfür!" Sie musste mir irgendwie ansehen, dass diese Erklärung vielleicht doch nicht ganz so einfach war. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht veränderte sich und sie legte mir mit einer Geste, wie eben nur Mütter sie hinbekommen können, einen Arm um die Schulter. "Jesse, hast du vielleicht irgendwelchen Sorgen, von denen ich nichts weiß?" In ihren Augen stand geschrieben, dass sie mich verstehen würde, egal was ich jetzt antwortete. "Wenn du ein Problem hast, kannst du jederzeit mit mir darüber reden, das weißt du doch, Jesse?" "Mum..." Ich wäre am liebsten davongelaufen. Wie bitte konnte auch ein einzelner Mensch so unglaublich dumm sein wie ich? Da gab ich mir so unheimlich viel Mühe, in mehr oder weniger akribischer Präzisionsarbeit jede verräterische Spur vom Tatort verschwinden zu lassen - und lief sozusagen glatt mit der Leiche über der Schulter den Polizeiermittlern in die Arme. Jedenfalls schien ich es jetzt tatsächlich geschafft zu haben, dass Mum mich für ernsthaft psychisch gestört hielt. "Ist schon gut!" Sie lächelte. "Kuck mich nicht so ängstlich an, ich bin doch nicht böse auf dich! Ich weiß ja selber, dass dein Leben nicht einfach ist, und dass ich..." "Mum!" Ich unterbrach sie nicht gerne, aber ihre letzten Worte waren einfach zuviel des Guten gewesen. Vielleicht hätte sie es mir einfacher damit gemacht, mich schlicht und einfach anzuschreien, auszurasten, vielleicht sogar zu schlagen, aber dieser verständnisvollen Reaktion musste dringend Einhalt geboten werden. "Ich sage doch, ich kann's erklären! Halt mich einfach nicht gleich für durchgeknallt, ja?" "Ich halte dich nicht für durchgeknallt!" "Ich weiß! Das ist ja das Schlimme!" Ich ignorierte ihren ziemlich ratlosen Blick und fuhr hastig fort, während ich im Geiste noch fieberhaft nach einer glaubhaften Ausrede suchte. "Man, ich mach das doch nicht, weil's mich aufgeilt oder so! Das... das mache ich... für die Schule!" "Für die Schule?" Mums Miene wurde mit jedem meiner Worte ein bisschen fragender. "Ja, genau! Für ein... Theaterstück!" "Ein Theaterstück?" wiederholte sie meine Worte. "Kannst du mir mal verraten, wieso du dafür meine Kleider anziehen musst?" "Na ja, ich... ich spiele ein Mädchen!" erklärte ich hastig und dankte irgendeiner höheren Macht für diesen plötzlichen Geistesblitz. "Uns fehlt halt weibliche Besetzung, und außer mir hat sich keiner dafür bereiterklärt. OK, den meisten würde man's halt auch nicht abkaufen." "Und dir schon?" Sie zuckte mit den Schultern. "Sag mal, seit wann interessierst du dich denn für Schauspielerei?" "Ach, das hat sich irgendwie so ergeben!" Ich winkte ab. "Unsere Klasse soll halt was für ein Schulfest vorbereiten und da ist irgendjemand auf die Idee mit diesem Stück gekommen." "Dann wird mir einiges klar!" Mum schüttelte auf einmal lachend den Kopf. "Oh je, jetzt fühle ich mich richtig dumm! Ich habe ja schon das Schlimmste vermutet!" "Typisch Mutter!" grinste ich und zwinkerte ihr zu. Im gleichen Augenblick war ich wirklich heilfroh, dass meine Mum nicht auf die Elternabende an meiner Schule ging, da sie sich unter all den Snobs, wie sie zu sagen pflegte, einfach nicht wohlfühlte. Da sie außerdem mit keiner der Familien meiner Klassenkameraden Kontakt hatte und ich auch nicht wirklich Probleme mit meinen Lehrern und somit keine Aussichten auf ein nötiges Elterngespräch hatte, lagen die Chancen, dass sie meine Lüge durchschauen konnte, praktisch bei Null. "Jetzt hör aber auf!" Sie lachte noch ein bisschen, dann wurde sie plötzlich wieder ernst und sah mich an. "Du, weißt du was? In dem Fall würde ich sogar eine Ausnahme machen und mich mal in dein kleines Schloss wagen! Ich habe ja nicht einmal eine Ahnung, wie diese teure Schule von innen aussieht." "Hey, das... das ist doch nicht nötig!" versicherte ich hastig. "Ich weiß ja, dass du das nicht wirklich möchtest, und nur wegen mir..." "Jesse! Das ist das Wenigste, was ich für dich tun kann!" Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. "Du bist so ein lieber Junge, ich habe dich eigentlich gar nicht verdient!" "Mum! Ich... ich weiß ja noch gar nicht, ob du überhaupt kommen darfst, immerhin... immerhin ist es ja ein Schulfest!" "Aber wenn es geht, dann werde ich kommen. Denk doch nicht immer nur an mich, Jesse! Ich weiß doch, dass du enttäuscht wärst, wenn alle anderen Eltern im Publikum säßen und ich bin wieder einmal nicht da. Ich versprech's dir." Plötzlich grinste sie. "Außerdem möchte ich doch unbedingt meinen Jungen... oder mein Mädchen auf der Bühne sehen!" "Ist... ist das auch OK, wenn ich mir deine Sachen leihe?" lenkte ich hastig vom Thema ab. Ich hatte noch genug Zeit, mir über eine neue Ausrede Gedanken zu machen, und langsam schien ich ein wirklich routinierter Lügner zu werden. "Aber sicher! Ich kann dir sogar dabei helfen! Weißt du was? Ein Bekannter von mir tritt öfters in einem Travestie-Lokal auf. Er hat schon einige Erfahrung dabei und