PredElection von YourBucky ================================================================================ Kapitel 4: Part IV - Struggle for Life -------------------------------------- Part IV - Struggle for Life Alle, die PredElection lesen, dürfen sich jetzt bitte einmal einstimmig bei AlexMinn bedanken. Diese gewisse Selbstmorddrohung in meinem GBE hat mich nämlich unwahrscheinlich motiviert und inspiriert. Auch von mir ein dickes: DANKE!!! ^_^ Also, merkt euch: Wer PredElection oder sonst was weiterlesen will, einfach fleißig Selbstmorddrohungen schicken... ^^; Dieses Kapitel ist doch irgendwie besser geworden, als ich es zuerst gedacht hatte. Ein paar Stellen mag ich sogar wirklich gerne, ich sag nur: Cheerleaderkostüm... *grins* wie auch immer. Ich empfinde meine momentane Situation als sehr... stressig. Das merkt man wohl auch dann und wann im Kapitel selber und manche Dinge sind grad auch ein wenig autobiografisch, zum Beispiel diese allgemeine ratlose Verzweiflung in Richtung Mathe... O_O trotzdem war ich ganz fleißig am Schreiben, wie man sieht. Ich hoffe, dass das Ergebnis dem einen oder anderen zumindest ein bisschen gefällt. ^^; Ich habe es mir erlaubt, mal wieder ganz spontan beim Schreiben einer Idee nachzugehen, ohne die Konsequenzen zu planen und bin sehr gespannt, wie diese Idee wohl ankommen und wie es weitergehen wird. ^_^ Die Story wird langsam kompliziert und ist ein herrliches Abenteuer für mich, so... unvorgeplant. Viel Spaß beim Lesen und besonders viele Grüße an meinen liebsten Beta-Leser und FF-Autor, mein Fünkchen, an Yoko-chan und Tía-chan (Miau!), an AlexMinn natürlich und an alle, die das hier tatsächlich lesen... danke!!!!! P.S.: Der Titel, Struggle for Life, heißt soviel wie Kampf ums Überleben und bezieht sich auf Darwins Evolutionstheorie. Beim Lesen des Kapitels dürften sich alle Fragen diesbezüglich hoffentlich von selbst klären! Nochmals ein dickes ARIGATIOU an das Fünkchen!!! Wissen Sie, was das Absurdeste war? Als ich den Laufsteg betrat, war ich eigentlich nicht einmal wirklich aufgeregt. Diese ganze Sache von wegen Herzrasen und Atemstillstand und Zittern, das hatte ich irgendwie alles schon vorher abgehandelt, und dann... dann trat ich eben einfach auf diese Bühne hinaus, zunächst noch in der strahlenden Begleitung sämtlicher Mädchen, die denselben Traum träumten wie ich... wenn auch vielleicht aus vollkommen anderen Gründen. Wir trugen Cheerleaderkostüme. Die Hälfte von uns in Blau, die andere Hälfte in Rot, jeweils in den leuchtendsten, kitschigsten Farbnuancen, die man eben gerade noch mit bloßem Auge ansehen konnte, ohne spontan daran zu erblinden. Ich selber durfte mich glücklicherweise zu den in Blau gewandeten Damen zählen, was mich auf eine hysterisch-unaufgeregte Art und Weise schon einmal irgendwie hoffnungsfroh stimmte. Sie erinnern sich? Jessie liebte Hellblau. Ich übrigens auch. Erst später bemerkte ich, dass alle dunkelhaarigen Mädchen blaue, alle hellhaarigen Mädchen rote Outfits tragen mussten, aber da war ich dann auch schon wieder ausgezogen und stand der ganzen Sache dementsprechend distanzierter gegenüber. Haben Sie eigentlich schon einmal ein Cheerleaderkostüm getragen? Bitte fassen Sie (und damit spreche ich insbesondere die männliche Hälfte von Ihnen an!) diese Frage nicht als Beleidigung auf. So ist sie nämlich nicht gemeint und würde im Zweifelsfall auch ganz anders klingen. Was ich eigentlich damit ausdrücken möchte, ist: Ich hasse Cheerleaderkostüme. Sie sind aus solch einem ganz komischen Stoff, der auf den ersten Blick zwar wahnsinnig dünn aussieht und im Endeffekt ja auch wirklich dünn ist, aber er ist es auf so eine ganz merkwürdige, unangenehme Art und Weise. Wissen Sie, was ich meine? Normalerweise verbindet man mit dünnem Stoff ja eher Leichtigkeit und Atmungsaktivität und so etwas (zumindest, wenn man gewissen Werbesendungen glauben schenken darf), aber dieser Cheerleaderstoff, der ist weder leicht noch atmungsaktiv, der ist einfach nur... ekelhaft. Sie müssen sich das vorstellen, in einer großen Halle - in einer großen und voll besetzten Halle, da ist es heiß, da muss es heiß sein, das ist ein Naturgesetz. Hinzu kommt die Bewegung. Und wenn man dann schwitzt (das ist leider auch ein Naturgesetz), dann bildet sich zwischen Haut und Stoff so ein nasser Film, der ist irgendwo klebrig, aber er lässt den Stoff trotzdem noch nicht am Körper haften. Vielleicht ist klebrig das falsche Wort... schleimig, das trifft es eher. Man fühlt sich ganz und gar schleimig, wenn man so ein Cheerleaderkostüm trägt, und glauben Sie mir, das ist nun wirklich kein sonderlich schönes Gefühl. Außerdem sind da noch diese typischen glitzernden Applikationen, diese Muster, Sie wissen schon. Dort ist das Kostüm aus einem anderen Stoff, und der kratzt. Er schleimt nicht, aber er kratzt, und wenn man sich dann bewegt, rutscht dieses Kratzen auf die feuchte, klebrige, schleimige Haut und kratzt dort sogar noch ein bisschen mehr. Was uns das alles sagen soll? Erstens: Wenn Sie jemanden hassen, ich meine, wenn Sie ihn wirklich und aus tiefstem Herzen hassen, denn schenken Sie ihm zum Geburtstag ein Cheerleaderkostüm. Zweitens: Der kleine Tanz, von dem ich weiter oben ja schon mal geschrieben habe, wurde für mich zu einem sprichwörtlichen Höllentrip, nach dem ich mich wirklich dermaßen scheiße fühlte, dass ich eigentlich überhaupt nicht mehr in der Lage war, noch in irgendeiner Form aufgeregt zu sein. Im Gegenteil - ich freute mich. Freute mich, in meine ureigensten Anziehsachen schlüpfen zu können, und - ach! - was war das doch für ein herrliches Gefühl! Ich trug nun einen schwarzen Minirock, darüber zwei dünne weiße und mit kleinen Nieten besetzte Gürtel. Mein Oberteil war weiß mit ganz feinen schwarzen Mustern, hinten geschnürt, so ein kleines bisschen im Stil von sexy Unterwäsche... ich hoffe Sie wissen, was ich meine. Außerdem trug ich etwas weniger als kniehohe, mattschwarze Stiefel, obwohl die Dinger eigentlich viel zu heiß waren und, wie hätte es auch anders sein können?, so richtig schön auf der Haut klebten. Aber soll ich Ihnen mal was verraten? Das war's mir wert! Ich sah in dem Outfit nämlich richtig gut aus. Meine Haare waren so irgendwie gewollt unordentlich hochgesteckt und auf der Seite, auf der mir ein gewisser reizender Mensch mit Namen Shane noch vor wenigen Tagen ein blaues Auge verpasst hatte, da fielen sie mir ein bisschen über das Gesicht. Dazu waren meine Augen grau-schwarz geschminkt, alles ein bisschen verrucht, aber nicht zu sehr verrucht, um bei einer Schulveranstaltung noch Chancen zu haben. Und wie ich dann ein letztes Mal vor dem Spiegel stand und - oh Wunder! - eigentlich gar nicht aufgeregt war, da kam mir meine ganze Aufmachung sogar ganz unwahrscheinlich stylish vor. Dann wurde mein Name aufgerufen und ich musste raus auf die Bühne. Oh mein Gott, Sie können sich ja überhaupt nicht vorstellen, wie schnell plötzlich alles ging! Ich trat hinaus, trat auf den improvisierten, aber coolen Laufsteg und stöckelte in bester Jessie-Manier den silbernen Weg entlang auf das Publikum zu. Ganz vorne blieb ich stehen und drehte mich einmal langsam um die eigene Achse. Machte einen lasziven Schritt nach vorne. Verharrte erneut. Wandte dann betont lässig meinen Kopf den Zuschauern zu. Schlug einige Male meine langen Wimpern auf und nieder... und kehrte dann in heimische Gefilde bzw. zur eigentlichen Bühne zurück. Und soll ich Ihnen mal was sagen? Den Menschen gefiel es! Zumindest ging ich stark davon aus, dass es ihnen gefallen musste, immerhin klatschten und jubelten sie, einige pfiffen sogar. Auch als ich stehen blieb, um auf unsere Ansagerin (die bis vor wenigen Stunden noch unsere vor allem bei der männlichen Schülerschaft allseits beliebte Biologie-Referendarin gewesen war) samt ihrer längst einstudierten Fragen zu antworten, hörten sie nicht etwa auf zu klatschen. Nein, sie feierten mich fröhlich immer weiter, bis mir die brünette, pferdeschwanztragende Schönheit ein Mikrofon in die Hand gedrückt und feierlich um Ruhe gebeten hatte. Und dieses Gefühl... dieses Klatschen, dieses Jubeln... dieses ganz und gar ungewohnte Feiern meiner Persönlichkeit, das war wie ein Rausch - nein, besser als ein Rausch! Es packte mich, meinen ganzen Körper, und flog mit mir davon. Drehte eine Runde unter dem pechschwarzen Himmel der Turnhalle, bis ich fast schon mit den Fingerspitzen den Mond und die Sterne erreichen konnte... Dann ließ es mich fallen. Ich kann heute weder angemessen beschreiben noch erklären, was in diesen Sekunden mit mir geschah oder in mir vorging. Aber irgendwann kam dieser Punkt, da das Publikum tatsächlich schwieg, da Ruhe in den immer noch ein wenig nach Blut, Schweiß, Tod und Verderben stinkenden Turnhallenfestsaal einkehrte und mir urplötzlich bewusst wurde, dass Miss Catcher alias die strahlende Ansagerin im kurzen blauen Kleid mir jetzt und sofort eine Frage stellen würde, auf die ich dann zu allem Überfluss auch noch eine Antwort geben musste! Die Erkenntnis traf mich wie ein gleißender