PredElection von YourBucky ================================================================================ Kapitel 1: Part I - Genesis --------------------------- PredElection *puh* Als ich diese Geschichte begonnen habe, hatte ich noch keine Ahnung, was sich daraus entwickeln würde. Ich hatte eine Idee, ein paar mehr oder weniger verrückte Charaktere und viel zu wenig Zeit. Und dann wurde die Story länger und länger und noch ein bisschen länger... und auch jetzt ist das Ende noch lange nicht in Sicht. Deshalb habe ich kurzerhand das, was ich bisher verbrochen hatte, in Kapitel aufgeteilt und fange nun einfach mal mit hochladen an... ^^;;; Ich freue mich über wirklich jeden Commi, ich kann ein wenig Motivation sehr gut gebrauchen! Eine besondere Widmung mal wieder an meinen FF- und Co-Autor Son-Goku Daimao, deine Geschichten sind so unglaublich genial und inspirierend! ^^ Und natürlich an Tía, Picco und Marron... und alle, die das lesen! Part I - Genesis Hi! Ich hoffe, sie hatten einen schönen Abend und einen noch besseren Tag, ganz ehrlich, auch wenn wir uns noch kaum kennen. Gestatten sie, dass ich mich erst einmal vorstelle? Nun, ehrlich gesagt gibt es da nicht viel zu erzählen. Mein Name ist Jesse, Jesse Maguire, wenn sie's gern vollständig haben möchten, ach, ist ja auch egal. Ich bin vor knapp einem Monat 21 Jahre alt geworden und sie müssen wissen, ich bin nur bedingt ein Freund großer Worte, also will ich nicht lange abschweifen, sondern lieber gleich anfangen, diese Geschichte zu erzählen, nein, aufzuschreiben, wie auch immer. Bitte, hören sie nicht gleich auf zu lesen, nur weil diese Einleitung etwas unbeholfen klingt, ich mag nicht der Klügste sein, aber ich schwöre ihnen, ich kann es besser. Ich weiß nur nicht, wie ich anfangen soll. Aber sie haben mich nun einmal um diesen Bericht gebeten und ich hoffe, ich werde ihnen meine Gründe erklären können. Ich habe keine Ahnung, was genau sie von mir hören wollen, aber sie mögen mir verzeihen, dass ich diese verfluchte Rechtfertigung nicht in einer halben Seite abhandeln kann. Ich kann und, entschuldigen sie mich, ich will es auch gar nicht. Wissen sie, ich habe wirklich lange darüber nachgedacht, wie ich ihnen die ganze Sache so beibringen soll, dass sie mich - uns - verstehen. Sie glauben ja gar nicht, wie viele Nächte man wach liegen kann. Übrigens, ja, es stimmt, nach 48 Stunden fangen die Halluzinationen an, aber an die bin ich gottlob ja schon gewöhnt. Das Nachtprogramm der Privaten ist besser, da wiederholen sie die ganzen Shows vom Nachmittag. Ich bin nicht anspruchsvoll... ich schweife schon wieder ab. Das liegt daran, dass ich so verdammt aufgeregt bin, ich meine, es geht hier um viel, um wirklich viel. Der Gedanke macht mich nervös. Es ist so, nach all dem Nachdenken kam ich jedenfalls zu dem Schluss, dass es alles keinen Sinn macht, wenn ich nicht ganz von vorne anfange. Wissen sie, da waren diese beiden Menschen, Adam und Eva hießen sie, die waren im Paradies. Doch dann kam eines Tages diese fiese, hinterlistige Schlange und... nun kucken sie doch nicht so entsetzt! War ein blöder Witz, sorry, ich weiß. Wie gesagt, die Nervosität. Allerdings, um sie gleich zu warnen, ich werde sehr wohl bei einer Schöpfungsgeschichte anfangen, bei meiner nämlich. Ich sagte ja bereits, ich habe wirklich lange nachgedacht, aber wenn sie den ganzen Wahnsinn verstehen wollen, muss ich ein wenig ausholen. Was soll ich noch sagen? Setzen sie sich hin, holen sie sich was zu Trinken und entschuldigen sie mich, bitte, wenn sie der verlorenen Zeit später allzu sehr nachtrauern. Lehnen sie sich zurück - ich hoffe, sie haben es bequem? - und folgen sie mir ein paar Jährchen zurück. Genesis 1, die Erschaffung des Jesse Maguire. Nein, ich fange jetzt nicht mit Bienchen und Blümchen an, bei Gott, wir wissen doch alle, wie so etwas abläuft. Meine Mum wusste es ganz besonders gut, sie hatte sogar richtig Übung, beruflich gesehen. Wer genau jetzt eigentlich mein Vater war, weiß wahrscheinlich nicht einmal der Herr im Himmel persönlich. Nicht, dass sie jetzt etwas Falsches denken, natürlich wusste Mum sehr wohl über Schwangerschaft und Verhütung bescheid, aber Unfälle passieren nun einmal. Nehmen wir doch mal die Sache mit den Flugzeugen. Der beste Pilot des ganzen Planeten könnte mit einer tausendfach prämierten Crew zum abertausendsten Mal die ungefährlichste Strecke seit Anbeginn der Zeiten abfliegen - was glauben sie, passiert mit ihm, wenn er einen akuten Triebwerkschaden hat? Eben! Gegen technisches Versagen ist selbst der moderne Mensch immer noch vollkommen hilflos. Bei Mum lief dieser technisch bedingte Unfall zugegebenermaßen etwas weniger spektakulär ab, ehrlich gesagt, sie merkte es nicht einmal. Zumindest nicht sofort. Ich glaube nicht, dass sie es einfach nur nicht wahrhaben wollte, sonst wäre sie sofort zu einem Arzt gerannt und hätte die unliebsamen Folgen ganz sauber wieder beseitigen lassen. Nein - sie bemerkte das ganze Unglück erst, als es schon längst zu spät war. Was soll ich sagen, sie war frustriert und ich kann sie verstehen. Stellen sie sich doch mal vor, in ihrem Beruf und dann mit so einer dicken Kugel vor den Hüften... mal abgesehen davon, dass für manche Menschen eben doch nicht nur die inneren Werte zählen, bei gewissen Tätigkeiten ist es einfach hinderlich. Verzeihen sie, das gehört nicht hierher. Ich will mich jetzt auch kurz fassen: ein paar Monate oder Wochen oder wie auch immer erblickte dann ein Baby das Licht der Welt, ein süßes kleines Ding, vollkommen hilflos, mit riesigen unschuldigen Augen. Es wird sie jetzt nicht groß überraschen - das Baby war ich und als Mum mich sah, war sie doch irgendwie froh. Ich glaube, sie war sogar erleichtert, dass all die Partys und Drinks und Drogenexszesse dem kleinen Ding nicht geschadet hatten. Wissen sie, Mum war nie sehr konsequent im Verfolgen ihrer Pläne und ich schien als Ungeborenes eine richtige Kämpfernatur gewesen zu sein, jedenfalls lebte ich und schrie und machte mir in die Windeln, wie alle Babys das tun. Die Krankenschwestern der Kinderstation standen oft ganz einträchtig neben meinem Bettchen und lachten in ihren weißen Röckchen und Blusen. "So ein süßes kleines Mädchen!" sollen sie angeblich oft gesagt haben, und kam irgendeine andere Schwester und klärte sie schmunzelnd darüber auf, dass dieser putzige Winzling doch eigentlich eher männlicher Natur war. "Ach nein, tatsächlich?" riefen die pferdeschwanztragenden jungen Frauen dann und schlugen sich mit der Hand gegen die Wange, so als könnten sie gar nicht wirklich glauben, was ihre glubschäugigen Kolleginnen ihnen da erzählten. Offen gesagt, ich halte diese Schwestern für dumm. Wenn man nicht zufällig selber gerade Mutter geworden ist, sehen doch alle Säuglinge gleich aus, machen wir uns nichts vor. Manche Jungen sind eben zierlicher und kleiner und süßer als andere - aber muss man deshalb gleich einen mittelschweren Herzinfarkt davontragen, wenn man erfährt, dass der winzige Glatzkopf kein goldiges Mädchen ist? Finden sie, ich reagiere zu genervt? Nun ja, das könnte damit zusammenhängen, dass es wirklich viele Schwestern gab, die mich kurzerhand dem anderen Geschlecht zuordneten. Und stellen sie sich vor: das hörte nicht etwa auf, als ich aus dem kritischen Alter heraus war, in dem man ja ohnehin von oben und unten gleich aussieht. Vielleicht lag es ja auch daran, dass ich nicht gerade in einen besonders schönen, großen, luftigen Kindergarten in irgendeiner süßen Vorstadt ging. Ich kannte die Welt von weißen Häusern und Zäunen und kitschigen pinken Flamingos im Garten sehr genau - ich habe schon immer viel Zeit vor dem Fernseher verbracht. Ich persönlich