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Misfits: Kreuzdame

{ boy x boy }
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Waaaaat. Es ist doch gar nicht Mittwoch?! Stimmt genau. Momentan habe ich jedoch frei und extrem viel Zeit, weshalb ich bei dieser Geschichte das neue Kapitel dann hochladen werde, wenn es fertig ist. Das bedeutet, es könnte möglich sein, dass zwei Kapitel pro Woche kommen werden. Ansonsten nehme ich mir die Mittwoch immer als Deadline, also das nächste Kap kommt aller spätestens nächsten Mittwoch.

Wie ihr merkt, ist dieses Kapitel hier beinahe doppelt so lang wie die anderen normalerweise. Was haltet ihr von den längeren Kapiteln? Gut oder lieber wieder Kürzere schreiben? Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Huu, also ich habe wirklich viel aus Gaaras Sicht zu erzählen, muss ich sagen. Deswegen wird es auch noch einen vierten Part von 'Beste Freunde lässt man nicht im Stich geben'. Danach schreibe ich, denke ich, wieder ein Kapitel aus Lukas' Sicht! :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
AN: Vom 10. bis zum 16. Juni bin ich bei meiner besten Freundin in Lübeck, weshalb es in der Zeit keine neuen Kapitel geben wird. Ob ich diese Woche das nächste Kapitel noch schaffe, kann ich euch nicht sagen, da ich am Wochenende arbeiten muss. Ich werde jedoch versuchen das neue Kapitel noch diese Woche fertig zu bekommen. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich weiß. Eigentlich sollte ich gerade im Zug nach Lübeck sitzen und ich zwei Stunden ankommen, ABER wir vielleicht einige von euch mitbekommen haben, hat gestern ein ziemliches Unwetter in NRW gewütet, weshalb die Streckte komplett lahm gelegt wurde. Ich hab's gerade mal bis nach Bonn geschafft, was die erste Station auf meiner Strecke gewesen war, bin dann wieder zurück gefahren und habe trotzdem vier Stunden gebraucht wegen Wartezeiten und, weil ich zurück die Mittelrhein Bahn nehmen musste, die an jedem Scheißkaff hält -.-'
Wieder Zuhause angekommen, habe ich dafür dann aber das neue Kapitel fertig bekommen... :)

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie es aussieht, habe ich doch Zeit zum neuen Kapitel schreiben gefunden :) Viel Spaß also!! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
An dieser Stelle mal zwei Sachen im Voraus:
1. Nach meiner aktuellen Planung wird Kreuzdame nicht so viele Kapitel haben wie Herzkönig, also die 50 Kapitel wird diese Geschichte keinesfalls erreichen. Vielleicht werden es Anfang/Mitte 30 Kapitel. Exakt kann ich es noch nicht sagen!
2. An dieser Stelle lüfte ich ein "Geheimnis" *höhö* Ich hab mir bei den Titeln nämlich voll was gedacht. Herzkönig und Kreuzdame sind nicht nur Karten, sondern symbolisieren auch Charaktere. So ist der Herzkönig im ersten Teil Gaara, schließlich ist er der 'Herzkönig' für Lukas und im zweiten Teil ist Annalina die 'Kreuzdame', sozusagen die Dame, die in die Beziehung von Lukas und Gaara kreuzt ;) Ich bin ja so kreativ....*hust*
Viel Spaß beim Lesen! :D Komplett anzeigen

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Gaara - Unerwartete Rückkehr Pt. 1

Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so müde gefühlt hatte. Dumpf ließ ich meine Tasche im Wohnzimmer fallen, zog Schuhe und Jacke aus und suchte erst einmal die Dusche auf. Obwohl ich erschöpft war, wusste ich, dass ich kein Auge zu machen könnte. In meinem Kopf schwirrten tausende Gedanken, doch ich konnte keinen fassen und näher begutachten. Meine Klamotten waren verdreckt und verschwitzt, ich ließ sie im Badezimmer auf die weißen Fliesen fallen, dann stellte ich mich unter den riesigen Duschkopf und schaltete das Wasser an. Immer fühlte es sich an als würde ich im Regen duschen. All der Schmutz des Festivals spülte sich von meinem nackten Körper. Noch nie hatte sich duschen so gut angefühlt. Vorsichtig fasste ich mit meinen Fingern an meine blutleeren Lippen, fuhr darüber und erinnerte mich an den letzten Kuss, den ich Lukas gegeben hatte. Es war am Ende des zweiten Tages auf dem Festivalgelände gewesen. Ich hatte einen Arm um seine zarten Schultern geschlungen, er unterhielt sich mit Hannah und Noah über irgendetwas, was ihn ständig zum Lachen brachte, doch ich hörte kaum zu. Ich beobachtete nur ihn und als er zu mir aufschaute, passierte, was mir so häufig passierte: Ich verliebte mich wieder. Lukas schaffte es, dass ich mich jedes Mal, wenn ich ihn sah, erneut in ihn verliebte. Daran war sein Lachen Schuld, daran waren seine Welpenaugen Schuld, seine vollen, zum Küssen gemachte Lippen, seine Unsicherheit, seine Intelligenz, seine Sensibilität, daran war einfach alles Schuld, was Lukas ausmachte. Natürlich musste ich mich ausgerechnet in jemanden verlieben, der mich verleugnet und in meiner Anwesenheit behauptet, dass Schwulensex ekelhaft war. Wenn ich mich recht erinnere, hörte sich sein Stöhne und Keuchen, wenn ich ihn vögelte, nicht danach an, als würde er es als ekelhaft empfinden, aber das war nun auch egal. Ich hatte gefühlte Ewigkeiten gebraucht, um ihn für mich zu gewinnen und das war nicht nur für mich eine anstrengende Zeit gewesen. Jetzt konnte ich wieder von vorne anfangen.
 

Eine halbe Stunde lang wusch ich mich. Solange brauchte es, bis ich mich sauber fühlte, dann stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und ging in mein Zimmer, um mir frische Klamotten anzuziehen. Ich zog mir eine enge Jeans und ein schlichtes, schwarzes Shirt über. Der Blick meiner grün-braunen Augen blieb auf meinem Bett hängen. Unwillkürlich kamen Bilder in meinem Kopf auf, wie ich mit Lukas dort Stunden mit Kuscheln, reden, küssen, Sex, Filme schauen, zocken, kiffen und saufen verbracht hatte und die Erinnerungen schmerzten. Schnell ging ich ins Wohnzimmer, nur um denselben Effekt noch einmal mit der Couch zu haben. Grummelnd nahm ich meine Tasche und ging damit in den Wäscheraum, der sich im Keller befand. Es dauerte nicht lange, dann kullerten meine schmutzigen Klamotten in der Waschmaschine. Erst als ich wieder nach oben ins Haus ging, fiel mir ein, dass ich noch Kleidung im Badezimmer liegen hatte. Heute hatte ich meine Gedanken wirklich nicht beisammen... Ich brachte die Kleidung runter in den Wäscheraum und legte sie in einen der Körbe.
 