Blitzschlag, fuhr durch meinen Körper wie ein mittelschweres Schleudertrauma und ließ die trotz allem verflucht beeindruckende Raumdekoration samt Publikum einen Moment lang vor meinen Augen verschwimmen. Eine brachiale Woge von Übelkeit breitete sich in meinem Inneren aus und gute zwei, drei, vielleicht auch zehn Sekunden war ich mir sicher, mich mitten auf der Bühne und vor versammelter Mannschaft übergeben zu müssen. Dann ergriff die Lady in Blau mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen und in ihrer gewohnt charmant aufgesetzten Art und Weise das Wort. "So, meine liebe Jessica Maguire, jetzt sei doch bitte so gut und stell dich dem Publikum und unserer Jury mal ganz kurz und prägnant vor!" "Aber gerne doch", flötete ich betont ruhig in das feindselig dreinblickende Plastikgerät. Ich hatte meine liebe Mühe damit, Jessies Tonfall noch glaubwürdig nachahmen zu können, aber noch ungleich schwerer fiel es mir, mich überhaupt weiterhin auf meinen heftigst zitternden Beinen zu halten. Ich schluckte schwer und fuhr dann in unverändert freundlich-einnehmenden Tonfall fort. "Wie Sie ja schon gesagt haben, ich heiße Jessica, aber alle nennen mich Jessie. Ich bin achtzehn Jahre alt und bin erst seit kurzem wieder in dieser Stadt, da ich zuvor ein Praktikum in einem ausländischen Krankenhaus gemacht habe. Ich interessiere mich sehr für fremde Kulturen und so war dieser Aufenthalt eine wichtige Erfahrung für mich. Außerdem zeichne ich gerne und verbringe viel Zeit mit meinen Freunden." "Sehr schön, Jessie", nickte Mrs. Catcher und zeigte dem Publikum ihre blendend weißen Zähne. "Jetzt erzähl uns doch bitte noch, warum du überhaupt an diesem Wettbewerb teilnimmst - und warum ausgerechnet du gewinnen solltest!" "Mein Zwillingsbruder geht auf diese Schule und hat mir von dem Schönheitswettbewerb erzählt. Solche Veranstaltungen haben mich seit meiner Kindheit fasziniert und ein Sieg wäre für mich sehr wichtig. Mein größter Traum ist es nämlich, Medizin studieren zu können, aber da meine Mutter selber an einer Krankheit leidet, müsste ich mir mein Studium selbst finanzieren und diese Misswahl wäre dabei eine große Hilfe für mich. Aber natürlich habe ich auch einfach nur großen Spaß daran, mich fotografieren und schön herrichten zu lassen - ein professionelles Fotoshooting wäre da natürlich das Größte!" Zugegeben - ein ganz klein wenig schämte ich mich ja schon dafür, derart rabiat auf die Tränendrüse von Jury und Zuschauern zu drücken. Doch ganz offensichtlich wirkte es, denn wie auf ein unsichtbares Kommando hin lief bei meinen Worten ein Raunen durch die Menge, gefolgt von Lachen und dann einer neuerlichen Woge von Applaus. Und obwohl ich mich immer noch im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen fühlte, stieg doch ein leises, ein ganz, ganz leises Gefühl von Triumph in meiner Brust auf. Offensichtlich hatte meine schamlos eingesetzte Mischung aus Political Correctness und vertraulicher Pseudo-Ehrlichkeit ihre Wirkung nicht verfehlt. Ich war nun stolzer Besitzer des Prädikates sympathisch, und dies war tatsächlich eine Auszeichnung von nicht zu unterschätzendem Wert. Außerdem muss ich zu meiner eigenen Verteidigung vorbringen, dass wirklich jedes einzelne Mädchen in diesem ganzen verfluchten Wettbewerb das Blaue vom Himmel herunterlog, bis auf die ein, zwei ganz besonders moralisch aufrichtigen und christlich erzogenen, deren Chancen ich aber auch dementsprechend niedrig einzuschätzen wagte... oder die ganz einfach so gut, so perfekt und aufopfernd und menschenfreundlich waren, dass sie eine Lüge überhaupt nicht mehr nötig gehabt hätten. Sprich: Ich hatte wirklich keinerlei Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Und das hatte ich auch nicht. Was vielleicht aber auch ganz einfach daran lag, dass ich mich für solche aufrichtigen Emotionen ganz einfach viel zu schlecht fühlte. Und dabei hatte ich doch eigentlich gar keinen Grund dazu! Immerhin hatte ich die erste Hürde des Lucky-Karma-Miss Contest bereits hinter mich gebracht, und das auf gar nicht mal so üble Art und Weise. Da unsere Schulleitung nämlich keine Genehmigung bekommen hatte, nach Mitternacht noch die geschätzte, zum größten Teil aus ältlichen, gut betuchten Konservativen bestehende Nachbarschaft mit dem Lärm ihrer unwürdigen Veranstaltung zu belästigen, war die erste Runde des Schönheitswettbewerbs auf nur zwei Durchgänge beschränkt worden. Der erste war bereits als Höllenritt durchs Cheerleaderkleidchen in die ganz privaten Annalen meines Gedächtnisses eingegangen, den zweiten - persönliches Lieblingsoutfit plus Vorstellungsrunde - hatte ich eigentlich auch schon überlebt. Trotzdem fühlte ich mich, als ob ich jeden Augenblick sterben müsste. Irgendwie - fragen sie mich bitte nicht, wie und aus welcher inneren Eingebung heraus - schaffte ich es dann doch, dem Publikum noch ein letztes, ganz besonders bezauberndes Lächeln zu schenken, dann stöckelte ich ein bisschen verrucht, ein bisschen stylish und auf jeden Fall verflucht gut aussehend von der Bühne, um meiner nicht minder attraktiven Nachfolgerin Platz zu machen. Ich kam aus dem Licht in das Licht, allerdings eine vollkommen andere Art von Licht... nicht mehr hell, gleißend, glamourös, sondern eher weich und gedämpft... oder lag es doch nur an dem Flimmern vor meinen Augen? Mit einem letzten, kraftlosen Seufzer ließ ich mich auf die erstbeste Sitzgelegenheit fallen, die ich inmitten von Taschen, Kleidern und Schminkutensilien eben noch finden konnte. Mittlerweile war es für mich übrigens nicht einmal mehr ungewöhnlich, mich in der Mädchenumkleidekabine aufzuhalten, ihre schrillen bis rauchigen Stimmen um mich zu hören und mir dabei nicht wie ein schäbiger Sittenstrolch vorzukommen, so sehr hatte ich mich an meine Rolle gewöhnt. Und so fertig war ich. Mit zitternden Fingern gelang es mir, nach der großen 1,5 Liter-Wasserflasche (ohne Kohlensäure) zu angeln, die ich mir in weiser Voraussicht mitgenommen hatte, und dann begann ich zu trinken. Irgendwie... muss ich dabei das Bewusstsein verloren haben. Oder man hatte mich hypnotisiert. Oder beides. Jedenfalls trank ich und trank und trank immer weiter, während von draußen das monotone Klatschen und Stöckeln und die musikalische Untermalung hereindrang... wie ein Teppich. Ein Teppich aus Klängen, aber so ein dumpfer, weicher, wolliger Teppich, in den man bei jedem Schritt einsinkt, erst knöcheltief und dann immer tiefer. Währenddessen lief mir das kalte, klare Wasser so herrlich erfrischend und belebend die Kehle hinab, erweckte in mir neue Lebensgeister, die ich vorher nicht einmal mehr namentlich gekannt hatte... durchströmte mich, erfüllte mich auf eine so durch und durch herrliche Art und Weise, dass ich diesen kostbaren Göttertrank einfach nicht mehr von meinen Lippen nehmen konnte und wollte. Als ich dann irgendwann durch irgendein Geräusch... vielleicht war es eine zufallende Türe, vielleicht ein lautes Lachen... doch wieder aus meinem gedanklichen Tiefschlaf gerissen wurde, da war meine schöne große 1,5 Liter-Wasserflasche schon mehr als zur Hälfte leer getrunken. Erinnern Sie sich? Eben hatte ich noch von den Gesetzen unserer Mutter Natur geschrieben, schon muss ich wieder damit anfangen. Vielleicht können Sie Ihre Fantasie einmal ganz kurz für Sie arbeiten lassen. Gut. Stellen Sie sich vor, Sie kippen sich in herrlichstem Sturztrunk und ohne größere Pausen gut einen Liter Wasser die Kehle hinunter. Falls Sie diese Zeilen an einem heißen Sommertag lesen, wird ihnen die Vorstellung vielleicht erst einmal angenehm erscheinen, was Sie ja auch war. Wenn Sie durstig sind, werden Sie jetzt noch durstiger werden. Bitteschön - stehen Sie kurz auf und holen Sie sich etwas zu trinken. Ich laufe Ihnen schon nicht davon. Aber dann denken Sie weiter. Denken Sie ein Stockwerk tiefer. Ich bin mir sicher, Sie werden nachvollziehen können, dass ich vielleicht einen der glücklichsten, vielleicht einen der schlimmsten, auf jeden Fall aber einen der wichtigsten Augenblicke meines Lebens nicht unbedingt mit fest zusammengekniffenen Beinen als weitere Prüfung meiner eisernen Selbstbeherrschung verbringen wollte. Und ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich bis zur tatsächlichen Preisverleihung noch gut eine Viertelstunde Zeit hatte. Natürlich musste ich früher da sein, aber jetzt seien wir doch einmal ehrlich - obwohl ich so aussah wie ein Mädchen, ich war keins. Ich brauchte ganz gewiss keine Viertelstunde, um aufs Klo zu gehen. Trotzdem wusste ich, dass Eile geboten war. Immerhin befanden wir uns auf einer doch nicht unbedingt kleinen Veranstaltung - wer weiß, welch Schlangen sich da mittlerweile gebildet hatten? Doch entgegen aller bisherigen Erfahrungen und Erwartungen schien mir das Glück an diesem einen Abend sogar tatsächlich einmal Hold zu sein. Denn ich fand den Toilettenraum wirklich und wahrhaftig verlassen vor, vollkommen verlassen, können Sie sich das vorstellen? Selbst während einer Schulstunde ist das noch ein ungewöhnlicher Zustand! Wie auch immer, ich verschwand