kann dir bestimmt bei dem einen oder anderen Problem helfen, zum Beispiel, falls du mal eine enge Hose oder einen Badeanzug brauchst." "Echt?" Ich strahlte sie an und konnte einfach nicht anders, als ihr um den Hals zu fallen. Mit einem Mal war ich heilfroh, dass sie meine geheime Aktion bemerkt hatte. "Natürlich!" lächelte sie. "Weißt du, was lustig ist? Früher, als du noch ein Kind warst - du wirst dich wahrscheinlich gar nicht mehr daran erinnern können - haben dich alle Leute für ein Mädchen gehalten, weil du so niedlich und hübsch warst!" Sie stieß mir freundschaftlich in die Seite. "Aber jetzt komm schon und zieh dich wieder um. Ich möchte meinen Sohn zurück!" In solchen Momenten waren Mum und ich uns näher als es die normalsten und heilsten Familien es nur irgendwie hätten seien könnten. Ich liebte diese kostbaren Augenblicke, vielleicht gerade deshalb, weil sie mit den Jahren immer seltener und vergänglicher wurden. Doch die wenigen Minuten zeigten mir überdeutlich, dass sich jede Mühe für meinen irrsinnigen Plan hundertprozentig lohnen würde. In den folgenden Tagen stürzte ich mich fieberhaft auf meine Aufgabe. Und, wenn ich das so anmerken darf - diese Aufgabe war nicht etwa einfach. Auf eine seltsame Art und Weise spielte ich Gott oder betätigte mich zumindest als Regisseur meines eigenen Filmes. Ich hatte nicht weniger zu tun, als einen Menschen zu erschaffen, einen kompletten Menschen mit eigenen Gedanken und Gefühlen. Gauben sie nicht, ich übertreibe. Meine Rolle musste so perfekt sein, dass niemand, auch nicht meine Klassenkameraden, mit denen ich immerhin einen Großteil der viel zu kurzen Tage verbringen musste, auch nur eine Sekunde an der Echtheit der reizenden Jessica Maguire zweifeln konnte. Ich möchte nicht angeben, aber ich war schon immer ein kreativer Mensch und ich muss gestehen, dass mir die Erschaffung eines eigenen Charakters, der weit über den Helden irgendeiner Geschichte hinausging, auf eine verdrehte Art und Weise einen Heidenspaß machte und eine unglaubliche Faszination auf mich ausübte. Ich konnte dabei zusehen, wie Jessie jeden Tag ein bisschen mehr an Persönlichkeit gewann, wie sie eine eigene Art zu Denken, die Dinge zu betrachten gewann. In ihrem Kopf spannen sich Träume und Fantasien zurecht. Und mehr als nur einmal spornte mich nicht zuletzt ihr grenzenloser Optimismus dazu an, auch nach dem stressigsten, kräftezehrendsten Arbeitstag die High Heels meiner Mutter herauszukramen und ein sicheres, verführerisches Gehen in der schwindelerregenden Höhe zu üben. Ich weiß nicht, ob sie das nachvollziehen können. Zugegeben, es klingt durchaus verrückt, aber auch viele Schriftsteller berichten von dem Phänomen, dass ihre selbst erdachten Figuren mit einem Mal ein regelrechtes Eigenleben entwickeln und sich scheinbar völlig aus der Kontrolle des Schöpfers lösen. Auch Jessie war keinesfalls ein Charakter, der sich nach eigenem Belieben formen und herumschubsen ließ. Man könnte sagen, sie hatte ihren eigenen Kopf. Jessie war durch und durch von einem optimistischen Ehrgeiz erfüllt. Das Wort "aufgeben" kam in ihrem ganz persönlichen Wörterbuch schlicht und einfach nicht vor. Im Gegenteil, sie liebte Probleme und Herausforderungen, denen sie sich stellen konnte. Sie war wirklich unheimlich viel stärker als ich es jemals sein konnte und manchmal beneidete ich sie. Natürlich war Jessie keineswegs perfekt. Sie konnte sich nur allzu leicht in eine Sache hineinsteigern, manchmal sogar mehr, als gut für sie war. Wenn sie einmal etwas anfing, wollte sie es auch zuende bringen. Ein bisschen genoss sie es schon, im Mittelpunkt zu stehen, dabei war ihr Selbstbewusstsein keineswegs perfekt. Sie konnte ebenso schrecklich schüchtern sein und wurde leicht nervös, wenn man sie allzu sehr anstarrte. Ich glaube, auch wenn sie immer so getan hat, war es ihr ganz und gar nicht egal, was andere Menschen von ihr dachten. Doch trotz ihrer Schwächen war sie ein Mensch, mit dem ich wirklich gerne befreundet und noch viel lieber verwandt gewesen wäre. Jessie war so unheimlich nett, fröhlich und natürlich, sie liebte das Leben auch dann noch, wenn sie es eigentlich hasste. Sie liebte den Tag wie die Nacht, besonders aber das silberne Mondlicht, sie liebte Süßigkeiten, die Farbe Hellblau und noch eine ganze Menge mehr. Ich betone es noch einmal - bitte, halten sie mich nicht für verrückt. Für mich war Jessie manchmal sogar realer als all die entzückenden, gut erzogenen Mädchen der oberen Mittelklasse, mit denen ich Tag für Tag das Klassenzimmer teilte. Sie war immer an meiner Seite und hat mir ebenso geholfen, wie sie mich manchmal in schiere Verzweiflung gestürzt hat. Wenn ich jetzt so dasitze und zurückblicke, kann ich nichts anderes schreiben, als das Jessie Maguire in meinen Augen wirklich gelebt hat. Von all diesen Dingen ahnte ich damals natürlich noch nichts. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen unmöglicher Aufgabe und einem faszinierenden Spiel. Ich liebte es, an Jessies Charakter zu feilen, mir immer neue Facetten auszudenken und sie mit jedem Schritt ein bisschen menschlicher und glaubhafter zu machen. Sehr zu meinem Unglück reichte das jedoch nicht einmal annähernd zur Erschaffung eines unverwechselbaren, eigenständigen Menschen. Meine imaginäre Schwester brauchte nicht nur eine eigene Art zu Denken, sondern auch zu Gehen, zu Sprechen, sich zu Bewegen. Ich trainierte stundenlang eine Mimik und Gestik vor dem Spiegel, die sich von meiner eigenen grundlegend unterschied. Ich beobachtete die Mädchen in meiner Umgebung mit wissenschaftlicher Genauigkeit, ich prägte mir ihre gesamte Körpersprache ein, ihre charakteristischen Bewegungsabläufe. Es kostete mich mehr Nerven, als ich jemals in meinem Körper vermutet hatte. Ich war wirklich unheimlich froh, dass das nächste Treffen der Anwärterinnen auf den Titel der Miss Lucky Karma aufgrund verschiedener schulischer Umbauarbeiten und kleinerer Restaurationen an der Sporthalle erst in über einem Monat stattfand, denn diese Zeit hatte ich auch bitter nötig. Ich übte wie ein Besessener, suchte verzweifelt nach einem weiblichen Tonfall in meiner Stimme, der nicht permanent aufgesetzt und erzwungen wirkte. Ich prägte mir ein, wie Jessie ihr Gesicht verzog, wenn sie überrascht, traurig, glücklich oder wütend war. Wie sie ihre Arme, Beine und Hüften bewegte, wenn sie ging, wenn sie eine Treppe hinauf- oder hinabstieg. Wie sie Dinge anhob und fallen ließ. Etwa zwei Tage vor dem schicksalhaften Treffen war ich endlich so weit mit dem Gesamtbild zufrieden, dass ich es wagte, mich der großen Generalprobe zu stellen. Ich würde die Sicherheit meiner eigenen vier Wände hinter mir zurücklassen und mich schutzlos und allein hinaus in den Großstadtdschungel wagen. Jessie Maguire würde sich endlich zum ersten Mal den prüfenden Augen der Bevölkerung stellen. Ich war so aufgeregt wie selten zuvor in meinem Leben. Ich entschied mich für ein schlichtes, aber wirkungsvolles Outfit in Form eines kurzen, hellblauen Rockes und einem ärmellosen, knapp bauchfreien Oberteil mit blau-weiß-silbernem Camouflage-Muster. Dazu legte ich mir einen weißen, schmalen Gürtel mit kleinen, silbernen Nieten um und band mir meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Nach den langen Monaten des unmenschlich harten Trainings bereitete es mir kaum noch Mühe, ein dazu passendes, dezentes Make up aufzulegen. Mit einem zufriedenen Nicken betrachtete ich mich im Spiegel und lief dann in Jessies leichtfüßigem Gang zu Mums Schuhschrank hin. Ich öffnete die schon reichlich klapprige Türe aus hellem Holz, holte tief Luft und griff schließlich nach einem Paar weißer Riemchenschuhe mit einem hohen, schmalen Absatz. Jetzt ging es um alles oder nichts und ich wollte es wissen. Entweder ich würde mir auf diesen Dingern das Genick und noch ein paar andere, weniger wichtige Knochen brechen - und mich ganz nebenbei zum Gespött der Leute machen - oder es gab irgendwo auf dieser großen, weiten Welt doch noch so etwas ähnliches wie Gerechtigkeit und ich würde diesen Abend glücklich, zufrieden und mit einem Stapel von Handynummern nach Hause zurückkehren. Der Himmel war strahlend blau und vollkommen wolkenlos. Wie ein glattes, endloses Tuch spannte er sich über das graue Meer der Großstadt. Der Asphalt wurde von den ungebremst einfallenden Sonnenstrahlen in einen flirrenden Backofen verwandelt und trieb die Menschen in völlig überfüllte Freibäder, Cafés und Eisdielen. Auch ich war herzlich wenig von dem Gedanken begeistert, mich mit einer Horde von anderen schwitzenden Menschen in eine viel zu enge U-Bahn zu quetschen und wäre schon nach wenigen Schritten am liebsten postwendend in mein wunderschönes, abgedunkeltes Zimmer zurückgekehrt. Allerdings hatte ich eine Mission und heute war meine letzte Gelegenheit, sie zu erfüllen. Ein anerkennender Pfiff von einem Halbwüchsigen in Gangsterkleidung war wie Doping für meine leicht angekratzte Motivation. Ich drehte mich zu der Gruppe der Jugendlichen um und schenkte ihnen ein zweideutiges Zwinkern. Eine ältere Frau schüttelte den Kopf und ich hätte vor lauter Euphorie singen können. Ich ließ mich auf einer der klebrigen grauen Plastikbände nieder und schlug die Beine übereinander. Meine Blicke suchten vergeblich nach Unglauben, ja auch nur einem Anflug von Abscheu oder Entsetzen in den Augen meiner Mitfahrenden. Wenn sie mich ansahen, sahen sie nichts weiter als ein junges Mädchen auf dem Weg zu einem Sommernachmittag in der Innenstadt. Ich triumphierte. Eine mechanisch klingende Frauenstimme verkündete die Stationsnamen, während ich aus einem der bekritzelten Fenster hinaus auf die glühende Stadt blickte. Ich war froh, als die U-Bahn endlich in die unterirdische Station im Zentrum einrollte und ich das stickige, schweißgetränkte Abteil und die ekelhaften, feucht-klebrigen Sitze hinter mir lassen konnte. Ein kühler