Kaito und Marc hatten versprochen, dass sie noch heute vorbei kommen würden und ich hoffte, dass sie schnell hier waren, denn ich konnte nichts weniger leiden als alleine zu sein. Vermutlich war ich einer der wenigen Menschen auf diesem Planeten, die gerne zur Schule gingen. Dort hatte ich meine Freunde, immer passierte etwas Witziges und ich konnte bis in den Nachmittag mit anderen Menschen zusammen sein. Nach Hause ging ich nicht gerne, nur, wenn ich wusste, dass ich Besuch bekommen würde. Ansonsten jedoch, war die Leere dieser Räume nur die Bestätigung dafür, dass meine Eltern sich für mich einen Scheißdreck interessierten. Früher hatte ich immer geglaubt eines Tages würde ich damit auskommen können. Wenn man noch ein halbes Kind war, konnte die Abwesenheit der Eltern das Schlimmste auf der Welt sein, doch ich redete mir stets ein, dass sich das ändern würde, wenn ich erst einmal erwachsen war. Entweder hatte ich Unrecht oder ich war noch immer nicht erwachsen.
 

Aus dem Kühlschrank nahm ich mir eine Dose Energydrink, dann holte ich meinen Laptop aus meinem Zimmer und machte es mir auf der Couch bequem. Ich benutzte meinen Laptop nur selten. Eigentlich nur, um Filme und Serie zu schauen oder Musik herunter zu laden, doch seit geraumer Zeit hatte ich einen Facebook-Account. Beinahe alle Leute, die ich kannte, waren auf dem Festival gewesen und ich wollte wissen, ob schon jemand etwas darüber gepostet hatte. Tatsächlich hatten schon viele, während des Festivals Bilder und Sprüche hochgeladen. Es gab auch ein Bild von uns, das Hannah bereits online gestellt hatte. Es war ein tolles Foto, auf dem Noah herzhaft lachte und Genesis Kaito Hasenöhrchen machte, auf dem Schifti und Chris gemeinsam Samantha hoch hoben, und auf dem ich Lukas einen Kuss auf die Wange drückte. Wenn er wüsste, dass dieses Bild online war, würde er vermutlich durchdrehen und wollen, dass es gelöscht werden würde. Schließlich sollte niemand außer unseren Freunden wissen, dass wir etwas am Laufen hatten, richtig? Obwohl es schmerzte uns Beide so zusammen zu sehen, starrte ich das Foto lange an, dann drückte ich auf 'Gefällt mir' und loggte mich wieder aus.
 

Als ich einen der illegalen Filmseiten öffnen wollte, stürzte mein Laptop ab, wie er es so gerne tat, wenn er länger als eine halbe Stunde an war. Schwer seufzte ich, wartete einige Minuten ab und schaltete den Laptop dann wieder an. In der Regel musste ich ihn jetzt noch einmal neu starten bevor er wieder funktionieren würde. Vielleicht reichte es bis zum nächsten Absturz um wenigstens eine Folge von irgendeiner Serie zu schauen. Das ging schon seit Wochen so und immer sagte ich mir, ich müsste mir mal einen neuen Laptop zulegen, doch ich kam nicht dazu. Zeit hatte ich genug, doch eigentlich reichte das Schrottteil noch immer für meine Zwecke. Vielleicht sollte ich einfach darauf warten bis sich einer meiner Freunde einen neuen Laptop kaufte, dann ich könnte ich den Alten übernehmen.
 

Eine halbe Episode Breaking Bad später, hörte ich wie sich jemand an der Tür zu schaffen machte. Sowohl Kaito als auch Marc hatten einen Schlüssel zu meinem Haus. Ich klappte meinen Laptop zu, stellte ihn zur Seite und zündete mir eine Zigarette an. Als ich den rauen Rauch einatmete, öffnete sich die Tür und die Sonne hüllte die eintretende Person in ein gleißendes Licht. Für einen Moment war ich geblendet, dann fiel die Haustür hinter ihr wieder zu und vor Schreck wäre mir beinahe die Zigarette aus dem Mund gefallen. Heute trug sie einen schicken Hosenanzug, im rechten Ohr steckte ein kleines Headset, an dem ein blauer Knopf blinkte. Schwerfällig rollte sie ihren Koffer herein, stellte ihn direkt bei der Küchenzeile ab und öffnete den Dutt, der ihre braunen Haare fest zusammen hielt. Wie ein Wasserfall fielen sie nun über ihre schmalen Schultern. Ihr blutleerer Mund bewegte sich unablässig. Erst nach und nach realisierte ich, dass sie am telefonieren war. Blinkender blauer Knopf bedeutete ein Telefonat, das hatte ich schon als Kleinkind gelernt.
 

„Nein, sie soll bitte Chelsea anrufen und das mit ihr abklären. Ich kann wirklich nicht verstehen, worin das Problem liegt.“ Meine Mutter seufzte schwer und verdrehte die grünen Augen. „Immer dasselbe. Kaum bin ich aus L.A. weg, geht alles den Berg herunter. Wegen dem Auftritt in Paris rede ich noch einmal mit Léon, am besten rufe ich ihn so schnell wie möglich an. Ansonsten sehen wir uns dann auf der Gala wieder. Grüß deinen Mann von mir.“

Sie drückte auf den blinkenden Knopf und das Telefonat war beendet. Erst jetzt wandte sie sich mir zu und mir fiel eine Sekunde zu spät auf, dass ich eine Zigarette im Mund stecken hatte.

„Gaara!“ Viel zu schnell war sie bei mir und hatte die Zigarette an sich genommen, sie drückte sie im Aschenbecher aus, der auf dem Couchtisch stand und hob diesen dann auf. Ohne ein Wort zu sagen ging sie in die Küche und warf den gesamten Aschenbecher in den Mülleimer. Danach kam sie zurück und deutete mir an, dass ich aufstehen sollte. Als ich stand, nahm sie mich in ihre schlanken Arme und mal wieder wusste ich nicht, was in mir vorging. Auf der einen Seite fühlte ich mich wie ein kleiner Junge, glücklich darüber mit seiner Mutter vereint zu sein und ihr Gesicht endlich einmal wieder zu sehen, auf der anderen Seite, fühlte ich mich als würde ich von einer fremden Frau in den Arm genommen werden. Jedes Mal, wenn ich sie wieder sah, kam sie mir ein Stück fremder vor. Eines Tages würde ich sie vielleicht nicht mehr wieder erkennen.
 

„Wir haben über die Raucherei doch gesprochen. Jetzt bist du 18 und ich habe dir nichts mehr zu sagen, aber in meinem Haus wird nicht geraucht, klar? Wenn es denn unbedingt sein muss, dann geh wenigstens in den Garten. Wozu haben wir denn die Hollywood-Schaukel?“

Damit ich darauf mit Lukas rummachen kann. Auf der Hollywood-Schaukel hatten wir unseren ersten Kuss gehabt, an meinem 18. Geburtstag nachdem ich ihm mit einem Joint einen Shot gegeben hatte. Ich erinnerte mich noch gut daran, dass seine Lippen nach süßer Unschuld geschmeckt haben. Als ich dies nach der Party Kaito und Marc erzählte, lachten sie mich nur aus, doch das hatte mir das wunderbare Gefühl nicht verdorben.