also in einer der Kabinen - immerhin hatte ich dank meines für ein männliches Wesen doch recht ungewöhnlichen Outfits noch einige Vorbereitungen und eben einfach mehr Handgriffe als gewohnt zu erledigen - und befreite mich von gut einem Liter kalten, klaren Wassers. Danach wollte meine weibliche Schönheit natürlich auch wieder auf Hochglanz gebracht werden, und so benötigte ich zwar keine Viertelstunde, aber doch locker über fünf Minuten, bis ich fix und fertig wieder vor dem Spiegel bei den Waschbecken stand und mir die Hände wusch. Und während ich noch so dastand und mir das angenehm kühle Nass über die Haut laufen ließ, da hörte ich mit einem Mal Stimmen auf dem Gang, die sich der Türe näherten. Zunächst dachte ich mir nichts Böses dabei - warum auch? - und blieb in aller Seelenruhe stehen... ich glaube, ich habe sogar noch einmal meine Frisur in Ordnung gebracht! Können Sie sich das vorstellen? Ich stand da und fuhr mir durch die Haare, während draußen auf dem Gang mein Schicksal besiegelt wurde. Erst wenige Sekundenbruchteile, bevor die dunkelgrüne Plastiktüre tatsächlich aufgestoßen wurde, begriff ich, welch grauenhaften Fehler ich da eigentlich begangen hatte. Ich war Jessie Maguire. Ich war ein schönes, junges, begehrenswertes Mädchen, das am schuleigenen Schönheitswettbewerb teilnahm. Und ich war vor lauter Zeitdruck, Gedankenlosigkeit und in alter Gewohnheit auf die Jungentoilette der Turnhalle gegangen. Der Jungentoilette, der sich gerade eben zwei männliche Wesen näherten. Als mir das bewusst wurde, fühlte ich Panik in mir aufsteigen. Kalte, nackte Panik, die mich einen Moment lang erstarren und so wertvolle Sekunden verlieren ließ. Verdammt noch mal, ich musste hier raus! Dummerweise gab es im ganzen Raum nur einen einzigen Fluchtweg, und der führte direkt in die Arme meiner unliebsamen und unfreiwilligen Verfolger, denen ich doch auf gar keinen Fall unter die Augen treten konnte! Ich sah nur noch einen einzigen akzeptablen Ausweg aus meiner misslichen Lage - ich musste mich in einer der Toilettenkabinen verstecken und warten und hoffen, dass sich die beiden unliebsamen Eindringlinge auch möglichst rasch wieder von ihrem Posten vor meinem dezent nach billigem Duftreiniger stinkendem Kurzzeitgefängnis entfernen würden. Was soll ich sagen? Sie kennen doch sicherlich auch dieses überaus herrliche, auf eine ganz und gar perverse Art und Weise sogar unwahrscheinlich erhebende Gefühl, dass sich die ganze, aber auch wirklich die ganze verfluchte Welt einen oder auch zwei Tage lang einzig und allein zu dem Zweck um ihre eigene Achse dreht, um Ihnen ihr dummes kleines Leben auf jedem nur erdenklichen Wege zur Hölle zu machen. Nein? Dann darf ich Ihnen gratulieren. Und Sie vielleicht heimlich, still und leise auch ein klein wenig bemitleiden, denn bei aller hilflosen Verzweiflung, die solch bezaubernde vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden in einem wachrufen können, bleibt da doch so ein ganz gewisser Hauch von hysterisch-amüsantem Entertainment, das sie wohl sonst in dieser Form auf der ganzen Welt nicht finden werden. Wahrscheinlich können sie längst schon ahnen, worauf ich bei all diesem Gerede hinauswill, richtig? Im Nachhinein wundert es mich, dass ich selbst in dieser grauenhaften Situation nicht schon viel eher draufgekommen bin. Ja, wenn ich jetzt so hier sitze und darüber nachdenke, ärgert mich bei allem distanzierten Schmunzeln doch immer noch und vor allem anderen der Gedanke, dass ich dieser verfluchten Macht namens Schicksal (oder was auch immer es an diesem Abend auf mich abgesehen hatte) sogar noch diesen einen, letzten Triumph gegönnt habe, mich von seiner doch alles andere als kreativen Grausamkeit auch noch überraschen, ja sogar schockieren zu lassen. Ich meine, ich habe diese verfluchte Stimme schon erkannt, lange bevor sie die Plastikschranken der Toilettentüre passiert und sämtliche Zellen meines Körpers spontan in einen Zustand des rabiatesten Kälteschlafes versetzt hatte. Oder vielmehr - es war sein Lachen, das ich wohl unter Massen lachender und grölender Menschen noch ohne größere Probleme hätte erkennen können, ganz einfach deshalb, weil es mir so (Verzeihung!) ganz unwahrscheinlich auf den Sack ging. Und nun, da ich mit aufreizendem Minirock, ganz unverschämt verführerischem Schnürtop und High Heels bewaffnet hinter den Jahrhunderte alten, in leuchtenden Eddingrunen herniedergeschriebenen Schülerweisheiten der ansonsten recht farblos grauen Toilettentür kauerte und mich meinerseits beherrschen musste, nicht in ein ebenso lautes Lachen auszubrechen (eines von der ganz besonders schrillen, hysterischen Sorte, um genau zu sein), da regte es mich sogar noch viel mehr auf als jemals zuvor. Mehr, als ich jetzt noch glaubhaft wiedergeben kann. Mehr, als ich jetzt überhaupt noch in irgendeiner Weise nachempfinden kann. Es mag kindisch, falsch und unfair sein, aber in diesen bangen, von unerfüllbarem Zeitdruck gepeitschten Minuten erschien mir nichts anderes boshafter und unerträglicher als die unerwartete Anwesenheit jenes Menschen, dessen plötzliches Verschwinden mir nur wenige Minuten zuvor so nachhaltig den Boden unter meinen Stiefeln hinweggerissen hatte. Ich atmete tief durch und zwang mich zur Ruhe. Alles war gut. Ich war gefangen und ich hatte es eilig, daran gab es sicherlich nichts zu beschönigen und ich versuchte es auch überhaupt nicht. Aber ich hatte es eben doch nicht so eilig, verstehen Sie? Nicht so, dass es auch nur einen Ansatz von Panik hätte rechtfertigen können, denn dafür waren mir meine kostbaren Nerven weiß Gott zu schade. Immerhin war es die Jungentoilette, die mich hier so unpassenderweise gefangen hielt, und wie Sie sicher auch wissen werden, sind wir männlichen Wesen ja nun nicht unbedingt bekannt dafür, unsere kostbare Lebenszeit in übermäßiger Weise auf dem stillen Örtchen zu verschwenden. Sehen Sie, ich hatte doch nicht einmal zu befürchten, dass sich Tatsumi oder sein mir unbekannter Begleiter noch rasch das Make up auffrischen oder den einen oder anderen verwischten Lidstrich nachziehen mussten, und so sah ich nach dem ersten Schrecken wirklich vorerst einmal keinen Grund, mir von meiner misslichen Lage das Fürchten lehren zu lassen. Oh mein Schicksal, wer sehr ich dich unterschätzt hatte! Die Türe öffnete sich sogar erstaunlich lautlos und Tatsumi trat ein, offensichtlich als Erster, denn seine Stimme erschien mir ein wenig lauter als die des anderen Jungen. Dann folgte eine kurze Periode der Stille, gefolgt von leisem Klappern und dem Rauschen des Wasserhahns. Wieder klappern. Ein leiser Laut des Lachens. Das Quietschen von Turnschuhen auf den feuchten Fließen. Ich blinzelte und presste mein Ohr ein wenig näher an das kühle Plastik der Türe. Was um alles in der Welt ging da draußen vor sich? Ich war verwirrt. Irgendetwas wurde ganz offensichtlich auf der glatten Fläche des Waschbeckens ausgepackt, aber was konnte das sein? Wie ich ja bereits festgestellt und angemerkt hatte - ich befand mich immerhin nicht auf einer Mädchentoilette und hatte somit weder mit Schminkdöschen noch mit Mascara, Lipgloss, Kämmen oder sonstigen Spielereien zu rechnen. Aber was um alles in der Welt konnte in einer Jungentoilette klappern?! "Du bist echt mein Retter, Thomas", hörte ich Tatsumi in seiner unnachahmlich coolen Weise verkünden, und ganz unweigerlich lief auch mir ein kalter Schauer den Rücken hinab. "Ich werd mich mit dem reinmachen beeilen, will ja schließlich auch noch was von dem Abend haben... du verstehst?" "Jetzt, wo ich sie gesehn hab versteh ich's schon..." lachte eine zweite, unangenehm raue Stimme. Ich runzelte die Stirn und fuhr in wachsender Nervosität über die leicht unebene Oberfläche der Türe. Meine Ratlosigkeit schien sich mit jeder einzelnen Sekunde, die ich zwischen den kryptischen Inschriften zahlloser Schülergenerationen verbrachte, in wahrhaft astronomische Höhen steigern zu wollen. Ich meine - bitte wer wollte was wo... reinmachen?! Und was hatte die ganze verfluchte Sache dann wieder mit mir zu tun? Denn dass Tatsumi und Thomas von niemand anderem als meiner eigenen Person gesprochen haben konnte, das lag so sehr auf der Hand wie die Tatsache, dass mir irgendetwas in ihrem Tonfall dabei so ganz und gar nicht behagen wollte. Ein leichter Hauch von Beunruhigung glitt über meinen Körper. "Hast du eigentlich schon für Latein gelernt?" hörte ich Tatsumi gewohnt ungerührt fortfahren. Ein kurzer Moment der Stille folgte. Dann ein Lachen. "Da bin ich ja beruhigt - ich nämlich auch nicht. Langzeitklausuren sollten doch wirklich verboten werden! Es ist ja nun nicht direkt so, dass ich meinen Samstag nicht anders zu verbringen wüsste als hier in der Schule! Aber am meisten nervt es doch, Freitags früh ins Bett gehen zu müssen..." "Da ist die ganze Woche im Arsch!" bekräftigte jener stimmlich schon einmal äußerst unsympathische Zeitgenosse mit Namen Thomas und ich verzog spontan das Gesicht. Einmal abgesehen davon, dass für jegliche Art der Unterhaltung zwischen den beiden Jungen so oder so keine