Luftzug schlug mir entgegen, als ich die knallgelben Türen durchschritt. Es war ein höchst angenehmes Gefühl auf der nackten Haut und ich beneidete die Mädchen ehrlich darum, dass sie sich den ganzen Sommer hindurch den Luxus von knappen Miniröcken und bauchfreien Oberteilen gönnen konnten. Ich atmete noch einmal tief durch, dann nahm ich all meinen Mut zusammen und stieg eine der Rolltreppen hinauf. Die Tore zur Stadt taten sich mir auf wie der Vorhang zu meiner ganz persönlichen Theaterbühne. Trotz dem gelungenen ersten Akt in der U-Bahn schlug mir mein Herz immer noch bis zum Hals, als ich zunächst noch reichlich schüchtern, mit eher vorsichtigen Schritten hinaus auf das graue Pflaster trat, mitten in mein eigenes Publikum hinein. Falsch, schoss es mir durch den Kopf, ganz falsch. Ich war zwar ein bisschen schüchtern und die Stadt war ja auch noch neu für mich, aber ich hatte keinen Grund mich zu fürchten. Ich schielte in eine der Schaufensterscheiben und prüfte meinen Jessie-Gang Marke Absatzschuhe. Ich legte meinen Kopf ein wenig schief und schenkte der schwarzhaarigen Schönheit in der spiegelnden Glaswand ein bezauberndes Lächeln. Na also, ich konnte es doch! Ich wandte mich von meinem Ebenbild ab und lächelte stattdessen den nächstbesten Jungen an, der mir entgegenkam. Mein Lächeln wurde prompt, wenn auch reichlich verlegen erwidert. Langsam fühlte ich mich wohler. Ich stolzierte noch etliche Male die breite Einkaufsstraße auf- und ab, ohne irgendwelche seltsamen Blicke zu ernten. Ich genoss die Pfiffe der Jungen und Männer, ließ mich sogar in einem Geschäft von einer freundlichen Verkäuferin beraten und probierte einige Kleidungsstücke an, die ich mir natürlich im Leben nicht leisten konnte. Dann kehrte ich auf meinen asphaltenen Laufsteg zurück und ließ mich noch ein wenig bewundern, bis mir die Sonne irgendwann zu heiß und die immer gleiche Strecke langweilig wurde und ich beschloss, mir in einem Café ein kühles Getränk zu leisten. An diesem perfekten Sommertag waren die Außenplätze überfüllt und die Innenräume angenehm durch Klimaanlagen gekühlt, also trat ich eine eher kleine Bar namens "Seven Sins" ein und nahm auf einem der lederbezogenen Chromhocker an der Bar Platz. Das Licht in dem Raum kam von blauen Neonröhren, an der Decke drehten sich Ventilatoren. Die Wände waren schwarz, eine von ihnen zeigte das Bildnis eines weißhaarigen, wunderschönen Engels, der in einem innigen Kuss mit einem schwarzhaarigen Dämon versunken war. Auf einer anderen Wand ergriff ebendieser Engel die Hand seines Geliebten, wie um ihn zu sich zu ziehen, aber die ehemals schneeweißen Flügel des göttlichen Wesens waren pechschwarz. Während meine Augen die Einrichtung musterten, griff ich nach einer der Getränkekarten und wandte mich dann den mit weißer Schrift auf schwarzen Grund geschriebenen Drinks zu. Nach einiger Überlegung und einem höchst bedauernden Blick auf mein in Kürze dahinschwindendes Geld entschied ich mich für einen Cocktail namens Hochmut und teilte dem südländischen Barkeeper meine Bestellung mit. Ich wollte gerade den Preis zusammensuchen und bezahlen, als ich plötzlich eine Stimme hinter mir hörte. "Der Drink geht auf mich, Carlito!" Ich drehte mich leicht erschrocken herum und war in dem Augenblick reichlich froh, dass meine Haut regelrecht an dem schwarzen Leder festklebte und es mir gar nicht erst erlaubte, im ersten Überraschungsmoment schlicht und einfach von Stuhl zu kippen. Ich sah in das Gesicht eines Jungen, vielleicht ein bisschen älter als ich. Auf seinen Lippen lag ein leicht überheblich, aber doch unbestreitbar cool wirkendes Lächeln. Seine Gesichtszüge und vor allem seine unglaublich intensiven, dunklen Augen wiesen eindeutig auf einen asiatischen Ursprung hin, aber sein etwa schulterlanges Haar war blond wie das eines Engels - höchst wahrscheinlich gefärbt, verbesserte ich mich augenblicklich und fragte mich ernsthaft, wie ausgerechnet ich auf einen derart peinlichen Vergleich kommen konnte. "Ähm, danke, aber... das ist echt nicht nötig!" entgegnete ich hastig und warf dem offensichtlichen Playboy einen selbstbewussten Blick zu. Natürlich fühlte ich mich in Wahrheit von dem Angebot unsagbar geschmeichelt, aber das brauchte er ja nicht zu wissen und außerdem hätte er meine Freude ja ohnehin falsch verstanden. "Ich bestehe aber darauf!" Er schenkte mir ein umwerfendes Lächeln und wandte sich dem Mafioso-Verschnitt hinter der Theke zu, der mit seinen schwarzen, von Gel glänzenden Haaren und dem kleinen Spitzbärtchen tatsächlich wie die leibhaftige Reinkarnation Satans in irgendeinem Hollywood-Film aussah. "Na los, Carlito, für die Lady und mich zwei ,Hochmut' bitte." "Dabei haben wir ,Wolllust' heute im Sonderangebot!" grinste er und machte sich an seiner Vielzahl von Flaschen und Flüssigkeiten zu schaffen, bis er schließlich zwei hohe, dünne Gläser, gefüllt mit einer von Blutrot in leuchtendes Türkisblau übergehenden