„Aber nun erzähl, was in letzter Zeit bei dir passiert ist. Ich habe einiges zu erzählen und auch nicht viel Zeit. Schon übermorgen muss ich wieder abreisen. In Paris wird es eine Gala geben und einige der renommiertesten Schauspieler Frankreichs werden sich in meinen entworfenen Abendkleidern einkleiden. Hast du dir eigentlich die Modenshow von Beverly angeschaut? Sie kam auf irgendeinem Sender hier in Deutschland, wir hatten am Telefon darüber gesprochen -“ Während sie vor sich hin sprach, ging sie in die Küche und betätigte die lärmende Kaffeemaschine. Sie übertönte einige ihrer Worte, doch das machte mir auch nicht viel aus. Das Wichtigste hatte ich gehört: Sie war übermorgen schon wieder weg. Zwei Tage waren nicht genug, um meine Mutter wieder kennen zu lernen.
 

Nach einem ewig langen Redeschwall ihrerseits in dem es sich nur um ihre Arbeit gehandelt hatte, saßen wir gemeinsam an der Küchentheke. Nervös spielte ich mit der leeren Dose, die meine Mutter naserümpfend betrachtete.

„Du ernährst dich furchtbar ungesund, dabei geben wir dir immer genug Geld auf dein Konto, dass du jeden Abend wunderbar essen gehen könntest.“

„Ich habe keine Lust jeden Abend essen zu gehen“, sagte ich und mir fiel auf, dass das heute meine ersten Worte an sie waren. Hatte ich die letzten fünfundzwanzig Minuten tatsächlich nur geschwiegen?

„Aber heute Abend gehen wir zusammen essen, du darfst dir auch die Location aussuchen.“ In der Sprache meiner Mutter hieß dies, sie würde solange meine Vorschläge tot argumentieren bis ich einen machte, der ihren Vorstellungen entsprach. „Du hast mir noch gar nicht erzählt, was in letzter Zeit passiert ist. Habt ihr schon eure Zeugnisse bekommen?“

„Ich habe seit zwei Wochen Sommerferien.“

„Ach, dann zeig mir doch mal dein Zeugnis. Los, los!“
 

Gesagt, getan. Sie zeigte sich mit meinen Noten äußerst zufrieden.

„Übrigens siehst du ziemlich müde aus, hast du gestern wieder gefeiert?“

„Nein, ich war die letzten drei Tage auf einem Festival“, antwortete ich murmelnd.

„Wie war es?“

„Hat Spaß gemacht.“ Ich versuchte diesen Worten einen bitteren Unterton beizufügen, damit sie merkte, dass etwas nicht stimmte und nachfragte. Damit ich ihr erzählen konnte, dass ich mich verliebt hatte und jetzt Probleme aufgekommen waren und sie mir einen Rat geben könnte, doch meine Mutter bemerkte den Unterton nicht. Vielleicht war dies auch besser. Dann brauchte ich mir für Lukas meinen weiblichen Namen ausdenken. Meine Eltern hatten keine Ahnung, dass ich bisexuell war und gefallen würde es ihnen auch nicht. Da waren sie eher konservativ und davon überzeugt, dass ich eines Tages eine Frau heiraten und Kinder bekommen würde. Irgendwohin mussten sie schließlich ihr ganzes Geld und ihre beiden Firmen vererben.
 

Erneut erklang das Scharren des Schlüssels an der Haustür. Ich biss mir heftig auf die Unterlippe, sodass es schon schmerzte. Verdammt noch mal! Ich hatte vergessen Marc und Kaito Bescheid zu geben, dass meine Mutter da war. Sie wusste nicht, dass die beiden einen Haustürschlüssel hatten und das würde ihr auch sicherlich nicht gefallen. Verwirrt blickte meine Mutter auf und schaute zu wie Kaito und Marc gemeinsam eintraten. Sie lachten über irgendetwas, doch als die Tür wieder ins Schloss fiel und sie meine Mutter erblickten, verstummten sie schlagartig. Für die Ewigkeit einer Sekunde herrschte eine unangenehme Stille im Raum, dann sagte Marc zu mir gewandt: „Alter, ich habe den alten Haustürschlüssel wieder gefunden, du bist echt ein Vollpfosten.“ Er kam zu uns und streckte meiner Mutter zur Begrüßung die Hand entgegen.
 

Auf ihrem Gesicht zeigte sich eine starke Abneigung. Nur mit Fingerspitzen ergriff sie Marcs Hand. Ich wusste, dass meine Mutter Tattöwierungen und Marcs Arme waren voll davon. Zahlreiche Festivalbändchen zierten seine Handgelenke. Er trug ein Bandshirt auf dem ein Zombie-Hase abgebildet war und ein dichter Bart spross ihm über dem Kiefer. Er hatte ein schlankes Gesicht und trug immer eine Wollmütze über dem braunen Haarschopf. Und er verkörperte so ungefähr alles, was meine Mutter hasste.

„Schön Sie mal wieder zu sehen, Frau Sperling.“ Marc ließ nichts anmerken. „Ihr Sohn hat vor einer Weile seinen Haustürschlüssel verloren und wir mussten durch das Wohnzimmerfenster einbrechen, um an den Zweitschlüssel zu gelangen. War ne witzige Situation.“ Er drückte mir den Schlüssel in die Hand, der eigentlich Marcs war und ich konnte innerlich nur in die Hände klatschen, wie schnell er eine logische Lösung gefunden hatte. Manchmal hatte Marc eben doch Grips im Kopf.
 

Kaito drückte sich etwas im Hintergrund herum und nickte meiner Mutter zur Begrüßung nur zu. Auch ihn konnte sie nicht leiden. Meine Freundschaft zu Marc hatte sie geduldet, aber sie hatte mir als Kind immer versucht auszureden etwas mit Kaito zu machen. Er gehörte zur gesellschaftlichen Unterschicht. Alle Eltern aus unserer Grundschulklasse wussten, dass seine Mutter Drogenprobleme hatte und auch immer noch hat, darum wollten sie nicht, dass ihre Kinder eine Freundschaft zu Kaito aufbauten. Für ihn war es nicht einfach gewesen sich von seinen Mitschülern anhören zu müssen, dass ihre Eltern gesagt hatten, sie dürften nicht mit ihm spielen, doch hatte es auch Eltern gegeben, die daran geglaubt haben, dass ihre Kinder Kaito seine schlimme Lage verbessern könnten. Dazu zählten Samanthas liebevolle Eltern, Marcs wundervolle Eltern, die mittlerweile sogar glaubten Kaito könnte ihm einiges beibringen, Noahs Vater und einige mehr. Und ich hatte einfach nicht auf meine Mutter gehört.
 

„Entschuldigung, aber gerade ist es mit Besuch etwas unpassend“, sagte meine Mutter gespielt höflich. „Ich möchte etwas Zeit mit meinem Sohn verbringen.“

„Eigentlich hatte ich mich mit den Beiden verabredet“, widersprach ich. Ich musste ihnen unbedingt von Lukas und der dummen Sache erzählen, die uns heute Morgen passiert war. Schon den ganzen Tag biss ich mir deswegen auf die Zunge und wartete nur darauf meinen beiden besten Freunden alles zu erklären. Als ich mit Lukas zum Zeltplatz zurück gekehrt war, hatte ich den Beiden per Blick klar gemacht, dass etwas nicht stimmte. Obwohl Marc eine Sonnenbrille getragen hatte, wusste ich, dass er meinen Blick gesehen und verstanden hatte und bei Kaito konnte ich mir ohnehin immer sicher sein, dass er meine stummen Anmerkungen verstand.
 