Zeit mehr blieb, die ich noch hätte abwarten können, zählten doch Dinge wie Langzeitklausur Latein oder noch nicht gelernt momentan wohl zu der Sorte von Begrifflichkeiten, die ich wohl von allen auf der ganzen Welt am wenigsten hören wollte, wahrscheinlich deshalb, weil sie ja schon allgemein nicht unbedingt von beruhigender Natur sind, und dann noch in dieser Situation... Sie kennen doch dieses Schema von wegen Überlebenskampf, nicht wahr? Sie blicken einem übermächtigen Feind oder einer tödlichen Bedrohung ins Auge und spontan beginnt ihr evolutionstechnisch doch recht fortschrittlicher Körper ein gewisses Überlebenshormon namens Adrenalin auszuschütten. Sie halten das für übertrieben? Dann erklären sie mir doch bitte mal, was übermächtiger und tödlicher sein könnte als eine ausweglose Gefangenschaft im Angesicht des gnadenlosen Selektionsverfahrens eines wahrhaft überlebenswichtigen Schönheitswettbewerbes (Darwin wäre stolz auf uns gewesen!) und dem in Kürze darauf folgenden, viereinhalbstündigen Todeskampf gegen die blutrünstige Bandwurmsatzarmee der philosophischen Schriften Ciceros? Verstehen Sie, was ich meine? Mein Blut schien vor lauter Adrenalin förmlich überzukochen und ich konnte ja nichts dagegen tun, konnte nicht weglaufen, nicht kämpfen... ich war gefangen. Und das war wohl von allen sadistischen Spielchen, die das Schicksal mit mir zu treiben beschlossen hatte, das perfideste und grausamste. "Apropos ,Woche im Arsch', wie lief bei dir eigentlich Mathe?" erkundigte Tatsumi sich beiläufig und rammte mir so die tödliche Klinge noch endgültig in meinen eh schon blutenden Leib. Mathe. Mathe! Ich meine - Mathe!!! Ich habe dieses Fach schon immer gehasst, schon seit ich zum ersten Mal die staubigen Hallen meiner ehemaligen Ghettoschule betreten habe. Die meisten anderen Kinder waren damals ja auch noch stolz darauf gewesen, endlich einmal erwachsen und wichtig und intelligent genug zu sein, um sogar Hausaufgaben aufbekommen zu können (ist es nicht wirklich unfassbar, wie durch und durch pervers einem solch eine Erinnerung nur knapp dreizehn flüchtige Jahre später mit einem Mal erscheint?). Ich möchte es gar nicht beschönigen - auch ich war damals nicht besser, ich war jung, ich brauchte das Geld und ich wusste nicht, was ich tat. Ich hatte meine liebe Mühe damit, nicht einfach vor lauter Stolz in tausend Stücke zu zerplatzen, wenn ich in den ersten Tagen meiner Schulzeit in einer Ecke meines Zimmerchens auf dem räudigen Teppichboden saß und mit einer wahrhaft liebevollen Hingabe und Sorgfältigkeit krakelige Pseudo-Buchstaben in meine schäbigen Übungsheftchen pinselte. Mit Mathe war das etwas anderes. Anfangs hat es mich ja einfach nur gelangweilt in all seiner zahlenreichen Abstraktheit, doch schon am Ende der Grundschuljahre war es zu dem ersten und einzigen Fach mutiert, das mir wirklich und wahrhaftig Probleme bereitet hat. Man sagte mir, ich müsste mich nur mehr anstrengen. Dürfte nicht schon von vornherein aufgeben. Mein Bewusstsein erweitern für die subtile Magie der Zahlen, Kreise und Sinuskurven. Und ich soll ich Ihnen Mal was sagen? Nichts von alldem hat mir je geholfen. Es gab bessere und es gab schlechtere Zeiten in meinem mathematischen Werdegang. Dann und wann schimmerte doch ein vages, diffuses Licht zwischen all den Kurvendiskussionen, Integralen, Vektoren und Matrizen zu mir hindurch, sah ich Land am Ende des Ozeans aus Algebra und analytischer Geometrie, und an den tatsächlichen Rand der Versetzungsgefahr haben mich die finsteren Mächte der Mathematik auch niemals wirklich zurückdrängen können, und trotzdem... ich habe das Fach die ganze Zeit über aus tiefstem Herzen gehasst. Mich durch schier endlose Stunden und (noch schlimmer!!!) Doppelstunden gequält und doch hat es niemals so wirklich Klick gemacht. Kurzum: Meine Mathematiklaufbahn war ein dreizehnjähriger Kampf gewesen, und aus dieser einen Schlacht gegen eine gewisse, eben genannte Klausur, war ich eben leider Gottes einmal nicht siegreich hervorgegangen. Anders ausgedrückt: Nachdem ich gut zwei Stunden lang auf eine feindselige Masse aus Ebenen und diese Ebenen schneidenden Geraden und Stützvektoren und Spannvektoren und Richtungsvektoren und Parameter und überhaupt allem gestarrt hatte, da hat irgendein Teil in meinem Inneren ganz einfach resigniert, hatte es aufgegeben, sinnlose Rechenansätze auf die jungfräulich weißen Seiten meines Heftes zu schmieren, nur um sie dann sowieso augenblicklich wieder durchzustreichen. Stattdessen habe ich meinen Klassenkameraden hysterisch lächelnd beim fleißigen Schreiben und hantieren mit den Grafiktaschenrechnern zugesehen und die überflüssigen Massen meiner Konzeptblätter mit kleinen, bunten Blümchen verziert. Ich weiß nicht mehr, welche Note dann im Endeffekt wirklich bei dieser Klausur herausgekommen ist - ich weiß nur, dass mir schon der bloße Gedanke an die wohl schlimmsten sieben Aufgaben meines Lebens an diesem einen Abend endgültig den Rest gegeben hat. Ich konnte und ich wollte keine Sekunde mehr länger warten, und doch... ich war gefangen. Was hätte ich denn tun sollen? Wissen Sie, bei jedem anderen Eindringling wäre ich vielleicht einfach doch aus der Kabine herausspaziert, hätte ihn kurz im Vorbeigehen mit einem verlegenen Lächeln bezaubert und dann eine derart schnelle, wortgewaltige Erklärung für mein kleines Missgeschick vom Stapel gelassen, dass er im Endeffekt wahrscheinlich sowieso nichts davon mitbekommen hätte. Aber Tatsumi... Draußen klapperte es erneut. "Lief die überhaupt bei irgendwem nich scheiße? Na ja, von Andy vielleicht mal abgesehen, aber der zählt nicht. Gegen den sind ja selbst Einstein und Newton noch Anfänger!" Thomas lachte und bewies mir so auf äußerst eindringliche Art und Weise, dass es doch immer, wirklich immer noch Steigerungsmöglichkeiten gibt - selbst von diesem unangenehmen Phänomen, wie sehr mir Tatsumis Lache auf die Nerven ging. Ich konnte mit einem Mal nur noch mühsam das Bedürfnis in meiner Brust nierrringen, entweder mit den Zähnen zu knirschen oder schlicht und einfach gegen die Klotüre zu schlagen und mahnte mich zur Ruhe. Was auch immer Tatsumi und Thomas da draußen gerade veranstalteten, was auch immer sie so rasch wie möglich wo reinzumachen beabsichtigten - ewig würde es ja wohl nicht mehr dauern können. Dachte ich. Hoffte ich. "Was hast du bei der ersten Aufgabe rausgekriegt?" erkundigte sich Tatsumi in (zumindest für meine Ohren) deutlich hörbarem Desinteresse. Ich begriff nicht, warum er das fragte, wenn es ihn doch eigentlich überhaupt nicht wirklich interessierte, aber ich hatte ja schon lange aufgegeben, Tatsumi verstehen zu wollen und es wäre mir wohl unter jeden anderen Umständen auch vollkommen egal gewesen, nur... ich hatte nicht mehr ewig Zeit. Meine perfekt manikürten Fingernägel zeichneten helle Linien in den Stoff meines Minirocks, während mein Nervenkostüm langsam aber sicher aus dem Fenster hinaus gen Nachthimmel von dannen flatterte. "Was war das noch mal?" "Orthogonalität von Geraden." "Im Raum oder in der Ebene?" "Im Raum. Glaub ich zumindest. Oder bist du da über m1 x m2 = -1 gegangen? Also ich hab da die Sache mit dem Skalarprodukt angewendet, wenn ich mich nicht irre. War eigentlich noch recht einfach. Bei mir waren die Geraden in a) orthogonal, in b) nicht, in c) wieder orthogonal und in d) auch. Aber bei d) war ich mir nicht sicher. Kann auch sein, dass ich mich nur vertippt habe." "Öhm... keine Ahnung... weiß nicht mehr... ich fand die Aufgabe zwei aber auch gleich mal viel schwerer. Wie hast du das gerechnet? Per Taschenrechner mit Matrix nach diesem Schema oder wie?" Ich glaube, sie werden es mir nicht verdenken, wenn ich ihnen den Rest des Gespräches mehr oder weniger erspare, denn der setzte sich sowieso auf ganz genau diese Art und Weise fröhlich immer weiter von Teilaufgabe zu Teilaufgabe, von Ergebnis zu Ergebnis fort - Sie erinnern sich? Wir sprachen von sieben Aufgaben, jeweils unterteilt in a), b), c) und vielleicht auch noch d). Sieben mal vier, das macht (wo wir eh schon mal beim Thema Mathematik angelangt wären...) gut und gern 28 Ergebnisse samt unterschiedlichster Lösungswege und etwa vier Milliarden Möglichkeiten, Fehler zu machen. Bis zur Preisverleihung blieben mir allerhöchstens noch drei, vier Minuten. Verstehen Sie nun so langsam, worauf ich hinauswill? Ich war gefangen, wirklich und wahrhaftig gefangen und ich begann ganz allmählich zu begreifen, das mein einziger Fluchtweg wohl so bald nicht mehr begehbar sein würde. Wie gesagt, ich hatte keine Uhr, doch die Sekunden schienen im Inneren meines Kopfes mit wahrhaft brachialer Lautstärke hinfort zu ticken. Meine Stiefel klebten heiß und feucht auf meiner Haut. Ich erschauderte. Die Zeit lief mir davon und ich sah keinerlei Möglichkeit, aus dieser tödlichen Falle entkommen zu können. Ich erkannte meine Blindheit erst, als es beinahe schon viel zu spät war. Und selbst dann, als in tiefster Nacht ein einzelner, blässlicher Lichtstrahl auf mein müdes Haupt herabzuschweben schien, verschwendete ich