Flüssigkeit, hinter seinem Rücken hervorzauberte. Das unglaublich intensive Blau wurde von einer dicken Schicht aus zerstoßenem Eis in eine gletscherartige Oberfläche verwandelt, der Zuckerrand des Glases war wieder in dem blutigen Rot gehalten. Letztlich zierte noch ein transparenter Strohhalm das überaus erfrischend wirkende Gesamtkunstwerk. Ich löschte erst einmal meinen ersten Durst, dann nahm ich mir Zeit, meinen edlen Spender näher zu betrachten. Inzwischen hatte ich beschlossen, die Einladung anzunehmen - warum sollte ich die weibliche Eleganz, die ich mir während dem wochenlangen, knochenharten Survival-Training so mühsam erworben hatte, nicht wenigstens ein einziges Mal zu meinem Vorteil einsetzen? Mit einem Blick auf das überaus reichliche Trinkgeld, das der Blondschopf unserem diabolischen Barmann hinschob, erstickte ich den letzten Anflug von schlechtem Gewissen noch im Keim und genoss die kühle Flüssigkeit nun umso mehr. "Ich bin wirklich ein Glückspilz!" stellte mein Gegenüber fest, den Blick seiner dunklen Augen leicht abwesend auf einen der großen schwarzen Ventilatoren gerichtet. "Ich bin erst seit gestern wieder hier, und schon treffe ich das wahrscheinlich reizendste Mädchen der ganzen Stadt!" "Du weißt wohl, wie man Komplimente macht!" Ich schüttelte lachend den Kopf und sah an dem kurzen Zucken auf dem Gesicht des Jungen, dass er mit dieser Reaktion ganz offensichtlich nicht gerechnet hatte. "Ich muss zugeben, dass ich auch noch nicht lange in der Stadt bin, also kann ich über die restlichen Jungen in der Stadt leider noch nicht viel aussagen!" Er lachte, aber ich sah in seinen Augen, dass diese Geste alles andere als spontan und natürlich war. Ein bisschen tat mir unser Möchtegern-Playboy ja leid - wie hätte er auch wissen können, dass er bei mir ja eigentlich von Anfang an gar keine Chancen gehabt hatte? "Na, du weißt offensichtlich nicht, wie man Komplimente macht!" konterte er und stützte seinen Kopf auf eine seiner Hände. "Aber vielleicht verrätst du mir ja trotzdem deinen Namen?" "Vielleicht! Wenn du mir deinen sagst?" Ich zwinkerte ihm zu und beobachtete dann wieder die rot-blaue Flüssigkeit, die langsam meinen Strohhalm hinaufwanderte. "Es ist mir eine Ehre, Mylady!" In seinen Augen blitzte es leicht spöttisch auf, als er meine Hand ergriff und einen Kuss andeutete. Jetzt konnte selbst ich mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. "Gestatten, Tatsumi, zu ihren Diensten!" "Tatsumi also?" lachte ich und fand nun endlich eine Gelegenheit, meinen lange geübten, unwiderstehlichen Augenaufschlag auzuprobieren. "Ich bin Jessie. Eigentlich Jessica, aber den Namen habe ich schon seit grauer Vorzeit von niemandem mehr gehört!" "Hast du denn auch eine Handynummer, Jessie?" gab er mit einem nicht weniger verführerischen Augenaufschlag zurück. "Ja, aber die gebe ich dir nicht!" Ich grinste. "Du kannst mir aber gerne deine geben!" "Wie charmant..." "Ich weiß! Immer doch!" lächelte ich. "Aber um dich zu beruhigen, ich teile mir ein Handy mit meinem Bruder und es muss ja nicht sein, dass du ihm plötzlich ins Ohr säuselst." "Wer sagt, dass ich das bei dir machen würde?" Tatsumi öffnete seinen Ledergeldbeutel und zückte eine Visitenkarte. Ich nahm das kleine Kärtchen in die Hände und las prüfend die - sei es Zufall oder Schicksal - in weißen Lettern auf schwarzen Grund geschriebene Adresse durch. "Meine Fresse, wohnst du in einer noblen Gegend!" entfuhr es mir. Als ich Tatsumis Grinsen bemerkte, schlug ich mir eine Hand vor den Mund und errötete leicht. "Man kann schon sagen, dass meine Eltern eine ganze Menge Kohle haben. Deshalb war ich bis vor kurzem auch in so einem Nobelinternat untergebracht, aber ich hatte keine Lust mehr darauf und bin abgehauen. Deshalb geh ich jetzt wieder hier in der Stadt in eine Schule." "Cool!" stellte ich fest, ganz einfach weil ich nicht wusste, was ich sonst dazu sagen sollte. Ob es einem nun passte oder nicht, dieser Junge hatte einfach so eine Art, die einen schlichtweg für ihn einnehmen musste. Ich beschloss, das Gespräch so bald wie möglich zu beenden, bevor ich ihm tatsächlich noch Hoffnungen machte, die ich doch ohnehin nicht erfüllen konnte. "Und was machst du so?" "Ähm... ich... ich bin hier, um meinen Bruder zu besuchen und weil ich an einer Misswahl an seiner Schule teilnehmen will!" erklärte ich hastig und hoffte inständig, dass der Blondschopf mich nicht nach meiner eigenen schulischen Laufbahn fragen würde. Der allerdings zog nur die Augenbrauen hoch und sah mich mit einer Mischung aus Neugier, Interesse und Bewunderung an. "Eine Misswahl? Na da hast du dir aber was vorgenommen! Allerdings... Chancen hättest du ja. Und wie!" "Danke!" Ich kramte mein Geld wieder zusammen und ließ es in meiner lackschwarzen Handtasche verschwinden, die Mum mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte. "Du willst schon gehen?" In Tatsumis Blick las ich ehrliche Enttäuschung. Er hatte