„Gaara, wir haben uns solange nicht mehr gesehen und du wirst heute Abend etwas Ordentliches mit mir essen gehen.“

„Aber -“ Ihr Blick brachte mich zum Schweigen.

„Danach?“, fragte Marc schulterzuckend an mich gewandt. „Bei mir?“

„Okay“, sagte ich nur. Kaito hatte die Hände in seinen Hosentaschen verstaut. Er trug ein einfaches Shirt und darüber seine geliebte Jeansweste. Auf deren Rückseite hatte er einen schwarzen Stoff genäht auf dem in schwarzer Schrift stand: Life sucks and then you die. Er liebte diese Klamotte und trug sie zu jeder Gelegenheit.

„Bis später dann“, murmelte Kaito und die Beiden verließen unser Haus wieder. Ich hielt Marcs Schlüssel fest in der Hand und schaute zu Mum, die den Kopf schüttelte als könnte sie nicht glauben, was gerade geschehen war.
 

„Wie selbstverständlich, die hier einfach herein spazieren. Keine Manieren.“

„Kannst du bitte nicht so über meine Freunde sprechen?“

„Du hast dir wirklich seltsame Freunde gesucht“, seufzte sie und ignorierte meine Bitte. „Zuerst dachte ich ja dieser Noah wäre doch mal eine gute Wahl, aber dann hat er sich ja als schwul geoutet und in einem guten Haus geht so etwas überhaupt nicht. Außerdem haben seine Eltern sich getrennt, eine Katastrophe. Von deinem Kaito möchte ich gar nicht anfangen, jemand, der aus einem solchen Umfeld kommt, kann nur schlecht für dich sein. Bestimmt ist er daran Schuld, dass du mit rauchen angefangen hast. Und dieser Florian Schiffmann, kommt eigentlich aus einem sehr guten Haus, sein Vater ist ein wichtiger Politiker in Berlin, aber ich habe schon so einige Dinge über ihn gehört, dass er schlecht in der Schule wäre und viel zu viel trinken würde.“

Ich fragte mich woher sie solche Informationen hatte, wenn sie doch nie da war und ich stets versuchte meine Freunde in ein gutes Licht zu rücken. Dabei machten sie es mir nicht gerade einfach. Jeder von ihnen hatte seine Macken und Kanten und machte sich auch nicht unbedingt die Mühe einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Natürlich liebte ich meine Freunde so wie sie waren, doch bei meiner Mutter konnte ich mit ihnen nicht punkten. Sie ließ sich weiter aus, auch über alte Freunde, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte und ich ließ ihre Worte einfach durch mit hindurch rauschen. Wie ich es immer bei ihr tat.

Gaara - Unerwartete Rückkehr Pt. 2

Danke für die direkt so zahlreichen Abos! Über eine Rückmeldung würde ich mich sehr freuen. Wie gefällt es euch mal die Kapitel aus Gaaras Sicht zu lesen? Oder ist Lukas' Perspektive besser?

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„Und wie war das Essen?“, fragte Marc mit einer Hand voll Popcorn im Mund.

„Frag nicht“, seufzte ich und ließ mich neben ihm auf seine dunkelblaue Couch fallen, die in seinem riesigen Zimmer einem Flachbildschirm gegenüber stand. Gemeinsam schauten sich Marc und Kaito gerade irgendeinen Actionfilm an. Ich legte den Kopf in den Nacken, schloss meine müden Augen und der Lärm des Filmes dröhnte in meinen Ohren. „Sie hat über die Hälfte der Zeit mit irgendeinem Léon aus Frankreich telefoniert und behauptet von euch, dass ihr keine Manieren habt.“

„Wir haben voll die Manieren“, behauptete Marc noch immer mit vollem Mund. Das brachte Kaito zum Lachen. Er machte den Film ein wenig leiser und drehte sich auf der Couch, sodass er uns direkt anschauen konnte. In den letzten zwei Wochen hatte er die Finger vom Koks gelassen. Seine braunen Haare waren ein wenig nachgewachsen, doch die weiße Narbe, die sich von seinem Kopf bis auf seine Stirn schlängelte, war deutlich zu erkennen. Seine haselnussbraunen Augen lagen ein wenig in den Höhlen und dunkle Ränder hatten sich unter ihnen gebildet. Kaito war von russischer Abstammung und hatte dementsprechend eine extrem blasse Haut.
 

„Was wolltest du uns denn eigentlich so dringend erzählen?“, fragte Kaito und wurde etwas ernster. „Deinem Blick zufolge muss es etwas mit Lukas zu tun haben.“

„Wenn du anfängst rum zu heulen, werfe ich dich raus“, drohte Marc und schluckte die Popcorn runter. Er hielt mir die Schüssel hin, die er auf seinem Schoß liegen hatte. Ich nahm mir ein paar, auch wenn ich pappsatt war und blickte mit trüben Blick aus dem Fenster hinaus in die Nacht. Am Himmel zeigten sich ein paar Sterne, nicht annähernd so viele wie in der Nacht in der Lukas und ich uns auf dem Festivalgelände verirrt hatten. Lukas war so betrunken gewesen, dass er irgendwann keinen Schritt mehr gehen wollte und sich einfach auf den Boden gelegt hatte. Da ich ihn unmöglich alleine lassen konnte und ebenfalls todmüde war, hatte ich mich einfach neben ihn gelegt, ihn von hinten in die Arme geschlossen, wie ich es so gerne tat. Dann fühlte er sich immer so klein und zierlich an und ich verliebte mich noch ein wenig mehr in ihn. Am nächsten Morgen waren wir jedoch unsanft geweckt wurden...
 

„Lena und Katharina heißen die glaube ich“, sagte ich.

„Die beiden Huren, die Lukas immer gemobbt haben als er noch im anderen Gebäudeteil zur Schule gegangen ist?“, fragte Kaito grummelnd nach. Marc mampfte Popcorn als würde ich eine absolut spannende Horrorgeschichte erzählen.

„Genau die“, nickte ich. „Sie haben gefragt, ob Lukas eine Schwuchtel ist, ob wir beide zusammen sind und miteinander vögeln würden und Lukas hat ihnen gesagt, dass Schwulensex ekelhaft wäre, dass wir auf keinen Fall zusammen sind und nur da gelegen haben, weil wir betrunken waren.“

„Naja, damit hat er nicht ganz Unrecht“, zuckte Marc die Schultern. „Schwulensex ist wirklich ekelhaft, ihr habt nie darüber gesprochen, ob ihr zusammen sie und betrunken wart ihr auch.“
 

Ich boxte ihm nicht gerade sanft gegen die Schulter und er schüttete versehentlich etwas Popcorn in Kaitos Schoß.

„Ich hab nur einen Scherz gemacht“, sagte Marc und lachte ein wenig.

„Hör auf Scherze zu machen und bleib ernst!“

„Ich sehe bei der Sache ehrlich gesagt dein Problem nicht“, meinte Marc, während Kaito seine Hose von Popcorn befreite. „Ist doch klar, dass Lukas Schiss hat vor denen zuzugeben, dass er schwul ist. Für die wäre es ein gefundenes Fressen ihn weiter zu mobben.“

„Aber die lassen ihn in Ruhe seit er bei uns auf der Schule ist“, protestierte ich.