verbrachte mein bestes Alter in einem ziemlich dreckigen, versifften Loch irgendwo in der Bahnhofsgegend einer Großstadt. Wir waren wirklich viele Kinder dort und unsere Kleidung glich alten, ausgetragenen Uniformen - nicht etwa so wie die verwöhnten Bälger höherer Klassen, wo die süßen kleinen Mädchen mit Zöpflein, Rüschenrock und Kniestrümpfen durch ihr fröhliches Leben hüpfen. Ganz ehrlich, wir sahen alle mehr oder weniger gleich aus und natürlich waren unsere Erzieherinnen nicht sonderlich gut ausgebildet und genervt... Es ist überhaupt kein Wunder, dass sie mich ständig dem falschen Geschlecht zuordneten. Ständig waren andere geschundene, entnervte Aufpasserinnen da, sie konnten sich doch nicht jedes Gesicht merken! Und trotzdem reagierte ich anfangs stets mit kindlichem Trotz darauf, wenn wieder einmal eine jener übermütterlichen Frauen auf mich zugeschwebt kam und sich säuselnd zu mir herunterbeugte: "Na, waren wir heute mal wieder ein ganz wildes Fräulein?" Ja, es regte mich auf. Ich war kein Fräulein und ich war nicht wild. Es ist nicht so, dass ich Angst vor den ganzen fremden Kindern hatte - es waren nur einfach ein bisschen viele davon und ich hatte zuhause schon genug Ärger. Ich habe mich nicht mit anderen geprügelt. Zumindest nicht oft. Schön, manchmal bin auch ich ausgerastet, aber jede Geduld hat Grenzen und die sollte man nicht überschreiten. Würden sie es sich einfach so gefallen lassen, wenn man ihre Mutter als Schlampe bezeichnen würde? Schön, ich gebe zu, bei ihnen wäre das etwas anderes, aber ich begriff schon damals, dass Mum für ihr Geld hart arbeitete. Ich konnte es nicht leiden, wenn die anderen darüber lachten, nur, weil sie gar keine Ahnung hatten, wovon sie redeten. Vielleicht hatten sie es von ihren feinen Eltern gehört, aber im Gegensatz zu den meisten von denen hatte Mum wenigstens einen Job. Natürlich zog ich bei Auseinandersetzungen körperlicher Art meistens den Kürzeren, aber das war mir eigentlich ziemlich egal, einstecken konnte ich schon immer ganz gut. Außerdem kamen die meisten blauen Flecken gar nicht davon, dass ich mich wegen jedem Mist geschlägert habe, so ein Kind war ich nicht - das hatte ich nicht nötig. Mum hatte ganz einfach viele Männer, sie kamen und gingen und behandelten sie wie ein Stück Dreck, das ihnen ein wenig Befriedigung geben konnte. Die meisten von ihnen mochten mich nicht, keine Ahnung warum, ich störte sie anscheinend. Aber ich habe sie bestimmt nicht provoziert. Ich war nicht wild, nur weil ich ständig aussah wie ein Preisboxer kurz nach seinem Kampf. Und natürlich war ich kein Mädchen. Ich habe mich oft gefragt, woran es denn lag. Sicher, ich trug mein Haar verhältnismäßig lang, vorne fast bis zu den Schultern, hinten kürzer - aber wer hätte es mir denn auch geschnitten? Schön, ich war klein, ich war zierlich, ich war blass und sah aus wie eine besonders hübsche Puppe, zerbrechlich, ein wenig so wie gerade erst verstorben... aber musste mich deshalb alle Welt für ein wildes Fräulein halten? Denken sie jetzt bitte nicht, ich hätte einen Schaden davongetragen deswegen. Ich möchte ihnen ja nur erklären, wie es zu dieser Idee kam. Sie sollen nur nicht denken, dass ich in irgendeiner Weise gestört bin. Vielleicht versetzen sie sich einmal in meine Lage - versuchen sie es zumindest. Ich war ein Kind. Es war ja nicht so, dass Mum mich nicht liebte. Sie liebte mich sogar sehr, ganz ehrlich, aber sie war eben einfach nicht so ganz in der Lage, auch angemessen für mich zu sorgen. Sie hatte ja selber kein schönes Leben und deshalb habe ich mir alle Mühe gegeben, so gut ich nur irgendwie konnte für sie dazusein, wenn sie wieder einmal mit irgendwelchem Stoff vollgepumpt in einer Ecke lag, um die böse Welt wenigstens für kurze Zeit vergessen zu können. Ich war eben noch klein, darum hat es mich schon irgendwie mitgenommen, die ganze Situation. Ich saß öfters draußen in dem dunklen Treppenhaus mit den hellgrau-braun gemusterten Stufen und den dem dünnen schwarzen Treppengeländer, das an etlichen Stellen mehr schlecht als recht zusammengeflickt war. Ich hatte damals so einen uralten Teddy, mit dem habe ich immer gespielt. Er hatte nur noch ein Auge, eines seiner Ohren war herausgerissen (dort quollen immer die verklebten Reste der Füllung aus seinem geschundenen Körper) und sein Fell war ganz räudig und struppig, aber er war eben mein Teddy und ich mochte ihn. Und eines Tages bekamen wir dann diese neue Nachbarin. Es war eigentlich nichts Ungewöhnliches, die Menschen kamen und gingen in unserem alten, halb verfallenen Hochhausbau und keiner kümmerte sich darum. Aber diese Nachbarin war anders. "Hey, meine Kleine, warum weinst du denn?" Ich erinnere mich noch heute an den Klang ihrer Stimme. Es redeten nicht oft Menschen in diesem Tonfall mit mir, so vollkommen freundlich und irgendwie... besorgt... ich glaube, ich kann das nicht beschreiben, aber es ist ein Unterschied, ob jemand mit einem Kind redet oder mit einem Tier. Ich nehme es den Kindergärtnerinnen nicht übel, sie mussten sich täglich mit verdammt vielen von uns Plagen herumschlagen und einige hatten wirklich die Manieren eines tollwütigen Kampfhundes. Aber davon einmal abgesehen sehnt sich doch jedes Kind ganz tief in seinem Innersten nach ein wenig Liebe und Zuwendung, und vielleicht war es diese tief in meiner Psyche vergrabene Sehnsucht, die mich zu einer völlig Fremden augenblicklich Vertrauen fassen ließ. "Mum geht es nicht gut!" schniefte ich und wischte mir mit meinem fleckigen Ärmel über die Augen. Ich ging nicht weiter auf die wohlbekannte Verwechslungsgeschichte ein, wahrscheinlich nahm ich an, dass sich die Sache von selbst aufklären würde. "Oh, ist deine Mummy denn krank?" Mit einer zärtlichen Geste wuschelte sie mir durch mein strähniges Haar. Ihr durch und durch vertrauenswürdiges Lächeln ließ Reihen blitzend weißer Zähne erkennen, die sich leuchtend von ihrer dunklen Hautfarbe und ihren kaffeebraunen Lippen abhoben. Sie war nicht mehr ganz jung, vielleicht war sie auch einfach nur zu schnell gealtert, aber trotz allem war sie eine sehr gut und vor allem unheimlich sympathisch aussehende Frau. "Nein, sie ist nicht krank", antwortete ich in meiner kindlichen, naiven Ehrlichkeit. "Ihr neuer Freund hat sie sitzen gelassen und deshalb geht es ihr nicht gut und sie brauchte mal wieder, na ja, sie nennt es einen kleinen Trost, aber ich glaube, das sind Drogen oder so." "Drogen?" Sie riss ihre runden Augen weit auf. Ihre Iris war beinahe schwarz, das verlieh ihrem Blick unweigerlich etwas sehr eindrückliches. Ich zog meine Beinchen fester an meinem Körper und streichelte mit einer Hand über das dünne, struppige Fell meines Teddys. "Kommt das denn öfters vor?" "Ab und zu halt... wenn es ihr schlecht geht..." Irgendetwas in meinem Gesicht musste ihr verraten, dass es Mum verdammt oft schlecht ging. Sie strich mir mit einer Hand durch mein schwarzes Haar, die andere platzierte sie in beinahe mütterlicher Besorgnis auf meiner dünnen Schulter. "Du armes kleines Ding!" Ich weiß selber nicht, warum mich dieser Satz nicht aufregte, denn bei jedem anderen Menschen, in jeder anderen Situation hätte er höchstwahrscheinlich schlichtweg meinen kindlichen Trotz geweckt. Ich hasste Mitleid. Mitleid empfand ich immer als eine schrecklich herablassende, gönnerhafte Emotion, die einen automatisch auf eine tiefere Stufe hinab degradierte. Ich weiß auch nicht, warum ich ihr dann in die Wohnung gegenüber folgte. Sie hatte mir Tee angeboten, Tee und Plätzchen. Natürlich war dieses Angebot durchaus verlockend, aber ich war ein Kind der Slums, ich folgte normalerweise keinen fremden Menschen in fremde Häuser. Man hörte ja öfters diese