noch einige kostbare Sekunden mit vollkommen überflüssigem Zögern. Wie mache ich Ihnen diese Situation jetzt am Besten begreiflich? Also gut... stellen Sie sich einmal vor, Sie sind mitten im tiefsten Urwald und Sie haben keine Waffe. Sie sind allein. Es ist dunkel, Nacht. Und dann, während Sie so einsam und verlassen durch die Finsternis irren, da hören sie plötzlich Geräusche im Blattwerk um Sie herum. Dann ein Knurren. Und im nächsten Moment begreifen Sie, dass es mordlüsterne Raubtiere sind, die Sie umzingelt und eingekreist haben. Keine sonderlich schöne Situation, nicht wahr? Und dann, plötzlich - plötzlich sehen Sie Licht. Einen Feuerschein, irgendwo zwischen den Bäumen. Sie wissen nicht, woher genau dieser Feuerschein kommt, was Sie dort erwartet... wer Sie dort erwartet, aber dieser eine mickrige Feuerschein ist nun einmal dummerweise das Einzige, was sie überhaupt noch haben. Die Raubtiere kommen näher, von allen Seiten. Was tun? Der einzige Weg führt über die Bäume, die Sie umgeben. Diese müssten Sie nur eben erst einmal sicher erklimmen, schnell genug zudem, dass keiner Ihrer Jäger Sie och am Bein erwischen und in den sicheren Tod hinabreißen kann. Und die Äste über Ihrem Kopf, die sehen auch nicht gerade Vertrauen erweckend aus. Eher ein bisschen morsch. Gut - an manchen Stellen gibt es auch überhaupt keine Äste mehr. Nur Lianen, aber da müssten Sie halt ein bisschen springen. Dumm nur, dass Sie bei einem möglichen Sturz mehr als nur der eine oder andere Knochenbruch erwarten würde... Vielleicht halten Sie diesen Vergleich für ein klein wenig abstrakt, aber ich schwöre Ihnen, ganz genau so und nicht anders habe ich mich in jenem schicksalhaften Moment gefühlt, als ich den Kopf hob und mit einem Mal einen schwachen, milchigen Lichtschein wahrgenommen habe. Oder besser gesagt: Den schwachen, milchigen Lichtschein einer Straßenlaterne, der durch ein kleines Fensterchen über der angrenzenden Kabine in den Raum fiel. Die Erkenntnis war derart überwältigend, dass ich erzitterte. "Warum hast du Punkt B als Stützpunkt genommen?", drang es von der anderen Seite der Türe an mein Ohr. "A war viel leichter. Hat doch immerhin die x2-Achse geschnitten." "Vielen Dank für den Hinweis, Tatsumi, im Nachhinein is mir das auch aufgefallen. Aber waren die Geraden im b)-Teil wirklich windschief?" "Hm... möglich... bei mir waren sie jedenfalls parallel." Ich schluckte. Meine Hände waren von einem gewissen zittrigen Eigenleben erfüllt worden, was mein Unterfangen natürlich nicht unbedingt einfacher machte. Genauso wenig wie die überaus grausame, aber leider Gottes unumgängliche Tatsache, dass gut zehn Zentimeter hohe Absätze wohl nicht unbedingt zum Klettern konzipiert worden sind. Haben Sie sich jemals gefragt, warum unsere nächsten Anverwandten, die Affen, eigentlich keine Abendgarderobe mit Stöckelschuhen tragen? Versuchen Sie mal, in selbiger stilvoller Bekleidung einen Baum zu erklimmen, dann verstehen Sie's. Das, müssen Sie wissen, ist das Geheimnis der Evolution. Na gut - ich hatte es zugegebenermaßen nicht mit einem Jahrtausende alten Urwaldriesen, aber doch zumindest mit der überaus glatten Steilwand einer Schultoilettenkabine zu tun, und dabei stand mir weder Steigeisen noch Sicherungsseile zu meiner persönlichen Verfügung. Alles was ich hatte war eine Porzellantoilette der etwas älteren und etwas unappetitlicheren Sorte (ohne Deckel, versteht sich, aber was erwartet man schon von einer Schultoilette?!), ein reichlich labil dreinblickender Papierhalter aus Holz und etwas klapprigem Metall und meinen ureigenen Mut der Verzweiflung. Nicht viel, sicherlich, aber trotzdem musste es reichen. Mit einem letzten tiefen Atemzug streckte ich meine Finger nach der oberen Kante des Plastikwalles aus und erreichte sie gerade so weit, um keinen sicheren Halt daran finden zu können. Ich verzog das Gesicht. So weit, so gut - der erste Schritt meines mehr oder minder gut durchdachten Planes war also schon einmal auf reichlich unspektakuläre Weise in die Hose gegangen. Noch kein Grund zur Verzweiflung, sicher, vielmehr eine stumme Aufforderung zu einem Risiko, das ich zunächst einmal nicht einkalkuliert hatte. Ich spannte meinen Körper, machte einen Schritt nach vorne und platzierte dann in wilder Entschlossenheit meinen rechten Fuß auf dem gräulich weißen Rand der Toilettenschüssel. Nun war Eile geboten. Ich hatte zwar schon so eine etwaige Vorstellung davon, wie meine kleine, aber doch alles entscheidende Kletterpartie würde ablaufen müssen - das war aber auch schon alles. Übrig blieb eine ganze Menge an blind eingeführten Konstanten und Unbekannten, von nicht kalkulierbaren Risiken und Anforderungen, deren Erfüllbarkeit ich beim besten Willen nicht einzuschätzen wusste. Und wissen Sie, was das Schlimmste von allem war? Es musste schnell gehen. Verflucht schnell. Und das lag nicht etwa nur daran, dass ich mir nun wirklich nicht sicher war, wie lange der morsche Toilettenpapierhalter mein Gewicht wohl tragen konnte, nein... was ich zu vollbringen hatte, war ein Kunststück an Geschicklichkeit, an Balance und an Kräften, über die ich vielleicht noch nicht einmal wirklich verfügte. Meine Flucht hatte sich in einer einzigen, durch und durch stimmigen Bewegung zu vollziehen. Ich durfte nicht zögern, durfte nicht innehalten, um den nächsten Schritt zu überdenken. Jedes Zögern musste unweigerlich den freien Fall nach sich ziehen. Jeder Fall verursachte ebenso unweigerlich Krach. Krach erregte Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit war nun wirklich das, was ich mir in dieser Situation am wenigsten erlauben konnte! Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle noch einmal, was um alles in der Welt solch einen Aufwand, solch ein Risiko und solche Umstände gerechtfertigt hätte. Warum ich nicht einfach die Toilettentüre geöffnet und Tatsumi mein kleines Missgeschick erklärt habe. Oder auch nicht. Denn einmal ganz davon abgesehen, dass sich doch jeder Mal in der Wahl des stillen Örtchens irren konnte (ist Ihnen das vielleicht auch schon mal passiert?), was war ich Tatsumi denn eigentlich schuldig? Eine Rechtfertigung? Ganz bestimmt nicht! Gut, Tatsumi hatte mir geholfen und dafür war ich ihm ja auch wirklich dankbar und... also schön, ich hatte wohl in den letzten Tagen gelernt, ihn ein ganz kleines bisschen weniger unsympathisch zu finden, aber trotzdem... Er war es immerhin gewesen, der sich auf mich eingelassen hatte, nicht umgekehrt! Wenn er danach nichts mehr von mir wissen wollte, konnte es mir doch eigentlich nur recht sein. Und außerdem, was hatte ich schon zu befürchten? Nicht ich war es, der sich bei der ganzen Aktion blamieren würde, sondern Jessie. Jessica Maguire, eine fiktive Figur, die auch dementsprechend gar nicht über so etwas wie ein Schamempfinden verfügen konnte, kurzum: Ich hatte an und für sich keinen Grund, diese gottverdammte Toilette nicht einfach wieder auf demselben Weg zu verlassen, auf dem ich sie betreten hatte. Und trotzdem tat ich es nicht. Jetzt, wo ich hier sitze, schreibe und darauf zurückblicke, begreife ich natürlich viel mehr als damals, was in diesen seltsamen Augenblicken in mir vorgegangen ist. Im Nachhinein wird alles so viel logischer, was erst einmal überhaupt keinen Sinn ergibt. Es ist viel passiert seit jenem denkwürdigen Abend in der Schulturnhalle, sehr viel, was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal habe ahnen können. Und vielleicht war das auch ganz gut so. An all diese Dinge verschwendete ich natürlich nicht auch nur den geringsten Gedanken, als ich mit meinen eng eingepferchten Zehen nach dem optimalen Halt auf dem Porzellanrund suchte, ihn natürlich nicht fand und mich so schließlich doch mit einer zumindest halbwegs akzeptablen Illusion von Sicherheit zufrieden gab. Ich federte einige Male mit meinem bodenständig gebliebenen Bein, machte probehalber einen kleinen Satz - und hielt dann doch noch einmal inne. Die Distanz schien mir mit einem Mal so... wie soll ich sagen? Unüberwindlich. Gigantisch. Fast schon größenwahnsinnig für so eine lächerlich schmale Schultoilette, die ja eigentlich doch keiner so recht beachtete und schon gar niemand zu schätzen wusste. Meine Beine zitterten, als ich mich dann endlich doch zusammenriss, mir noch ein letztes Mal mein glorreiches Ziel vor Augen führte und jeden Muskel in meinen Körper bis zum Äußersten anspannte. Und genau das war es, was mir beinahe das Genick gebrochen hätte. Mein Absprung war nicht perfekt. Die Spitze meines Stiefels rutschte leicht zur Seite weg und spontan verfiel ich in Panik. Stellen sie sich bitte einmal vor, mit ihren besten Schuhen in der wohl am längsten schon nicht mehr renovierten Toilette Ihrer Schule festzustecken. Und dann stellen Sie sich vor, ihre Schule zählt an die zweitausend Schüler, von denen gut die Hälfte männlich ist. Vielleicht verstehen Sie jetzt, was in diesem Augenblick in mir vorgegangen ist. In all meiner verstörten Hast bekam ich die Oberkante der Kabinentrennwand nur noch äußerst knapp zu greifen, und das auf eine