„Hat er denn etwas erklärt nachdem die Beiden wieder weg waren?“, fragte Marc.

„Nein, eben nicht. Und ich habe es auch nicht angesprochen. Ich habe auch keine Lust mehr ihm ständig hinterher zu rennen und von ihm auf die Folter gespannt zu werden.“

„Darauf habe ich auch kein Bock“, sagte Kaito. „Bringt die Scheiße bloß schnell wieder in Ordnung. Wehe du heulst wieder ein halbes Jahr lang rum, dass du unbedingt mit Lukas zusammen sein willst, dann kündige ich dir sofort die Freundschaft.“

„Das machst du doch eh nicht, du liebst mich.“

„Verdammt, du kennst mich zu gut.“ Kaito erwiderte mein breites Grinsen. Das letzte Popcorn warf er Marc gegen den Kopf, der darauf nur mit einem Grummeln reagierte.
 

„Ich finde es nur fies, dass er mich so verleugnet hat“, seufzte ich. „Und nicht nur das. Er hat sich selbst auch verleugnet, er hat seine eigene Sexualität schlecht gemacht und unsere gesamte Beziehung einfach damit abgetan, dass wir betrunken waren. Für ihn war es weniger peinlich zu sagen, dass er so betrunken war, dass er im Dreck geschlafen hat, anstatt zuzugeben, dass wir beide ein Paar sind.“

„Wenn du es so ausdrückst, klingt es doch etwas härter“, stellte Marc fest. „Aber ich möchte dich daran erinnern, dass ihr offiziell nie ein Paar wart.“

„Danke, Marc“, sagte ich sarkastisch.

„Immer gerne doch, Alter.“ Er klopfte mir auf die Schulter als hätte er mit den größten Gefallen der Welt getan.

„Und was wirst du jetzt machen?“, erkundigte sich Kaito.

„Warten“, antwortete ich schulterzuckend. „Ihn mit Schweigen und bösen Blicken strafen und abwarten bis er heulend angerannt kommt und eine dumme Entschuldigung daher brabbelt.“

„Sobald er dich das nächste Mal mit seinen Welpenaugen anschaut, wirst du weich wie Butter und ihm alles verzeihen, was er jemals getan hat“, sagte Kaito.

„Hör auf Recht zu haben.“

„Du würdest es ihm sogar verzeihen, wenn er deine Mutter umbringt“, meinte Marc scherzhaft.

„Das sowieso“, grinste ich. Danach war dieses Gesprächsthema vorerst abgeschlossen und wir beschäftigten uns damit uns schlechte Horrorfilme und gute Actionfilme anzuschauen. Gedanklich war ich immer noch bei Lukas und nahm mir fest vor meinen Plan, ihn vorerst mit Schweigen zu strafen, in die Tat umzusetzen. Für mich würde dies alles andere als leicht werden, doch ich wollte, dass er von selbst darauf kommt, dass sein Verhalten mir gegenüber und auch sich selbst gegenüber, echt mies gewesen war. Hoffentlich würde das nicht nach hinten los gehen, denn verlieren wollte ich ihn auf gar keinen Fall...
 

Zwei Tage später verabschiedete sich meine Mutter mit einem Kuss auf die Wange. Es war seltsam gewesen mit ihr in einem Haus zu wohnen, auch wenn es nur für sehr kurze Zeit gewesen war. Hektisch sammelte sie ihre sieben Sachen zusammen und fuhr mit einem Taxi zum Flughafen, um rechtzeitig bei ihrer Gala in Paris sein zu können. Als ich die Haustür hinter ihr schloss und die Stille des Hauses mich umfing, fühlte ich für einen Moment schrecklich einsam, dann verbannte ich dieses Gefühl in die Tiefen meines Herzens. Mittlerweile sollte ich mich daran gewöhnt haben. Es war kindisch noch immer so an einer Frau zu hängen, die ich eigentlich gar nicht wirklich kannte. Ich sendete eine kurze SMS an Marc und Kaito, dass die Luft wieder rein war und keine zwei Stunden später stand Kaito mit einem Rucksack auf der Matte.
 

„Ich zieh bei dir ein, meine Mutter bringt mich noch um!“, verkündete er sauer. Es war nichts Neues, dass er für eine Weile bei mir einzog. Ebenso wenig, wie es etwas besonderes war, dass sich Marc über fast jedes Wochenende bei mir einnistete. Die Beiden hatten hier sozusagen ihren zweiten Wohnsitz eröffnet und das störte mich nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil. Während Kaito eine eigene Pesto in der Küche zubereitete und ich an der Küchentheke daneben saß und zuschaute, erklärte er mir vollkommen aufgebracht, dass er sich mal wieder mit meiner Mutter gestritten hatte. Die Beiden bekamen sich wegen jeder Kleinigkeit in die Haare und Kaito verbrachte nur ungern Zeit bei ihr. Dass er nach seinem letzten kalten Entzug doch wieder angefangen hatte Koks zu nehmen, nahm ich mit auf meine Kappe. Ich hatte Lukas ständig bei mir gehabt und all meinen Freunden geschrieben, dass ich keine Zeit mehr für meine wöchentlichen Hauspartys hatte. Kaito hielt sich zurück und verbrachte mehr Zeit als sonst zuhause, ständig unter dem Einfluss seiner drogenabhängigen Mutter in einem furchtbaren Teil der Stadt. Das konnte doch nicht gut gehen. Hätte ich ihn mehr bei mir behalten, wäre er vielleicht nicht wieder rückfällig geworden. Beim nächsten Mal musste der Entzug endlich klappen, schon alleine, weil unsere gemeinsame Freundin Samantha ihn ansonsten umbringen würde.
 

„Ich habe echt die Schnauze voll von der Schlampe“, grummelte Kaito. „Ich sollte meinen Abschluss machen, mir eine Ausbildung suchen und ausziehen. Oder ich suche mir einen Aushilfsjob und ziehe jetzt schon in eine WG. Das wäre am Besten, denn weitere anderthalb Jahre halte ich es bestimmt nicht bei der aus.“

„Bist du denn total behindert?“, fragte ich und er blickte mich überrascht an. „Zieh doch einfach bei mir ein.“

„Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich das nicht machen kann“, sagte Kaito missmutig. „Ich kann nicht verantworten, dass deine Eltern Strom und Wasser und sonst was alles für mich bezahlen und davon nicht mal was wissen. Sie würden es niemals erlauben, dass ich bei dir einziehe.“

„Mein Vater schon, wenn ich ihn dazu überrede. Du könntest einen Nebenjob annehmen und dich um die Lebensmittel kümmern, das würde ihm sogar gefallen“, meinte ich Schulterzuckend.

„Aber deine Mutter würde es nicht erlauben.“

„Die muss davon ja nichts wissen.“

Doch Kaito ließ nicht überreden. Dabei wohnte er doch schon halb bei mir. Als Entschädigung kochte er dann immer, kümmerte sich mit um den Haushalt und blieb nie länger als eine Woche. Als wir jünger waren, hatte er auch mal zwei Monate bei mir gewohnt, dann kam meine Mutter wieder nach Hause und warf ihn raus.
 

„Kommt Marc heute eigentlich vorbei?“, fragte Kaito, während er einen Topf mit Wasser füllte.