Geschichten, von Mum, von den Erzieherinnen... dass nette Onkel und freundliche Tanten kleine Straßenkinder mit sich lockten und dann an irgendwelche Zuhälter verkauften. Ich wusste damals nicht, was ein Zuhälter ist, aber ich stellte mir immer einen großen, bösen Mann vor, der mit den hilflosen Kleinen unschöne Dinge anstellte. Keiner von uns ahnte natürlich, was für unschöne Dinge damit eigentlich gemeint waren, aber in meiner Fantasie war ein Zuhälter ein bisschen so etwas wie eine grausame alte Hexe in einem Märchen, die Kinder einsperrte, um sie dann als Sonntagsbraten zu verspeisen. Jedenfalls war ich wirklich vorsichtig, ich besaß mehr als nur ein gesundes Misstrauen gegenüber Fremden. Na ja, ich hatte dank Mums Freunden ja auch schon genügend Erfahrungen gemacht, die mich fest daran glauben ließen, dass es Dinge gab, die schlimmer waren als Zuhälter-Hexen. "Na, dir scheint es aber zu schmecken!" Ich weiß noch heute, wie meine Nachbarin gelacht hat, bei jedem einzelnen Plätzchen, dass ich mir an jenem warmen Nachmittag genommen habe. Ich lachte zurück. Ich fühlte mich sofort wohl in ihrer kleinen Wohnung, obwohl sie meiner eigenen sehr ähnlich war. Allerdings gab es hier eine Tapete, eine grüne Tapete mit einem Blumenmuster - ich war begeistert davon. Vielleicht hatte vor meiner Nachbarin ein altes Ehepaar in diesen engen vier Wänden gelebt. Nicht nur jener besagte Wandschmuck, auch die Möbel und sogar die Lampen wirkten irgendwie altmodisch, obwohl ich das als Kind natürlich noch nicht begriffen habe. Der recht niedrige, viereckige Tisch und die Schränkchen und Regale waren aus sehr dunkelbraunem Holz. Es gab ein Sofa und zwei ziemlich große und breite Stühle, die mit einem eher rauen Stoff bezogen waren. Er war Hellbraun und war mit ganz feinen dunkelbraunen Streifen überzogen, die sich so ein bisschen von dem Rest abhoben. Man konnte sie spüren, wenn man mit dem Finger darüber fuhr. Die Lampe über dem Tisch hatte einen Lampenschirm, ich glaube er war aus demselben Material, und ringsherum hingen hellbraune Fransen hinunter. Und es gab noch mehr faszinierende Dinge in der kleinen Wohnung. Zum Beispiel eine richtige Standuhr. Sie sah sehr alt aus, aber nicht wertvoll. Trotzdem war ich wie gebannt von den goldenen Pendeln, die sich hinter dem verglasten, gesprungenen Gehäuse bewegten. Meine Nachbarin hatte meine gebannten Blicke natürlich bemerkt und lies mich einmal sogar eines der Pendel berühren - ich schwebte im siebten Himmel. Und es ging noch weiter! Die Wohnung hatte einen Teppich! Einen echten Teppich mit ganz, ganz hellbraunen Haaren. Er war richtig weich, wenn ich mit meinen nackten Füßen darüber ging, fühlte ich mich wie ein Wolkenläufer und wollte mich am liebsten gar nicht mehr hinsetzen. Ich glaube, sie hat die Plätzchen sogar selber gebacken. Sie schmeckten wirklich köstlich und dufteten immer mit ihrem Tee um die Wette. Ich habe an dem Tee sogar noch lieber gerochen, als dass ich ihn getrunken habe, glaube ich. Aber natürlich war auch der Geschmack schlichtweg traumhaft - nach Vanille und Himbeeren. Ich hatte noch nie zuvor Himbeeren gegessen, aber weil ich den Tee so gern mochte, versprach mir meine Nachbarin, irgendwann einmal welche für mich zu kaufen. Manchmal warf ich mir zuviel Zucker in den Tee und konnte ihn dann kaum noch trinken. Das lag an den Zuckerstücken, die meine Nachbarin immer in einem grün-weiß gemusterten Schüsselchen auf dem Tisch stehen hatte. Es waren nicht einfach nur normale Zuckerstückchen, nein, sie waren in die Form von Herzen und Karos und den anderen Spielkartensymbolen gepresst. Ich war damals fasziniert davon, wie sich die glitzernd weißen Kunstwerke in meinem hellroten Tee ganz langsam auflösten. Ich war oft in der Wohnung meiner Nachbarin, und es blieb für mich bis zum Schluss so etwas wie ein Märchenland. Natürlich erzählte sie mir dort auch immer Geschichten und Märchen und ich hing wie verzaubert an ihren Lippen. Jedes einzelne Wort brachte mich weit, weit weg aus dem schmutzigen alten Hochhaus, aus dem düsteren Bahnhofsviertel, aus der ganzen, einsamen Stadt. Ich folgte großen Helden und tapferen Prinzessinnen, weisen Königen und mächtigen Magierinnen - am liebsten wäre ich gar nicht mehr zurückgekehrt. Trotzdem blieb ich nie sonderlich lange, ich hatte ja auch andere Dinge zu tun. Vielleicht bewahrte gerade das die besondere Magie dieses Ortes, die ich bis heute nicht vergessen habe. Auch als ich älter wurde und irgendwann in die Schule ging (eine Schule für Menschen, die sich eigentlich gar keine Schule leisten können), bin ich noch jeden Tag zu ihr gekommen. Und eines Tages stellte ich ihr die Frage, die mir schon so lange auf der Seele gebrannt hatte. "Warum bist du eigentlich so nett zu mir?" "Warum fragst du denn so etwas, mein kleiner Jesse?" Ihr Lächeln war betäubend. Eigentlich blieben beim Anblick dieses Lächelns keine Fragen mehr offen, es war mehr gesagt, als jemals gesagt werden musste. Und dennoch blieb ich stur und hielt ihrem Blick stand. "Weil's mich interessiert!" Irgendwie gelang es ihrem jung gebliebenen Gesicht, sogar noch ein bisschen freundlicher dreinzublicken. Sie lachte. "Ach, ich weiß es gar nicht so genau!" Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich durch ihr gelocktes Haar. "Du bist einfach unglaublich süß! Erinnerst du dich noch daran, als ich dich für ein Mädchen gehalten habe, auf der Treppe? Das kommt daher, weil du so wahnsinnig hübsch bist. Sogar noch viel hübscher als die meisten Mädchen in deinem Alter. Und außerdem kannst du dich immer so für die Dinge begeistern. Ich liebe das bei Kindern! Ich wünschte, ich hätte auch ein Kind gehabt!" Sie stieß einen halb gespielten, halb wehmütigen Seufzer aus und verstrubbelte mir mein schulterlanges Haar. Ich weiß selber nicht genau, wieso ich mich in diesem Augenblick so geschmeichelt fühlte - eigentlich hasste ich diese vollkommen an den Haaren herbeigezogenen Vergleiche. Ich war ein recht extremes Kind, entweder liebte ich etwas aus tiefstem Herzen, oder ich hasste es mit exakt derselben Emotionalität und Intensität. Das hat sich später geändert, irgendwie waren mir dann die meisten Dinge vollkommen egal, aber in meiner ziemlich kurzen Kindheit hatte ich die Gabe, mich auch für die kleinsten Kleinigkeiten zu begeistern - oder mich mit all meinem Herzblut darüber aufzuregen. Bestimmt war es irgendwie Mums Schuld. Verstehen sie mich nicht falsch, ich bin eigentlich nicht der Typ Mensch, der jedes einzelne seiner Probleme auf irgendwelche Großonkel dritten Grades abschiebt, die ihm in der Jugendzeit irgendwann einmal unbeabsichtigt gegen das Schienbein getreten haben. Ich meine nur, dass Mum aus verständlichen Gründen nicht die Zeit dazu hatte, mich an allen Ecken und Enden in den Himmel zu loben, wie kleine Kinder das nun einmal so gern haben. Mums Neuer lobte mich nur gelegentlich, dass ich nicht so viel jammern und schreien würde wie andere Plagen, wenn man ihnen eine Tracht Prügel versetzte (ich bin mir aber nicht sicher, ob er das nicht ironisch gemeint hat) und aus irgendeinem Grund hielt sich mein Stolz darüber in Grenzen. Ich gebe zu, ich war empfänglich für Komplimente und Schmeicheleien, und deshalb brannte sich diese an und für sich so unbedeutende Szene wie ein glühender Zigarettenstummel in mein kindliches Gedächtnis ein. Ein halbes Jahr später zog meine Nachbarin weg. Es gibt einen Abschnitt in meinen Leben, an den ich mich nur höchst ungern zurückerinnere. Das waren die Jahre auf meiner ersten High School. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich es dorthin geschafft hatte - ich war nie ein sonderlich intelligentes Kind gewesen. Trotzdem entwickelte ich im Laufe der Jahre einen nahezu krankhaften Ehrgeiz, obwohl mich die Schule nicht interessierte. Ich wollte es auf die High School schaffen, ich wollte gute Noten haben und irgendwann einen guten Job bekommen, um mit Mum in eine schönere Gegend ziehen zu können. Ich wollte, dass sie nicht mehr arbeiten musste und dass sie irgendwann so glücklich und zufrieden war, dass sie ihren dummen Stoff nicht mehr brauchte. Was soll man sagen? Ich kam auf eine High School für Schüler aus dem unteren sozialen Drittel unserer Gesellschaft. Ich hatte ständig Probleme mit den Lehrern, weil ich angeblich nicht wusste, was Respekt ist. Aber wie hätte ich vor diesen Lehrern Respekt haben können? Es war frustrierend! Die allgemeine Stimmung an der Schule wurde durch eine unbeschreibliche Lustlosigkeit bestimmt. Mehr als nur einmal fragte ich mich, warum sich all diese Menschen eigentlich Tag für Tag (OK, in manchen Fällen auch weitaus seltener) in dieses hässliche alte Gebäude schleppten und es mit Hängen und Würgen einige Stunden dort aushielten. Ehrlich gesagt glaube ich, sie wussten es selber nicht so genau. Was soll man sagen? Ich tat es für Mum, auch wenn mich die kollektive Langeweile einige Male fast umgebracht hätte. Es war einfach verdammt schwer, in diesem Haufen auch nur so etwas Ähnliches wie Motivation zu entwickeln. Außerdem war und blieb ich klein, zierlich und alles andere als ein Kraftpaket - kurz gesagt hilflos. Glücklicherweise hatte ich meine Strategien zur Selbstverteidigung entwickelt, ich trug meistens zerrissene Army-Hosen, Stiefel und eine Menge Nieten- und Lederarmbänder, bis ich beinahe sogar gefährlich aussah. Ich umrandete mir die Augen mit schwarz und übte stundenlang einen möglichst vernichtenden und kalten Blick vor dem Spiegel. Außerdem hatte ich schon damals eine verdammt große Klappe, und irgendwie schaffte ich es, meine gesamte Stufe davon zu überzeugen, dass ich ein klassischer böser Junge war. Ich entwickelte diesen Ruf bis zur Perfektion. Ich nahm ein Küchenmesser von meiner Mum und spielte gelegentlich in den Pausen damit herum, bis auch der letzte Idiot in der Klasse begriffen hatte, dass ich schwer bewaffnet und zu allem entschlossen war. Natürlich kam ich oft mit blauen Flecken in die Schule - Mum hatte einfach ein Talent dafür, immer wieder auf denselben Typ Mann hereinzufallen. Irgendwann gab ich mir keine Mühe mehr, sie zu verstecken, im Gegenteil. Ich dachte mir die wildesten Storys von Straßenkämpfen und Raubüberfällen aus, und aus irgendeinem Grund schien ich wirklich gut darin zu sein, die anderen Menschen Dinge glauben zu machen, die gar nicht wirklich stimmten. Scheinbar gibt es in dieser Welt ein ungeschriebenes Gesetz, dass jeder Mensch irgendeinen Talent hat, auch wenn die Hälfte von ihnen es ihr ganzes Leben lang gar nicht bemerkt. Ich glaube, ich hatte schon immer recht viel Fantasie. Natürlich setzte ich sie nicht nur dazu ein, um von meinen an und für sich viel gefährlicheren Klassenkameraden in Ruhe gelassen zu werden. Ich sah die Welt irgendwie immer ein bisschen anders als die anderen Menschen, und wenn mir etwas nicht gefiel, veränderte ich das störende Detail ganz einfach. Wie ich vielleicht schon erwähnt habe, ich langweilte mich schrecklich in meiner Schule, und deshalb verbrachte ich die meiste Zeit der Unterrichtsstunden damit, irgendwelche Bilder auf meine Heftränder zu kritzeln. Irgendwann reichten mir diese wenigen Zentimeter nicht mehr aus und ich begann, mir einige Stapel weißer Blätter mitzunehmen und mir damit die endlosen Stunden ein wenig zu verkürzen. Ich weiß nicht genau, warum einige Lehrer von dieser Idee weniger begeistert waren als ich - immerhin war ich doch still und störte nicht den Unterricht, wie mindestens die Hälfte der übrigen Klasse es tat. Eigentlich interessierte es mich auch nicht wirklich. Aber als dann eines Tages urplötzlich unser Mathelehrer vor mir stand und meinen Zeichenblock an sich riss, bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Ich hing wirklich sehr an diesen Bildern, und ich sah im Geiste schon vor mir, wie all meine Werke zerrissen im überquellenden Mülleimer unseres Klassenzimmers enden würden. Unser Lehrer öffnete den Mund, wie um eine seiner berüchtigten Moralpredigten loszulassen, dann jedoch stockte er und begann, ganz langsam eine Zeichnung nach dem anderen anzusehen. Er sah mich an, dann sah er die Blätter an, dann wieder mich. In seinem Blick lag ein Ausdruck von Unglauben. "Die sind von dir?" Ich zuckte mit den Schultern. "Ähm, ja klar!" Er räusperte sich und sagte gar nichts mehr. Was dann alles geschah, weiß ich nicht mehr so genau, jedenfalls nahm er trotz meines lautstarken Protestes die Zeichnungen mit und eine Woche später, glaube ich, wurde ich zum Direx gerufen. Das war an und für sich gar nichts Ungewöhnliches, aber dieses Mal lächelte er, als ich durch die leise quietschende Milchglastüre in sein kleines, dunkles Büro trat. Es ist absurd. Obwohl dies vielleicht das wichtigste Gespräch meines Lebens war, kann ich mich heute nicht einmal an die Hälfte von dem erinnern, was mir der dürre Mann mit der viereckigen Brille an diesem frühen Nachmittag mitgeteilt hatte. Ich weiß nur noch, dass es um meine Bilder ging, dass ich angeblich eine herausragende Begabung hatte und die Schulleitung nach eingehender Beratung beschlossen habe, dass mein scheinbares Talent unbedingt gefördert werden müsse. Ich war wie in Trance. Ich glaube, ich habe den Direx nur noch mit großen Augen angestarrt, als er mir irgendetwas von einem Stipendium und einer anderen High School erzählte. Irgendwie konnte ich es noch gar nicht glauben, es war wie ein viel zu schöner Traum und ich bekam von dem Unterricht an diesem Tag nichts, aber auch gar nichts mehr mit. Ich erinnere mich allerdings noch genau daran, dass ich den ganzen Heimweg gerannt bin und alle zwanzig Meter einen Luftsprung vollführt habe. Es war mir so egal wie nie zuvor in meinem Leben, dass sämtliche Passanten mich anstarrten, als ob ich nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Gott, ich war glücklich wie selten zuvor in meinem Leben, und auch wenn es vielleicht dumm war, in diesem Augenblick hatte ich das sichere Gefühl, dass ich's geschafft hatte. Etwa einen Monat später waren sämtliche Verhandlungen abgeschlossen. Von nun am war ich Schüler der Lucien-Chamberlain-Highschool. Vielleicht hatte ich es mir ja ein bisschen zu einfach vorgestellt. So schrecklich die Zeit an der heruntergekommenen Schule in den Slums auch gewesen war - irgendwie hatte ich dort hingepasst. Ich hatte mein Image, mein Küchenmesser und einen Haufen Mitschülerinnen, die mir auf dem Schulhof verstohlene Blicke zuwarfen, zu schüchtern und ängstlich ihrem Angebeteten nahe zu kommen. Dies änderte sich jetzt natürlich schlagartig. Ich kam mir schrecklich fremd und fehl am Platze vor, zwischen all diesen Mädchen in ihren niedlichen Faltenröcken, den Jungen mit den sauberen Jeans und ordentlichen Oberteilen. Sicher, es gab auch Ausnahmen, aber die hoben sich größtenteils durch etwas ältere, billigere und vielleicht nicht ganz so modische Kleidung vom erdrückenden Rest ab. Inmitten dieser glücklichen Schüler stand ich, abseits und allein mit meinem bauchfreien Oberteil, meiner ausgetragenen und teils schon zerrissenen Pseudo-Militärhöse, meinen offenen Schnürstiefeln und meinem abgewetzten Lederhalsband. Manche hielten mich vielleicht für einen Punk, andere für einen Satanisten (ich nehme an, wegen der schwarz geschminkten Augen) und der Großteil ganz einfach für einen heruntergekommenen Freak. Jedenfalls war ich ein Außenseiter, wie er im Buche stand, und natürlich entwickelte ich im Laufe der Zeit einen gewissen