sich wohl ganz offensichtlich mehr von diesem Treffen erwartet. "Sorry, aber ich muss jetzt echt weg! Ich würde ja noch gern länger mit dir plaudern und mich mit Komplimenten überhäufen lassen - so etwas schadet dem Ego schließlich nie - aber ich hab heut noch einiges zu tun." "Sehn wir uns wieder?" "Vielleicht?" lächelte ich, erhob mich von meinem Hocker und zwinkerte dem Jungen noch einmal zu, bevor ich in Richtung Ausgang und Sommerhitze davonstöckelte. Ich spürte, wie sein Blick mich fixierte, blieb in der Türe noch einmal stehen und drehte mich zu ihm herum. "Ach übrigens, danke für den Drink! Ciao Ciao!!!" Mit einem letzten Winken verschwand ich aus der dunklen Bar und ließ meinen wahrscheinlich noch ziemlich verduzten Gönner zusammen mit der wundervoll kühlen Klimaanlage allein zurück. Überaus zufrieden und in zuversichtlicher Erwartung der nächsten Tage stolzierte ich ein letztes Mal meinen ganz persönlichen Catwalk hinab, die Rolltreppe in die unterirdischen Katakomben des U-Bahnhofes hinab und endlich in meine knallgelbe, inzwischen nicht mehr ganz so überfüllte Kutsche hinein, die mich nach Hause zurücktrug. Meine Füße schmerzten trotz aller Laufübungen fürchterlich und die drückende Luft war im Laufe des Tages auch nicht gerade besser geworden, trotzdem war ich wirklich glücklich, als ich mich auf meiner klebrigen braunen Bank zurücklehnte und versunken auf das Häusermeer hinter der bunt beschriebenen Scheibe blickte. Drei Tage später kam Tatsumi in meine Klasse. Unsere Lehrerin machte ein wichtiges Gesicht, als sie uns mit nahezu feierlicher Stimme mitteilte, dass wir einen neuen Mitschüler bekommen sollten. Offen gestanden, mich interessierte diese Neuigkeit nicht im Geringsten. Was sollte das denn schon für ein Mensch sein? Ich meine, ich kannte meine Mitschüler ausreichend gut genug, um zu wissen, dass zwischen den meisten von ihnen eh kein allzu großer Unterschied bestand. Sie waren im Grunde genommen austauschbar. Gut, die Schüler auf meiner alten, heruntergekommenen Schule in den Slums waren größtenteils Arschlöcher, aber dabei hatten sie wenigstens Stil. Die wohl erzogenen Mitläuferchen der Lucien-Chamberlain-High School konnte man wohl am besten mit zwei treffenden Schlagwörtern beschreiben: gähnende Langeweile. Ich legte keinen Wert darauf, in irgendeiner Weise näheren Kontakt zu ihnen aufzubauen, und, ganz ehrlich, dass unser Neuer der Sohn und Alleinerbe irgendeines reichen Konzerninhaberehepaares war, machte die Sache auch nicht gerade spannender. Denken sie jetzt bitte nichts Falsches. Ich hatte damals eben noch keine Ahnung davon, wie sich die Ereignisse noch entwickeln sollten, und so saß ich nur mit desinteressierter Miene an meinem Platz in der vorletzten Reihe am Fenster und spielte gelangweilt mit meinem Bleistift. Ich begriff noch nicht einmal, was danach geschah, als die Türe geöffnet wurde und eine Gestalt mit schwarzer Hose und einem weißen Hemd hereintrat. Ich blickte zwar auf, warum auch immer, aber erst nach einigen Sekunden erkannte ich den Jungen, der da gerade eben hereingetreten war. Und nach diesen einigen Sekunde musste ich mich beherrschen, keinen lautstarken Lachkrampf zu kriegen. Auf Tatsumis Gesicht lag immer noch jenes einnehmende, leicht arrogant wirkende Lächeln. Das war aber auch schon alles, was er mit dem Aufreißer aus dem Seven Sins gemeinsam hatte. Er trug eine Brille, sein schulterlanges Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Einige lose Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Um seinen Hals baumelte eine silberne Kette mit einem Kreuzanhänger. "Nun stell dich doch deiner neuen Klasse mal vor!" forderte die Lehrerin ihn auf. Ich bemühte mich krampfhaft, den blonden Jungen nicht allzu auffällig anzustarren. Tief in meinem Inneren rechnete ich wohl damit, dass er einen ganz anderen Namen nennen würde. Immerhin war es praktisch unmöglich, dass unser Playboy vom Dienst hier seinen Dienst als Traum aller Schweigermütter antrat. Ich senkte meinen Kopf als ich merkte, dass er meinen Blick aufgefangen hatte. "Gut. Mein Name ist Tatsumi Asagi. Ich bin erst seit ein paar Tagen wieder in der Stadt, davor war ich auf einem Internat. Meine Lieblingsfächer sind Latein und Biologie." Er schenkte den Mädchen in der ersten Reihe einen tiefen Blick und erntete spontan einige leise Seufzer. Sogar Monica, die für ihr endloses Repertoire an Männerwitzen und ihre besondere Vorliebe für sämtliche Serien, in denen hübsche, erfolgreiche Karrierefrauen Mitte 30 hobbyweise Männer aufrissen und schmutzige Gespräche am Telefon führten, bis weit über die Grenzen unserer bekannt war, bekam einen leicht entrückten Gesichtsausdruck und begann spontan, mit einer Strähne ihres goldblonden Haares zu spielen. "So, ihr werdet euch ganz bestimmt gut verstehen... hmm..." Unsere Lehrerin blickte sich mit suchenden Augen im Klassenzimmer um. Sehr zu meinem Entsetzen blieb ihr Blick ausgerechnet auf mir - genauer gesagt, auf dem Tisch neben meinem eigenen hängen. Sie sah nicht begeistert aus, aber sie lächelte, und irgendetwas an diesem Lächeln machte mir unmissverständlich klar, dass dies der letzte freie Platz im gesamten Klassenzimmer war. "Tatsumi, du kannst dich erst einmal zwischen Jesse und Kylie setzen. Falls du lieber weiter nach vorne möchtest, lässt sich das sicher noch regeln." "Vielen Dank, Mrs. Michaels", lächelte Tatsumi und schritt hoch erhobenen Kopfes durch die Reihen der Schüler bis zu jenem heiligen Tisch, der mich Tag für Tag von meinen Klassenkameraden getrennt hatte - zumindest ein kleines bisschen. Aber nicht nur die Tatsache, dass mein Schutzwall letztendlich doch noch gefallen war, machte mir Angst. Ich weiß, es mag absurd klingen, in anbetracht der Tatsache, dass ich bald vor der gesamten Schule über eine kleine, hell erleuchtete Bühne stolzieren sollte, aber ich fürchtete wie niemals zuvor um meine, oder besser gesagt um Jessies geheime Identität. Tatsumi war ein Risiko, das ich nicht einkalkuliert hatte und - wie sich sehr bald herausstellen sollte - auch nicht kontrollieren konnte. "Hey!" grüßte der Blondschopf, vielleicht in meine, vielleicht in Kylies Richtung - höchstwahrscheinlich auch in beide. Ich bemühte mich krampfhaft, meine gelangweilte Teilnahmslosigkeit nach außen hin aufrecht zu erhalten, doch ich spürte, wie mir meine Fassade mit jeder Sekunde ein bisschen mehr entglitt. Ich fühlte Tatsumis prüfenden Blick wie eine Klinge im Nacken und konnte gar nicht anders, als ihn gegen meinen Willen zu erwidern. Noch im nächsten Moment begriff ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. "Sag mal, kennen wir uns?" raunte der Blondschopf mir zu und zog eine Augenbraue hoch. "Ähm, nicht dass ich wüsste, " murmelte ich ausweichend und bemühte mich, auch nur den leisesten Anflug von Jessies Tonfall und Sprechweise aus meiner eigenen Stimme zu verbannen. Unter der Bank spielte ich nervös mit meinen Fingern. "Das ist aber seltsam... warte mal... Jessie? So nannte dich die Lehrerin doch, oder?" Seine dunklen Augen blinzelten mir überrascht entgegen und ich wäre am liebsten im Erdboden verschwunden. "Ja? Und?" "Moment mal - Jessie? Jessie aus dem Seven Sins?" "Häh?" Wieder einmal war ich heilfroh um jede Stunde, in der ich vor dem Spiegel meine eigene Mimik mit der von Jessica verglichen und schließlich beide von einander entfremdet hatte. Dieser kostenlose Schauspielunterricht kam mir jetzt nur allzu sehr zugute, trotzdem schlug mir das Herz bis zum Hals. Meine Handflächen klebten feucht aufeinander. Warum musste das Schicksal immer ausgerechnet mir solche tückischen Stolpersteine in den Weg legen, ausgerechnet dann, wenn ich dem Ziel gerade ein Stückchen näher gekommen war? "Aber - nein. Das kann nicht sein." Er rutschte mit seinem Gesicht ein Stückchen näher an mein eigenes heran. Sein Blick durchbohrte mich nahezu. "Sag mal, sorry, wenn die Frage jetzt etwas indiskret kommt, aber... bist du ein Mädchen oder ein Junge?" "Was?!?" Diesmal musste ich mich nicht einmal anstrengen, denn meine Empörung war keineswegs gespielt. Wie hatte ich nur jemals daran zweifeln können, tatsächlich den Tatsumi vor mir zu haben? Konnte irgendein normaler, vernünftiger Mensch derart ungerührt so unglaublich unverschämt sein? "Hey, was für Probleme hast du eigentlich?" Ich sah, dass die Lehrerin mir einen bösen Blick zuwarf, und fuhr in deutlich leiserem Tonfall fort - nachdem ich einmal tief durchgeatmet und mich ein Stück weit beruhigt hatte. "Seh ich etwa aus wie eine Tussi oder was?" "Ehrlich gesagt, ja!" Tatsumi rückte sich seine Brille zurecht und sah nicht einmal ein kleines bisschen verlegen aus. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Ich konnte zwar nicht genau sagen, warum, aber dieser Typ regte mich auf. "Aber mal abgesehn davon hab ich am Wochenende in der Stadt so ein süßes Ding namens Jessie in einer Bar getroffen. Wär ja auch zu schön gewesen, wenn die Kleine in meiner Klasse gewesen wäre." "Jetzt hör mal zu!" Um meine Beherrschung war es endgültig geschehen. "Diese Kleine ist zufällig meine Schwester, und du lässt die Finger von ihr, OK?" "Deine... Schwester?" Der blonde Junge sah einen Augenblick lang ein wenig überrascht aus, dann jedoch lächelte er und mir wurde langsam aber sicher bewusst, dass ich schon wieder einen Fehler gemacht hatte. "Jetzt wird mir einiges klar! Ihr seht euch ja wirklich verdammt ähnlich... seid ihr Zwillinge? Jesse und Jessica... nein, wie niedlich!" "Halt doch dein dummes Maul!" "Hat sie schon nen Freund?" "Wie bitte?" "Na, ist sie noch zu haben oder gibt es da Konkurrenz, die erst noch beseitigt werden muss?" Ich konnte nicht anders, als entgeistert die Augen aufzureißen. Was bildete sich dieser Firmenbesitzersohn da eigentlich ein? Ich unterdrückte mit einiger Mühe den Impuls, meine Faust in sein hübsches Gesichtchen zu platzieren und warf ihm stattdessen einen