„Nein, ich glaube der hat heute irgendetwas mit Kollegen vor“, antwortete ich. „Brauchst also nicht für ihn mitzukochen.“

„Alles klar. Hat sich Lukas mal gemeldet?“

„Fehlanzeige. Ich überlege am Samstag eine Hausparty zu schmeißen und eine Rund-SMS an alle Freunde zu senden, mal sehen, ob er kommt. Und, wenn ja, mal sehen, was er dann macht.“

„Gute Idee.“

„Du kannst dann bis Sonntag hier wohnen, wenn du magst“, sagte ich. „Dann gehen wir gemeinsam einkaufen und alles vorbereiten, wie immer. Und Marc schaut uns zu, trinkt Bier und gibt dumme Kommentare ab, wie immer.“

Kaito lachte ein wenig, doch er wusste, dass ich damit Recht hatte.
 

Nach dem äußerst leckeren Abendessen, räumte ich die Spülmaschine ein, während Kaito meine PS3 mit dem Fernseher im Wohnzimmer verkabelte. Bevor wir anfingen zu zocken, sendete ich die besagte Rund-SMS und versuchte sie so allgemein wie möglich zu halten, damit Lukas auch merkte, dass ich ihn nicht direkt ansprach. Nur wenige Sekunde nach dem ich 'Versenden' geklickt hatte, kamen zahlreiche Antworten zurück, fast alle sagten zu. Nur Kiaro sagte mir ab, weil er in Irland war und Noah schrieb, dass er nicht lange bleiben könnte, weil er sonntags früh morgens mit seinem Vater in einen zweiwöchigen Urlaub fuhr. Wie ich Noah könnte, würde er doch lange bleiben und vollkommen verkatert zum Urlaub aufbrechen, denn er besaß absolut keine Selbstkontrolle. In Kombination mit seinen Depressionen war dies katastrophal und sorgte für ein selbstverletzendes Verhalten. Ich war unglaublich froh, dass Noah seine Stiefschwester Hannah hatte. Zwar waren ihre Mutter und sein Vater nicht verheiratet, doch die Beiden bezeichneten sich selbst als Stiefgeschwister. Hannah war extrem sensibel und emotional, doch sie wusste, wie man mit Leuten mit psychischen Störungen umgehen musste. Sie konnte damit umgehen, sie konnte Noah sogar davon abhalten sich selbst zu verletzen, etwas, was wir Anderen nicht konnten.
 

Vor gefühlten Ewigkeiten hatte Lukas einmal eine Panikattacke vor meinen Augen gehabt. Bei Noah hatte ich bereits schon einmal so etwas erlebt und damals nur doof daneben gestanden, während sich Hannah und Samantha um ihn kümmerten. Ich hatte mich unglaublich hilflos gefühlt, doch bei Lukas blieb mir keine andere Wahl als etwas zu unternehmen, schließlich war ich alleine mit ihm gewesen. Und seltsamerweise hatte es funktionierte. Ich wusste genau, was ich sagen musste, um ihn zu beruhigen, ich hatte mich keine Spur hilflos gefühlt. Ich war mir so sicher in dem was ich tue, dass ich sogar glaubte, ich hätte gelernt mit solchen Gefühlsausbrüchen umzugehen. Leider war dies nicht der Fall gewesen. Ich war noch immer emotionsverkrüppelt, was bei mir die Frage hinterließ: Warum hatte es bei Lukas geklappt?
 

Bis zum Samstag traf ich niemanden von meinen Freunden außer Marc und Kaito. Den ganzen Tag lang hingen wir bloß an der Konsole, vor dem Fernseher oder an den Joints, die wir im Haus rauchten und nicht im Garten, und ich fühlte mich von Stunde zu Stunde elender. Ich konnte es kaum erwarten endlich mal wieder etwas zu unternehmen und nahm mir fest vor meine vierte Ferienwoche nicht so aussehen zu lassen. Alle anderen waren ständig auf Achse. Samantha war mit der Familie ihres Freundes vier Tage im Campingurlaub und würde in der fünften Woche noch einmal fünf Tage mit ihrer eigenen Familie und ihrem Freund an die Nordsee fahren. Hannah, Noah und Lukas gingen ständig gemeinsam feiern. Schifti besuchte nächste Woche ein weiteres Festival. Florian war ebenfalls mit seiner Familie bald im Urlaub. Nur wir Drei hingen mal wieder den ganzen Sommer in Berlin rum und machten nichts außer kiffen und saufen. Manchmal konnte das Leben wirklich deprimierend sein.
 

Als der Samstag anbrach, war ich schon beinahe aufgeregt und fragte mich, was die Party in Bezug auf Lukas bringen wird...

Lukas - Hausparty Pt. 1

Nervös rieb ich meine Hände aneinander, kaute auf meiner Unterlippe und schaute zu, wie sich Hannah einen kleinen Spiegel zwischen die Beine klemmte und anfing ihre kleinen, blauen Augen zu schminken. Dabei saß sie auf der Couch, die in Noahs Zimmer stand und ich gleich neben ihr. Leise summte der Fernseher vor uns, doch ich interessierte mich nicht für den Film, der gerade lief. Noah war in seinem begehbaren Kleiderschrank verschwunden und kam nach nur wenigen Sekunden mit einer Galaxie-Print-Leggins wieder heraus. Mir fiel sofort auf, dass es dieselbe Leggins war, die er bei unserem ersten Treffen in der Schule getragen hatte. Noah verzog das Gesicht als würde er diese Klamotte plötzlich nicht mehr leiden können und pfefferte sie zurück in seinen Schrank.
 

„Ich habe gar keine Lust feiern zu gehen“, murmelte er. Ich hoffte das lag nur daran, dass er müde war, zumindest sah er ziemlich müde aus. Unter seinen großen, strahlend blauen Augen befanden sich dunkle Augenringe und selbst die Sommersprossen, die sich über seine Wangen und seine schmale Nase sammelten, wirkten blasser als sonst. Er fuhr sich durch seine strohblonden Haare und ließ sich direkt vor uns auf den Boden plumpsen. Für sein Alter war er sehr klein und zierlich. „Ich habe auch keine Lust morgen mit meinem Vater in Urlaub zu fahren. Am liebsten würde ich mich in meinem Bett verkriechen und dort für den Rest der Sommerferien bleiben.“

„Oh, bitte nicht, Noah.“ Hannah schaute besorgt auf und ließ den Kayal sinken. „Du redest schon wieder als würde eine Depressionsphase bevor stehen. Bitte, die Letzte war ganz furchtbar gewesen.“

„Das weiß ich selbst.“ Noah fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Aber ich habe wirklich keine Lust.“

„Bitte bleib nicht hier“, flehte ich. „Ich brauche dich doch.“

„Du musst doch nur Gaara sagen, dass du alles, was du gesagt hast, gar nicht so gemeint hast“, sagte Noah als wäre es so einfach. „Ich kenne ihn, er ist nicht der Typ, um nachtragend zu sein oder eine Entschuldigung nicht anzunehmen.“

„Das schaffe ich aber trotzdem nicht alleine.“

„Du machst mich echt fertig.“ Noah seufzte. „Na gut, für dich komme ich mit, aber ich kann, wie gesagt, nicht lange bleiben.“
 

Als wir zu Gaaras Hausparty aufbrachen, mischte sich unter meine Angst ein schlechtes Gewissen, denn Noah schien wirklich keine Lust zu haben mitzukommen. Meistens war er fröhlich gesinnt, trällerte mit seiner honigsüßen, hohen Stimme ein paar Lieder und umarmte jeden, der ihm in den Weg kam, als würde er ihn bereits seit Jahren kennen. Alles im Allen, dachte man auf den ersten Blick, dass Noah eine Frohnatur war, doch leider verbarg sich dahinter viel mehr. Schon seit Jahren litt er unter Depressionen, die sich durch gelegentliche Phasen zeigte und das, obwohl er Antidepressiva nahm und regelmäßig einen Psychologen besuchte. Er tat mir Leid. Noah war ein unglaublich guter Mensch, er hatte eine solche Krankheit nicht verdient...
 