Trotz. Ich wollte ja gar nicht in diese schöne heile Welt dazugehören! Was kümmerte es mich, wie diese verwöhnten Kinder mich ansahen, wenn sie über mich redeten und lachten? Sie hatten doch allesamt keine Ahnung vom Leben! Natürlich liefen mir auch auf dieser Schule die Mädchen reihenweise nach, aber gleichzeitig war ihnen allen klar, dass so jemand wie ich kein Umgang für sie war und sie hielten sich - glücklicherweise - fern von mir. Doch ganz langsam begann ich mich zu fragen, ob diese Highschool wirklich die Erfüllung meiner Träume war. Mum ging es zunehmend schlechter. Sie hatte schon seit längerer Zeit keinen Mann mehr gehabt und zog sich mehr und mehr in ihre trügerische Scheinwelt zurück. Ich zweifelte manchmal, ob sie von meinem Leben überhaupt noch irgendetwas mitbekam. Ehrlich gesagt, manchmal hasste ich sie. Manchmal gab ich ihr die Schuld dafür, dass mein ganzes Leben im Eimer war, auch wenn das natürlich nicht gerecht war. Trotzdem hätte ich schreien können, wenn ich nach endlos scheinender Arbeit endlich einmal wieder eine gute Note in der Schule bekommen hatte und dann kam ich heim und sie lag mit teilnahmslosem Blick in irgendeiner Ecke, mehr tot als lebendig. Eines Abends, als ich heimkam, war der Wohnraum leer. Ich trat hastig ein, schneller als gewohnt, warf meine Schulsachen in die Ecke und rief nach meiner Mum. Ehrlich gesagt, ich war beunruhigt, da Mum um diese Uhrzeit immer ihre Lieblingssendung im Fernsehen angekuckt hatte. Fernsehen war ihre andere Droge, und normalerweise verpasste sie keine Folge dieser vollkommen unrealistischen Seifenoper, keine Ahnung, was es eigentlich war. Doch an diesem Tag war der Fernseher schwarz und tot, eine bedrückende, stickige Stille lag in dem kleinen Zimmer. Ich lief, zugegeben recht kopflos, durch unsere dunkle Wohnung und war unendlich erleichtert, als ich Mums schlanke Gestalt in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett sitzen sah. Diese Erleichterung hielt nur eine Sekunde lang an, als ich ihre schmalen Schultern krampfhaft zucken sah. "Mum! Hey, Mum, was ist los?" lief ich und sprang kurzerhand neben ihr auf die quietschende Matratze. Über Mums Wangen liefen Tränen, ihr Make up war um die Augen ganz verlaufen. Mit den schwarzen Spuren auf ihren Wangen sah sie aus wie eine Tote. "Ach Jesse, mein Jesse!" schluchzte sie und strich mir mit zittrigen Fingern über die Wange. Erst jetzt sah ich das Foto in ihrer anderen Hand, eines der seltenen Bilder von Mum und mir als Kind. Mit riesigen dunklen Augen blickte ich ein wenig erschrocken in die Kamera, die bleichen Lippen zu einem schwachen Lächeln verzogen. "Es tut mir alles so leid!" "Was ist denn passiert?" fragte ich sanft und nahm sie erst einmal für einige Augenblicke in den Arm. Manchmal kam es mir so vor, als ob ich in der Familie die Mutter war, die sich um ihr trauriges Kind kümmern musste, und nicht umgekehrt. "Jesse, ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich mache immer alles falsch. Ich habe mein ganzes Leben ruiniert!" Wie sie so dasaß, sah Mum erschreckend jung aus. Ich lächelte sie aufmunternd an und schüttelte entschieden den Kopf. "Hey, das ist nich wahr, Mum. Mach dich doch nicht fertig, OK? Schau doch mal auf die Uhr, du verpasst sonst noch die ganze Folge!" Ich wusste genau, dass ich sie anlog, aber natürlich konnte ich in diesem Augenblick nichts anderes tun. "Ach mein Junge, bitte, mach dir nicht so eine Mühe. Ich seh doch, was ich mit meinem Leben gemacht habe... ich seh's doch selber. Du hast das nicht verdient! Du bist ein guter Junge, du hast so 'ne Junkie-Schlampe wie mich einfach nicht verdient. Ich mach dir so viel Ärger!" "Hör auf mit dem Blödsinn, ja? Ich hab dich doch lieb, Mum! Das weißt du, ja?" "Oh Jesse, ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde. Ich weiß es echt nicht. Ich bin eine schlechte Mutter. Ich würd's ja so gern machen, ich würd's durchhalten, für dich. Aber wir haben kein Geld dafür. Wir haben einfach nicht das Geld dafür!" Sie vergrub ihr schönes Gesicht in den Händen. "Was denn? Wovon redest du, Mum?" Sie schwieg einige Sekunden lang. Dann blickte sie auf und sah mich ernst an. "Der... der Entzug. Im Fernsehen, da war eine Sendung, da haben sie davon geredet. Das kann man anscheinend jetzt im Krankenhaus machen und das schafft jeder Zweite, ich weiß es nicht mehr genau. Das klang alles so schrecklich einfach. Ich würd's machen, Jesse, ich schwör's dir. Wenn ich das Geld hätte, würd ich's machen!" "Vielleicht können wir das Geld ja verdienen! Wenn ich auch noch arbeiten gehe... ich meine, viele von meinen Mitschülern haben neben der Schule noch Jobs und verdienen ganz gut dabei." "Das ist sehr, sehr teuer, Jesse. Uns fehlt es an allen Ecken und Enden, und mein Geld reicht gerade mal so, dass wir über die Runden kommen. Man kann doch einfach alles vergessen!" Sie schüttelte den Kopf, dann stand sie ruckartig auf und kramte eine Zigarette aus der Schublade ihres Nachttischchens hervor. "Scheiß Leben!" "Ach Mum..." "Nein, Jesse, vergiss das Ganze einfach. Für mich ist's eh zu spät. Oh Gott, ich seh ja aus wie eine Leiche!" Sie hatte ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe erblickt, strich sich mit einer hilflosen Geste durch ihr langes, rot gefärbtes Haar und verschwand dann auf dem schnellsten Weg im Badezimmer. Ich blieb sehr, sehr nachdenklich auf dem schmalen, quietschenden Bett zurück. Mein Blick war starr auf die vergilbten Vorhänge gerichtet. In meinem Kopf arbeitete es. Ich wusste, Mum brauchte die Hilfe, sonst war es für sie wirklich zu spät, und allzu viel Zeit blieb mir nicht mehr. Ich überlegte verzweifelt, wie ich zu Geld kommen konnte, zu möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich war noch zu jung, um wirklich zu arbeiten, außerdem blieb mir neben der Schule gar nicht mehr die Zeit dazu. Aber was sollte ich sonst tun? Ich ließ meinen Kopf auf meine Knie herabsinken und stieß einen tiefen Seufzer aus. Meinen Chancen standen verdammt schlecht. Trotzdem war ich so fest entschlossen wie vielleicht noch nie zuvor in meinem Leben. Ich würde meiner Mum helfen. Mein erster Schritt zum eigenen Vermögen war ein Aushilfsjob bei einer Fastfood-Kette. Jeden Mittwoch und Freitag suchte ich meine am wenigsten zerrissene Hose aus dem Schrank, richtete mich so her, dass ich beinahe wie ein ganz normaler Teenager aussah und schenkte dann den Kunden des "Beef and Drive"-Autoschalters mein bezauberndstes Lächeln. "Vielen Dank, Guten Appetit, und kommen sie bald wieder zu Beef and Drive!" Ich war sozusagen prädestiniert für diesen Job. Mein Personalchef lobte mich oft, weil mein hübsches Gesicht die Kunden anlockte und ich war so hart im Nehmen, auch nach dem langweiligsten und eintönigsten Arbeitstag inmitten stinkenden Fettes und der glühenden Hitze der riesigen Ofen noch jedem einzelnen hungrigen Autofahrer mit professioneller Freundlichkeit begegnen zu können. Deshalb kam ich manchmal gleich nach der Schule in das Fastfood-Restaurant und bekam dort ein kostenloses Mittagessen spendiert. Es war, so weit ich mich erinnere, an einem recht warmen Freitag im Spätfrühling, als ich plötzlich bemerkte, dass ich meine Sportsachen in der Schule vergessen hatte. Für andere Schüler mochte das kein Weltuntergang sein, aber wir hatten eben nur sehr wenig Geld, und so konnte ich mir einen derartigen Verlust auf gar keinen Fall leisten. Ich beschloss kurzerhand, nach meiner Schicht noch einmal in der Schule vorbeizuschauen und mich sofort um die Sache zu kümmern. Ich musste mich beeilen. Nach Ende meiner Schicht hatte ich noch etwa eine halbe Stunde, bis die letzten Nachmittagsstunden vorbei waren, danach kamen die Putzfrauen