reichlich schmerzhafte Art und Weise. Natürlich biss ich meine Zähne zusammen. Natürlich ließ ich nicht los. Aber das hatte ich wohl weniger meiner herausragenden Körperbeherrschung als vielmehr der Angst vor dem drohenden Fall zu verdanken. Mit einem einzigen vehementen Ruck, wie ich selbst ihn mir wohl allerwenigsten zugetraut hatte, riss und stemmte ich meinen Körper nach oben, während ich mit der freien Fußspitze nach dem sicheren Halt des Toilettenpapierhalters angelte. Genau in diesem Moment begann einer jener unkalkulierbaren Faktoren in Kraft zu treten, von denen ich weiter oben bereits gesprochen hatte. Und es war ein unkalkulierbarer Faktor der bösartigsten Sorte, wenn ich das jetzt mal so anmerken darf. Rein physikalisch gesehen hat es vielleicht irgendetwas mit Zentrifugalkräften oder sonstigen Drehbewegungsgesetzten zu tun, keine Ahnung. Physik war in meiner gesamten schulischen Laufbahn immer schon das einzige Fach gewesen, das ich sogar noch ein kleines bisschen weniger verstanden habe als die gute, alte Mathematik und ich habe es bei er ersten Gelegenheit mit Freuden abgewählt. Was auch immer in dieser Situation nun gewirkt haben mag, es zog mir jedenfalls gründlichst den Boden unter dem Fuß hinweg, als es besagten Papierhalter in eine plötzliche, unerwartete Rotationsbewegung versetzte. Ich keuchte auf, und dann vollführte ich ein wahrhaft akrobatisches Kunstwerk, das ich heute selber nicht mehr erklären kann. Ich warf meinen Körper förmlich nach vorne, nutzte die Gunst meines eigenen Schwunges und zog gleichzeitig mit beiden Armen auf der anderen Seite der Plastikwand nach unten. Einen Moment lang hing ich auf groteskeste Weise in der Schwebe zwischen Himmel und Fließenboden, ruderte hilflos mit den Beinen in der warmen Luft herum, während sich die stählerne Oberkante der Kabinenwand auf überaus unangenehme Weise in meine Achselhöhlen bohrte. In einem absurden Zeitlupentempo fühlte ich meinen Halt schwinden, nahm ich ein unaufhaltsames Rutschen meiner selbst wahr, gnadenlos in Richtung der Erde gerichtet... Dies war die Sekunde, in der mir wohl niemand Geringeres als die glühenden Peitschenhiebe des Adrenalins in meinen Adern das Leben retteten. Mehr aus Reflex denn aus planmäßigem Denken heraus zog ich meine Beine an den Körper, suchte zum zweiten Mal Halt auf dem heimtückischen Papierhalter und drückte mich mit aller Kraft nach oben weg. Mein Körper wurde von seinem eigenen Schwung nach vorne gerissen und um ein Haar wäre ich kopfüber geradewegs auf den überaus harten Fußboden der benachbarten Kabine gestürzt. Erst im letzten Moment fand ich mit einem meiner Arme Halt und zwang meine Flugbahn in eine seitliche Richtung, wobei ich einmal mehr meine wahrhaft überwältigende Zielsicherheit unter Beweis stellen konnte: Ich landete nun nämlich geradewegs mit dem Bauch auf dem Rand der Kabine. Der Schlag trieb mir die Luft aus den Lungen und ich konnte nur mit großer Mühe gegen den brachialen Hustenreiz ankämpfen, der spontan von meinem Körper Besitz zu ergreifen versuchte. Doch ich war meinem Ziel schon viel zu nah gekommen, als dass ich es jetzt noch einer derart profanen Banalität wie einem Hustenreiz hätte opfern können, und so presste ich meine Lippen fest aufeinander und zwang mich dazu, ruhig und beherrscht durch die Nase ein- und auf demselben Weg auch wieder auszuatmen. Erst als sich mein Herzschlag und die immer noch empört vor sich hinpochende und -schmerzende Gesamtheit meiner inneren Organe wieder einigermaßen beruhigt hatte und ich mich selbst wieder als wirkliches menschliches Wesen und nicht einfach nur als ein luftleeres Vakuum der Qualen wahrzunehmen vermochte, schwang ich beide Beine über die tückische Trennwand zwischen mir und meiner Freiheit hinweg und ließ mich mit einer wahrhaft erstaunlichen Sicherheit auf den dortigen Boden hinabgleiten. Ich musste mich wirklich beherrschen, nicht lautstark herauzujubeln und so meinen schönen Triumph im allerletzten Moment doch noch in tausend Stücke zu zertrümmern. Ich hatte gesiegt. Das Gesetz der Schwerkraft lag zu meinen Füßen im imaginären Staub der Erde und ich begriff einmal mehr erst im Nachhinein, was für ein unverschämtes Glück ich doch eigentlich gehabt hatte. Nicht nur, dass ich meine halsbrecherische Kletteraktion sogar einigermaßen unbeschadet und geräuschlos über die Bühne gebracht hatte, nein - mir war dieses unzweifelhafte Kunstwerk doch tatsächlich auch noch auf so eine damenhaft dezente Art und Weise gelungen, dass weder Tatsumi noch Thomas etwas davon bemerkt zu haben schien. Mit einem eiligen Satz hechtete ich zur Türe und verriegelte sie, um mir jeglichen unliebsamen Besuch schon im Vornherein zu ersparen, dann gönnte ich mir zwei, drei, vielleicht auch zehn Sekunden, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Von wegen schicksalhafte Verschwörung zu meinen Ungunsten! Ich schien doch tatsächlich mit mehr Glück gesegnet worden zu sein, als ich es mir jemals hätte träumen lassen. Immerhin standen Tatsumi und sein Begleiter ja direkt vor dem Spiegel, und ich hatte natürlich nie zuvor in meinem ganzen schulischen Leben darauf geachtet, ob man in diesem Spiegel auch die oberen Kanten der Toilettenkabinen hätte sehen können. Und stellen Sie sich das jetzt bitte einmal vor: Da stehen Sie (Sie sind in diesem Fall Tatsumi, ich hoffe, das können Sie sich zumindest ein kleines bisschen vorstellen) nichts ahnend vor dem Spiegel des Jungenklos und unterhalten sich gerade vollkommen nüchtern und sachlich über die grausamen Aufgaben ihrer letzten Mathematikklausur, und was sehen Sie da? Das Mädchen Ihrer Träume, mit dem Sie wohl noch die gesamten vergangenen Stunden vor sämtlichen Freunden lautstark angegeben haben. Ja, genau das haben Sie gemacht, leugnen ist zwecklos. Vergessen Sie nicht - Sie sind Tatsumi! Und in der überaus glücklichen Lage, dass einer dieser Freunde grad und im Augenblick neben ihnen steht und ihre viel umschwärmte Traumfrau (na ja...) gleich und auf der Stelle bewundern kann. Oder besser gesagt: Ihre Traumfrau, wie sie gerade keuchend, prustend und schnaufend über Toilettenschüsseln und Klopapierhalter hüpft, nur um sich dann mit einer mehr oder weniger eleganten Rolle vorwärts in die Nachbarkabine zu stürzen, den Rock knapp bis zum Gürtel hochgerutscht und die in sexy Stiefel gewandeten Beine unkontrolliert durch die Luft rudernd. Denken Sie an Tatsumi, denken Sie an Tatsumis Freunde und dann öffnen Sie ihr Bewusstsein, um auch nur eine vage Ahnung von der Dimension dieser unermesslichen Schande bekommen zu können, die diese groteske Turnaktion meinerseits für den guten Tatsumi bedeutet hätte. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, wäre es das ja beinahe schon wieder Wert gewesen. Andererseits habe auch ich meinen Stolz und mein Recht auf Privatsphäre, zu der unter anderem auch Farbe und Beschaffenheit meiner Unterhosen zählen, und so war ich im Endeffekt doch ganz froh darüber, dass keiner der beiden Jungen ob ihrer immer noch recht mysteriösen, klappernden Tätigkeit den Kopf gewandt oder einfach nur mal genauer in den Spiegel geblickt hatte. Wie ich zumindest hoffte. Mit klopfendem Herzen und immer noch leicht wackligen Knien tastete ich mich bis zur Kabinentüre vor, legte meine Wange an die raue Plastikfläche und lauschte. "... ergibt das Skalarprodukt Null und die Gerade ist orthogonal zur Ebene", drang es gedämpft von der anderen Seite der vollgekritzelten Barriere zu mir durch. Das Blut in meinem Körper rauschte so laut, dass ich Mühe hatte, Tatsumi überhaupt noch verstehen zu können. Oder war es nur wieder das Rauschen des Wasserhahns? Ich wusste es nicht. In all meinem Triumph war ich seltsam verwirrt und verharrte so sicherheitshalber noch einige weitere Augenblicke in meiner lauschenden Stellung. "Scheiße, ich hab bei v2 nen Vorzeichenfehler!" stieß Thomas in weitaus heftigerer Weise hervor, als ich das angesichts einer Mathematikaufgabe für angebracht gehalten hätte. "Bei mir war die b) orthogonal und nicht die a)!" Ich atmete auf. Alles war gut. Was mir jetzt noch zu tun blieb schien nahezu lächerlich einfach angesichts jener meterhohen Hürde, die bereits hinter mir lag, und so war ich eigentlich recht guten Mutes, als ich mich wieder von der Türe abwandte und auf das kleine lichte Viereck des Fensterchens zutrat. Alles, was mir jetzt noch zu tun blieb, war die doch eigentlich recht simple Aufgabe, von der etwas weniger morbid anmutenden Toilettenschüssel dieser Kabine hinauf zu dem schmalen Weg ins Freie zu klettern, mich hindurchzumanövrieren und dann im Dunkel der Nacht zu verschwinden... nein, durch das Dunkel der Nacht zurück in die glitzernde kleine Glamourwelt der Turnhalle zurückzuhasten. Eigentlich halb so wild. Glaubte ich. Ist es nicht wirklich ganz rührend, wie unglaublich naiv Menschen manchmal sein können? Ich meine, ich war ja irgendwie nie so der Typ Junge, der sich von vorne bis hinten gnadenlos überschätzt, nein, wirklich nicht. Ich würde sogar fast schon so weit gehen zu behaupten, über eine recht realistische