Wir fuhren mit der S-Bahn und Hannah, Noahs Fast-Stiefschwester, versuchte die Stimmung mit ein paar lustigen Geschichten zu heben, die sie gemeinsam mit ihrem Freund Dennis und dessen Freundeskreis erlebt hatte. Leider funktionierte dies nicht wirklich. Ich lachte immer nur nervös und je näher wir Gaaras Haus kamen, desto mehr zitterten meine Finger. Es war doch wirklich ganz einfach, ich musste mich nur bei ihm entschuldigen und das war es auch schon, warum fiel mir das nur so schwer? Nach einigen Minuten stiegen wir aus und gingen im Halbdunkel der Stadt zu seinem Haus. Als wir vor der Eingangstür anlangten, durch die dumpf die Geräusche einer Party drangen, blieb ich ruckartig stehen. Noah und Hannah taten es mir gleich und blickten mich verwundert an.
 

„Wie wäre es, wenn wir einfach abhauen?“, fragte ich und wollte auch schon gehen, doch die Beiden packten mich gleichzeitig an meinem Shirt und zogen mich zurück.

„Vergiss es, du kleiner Feigling“, sagte Noah. „Bleib stark, du bist doch ein Mann!“

„Nein, ich bin eine Schwuchtel, ich darf mich verdrücken“, entgegnete ich, was die anderen Beiden zum Lachen brachten. Dann gab mir Noah einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Hör auf dich selbst Schwuchtel zu nennen, ich kann dieses Wort nicht leiden. Das ist eine Beleidigung für uns Homosexuelle.“

Wäre nicht das erste Mal, das ich mich selbst beleidigte. Ich biss mir auf die Unterlippe, um diese Worte nicht laut auszusprechen.
 

Hannah klingelte und keine Sekunde später wurde die Tür von Schifti geöffnet, der uns grölend begrüßte und alle Drei gleichzeitig umarmte. Dann drückte er Noah eine Flasche Jägermeister in die Hand und schob uns herein. Es sah beinahe so aus, wie an Gaaras 18. Geburtstag. Überall waren Jugendliche, einige aus unserer Stufe, viele kannte ich gar nicht, es roch überall nach Gras und Shisha und in der Küche wurden Cocktails gemixt. Im Wohnzimmer dröhnte laute Musik, die wie immer von Marc auserwählt wurde, weshalb sie auch dementsprechend rockig war. Ich versuchte mich mental darauf vorzubereiten Gaara unter die Augen zu treten, aber ich war alles andere als vorbereitet als ich ihn auf der Couch zwischen Kaito und Samantha sitzen sah. Er zog gerade an einer Bong, legte den Kopf in den Nacken und blies den weißen Rauch genussvoll wieder aus. Ich wusste nicht warum, aber der Anblick machte mich an.
 

„Du regelst das jetzt sofort“, meinte Noah bestimmend. „Lass das bloß nicht auf sich warten, sonst denkt er, du würdest nicht wissen, dass du einen Fehler gemacht hast.“

Damit hatte er Recht, aber trauen tat ich mich trotzdem nicht. Ich nahm ihm den Jägermeister, gerade als er davon einen Schluck trinken wollte, und schüttete mir selbst ein paar mehr Schlucke in den Rachen. Die Kräutermixtur hinterließ einen widerlichen Nachgeschmack, bei dem sich mein ganzer Körper schüttelte. Ich gab Noah die Flasche zurück und Schifti, der nicht wusste, was überhaupt los war, klopfte mir anerkennend auf die Schultern.

„Ich bin stolz auf dich. Nicht jeder kann so Jägermeister kippen.“

„Ehm... danke.“

„Jetzt geh doch mal weg, Schifti“, meckerte Noah und schob ihn davon. Er schenkte ihm einen anklagenden Blick aus einfachen, braunen Augen. Schifti war groß, hieß eigentlich Florian, doch aus irgendeinem Grund nannten ihn alle Schifti, vielleicht, weil wir noch einen zweiten Florian in der Stufe hatten und es ansonsten zu kompliziert werden würde, er hatte ein flaches Gesicht, eine breite Nase und rappelkurze Haare, und er war dafür bekannt immer nur zu feiern und zu saufen. Manchmal fragte ich mich, ob das Leben einfacher wäre, wenn ich wie Schifti oder Marc wäre. Sie kamen mir so einfach gestrickt vor. Vielleicht dachte ich das nur, weil ich sie nicht besser kannte, aber ich war mir selbst zu kompliziert und zu emotional.
 

„Du bist aber wieder schlecht drauf, Noah“, stellte Schifti fest und klang dabei ziemlich ernst. „Lass das nicht über dich kommen... okay?“

Als Noah darauf nichts sagte, ging Schifti einfach fort und gesellte sich zu den Mädchen, die sich um die Cocktails kümmern. In eben diesem Moment erhob sich Gaara von der Couch und verließ das Haus durch den Hintergarten.

„Jetzt aber!“ Noah und Hannah gaben mir gleichzeitig einen Stoß in den Rücken und ich ging sehr langsam in Richtung Hinterausgang. Nach ein paar Metern wurde ich lauthals von Kaito und Sam begrüßt, die noch immer auf der Couch saßen.

„Bambi!“, rief Sam, die heute ein knappes Outfit trug und ihre hellbraunen, buschigen Haare zu einem lockeren Dutt hochgebunden hatte. Sie war nur selten geschminkt, heute hatte sie nur etwas Wimperntusche aufgetragen, wodurch ihre bernsteinfarbenen Augen größer wirkten und wunderbar in ihr bräunliches, schmales Gesicht passten. „Du musst mich gleich ein wenig trösten. Chris kann heute nicht dabei sein und er hat gefragt, ob du nächstes Wochenende auf Joker und Felix aufpassen könntest, aber er traut sich nicht dich direkt zu fragen, weil er meint, das wäre zu viel Verantwortung.“

„Oh...“ Über die Sache mit Gaara hatte ich Joker und Felix und eigentlich auch alles andere komplett vergessen. Chris war Samanthas fester Freund, Felix sein jüngerer, querschnittsgelähmter Bruder, mit dem ich mich trotz des Altersunterschiedes, ausgezeichnet verstand und Joker war der Hund, den wir uns teilten. Meistens war er bei Chris und seiner Familie, aber manchmal konnte ich ihn mit zu mir nehmen oder bei ihnen ein wenig mit ihm spielen und spazieren gehen.
 