vernichtenden Blick zu. "Also, erstmal geht dich das einen Scheißdreck an, und außerdem, hast du sie noch alle? Wenn sie schon nen Freund hat, dann wird sie den bestimmt nicht wegen so einem arroganten Aufreißer aufgeben, hast du das kapiert?" "Schon klar!" Tatsumi winkte gelangweilt ab. "Aber wenn, dann kann's mit ihrer Beziehung nicht allzu weit her sein. Würde sie sich sonst von einem arroganten Aufreißer zu einem Drink einladen lassen?" "Ach, was weiß ich. Außerdem bleibt sie eh nicht lang in der Stadt." "Hab ich schon gehört, sie will an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen. Gute Idee. Wenn ich mir diese Tussen hier in der Klasse anschaue, hat sie schon gewonnen. Aber kann sie überhaupt mitmachen, wenn... oder geht sie etwa an diese Schule?" "Nein, tut sie nicht, mach dir erst gar keine Hoffnungen. Und lass sie gefälligst in Ruhe." Ich wandte mich wieder meinem Heftaufschrieb zu, aber Tatsumi dachte ganz offensichtlich gar nicht daran, das Thema auf sich beruhen zu lassen. "Hat sie denn was von mir erzählt? Oder hat sie vor, mich anzurufen?" "Da brauchst du mich nicht zu fragen, aber ja, erzählt hat sie von dir." "Echt?" In Tatsumis Augen blitzte es. "Und was? Lass mich raten, sie bereut es jetzt, dass sie sich so bald wieder aus der Stadt verziehen möchte?" "Irgendwie schon..." Meine Lippen verzogen sich zu einem derart boshaften Lächeln, dass ich mich beinahe, aber eben auch nur beinahe selbst ein bisschen vor mir erschreckte. "Weißt du, sie meinte, dass sie heute in der Stadt so einen eingebildeten, selbstverliebten Idioten getroffen hat, der doch tatsächlich so blöd war, ihr den Drink zu bezahlen. Oh, und wenn sich nicht noch mehr solche Trottel finden lassen, will sie auch vielleicht noch mal anrufen. Sie ist nämlich zurzeit ein bisschen knapp bei Kasse." Das hatte gesessen! Tatsumis Gesichtsausdruck veränderte sich zwar nicht nennenswert - er schien sich wirklich verdammt gut unter Kontrolle zu haben - doch an dem Ausdruck in seinen Augen ließ sich unschwer erkennen, dass er mit so einer Antwort um nichts in der Welt gerechnet hatte. Ich grinste in mich hinein und beachtete ihn nicht weiter. Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, von Tatsumi in den nächsten Wochen bestimmt nicht mehr belästigt zu werden. Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass ich nichts von dem ersten Treffen der hoffnungsvollen Nachwuchsmodells geschrieben habe. Nun, ich habe mich entschlossen, die Reihenfolge der Dinge ein kleines bisschen anders zu ordnen, in der Hoffnung, sie damit nicht allzu sehr zu verwirren. Außerdem gestaltete sich der große Tag als weitaus weniger aufregend, als ich erwartet hatte - sehr zu meiner Erleichterung übrigens. Außer mir waren von den zahlreichen Interessentinnen nur noch ganze fünfzehn erschienen. Nun saßen sie dicht zusammengedrängt auf dem Fußboden der Turnhalle, wo in einer Woche die große Vorausscheidung für die Lucky-Karma-Misswahl stattfinden sollte. Aus irgendeinem Grund lag jedoch weder feierliche Anspannung noch sonst irgendeine besondere Atmosphäre im Raum, die auf dieses große Ereignis hinweisen sollte. Da war lediglich ein Haufen schnatternder, hübscher Mädchen, der mit mäßiger Aufregung auf die ewig jung gebliebene Mrs. Cartwright wartete. Auf den ersten Blick erkannte ich nur Monica, Tanith, die Blonde, die mich an jenem Abend vor drei Wochen auf mein stilvolles Outfit hingewiesen hatte, außerdem noch ein dunkelhaariges, südländisch aussehendes Mädchen aus der Para-Klasse, von der ich zufällig wusste, dass sie Alicia hieß. Ansonsten war wirklich jeder Typ Mädchen vertreten, den man sich irgendwie vorstellen konnte, exotisch, niedlich, aufreizend, was auch immer. Ich wurde leicht unsicher und wünschte mir im Stillen, dass Mrs. Cartwright doch endlich kommen würde. All diese geballte weiblich Schönheit ließ mich ganz plötzlich und trotz all meines Trainings an meiner Authentizität zweifeln. Ansonsten gibt es von diesem Treffen wirklich nicht viel zu erzählen. Ich hatte meine schöne Schwester ja schon vor über einer Woche zu dem Wettbewerb eingetragen und die endgültige Entscheidung zur Teilnahme war längst getroffen. Jetzt kannte ich das Gesicht meines Feindes, beziehungsweise meiner Konkurrentinnen und hatte nicht mehr viel zu tun, außer eine Startnummer zu ziehen. Ich erwischte die Nummer 8, tauschte dann aber mit einem Mädchen, dass beim Anblick ihrer Nummer 13 einen mittelschweren hysterischen Anfall erlitt. Nun, ich war nicht wirklich abergläubisch, außerdem mochte ich diese Zahl und hoffte außerdem, als eine der letzten Teilnehmerinnen einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Wie auch immer, jedenfalls hatte ich letzten Endes die Startposition 13 und ging weder beruhigt noch beunruhigt nach Hause. Ich wusste ja noch nicht, dass meine Hoffnungen in wenigen Tagen ohnehin zerschlagen werden sollten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)