und sammelten mit präziser Unbarmherzigkeit alles auf, was das saubere Gesamtbild unserer schönen Schule auch nur im geringsten stören konnte. Und sollte ich sogar sie verpassen, dann würde ich vor verschlossenen Türen stehen, das war mir klar. Ob ich meine Sportsachen dann noch bekommen würde, stand in den Sternen. Und natürlich war mir nur allzu klar, dass wir uns neue Kleidung, die einzig und allein dazu diente, in einer mickrigen Doppelstunde pro Woche nicht von Gott und der Welt verlacht und verspottet zu werden, schlicht und einfach nicht leisten konnten. Das letzte bisschen Anstand und Würde, dass ich im Laufe meines Lebens noch behalten hatte, trieb mich mit glühenden Eisenstangen dazu an, um Himmels Willen schneller zu laufen, obwohl sich schon nach wenigen Minuten ein hässliches Stechen in meiner Seite bemerkbar machte. Ich holte tief Luft und rannte weiter. Die Menschen wurden zu Slalomstangen auf einem viel zu lang erscheinenden Weg. Die untergehende Abendsonne tauchte die staubigen Schaufensterscheiben in ein rotgoldenes Licht, aber mir erschien das sanfte Leuchten mehr wie ein unruhiges Flackern. Ich spürte jeden einzelnen Herzschlag in meiner Brust mit der Heftigkeit eines Fausthiebes, mein Hemd klebte mir am Rücken. Ich hatte Angst. Was sollte ich nur Mum sagen? Anstatt Geld nach Hause zu bringen, sorgte ich mit meiner Vergesslichkeit prompt für weitere Ausgaben. Es war zum Verzweifeln! Mein Blick fiel auf eine runde Uhr mit dicken schwarzen Zeigern, die an irgendeinem alten Geschäft hing, ein Schmuckladen, glaube ich. Noch zwölf Minuten blieben mir, lächerliche zwölf Minuten. Ich würde es nicht mehr schaffen. Ganz ehrlich, ich habe heute keine Ahnung mehr, welcher Teufel mich an diesem Abend gejagt hat. Jedenfalls bin ich gerannt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Die Straße, meine ganze Umgebung verschwamm zu einem brennenden Rausch aus Sonnenuntergang und Farben, mehr als einmal rannte ich beinahe vor ein Auto, weil ich ohne nach Rechts oder Links zu kucken sämtliche Straßen überquerte. Ich konnte es gar nicht wirklich glauben, als ich endlich den viereckigen, grauen Schulbau vor mir auftauchen sah. Mit rasendem Puls steuerte ich auf den Haupteingang zu. Ich wagte es kaum, einen Blick auf die große Uhr über der verglasten Türe zu werfen. Irgendetwas sagte mir, dass ich zu langsam gewesen war. Jeder Muskel in meinem Körper schien von einer Sekunde auf die andere anzufangen zu zittern und ich hatte Glück, dass in diesem Augenblick zufällig eine Straßenlaterne neben mir war, sonst wäre ich wohl schlicht und einfach vornüber gekippt. Mir wurde schwarz vor den Augen, aus meinen Beinen schien jegliches Gefühl zu weichen und, offen gesagt, mir war kotzübel. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich wieder halbwegs zu Atem gekommen war. Ich wischte mir über das Gesicht und blickte auf. Ich hätte am liebsten vor Wut und Enttäuschung aufgeschrieen. Ich war um gottverdammte sieben Minuten zu spät gekommen. Trotzdem war der Schulhof schon jetzt wie leergefegt, weit und breit kein Schüler, kein Lehrer, ja nicht einmal eine Putzfrau zu sehen. Vielleicht, schoss es mir durch den Kopf, war die letzte Schulstunde heute für irgendeine glückliche Klasse ausgefallen. Irgendwie war es mir so egal wie nichts anderes in der Welt, ich war zum Umfallen erschöpft, ich hatte mich bis zum Letzten verausgabt, und was war jetzt der Dank dafür? Ich stand vor einem verlassenen Schulgebäude. Ich hätte heulen können. Doch da, ganz plötzlich, sah ich in einem der Zimmer im Untergebäude einen schwachen Lichtschein hinter einem der großen Fenster. Für mich war es wie ein schwaches Leuchten am Ende eines langen, langen Tunnels. Sollte ich am Ende doch noch Glück gehabt haben? War vielleicht wenigstens noch irgendwo eine einsame Putzfrau beschäftigt, auf dem langen, staubigen Weg durch die Schokoriegelpackungen und Tetrapacks auf den Boden der Klassenzimmer? Ich überlegte nicht lange, sondern stürzte mit angehaltenem Atem auf die Türe zu. Ein bisschen schien es mir so, als läge in diesem Augenblick das Schicksal des ganzen Planeten in meinen Händen, als ich langsam und ängstlich an der metallenen Stange zog, um die große Glastüre zu öffnen. Sie war nicht verschlossen. Ich stieß einen leisen Triumphschrei aus und trat ein. Vielleicht, dachte ich, gab es ja doch einen Gott. Jedenfalls schickte ich in diesen Minuten tausend Dankesgebete gen Himmel und rannte erst einmal auf die Toilette. Dort ließ ich mir ein bisschen kühles Wasser über das Gesicht laufen und fuhr mir durch mein langes schwarzes Haar, bis ich zumindest wieder halbwegs wie ein Mensch aussah. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich immer noch mein Beef and Drive-Shirt trug, aber irgendwie war mir das jetzt so egal wie nichts anderes auf der Welt. Ich hatte jetzt wirklich keine Lust, mich noch großartig umzuziehen. Ich würde rasch mein Sportzeug aus dem Umkleideraum holen, in aller Ruhe heimschlendern und dann erst einmal für mehrere Stunden unter der Dusche verschwinden. Die Schule war beinahe ein wenig unheimlich, mit ihren breiten, halbdunklen Gängen, die jetzt verlassen und still im dämmrigen Licht der Abenddämmerung ruhten. Meine Schritte erschienen mir viel zu laut, irgendwie fühlte ich mich wie ein Eindringling in einer Welt, in die ich nicht gehörte. Wie gesagt, ich hatte immer ein bisschen zuviel Fantasie. Jedenfalls war ich sehr, sehr froh, als ich endlich die Türe der einsamen Jungenumkleide vor mir auftauchen sah. Ich trat rasch ein, ohne mich noch einmal umzublicken. Der Sonnenuntergang war mittlerweile vorüber. Es war beinahe dunkel in dem Raum vor mir, die Bänke zeichneten sich als harte Schatten im verschwommenen Licht der späten Dämmerung ab. Ehrlich gesagt wünschte ich mich schon einen Augenblick später wieder in die stillen breiten Schulgänge hinaus. Der Raum machte mir auf eine subtile Art und Weise Angst, mit all den finsteren Ecken, den Schatten und den unzähligen Streben und Haken und Holzbrettern. Dazu noch die grünlichen Fassaden der Spinde, die den größten Teil der dreckig weißgrauen Wand bedeckten. Man konnte ihre Farbe nicht mehr wirklich erkennen, mehr erahnen, aber ihre teils geöffneten Türen erinnerten mich in diesem Moment an zahnlose Münder oder verrußte Öfen, und beide Dinge waren mir verdammt noch mal unheimlich. Ich holte tief Luft und schlich dann mit angehaltenem Atem durch die Scherenschnitte der Bankreihen. Ich versuchte mir einzureden, dass mir hier absolut nichts passieren konnte - was denn auch? Doch aus irgendeinem Grund beruhigten mich meine verzweifelten rationalen Denkversuche nicht wirklich. Ich fühlte mich ein bisschen so wie der Held in einem billigen Horrorfilm. Dort dachten sie auch immer, ihnen könnte nichts passieren. Und dann tauchte irgendetwas Böses und Mordendes auf und brachte sie auf grausamste Art und Weise um die Ecke. Wie sollte ich mich also sicher fühlen? Mag sein, ihnen erscheinen diese Gedankengänge absurd, aber so dachte ich eben und manchmal denke ich auch heute noch so. Irgendwann zwang mich ein Stechen in meiner Lunge zum Weiteratmen und ich sog einen tiefen Zug abgestandenen Schweißgeruches und stickigen Staubes ein. Unweigerlich musste ich Husten - und hätte mir im nächsten Augenblick am liebsten dafür eine runtergehauen. Verdammt, schoss es mir durch den Kopf, jetzt haben sie dich gehört! Ich warf einen paranoiden Blick über die Schulter, dann setzte ich tapfer meine Suche fort. Muss ich überhaupt noch erwähnen, dass ich die Sportsachen natürlich nicht fand? Ich sah auf alle Bänke, kroch auf dem dunkel gefliesten Boden herum, ja, ich blickte sogar in alle Spinde, obwohl ich eine Heidenangst davor hatte (man weiß schließlich nie, was drin ist, oder?). Nichts. Der Raum war leer und verlassen wie eine Bushaltestelle mitten in der Sahara. Gut, in manchen Ecken lagen zerdrückte Tetrapacks oder leere Kaugummipapiere, aber das war's dann auch schon. Ich war verzweifelt. Mit dem niederschmetternden Gefühl, dass sich die gesamte Welt gegen mich verschworen hatte, ließ ich mich auf eine der Bänke niedersinken und verfluchte mein Schicksal, den Tag, einfach alles, was mir in diesen Sekunden in den Kopf kam. Leider dachte ich erst viel zu spät daran, meine eigene Dummheit zu verfluchen, auch wenn sie es verdammt noch mal verdient hatte. Ich konnte meine Sportsachen gar nicht finden! Zumindest nicht hier, wie denn auch, wenn ich sie ausgerechnet heute mit in die Sporthalle genommen hatte. Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn und stieß einen leisen Fluch aus. Am liebsten hätte ich mich für meine eigene Zerstreutheit selbst verprügelt. Ich erinnerte mich mit einem Mal wieder genauestens daran, wie ich beim Umziehen festgestellt hatte, dass ich meine Sporthose vergessen hatte und deshalb beschloss, einfach in meinen Straßenklamotten mitzumachen. Meine Sachen hatte ich extra mit in die Turnhalle genommen, damit ich später schneller zum Beef and Drive-Restaurant kommen konnte. Ehrlich, ich fühlte mich in diesem Augenblick unglaublich dumm. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich in diese dumme Sporthalle rennen, meine Sachen mitnehmen und dann so schleunigst nach Hause kommen, damit ich mich endlich unter meiner Bettdecke verkriechen konnte. Vielleicht ist das in ihren Augen keine angemessene Entschuldigung. Ich gebe ja auch zu, dass ich meine Gedanken an diesem Tag irgendwie nicht ganz beisammen hatte. Was soll ich sagen? Ich war in einem Raum, der mir Angst machte, ich wollte mir am liebsten in den Hintern treten, ich war total erschöpft und fertig und wollte nur noch weg. Ich handelte irgendwie, ohne noch groß dabei nachzudenken. Vielleicht wäre ja sonst alles anders gekommen. Vielleicht wäre dann mein ganzes Leben anders verlaufen und ich müsste sie jetzt nicht mit diesem Brief langweilen. Es bringt nichts, sich im Nachhinein solche Fragen zu stellen. Jedenfalls lief ich auf dem schnellsten Wege aus der Umkleidekabine heraus und in die Turnhalle hinein. Getrennt wurden die beiden Räume nur durch einen ziemlich schmalen Gang, knapp mehr als einen Meter breit. Trotzdem schwöre ich, ich habe die Stimmen nicht gehört. Ich habe nicht gesehen, dass dort Licht brannte. Ich war vollkommen ahnungslos, als ich die Türe aufriss und ohne lange nachzudenken in die Halle hineinplatzte. Im ersten Augenblick wunderte ich mich noch nicht einmal. Erst einige Sekunden später wurde mir bewusst, dass ich von einem Haufen Mädchen angestarrt wurde, die sich auf dem grünen Hallenboden versammelt hatten. Vor ihnen stand eine Lehrerin - ich kannte sie nicht - und redete auf sie ein. Erst als sie die abschweifenden Blicke der Schülerinnen bemerkte, stockte sie und sah in meine Richtung. "Du bist spät dran! Los, setz dich, ich habe keine Lust, noch einmal ganz von vorne anfangen zu müssen!" Ehrlich gesagt, ich verstand überhaupt nichts. Ich wusste nicht, was diese Person oder die glotzenden Mädchen von mir wollten, aber aus irgendeinem Grund hatte mich der Tonfall der blonden Frau eingeschüchtert. Ich gehorchte ihr ganz automatisch. Irgendwie war es ja bescheuert, ich meine, wenn sie mir zum Beispiel gesagt hätte, ich müsse jetzt Walzer tanzen und dabei die Nationalhymne rückwärts bellen, dann hätte ich vielleicht sogar das getan. Ich dachte gar nicht lange darüber nach, ich setzte mich einfach zu dem Rest der Gruppe, zog die Knie an meinen Körper und lauschte den Worten der autoritären Unbekannten. "Wie auch immer, die Vorausscheidung wird natürlich Schulintern sein. Ich weiß, die meisten von euch sind noch nie auf größeren Veranstaltungen aufgetreten, aber ihr müsst deswegen nicht aufgeregt sein. Die anderen Schulen dieser Stadt haben auch keine hübscheren Mädels auf Lager!" Allgemeines Gelächter. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. "Die Siegerin bekommt die Chance, sogar an landesweiten Wettbewerben teilzunehmen, außerdem natürlich ein hübsches Preisgeld. Ich weiß ja, darum geht es euch nicht, aber als kleine Beigabe ist es doch auch nicht zu verachten!" Sie bleckte ihre Zähne und wieder lachten die Mädchen um mich herum. Obwohl ich mich ein bisschen so wie im falschen Film fühlte, zwang auch ich mich zu einem Grinsen. Ich wollte nicht auffallen. Und außerdem, seien sie ehrlich, wer würde nicht aufhorchen, wenn irgendwo von einem hohen Preisgeld die Rede ist? Verstohlen musterte ich die lächelnden Gestalten um mich herum. Worum immer es auch ging, ich konnte an diesem Wettbewerb anscheinend teilnehmen und fühlte mich auch nicht wirklich von großer Konkurrenz umgeben. Meine Aufmerksamkeit stieg. "Ich sehe, dass einige von euch nicht an diese Schule gehen. Aber seit diesem Jahr wurden die Teilnahmebedingungen gelockert. Wenn ihr einen Bekannten oder Verwandten hier habt, der euch anmelden kann, ist das absolut in Ordnung. Natürlich startet ihr dann trotzdem im Namen unserer Highschool, ein bisschen Werbung kann doch nie schaden!" Mir fiel auf, dass die Frau sich unheimlich witzig vorkommen musste. Eigentlich passte das gar nicht zu ihr, aber aus irgendeinem Grund lachten trotzdem alle, wenn sie sich um einen kleinen Spaß bemühte. Ich lachte auch, ganz automatisch. Es war beinahe schon wieder unheimlich. "Ich habe auch schon etwas läuten hören, dass Verträge mit einem recht bekannten Magazin ausgehandelt wurden. Natürlich noch nichts großes, aber ein regionales Cover zu schmücken ist doch schon mehr als ein guter Anfang!" Eines der Mädchen hob den Arm, ein niedliches Ding mit goldblonden Locken, Sommersprossen und einem Stupsnäschen. "Wie ist denn das mit dem Modelvertrag? Ich meine, so richtig Modenschauen und so, dürfen wir das dann auch machen?" fragte sie unschuldig und klimperte mit ihren großen Kulleraugen. Modelvertrag? Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf. Langsam aber sicher fragte ich mich, ob dieser Wettbewerb wirklich der richtige Platz für mich war. "Nicht so ungeduldig, Mädchen! Die ist natürlich nur der erste Schritt zum Erfolg. Aber ihr bekommt als Gewinnerin die Chance, auch an größeren Schönheitswettbewerben teilzunehmen, und da ist dann natürlich weitaus mehr drin als nur dieses Fotoshooting. Aber ich kann euch Mut machen, gerade auf solchen kleineren Shows haben Talentsucher schon so manches spätere Model entdeckt." Ihre Worte trafen mich wie Schläge direkt in die Magengrube. Das war es also! Ein Schönheitswettbewerb - für Mädchen. Natürlich! Ich hätte mich dafür verprügeln können, dass ich nicht gleich darauf gekommen war. Es war allein der uneingeschränkten autoritären Ausstrahlung dieser schrecklichen Person zu verdanken, dass ich nicht einfach nur hineingegangen war, mir mein Sportzeug gekrallt hatte und dann auf dem schnellsten Wege von diesem schnatternden, kichernden und glotzenden Haufen davonlaufen konnte. Ich schwöre es. Sie hatte mich irgendwie hypnotisiert. Aus ihrem Munde waren die Schilderungen eines hohen Preisgeldes so verlockend und greifbar erschienen, dass man sich beinahe schon beim bloßen Zuhören etwas davon kaufen konnte. Jetzt fielen mir auch die Plakate wieder ein, die schon vor einigen Wochen an die kahlen Schulpinnwände geheftet worden waren. Der große Lucky-Karma-Miss Contest, ausgetragen von einer regional sehr bekannten Firma für Kosmetikartikel, die nur junge Mädchen verwendeten, unter diesen allerdings höchst beliebt und irgendwie zur Zeit gerade in Mode. Mir war das Zeug immer ein bisschen zu teuer gewesen. Wenn ich jetzt allerdings an die wunderschön fett gedruckte Gewinnsumme dachte, die groß und breit unter dem viel zu bunten Aushang leuchtete, hätte ich ganz ehrlich heulen können. Mein Gott, es war verdammt noch mal wirklich ein hübsches Preisgeld, hübscher als all die Mädchen in dieser Turnhalle hier zusammen!!! "Wie viele Mädchen kommen denn von jeder Schule weiter?" fragte eine Schwarzhaarige, die mindestens fünf Jahre älter aussah, als sie tatsächlich sein konnte. "Nur die besten Drei. Die Vorausscheidung ist in vier Wochen, dann entscheidet sich, wer von euch Hübschen im Auftrag eurer Highschool lächeln darf!!!" Wieder lachten alle, aber ich bekam das Gespräch nur noch am Rande mit. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich sah die schönen Gesichter der potentiellen Schönheitsköniginnen vor mir, wie sie grinsten und die Zähne zeigten, als würde jemand sie mit einer Pistole im Rücken dazu zwingen. Dann sah ich Mum, wie sie weinte, das Foto von unserer kleinen Familie in der Hand. Wir zwei gegen den Rest der Welt. Vor mir erschien eine grässliche Vision, wie irgendeine niedliche Zuckerpuppe mit einer Siegerschärpe um den mageren Körper durch tausend verschiedene Geschäfte rennen würde, mit tausend verschiedenen Kleidern und Schuhen und Make up in den Plastiktaschen. Ich hätte schreien können bei diesem Gedanken! Verdammt, ich brauchte das Geld. Mir stieg der alte Fettgeruch meines Beef and Drive-T-Shirts in die Nase und mit einem Mal wurde mir schlagartig bewusst, dass ich das Geld für Mums Entzug niemals zusammenbekommen würde. Ich konnte bis ans Ende meiner Tage stinkende Burger an genervte Autofahrer verkaufen, ich würde nichts, aber auch gar nichts dafür bekommen außer meinen Gratismenüs in der Mittagspause. Ich würde alt und grau werden, bevor ich auch nur die Hälfte dieser Summe zusammengespart hätte - und dann war es zu spät. Die Erkenntnis kam ganz plötzlich, aber sie machte mir Angst. Ich hatte nicht mehr ewig Zeit. Mum brauchte diese Hilfe, jetzt oder nie. Allein die Vorstellung, irgendeine verwöhnte Göre könnte dieses Geld für irgendwelche überflüssigen Luxusartikel ausgeben, machte mich regelrecht krank. Sicherlich waren nicht alle Mädchen in dem schicksalhaften Halbdunkel der Turnhalle reich und verwöhnt, aber an diesem Abend war ich fest von dieser Tatsache felsenfest überzeugt. Ich gönnte es ihnen nicht, ich gönnte es ihnen einfach nicht, dass sie an diesem Wettbewerb teilnehmen durften und ich nicht. Ganz nebenbei betete ich auch noch, dass die drei Mädchen aus meiner Klasse mich um Gottes Willen nicht bemerkt hatten. Es erschien mir schon beinahe wieder als glückliche Fügung des Schicksals, dass unsere Märchentante und Organisatorin so unglaublich einnehmend war. "In diesem Aufzug solltest du bei der Misswahl aber nicht unbedingt erscheinen!" Das Mädchen neben mir musterte mich mit einem vernichtenden Blick. Sie war recht hübsch, mit welligem blondem Haar und blauen Augen, vom ganzen Stil her krampfhaft auf Natürlichkeit getrimmt. "Ähm... wie bitte?!?" Ich muss sie wohl ziemlich dumm angekuckt haben, denn sie hielt die Hand vor den Mund und stieß ein aufgesetztes Lachen aus. "Na ich meine, das Outfit sieht unheimlich modisch und... sexy aus!" Sie schüttelte den Kopf, aber ich beachtete den Spott in ihren Worten gar nicht wirklich. Ich fragte mich, warum ihr Lächeln so aufgesetzt wirkte, und da sah ich ganz plötzlich ein verräterisches Blitzen in ihren Augen. War das etwa Eifersucht? "Sorry, aber ich bezweifle, dass Mrs. Cartwright dich in diesem Ding überhaupt eintragen wird. Du gehst nicht auf diese Schule, oder?" Es mag übertrieben klingen, aber ich hatte in diesem Moment eine Vision. Ihr elitäres Gerede hörte ich nur noch am Rande, ich weiß gar nicht mehr genau, ob ich ihr überhaupt noch antwortete oder nicht, eigentlich ist das auch egal. Ich konnte sie nie wirklich leiden, aber ich bin diesem Mädchen dankbar, so ehrlich und unendlich dankbar, wie ich nicht vielen Menschen bin. Vor meinem inneren Auge lief ein Film ab, dieser Film zeigte mich in einem prächtigen Abendkleid, lächelnd. Ich stand auf einer Bühne, einen Blumenstrauß in der Hand und winkte ins Publikum. Der Jury warf ich eine Kusshand zu, immerhin hatten sie mich gewählt, mich, ich war das schönste Mädchen der ganzen Stadt! Verstehen sie mich jetzt nicht falsch. Es hat mich nie angemacht, in Frauenkleidern rumzulaufen oder so. Ich hatte es bis zu diesem Abend auch noch nie getan und eigentlich auch nicht vorgehabt. Es ging mir einzig und allein um den Gewinn. Wie sagt man so schön? Ich war jung und brauchte das Geld. Stellen sie sich das doch einmal vor: da sitzt ein bildhübsches Mädchen vor ihnen und beneidet sie um ihr Aussehen. Und sogar die große Mrs. Cartwright lud mich ohne zu zögern in ihren auserwählten Kreis ein, ganz selbstverständlich. Es konnte daran liegen, dass ich doch etwas anders aussah, als ich es für gewöhnlich in der Schule zu tun pflegte. Ich war nicht geschminkt, ich trug ganz normale Kleidung und hatte zu allem Überfluss auch noch meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Keiner ahnte, dass hinter dem unscheinbaren Beef and Drive-Outfit in Wirklichkeit ein Eindringling steckte, ein Fremder, der nicht in diese verschworene Runde gehörte. Es war das perfekte Verbrechen. Mein Kopfkino lief weiter. Mit einem Mal hörte ich wieder der Stimmen der Kindergärtnerinnen, die mich ein wildes Fräulein nannten. Sogar meinen Chef sah ich, der mich wegen meinem hübschen Gesicht als Kundenfang in den Drive-In-Schalter setzte. Aber zwischen all diesen Personen leuchtete wie eine göttliche Erscheinung der Geist meiner ehemaligen Lieblingsnachbarin hervor. Das war vielleicht ein bisschen absurd, weil sie an und für sich noch gar nicht gestorben war, aber ihre Erscheinung gab dem Abend eine beinahe magische Atmosphäre, der ich mich bei all meiner Willenskraft nicht entziehen konnte. Ich sah ihr Lächeln und hörte wie aus weiter Ferne ihre Stimme an mein Ohr dringen. Ich mag dich, weil du so wahnsinnig hübsch bist. Die Entscheidung war gefallen. Hatte ich bis eben noch an einer Kreuzung von Vernunft und Wahnsinn gestanden, die Wort meiner Nachbarin stießen mich mit unerbittlicher Sanftheit in die Richtung meiner teuflischen, vollkommen verrückten Idee. Ich war so sicher wie noch nie zuvor in meinem Leben. "Hey!" Meine zugegebenermaßen doch leicht kitschigen Schicksalsträume wurden höchst unsanft von dem Ellenbogenstoß meiner blonden Nebensitzerin unterbrochen. Ein wenig unwillig, aber sehr, sehr siegesgewiss blickte ich auf. "Was ist los?" "Sag mal, pennst du?" raunte sie mir zu. "Mrs. Cartwright notiert gerade die Namen und du hältst hier alles auf!!!" Leichte Verwirrung machte sich auf meinem Gesicht breit. Ich blickte hastig in Richtung unserer Kommandantin oder Organisatorin, wie auch immer man es nennen wollte, und stellte tatsächlich fest, dass sie mit einem leicht genervten Zucken um die Mundwinkel direkt in meine Richtung blickte. "Guten Morgen! Dürfte ich vielleicht endlich deinen Namen erfahren, Madame?" "Ähm, klar, sorry!" Ich wurde nervös. Würde es ihnen nicht genauso gehen, wenn die personifizierte Ungeduld vor ihnen stünde? Wie schon gesagt, die Frau hatte die besondere Gabe, andere Menschen einzuschüchtern - sogar mich, und das war wirklich gar nicht so einfach, glauben sie mir. "Ich bin Jesse Maguire!" Als ich das ungläubige Kichern der Mädchen aus der vorderen Reihe hörte, merkte ich plötzlich, dass ich einen gewaltigen Fehler gemacht hatte. to be continued... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)