und objektive Einschätzung meiner Person und meiner Fähigkeiten, meiner Stärken, aber eben auch meiner Schwächen zu verfügen. Und wenn man jetzt mal ganz ehrlich ist, dann war es auch gar nicht meine Schuld, was passiert ist. Ich hatte es nicht ahnen können. Ich habe doch nicht gewusst, wie schlimm es tatsächlich um die konspirative Grausamkeit der Schicksalsmächte bestellt war. Dabei gestaltete sich der Anfang vom Ende doch eigentlich weitaus einfacher, als es ich es zunächst noch angenommen hatte. Ich hatte kaum Mühe damit, auf dem diesseitigen Porzellanrund mehr oder minder sicheren Halt zu finden. Auch das Hochstemmen gestaltete sich als weit weniger kompliziert, als ich das zuerst befürchtet hatte, denn das Toilettenfenster war ein bisschen niedriger gelegen als die Oberkante der Trennwände, sodass ich mich gut daran festhalten konnte. Mein wochenlanges hartes Training für die Cheerleadernummer hatte mir wohl tatsächlich so etwas Ähnliches wie Beinmuskeln verschafft, denn es gelang mir schon beim ersten Versuch, mich so weit nach oben abzudrücken, dass ich mit dem Oberkörper über den Fenstersims hinweg ins Freie robben konnte. Meine Sorge, wie ich wohl einen Abstieg per Rolle vorwärts würde vermeiden können, sollte sich schon wenige Sekunden später erübrigen, und wieder war es ein Lichtschein in der Finsternis, der mir ganz unvermittelt zu Hilfe eilte. Oder besser gesagt: es war die zugehörige Straßenlaterne, die sich beinahe unmittelbar neben der rückseitigen Wand der Turnhalle, oder genauer gesagt direkt zu meiner Rechten befand, und die ich auch bequem mit den Armen umfassen konnte. Ich jubelte innerlich und streckte meine Finger nach dem fleckig silbernen Metall des futuristisch kahlen Lichtbringers aus. Vorsichtig zog ich meine Beine hinter mir her, hielt die Luft an und zwängte mich mit einiger Mühe durch das schmale Viereck. Ich muss in diesem Moment an irgendetwas Lustiges oder zumindest recht Amüsantes gedacht haben, denn ich weiß noch, dass ein Lächeln auf meinem Gesicht lag, während ich mich zum Sprung bereit machte. Das war ja gerade das Groteske an der ganzen Sache. Ich stürzte mich lächelnd ins Verderben. Direkt hollywoodreif, finden sie nicht? Ah, ich glaube, ich erinnere mich sogar wieder daran, was mich denn so erheitert hat, etwas ganz Banales. Es waren die beiden verschlossenen Türen gewesen, genau, diese beiden lächerlichen verschlossenen Türen, die als letzte Opfer meines kleinen Heldentrips zurückgeblieben waren. Ich habe mir nämlich das Gesicht unserer Putzfrau vorgestellt, wie sie da so am nächsten Morgen in die Jungentoilette spaziert und zwei der Kabinen verschlossen, aber leer vorfindet. Und glauben Sie mir, das war ein ganz verflucht dummes Gesicht, das sich da vor meinem inneren Auge aufgebaut hatte, begleitet von einer Horde absurdester Verschwörungstheorien, die unsere gute alte Reinigungskraft zur Erklärung dieses fast schon übersinnlichen Phänomens wohl herbeiziehen würde. Von dieser sinnlosen kleinen Heiterkeit beflügelt verstärkte ich den Griff um die Straßenlaterne noch ein kleines bisschen, krabbelte die letzten Zentimeter über das Fensterbrett hinweg und zog mich dann mit einem Satz hinaus ins Freie. Und - siehe da! - ich schien doch tatsächlich trotz meiner Hast alles richtig berechnet zu haben, denn ich blieb nirgendwo hängen, ich strauchelte auch nicht und ich verlor nicht das Gleichgewicht. Ich hüpfte in einem schönen, gleichmäßigen Bogen (höchstwahrscheinlich eine Parabel!) in die Nacht hinaus und landete exakt auf meinen beiden Füßen. Und genau das war der Fehler. Aller motorischen Perfektion zum Trotz kam ich nämlich keineswegs sicher zum Stehen. Der Beton war glatt, ohne jegliche Risse, jede Rille, und trotzdem schien sich mein Schuh in irgendetwas zu verkeilen, raubte mir binnen weniger Sekundenbruchteile den sicheren Halt und ließ mich mit einem erstickten Kreischen halbschräg nach hinten Taumeln. Das alles geschah irgendwie so dermaßen plötzlich, dass ich auch gar nicht mehr wirklich darauf reagieren konnte. Ich glaube, ich habe trotzdem noch mit beiden Armen in der Luft herumgefuchtelt, so als ob da irgendwas gewesen wäre, woran ich mich hätte festhalten können. Was natürlich nicht der Fall war. Ich rang und kämpfte und strauchelte und griff doch nichts als Leere. Ja, und dann fiel ich. Warum sollte ich es auch irgendwie beschönigen? Ich machte noch so eine merkwürdige Halbdrehung nach Rechts, bevor ich auf überaus unsanfte Weise nähere Bekanntschaft mit unserem Schulhofboden machen durfte. Ich kam immer noch auf dem Rücken auf, nicht auf dem Ellenbogen oder der Schulter, wo ich mich wirklich hätte verletzen können. Nein, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hat der Aufprall selber eigentlich gar nicht so wirklich wehgetan. Ich habe mich nirgendwo aufgeschürft, nicht richtig geprellt und mir schon gar nichts gebrochen. Das wahre Ausmaß der Katastrophe wurde mir erst bewusst, als ich aufzustehen versuchte. Zuerst verlief alles wie gehabt, ganz normal. Ich stieß einige Flüche hervor, die ich hier jetzt besser gar nicht wiedergeben will, dann stemmte ich beide Hände gegen den Boden, setzte die Fußsohlen auf und drückte mich hoch. Und tatsächlich - ich stand. Ich stand sogar wirklich sicher. Ich kippte nicht etwa gleich wieder um, wie sie das vielleicht jetzt vermutet haben, nein, es tat sich nicht einmal die Erde unter meinen Füßen auf, um mich in irgendeine Hölle der Folter und Qualen hinab zu reißen. Es ist wie es ist, ich stand. Nur leider stand ich schief. Oder auch nicht wirklich schief, mehr - abschüssig. Es ist schwer zu beschreiben, ich war eben einfach auf der linken Seite ein bisschen größer als auf der rechten, oder umgekehrt, rechts kleiner als links. Wie auch immer. Ich musste tatsächlich einige Sekunden in dieser grotesk unsymmetrischen Art und Weise dastehen und blöd in die Nacht hineinglotzen, bevor ich überhaupt erst mal begriff, was tatsächlich geschehen war. Oder vielleicht war es auch nur der Anblick jenes kleinen, schwarzen Etwas, das da so dunkel und unscheinbar knapp einen Meter neben mir auf dem monotonen Einheitsgrau des Bodens lag. Absurderweise erkannte ich es sofort, wirklich, auf den ersten Blick, obwohl es doch eigentlich nur klein und schwarz und dunkel und unscheinbar war. Und obwohl Sie jetzt vielleicht nicht ganz verstehen werden, was dieser Anblick in diesem Moment für mich bedeutete... es war, als würde meine ganz private Welt binnen weniger Sekundenbruchteile zu einem riesengroßen Scherbenhaufen zusammenbrechen. Können Sie sich das vorstellen? Eben schien noch alles so einfach, so fast schon überwunden, so... so... ich weiß es nicht, positiv auf jeden Fall, und dann - bumm! - ist alles kaputt. Einfach so. Und dabei war doch eigentlich nur einer meiner Absätze abgebrochen. Wie gesagt - es ist wohl wirklich schwer nachzuvollziehen, wenn man es nicht selber und am eigenen Leib erlebt hat, glaube ich. Da fällt mir wieder so eine kleine Story zu dem Thema ein, dass Sie es sich vielleicht besser vorstellen können. Es war zu einer Zeit, wo ich gerade immer sehr viel für die Schule zu tun hatte, viele Klausuren und so, Mum ging es auch nicht so gut... keine gute Zeit eben. Das ist ja auch so ein seltsames Phänomen, vielleicht ist es Ihnen schon einmal aufgefallen, geht glaub ich jedem so. Es gibt ja immer Wochen, wo irgendwie alles schief läuft und einfach nur stressig ist und wo sie selbst das Wetter immer nur zu ärgern scheint. Entweder ist der Himmel grau, wenn Sie eigentlich ein wenig Aufmunterung gebrauchen könnten, oder er strahlt sie so blau und weit und nervig gut gelaunt an und geht ihnen damit einfach nur ganz gewaltig auf den Geist. Jedenfalls ist mir mal aufgefallen, dass man sich in diesen Wochen immer so furchtbar einsam fühlt. Und das liegt nicht nur an der Anonymität der Großstadt oder ähnlichen Phänomenen, nein, weil es ja dann auch immer wieder Zeiten gibt, in denen man sich eben nicht so unglaublich einsam fühlt, dabei sind doch eigentlich immer gleich viele Menschen auf der Erde (plus oder minus, versteht sich). In einer dieser Wochen, in der es ganz besonders schlimm war mit dieser Einsamkeits-Geschichte und ich eh schon nix Besseres zu tun hatte als zu lernen und im Weltschmerz zu versinken, da bin ich irgendwann mal von der Schule heimgelaufen und war nicht gut drauf. Ich hab etwa tausendmal hin- und hergerechnet, weil ich einige sehr, sehr wichtige Klausuren in den nächsten Tagen hatte, aber eben auch Mittagsschule und natürlich noch meinen Job bei Beef and Drive und ich sah einfach keinen Ausweg, wie ich das alles schaffen sollte. Beinahe hätt ich's gar nicht bemerkt und wär einfach daran vorbeigelaufen, einfach so. Vielleicht wäre das auch besser gewesen, aller Lebensgefahren zum Trotz, die mich dann eventuell erwartet hätten. Es war nämlich so, dass ausgerechnet auf dem Weg zwischen meinem Zuhause und meiner Schule eine Straße aufgebessert werden sollte und deshalb der Durchgang für Fußgänger gesperrt war. Da hing ein großes, kreisrundes Schild mit einem dicken roten Rand und einem schwarzen Männchen in der Mitte und darunter ein Pfeil, der nach Rechts in eine kleine Seitengasse hineindeutete. Ich glaube, ich habe dieses verfluchte Schild etwa fünf Minuten lang einfach nur angestarrt, fassungs- und hilflos zugleich. Dann habe ich zwei Schritte darauf zugemacht, bin stehen geblieben und habe es wieder angestarrt. Stellen Sie sich das jetzt bitte einmal so bildlich wie möglich vor: Ich war, wie gesagt, ganz allein... einsam. Ich fühlte mich furchtbar, den ganzen Tag schon. War müde. Erschöpft. Hatte einen riesengroßen Berg an Aufgaben und Prüfungen vor mir, den zu bewältigen ich mich ja sowieso schon nicht wirklich imstande fühlte. Eigentlich wollte ich einfach nur nach Hause, mich zumindest für zehn, zwanzig Minuten noch vor den Fernseher legen und sinnlose Sendungen ansehen und mich mit Schokolade über mein grausames Schicksal hinwegtrösten. Und dann war da dieses Schild. Dieses grausame, brutale, erbarmungslose Schild, das mich in irgendwelche mehr oder minder unbekannten Gefilde treiben wollte, einfach so, ohne mich vorher zu fragen. Und ich wollte nach Hause. Kein großer Wunsch, aber doch mit einem Mal so weit entfernt, weil irgendein herzloser Mensch da ausgerechnet an diesem Tag und an dieser Stelle ein großes und hässliches Schild aufgestellt hatte, das mir den Durchgang verbot! Dabei wusste ich doch schon so nicht, wie ich alles schaffen sollte, wie, wann, mit welchen Kräften, die ich ja jetzt schon nicht mehr gehabt habe... Ich schwöre Ihnen, ich war in diesem Augenblick so unwahrscheinlich verzweifelt, dass ich den ganzen verfluchten Heimweg über leise vor mich hingeheult habe, dabei waren es im Endeffekt wohl kaum mehr als zehn Minuten, die ich dann tatsächlich länger gebraucht habe. Aber ich glaube trotzdem, dass mir an diesem einen Tag nichts Schlimmeres hätte passieren können als dieses eine simple Schild, das doch eigentlich nur dazu dienen sollte, einer alten Straße ihre wohl verdiente Notoperation zu gewähren. In etwa von demselben tragischen Ausmaß war auch das Abbrechen meines Absatzes in diesen ohnehin schon so knapp bemessenen Minuten, ja vielleicht eigentlich nur Sekunden, die mir vor meinem ersten großen Abend noch geblieben waren. Ich kann eigentlich nicht einmal wirklich sagen, was genau daran jetzt so katastrophal war, echt nicht. Es war irgendwie nicht nur die Tatsache, dass gerade eben meine Lieblingsschuhe... oder besser gesagt: dass Jessies Lieblingsschuhe kaputt gegangen waren... das auch. Es war eben einfach dieses... dieses... dieses Wissen darum, jetzt und sofort auf der Bühne stehen und perfekt sein zu müssen, dass ich wahrscheinlich eh schon viel zu spät dran war und rennen und eilen und dabei immer noch bezaubernd aussehen und weiterkommen musste und... und... Und dass ich das alles nicht konnte, weil mein verfluchter Absatz abgebrochen war! Ich war verzweifelt. Hilflos. Paralysiert. An und für sich gerade die falsche Reaktion, denn ich hätte mich ja, wie gesagt, beeilen müssen... tat ich aber nicht. Stattdessen ging ich vor meinem teuren verloren Freund (dem Absatz) in die Knie, hob ihn behutsam mit meinen leicht zittrigen, perfekt manikürten Händen auf und starrte ihn an. Das war alles. Einer der wichtigsten Augenblicke meines Lebens war kurz davor, ohne meine Anwesenheit vorüberzugehen, und ich hatte nichts Besseres zu tun, als auf dem Boden zu sitzen und ein abgebrochenes Stück Plastik anzustarren! Vielleicht wär der Abend wirklich ohne mich vorübergegangen, vielleicht säße ich ja heute immer noch genau dort an jener Stelle, wenn mich nicht mit einem Mal etwas aus meinen Gedanken... oder besser gesagt: aus meiner gedanken- und gefühlslosen Starre gerissen hätte. "Hey, sag mal, kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?" So apathisch und geistesabwesend ich eben noch gewesen war, so ruckartig fand ich mich nun in die Realität zurückgerissen, und ich muss zugeben - ich hab mich verflucht noch mal ganz gewaltig erschrocken, als ich mit einem Mal diese Stimme hinter mir gehört habe. Ich zuckte zusammen und blickte auf, geradewegs in das lächelnde Gesicht eines jungen Mannes. Er hatte schwarze Haare, recht kurz, dabei aber so unwahrscheinlich chaotisch und verstrubbelt, wie ich das selten zuvor bei einem Haarschopf gesehen hatte. Auch sonst hatte der Fremde etwas... wie soll ich sagen? Er hatte etwas leicht Wirres an sich, allerdings auf eine, ja, irgendwie charmante Art und Weise. Trotzdem wusste ich nicht, was ich sagen sollte. "Ich... ich..." stammelte ich und streckte in all meiner verbalen Hilflosigkeit meine Hände samt Absatz nach vorne. Der Junge warf nur einen kurzen Blick auf das kleine dunkle Fragment, runzelte kurz seine Stirn und fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar, woraufhin es sogar noch ein kleines bisschen ungeordneter wirkte als zuvor. Dann nickte er kurz und lächelte wieder. "Hast Glück gehabt, schöne Unbekannte!" grinste er und kramte kurz in der Tasche seines leicht abgewetzten Cordjacketts herum. Als er seine Hand wieder hervorzog, klemmte eine kleine, rot-blaue Tube zwischen seinen Fingern. "Aber... was..." Ich zog fragend beide Augenbrauen hoch. Der Fremde lachte. "Sekundenkleber! Ich sage ja, Glück gehabt. Hab grad heute was an meinem Fahrrad repariert." Er streckte mir die kleine, etwas verbeulte und verknickte Klebertube mit einer auffordernden Geste entgegen. "Da, nimm!" "Ja... aber... ich... ich kann doch nicht..." "Kannst du doch", zwinkerte er mir zu. "Wie heißt du?" "Ähm... Jessie.... Jessica", antwortete ich, während sich mein Geist immer noch in einem merkwürdigen Zustand der Verwirrung befand. Es ist schwer zu erklären, was in diesen Augenblicken in mir vorging... wahrscheinlich gar nichts. Das war alles so... so unreal, diese ganze Begegnung. Wenn es mir nicht selber passiert wäre, ich hätte es wahrscheinlich gar nicht glauben können. Ich glaube es ja so schon kaum und manchmal bin ich mir selbst jetzt noch nicht ganz sicher, ob ich mir die ganze Sache nicht einfach nur eingebildet und den Kleber irgendwo auf dem Boden gefunden habe. Das ist doch wirklich die unwahrscheinlichste Sache von allen Sachen auf der ganzen Welt, meinen Sie nicht? Da brechen Sie sich auf ihrer Flucht aus der schuleigenen Jungentoilette bei einem Sprung aus knapp zwei Metern Höhe (eher weniger) den Absatz ihrer Lieblingsstiefel ab, wo sie doch eigentlich grad ganz dringend zu der Preisverleihung eines lebenswichtigen Schönheitswettbewerbes müssten und dann... dann... dann kommt plötzlich ein rettender, chaotischer Engel aus dem Nichts zu Ihnen herabgeflattert und hält Ihnen eine leicht mitgenommen aussehende Tube Sekundenkleber unter die Nase. Sie müssen zugeben, das passiert einem zumindest nicht alle Tage, und so ist es nur allzu verständlich, dass ich erst einmal völlig verwirrt war. "Hey, du kannst ja doch noch was anderes sagen als ,ich' und ,aber'", lachte besagter Engel und strahlte mich dabei so unglaublich entwaffnend an, dass ich mich nicht einmal über seinen misslungenen Witz aufregen konnte. Dann legte er die Tube neben mir auf den Boden und stand auf. "Ich heiße übrigens Mike, Jessie. Gehst du auf diese Schule?" "Ähm... ja... nein... eigentlich nicht..." murmelte ich. Mike nickte wissend. "Ich verstehe schon. Hier ist doch heute dieser Schönheitswettbewerb, hab ich in der Zeitung von gelesen. Jetzt bin ich im Bilde, glücklich und zufrieden. Jessica, richtig? Sehr gut. Du hörst von mir!" Er strich sich noch einmal durch seine... Frisur, nickte mir kurz zu und wandte sich dann wieder in die entgegengesetzte Richtung zur nächtlichen Skyline hin. "Also, ich hab's eilig, die U-Bahn wartet leider nicht mal auf mich. Man sieht sich!" "Aber..." Mit einem letzten Lachen und bevor ich auch nur die Andeutung eines weiteren intelligenten Satzes hervorbringen konnte war mein Chaosengel auch schon wieder davongelaufen und ich konnte nichts anderes tun als dabei zuzusehen, wie seine schlanke Gestalt in den Schatten der Straßenschluchten verschwand. Das war meine erste Begegnung mit Mike, und wenn ich jetzt daran zurückdenke, frage ich mich manchmal was geschehen wäre, wenn dieser eine verfluchte Absatz nicht abgebrochen wäre und ich diese Sekundenklebertube überhaupt nicht benötigt oder zumindest nicht angenommen hätte. Es ist natürlich müßig, darüber nachzudenken, aber vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Das und noch viele andere Dinge konnte ich in dieser schicksalhaften Nacht natürlich noch nicht einmal ansatzweise ahnen, das kann man ja eigentlich nie so im Vornherein. Ich konnte auch nicht ahnen, dass ich Mike sogar weitaus schneller und auf eine vollkommen andere Art und Weise wiedersehen sollte, wie ich es mir wohl jemals hatte vorstellen können. Vorausgesetzt, ich hätte in diesen seltsam paralysierten Sekunden überhaupt einen Gedanken in Richtung Zukunft verschwendet, was ich nicht tat. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Fortsetzung folgt! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)