„Ja, können wir gleich darüber reden?“, fragte ich.

„Klar.“

„Ja, geh erst mal mit Gaara reden“, sagte Kaito und es klang beinahe wie ein Befehl. Er deutete nach draußen und ich nickte nervös lächelnd. Immer noch langsam ging ich hinaus und hoffte ein wenig niemals anzukommen, doch nach nur wenigen Sekunden stand ich im Hintergarten. Gleich neben der Tür machten zwei Jugendliche miteinander herum und Gaara saß mit Tami, einem Mädchen aus unserer Stufe, auf der Hollywoodschaukel, auf der wir uns das erste Mal geküsst hatten. Gemeinsam rauchten sie eine und unterhielten sich. Vorsichtig schlenderte ich zu ihnen herüber, die Hände in meinen Hosentaschen verstaut und blieb drucksend vor ihnen stehen. Als sie mich anschauten, blickte ich lieber den Boden an.
 

„Ich... ehm... würde gerne... ehm... mit dir reden“, brachte ich hervor.

„Ich lass euch alleine“, sagte Tami und stand auch sogleich auf. Zu Gaara gewandt meinte sie noch, dass sie später weiter reden könnten und ging zurück ins Haus. Unsicher ließ ich mich neben Gaara auf der Schaukel nieder, die daraufhin ein wenig hin und her schwang. Im Garten war es recht dunkel, nur die Sterne erhellten das Szenario ein wenig und ich war recht froh Gaaras Gesichtsausdruck nicht richtig erkennen zu können.
 

„Was gibt’s?“, fragte Gaara und in seiner Stimme lag ein angespannter Unterton.

„Ich wollte mit dir reden“, sagte ich.

„Das hast du vor zwei Sekunden schon mal gesagt.“

„Ja, richtig.“ Ich spürte, wie ich dunkelrot anlief. „Mach dich bitte nicht lustig über mich, ich bin nicht besonders gut in so etwas.“ Daraufhin sagte er nichts. Ich atmete einmal tief durch, dann fuhr ich fort: „Bei dem Festival, also als Lena und Katharina aufgetaucht waren, das war eine blöde Situation. Ich wollte nicht solche Sachen sagen.“

„Hast du aber.“

„Ich weiß, aber nur, weil es die Beiden waren. Sie sind so... ich weiß nicht, ich hatte irgendwie Angst in der Situation. Wenn sie herausgefunden hätten, dass ich schwul bin...“ Weiter kam ich nicht, denn ich wusste meine Erklärung würde Gaara alles andere als gefallen.

„Dann was?“, hakte Gaara nach.

„Dann hätten sie es in der Schule herum erzählt.“

„Jetzt sag bloß nicht, du denkst, niemand wüsste, dass wir was miteinander hatten, das weiß so ungefähr jeder aus der Oberstufe. Sie hätten es nur im anderen Gebäudeteil herum erzählen können und, was die denken, kann dir doch so ziemlich egal sein.“
 

Mein Hirn hatte nach dem Wort 'hatten' ein wenig nachgegeben und ich konnte meinen eigenen Herzschlag deutlicher hören als Gaaras Stimme. 'Dass wir was miteinander hatten', er hatte 'hatten' gesagt und nicht 'haben'. Hatte ich es so versaut? Mein Herzschlag war schmerzhaft und ich konnte spüren, wie mein Herz sich ein wenig verkrampfte.

„Wieso hast du hatten gesagt?“, fragte ich dumpf.

„Du hast gesagt, Sex mit einem Mann ist ekelhaft und du bist auf gar keinen Fall schwul. Für mich klang das danach, dass das, was auch immer wir miteinander gehabt hatten, vorbei ist.“

„Aber das hatte ich doch nur wegen denen gesagt und es tut mir leid.“

„Das reicht aber nicht“, sagte Gaara. Mir fiel auf, dass er mich nicht anschaute. Er schenkte seiner Zigarette mehr Aufmerksamkeit als mir und schaute zu, wie die Asche glühte, wenn er daran zog.

„Was soll ich denn noch machen?“
 

Gaara schüttelte den Kopf, trat seine Zigarette auf dem Boden aus und stand auf. Ihn von mir weggehen zu sehen, war beinahe noch schmerzhafter als seine Worte. Kaum, da er im Haus verschwunden war, kamen Noah und Hannah heraus gehuscht, die heimlich am Fenster geklebt und zugeschaut hatten. Die beiden Jugendlichen, die neben der Tür miteinander herum machten, sahen aus als würden sie sich gegenseitig auffressen. Bei dem Anblick kam mir das Kotzen. Wie konnten die es nur wagen miteinander glücklich zu sein, wenn ich gerade von meinem Schwarm abserviert wurde?
 

„Was ist passiert?“, fragte Noah als die Beiden sich links und rechts neben mir nieder ließen. „Warum sah er so sauer aus?“

„Ich hab mich entschuldigt und er meinte, das wäre nicht genug.“

„So ein Mädchen“, spuckte Hannah aus.

„Was erwartet er von mir?“, fragte ich verzweifelt. „Ich will nicht, dass das mit ihm vorbei ist, wirklich nicht.“

„Dann sag es ihm. Er hat wahrscheinlich das Gefühl, dass du es gar nicht ernst meinst“, sagte Noah, doch es klang eher nach einer Überlegung. „Gaara ist sehr... er hat Angst davor verletzt zu werden, glaube ich, und du bist die erste Person, mit der es ernst meint. Vorher hatte er immer nur so Bettgesellschaften. Es ist schwierig an ihn heran zu kommen und du bist schon sehr nahe an ihm heran, da muss man vorsichtig sein, wie bei einer Bombe, bei der der falsche Draht alles in die Luft gehen lässt.“

„Eigentlich beunruhigt mich das mehr als, dass es mich tröstet“, gab ich zu. Die beiden Jugendlichen hörten wir mittlerweile keuchen.

„Wir besprechen jetzt genau, was du ihm sagen willst und sagen sollst und dann startest du einen zweiten Versuch“, schlug Hannah sachlich vor.

„Gute Idee“, nickte Noah.

„Von mir aus“, sagte ich.

„Gut, dann besorge ich uns nur noch was zum Trinken.“ Hannah stand auf und zuckte erschrocken zusammen, als Noah plötzlich quer durch den Garten brüllte: „HOLT EUCH GEFÄLLIGST EIN ZIMMER!“

Die beiden Jugendlichen waren nicht weniger erschrocken, schenkten ihm einen anklagenden Blick und verdrückten sich dann zurück ins Haus. Hannah musste darüber lachen und sogar ich brachte ein ehrliches Lächeln zustande. Vielleicht würde ich das heute Nacht mit Gaara noch gerade biegen können, so einfach durfte ich nicht aufgeben!

Lukas - Hausparty Pt. 2

Fast zwei Stunden lang saßen wir auf der Hollywoodschaukel und besprachen uns. Zuerst tranken wir Jägermeister mit Red Bull, dann Wodka mit Orangensaft, danach Berentzen und Cuba Libre. Am Ende hatten wir mehr Promille als einen Plan. Jeder von uns lallte und als ich von der Schaukel aufstand, drehte sich erst einmal alles. Wir stützten uns aufeinander und torkelten zurück ins Haus. Die Angst mit Gaara zu sprechen war verflogen. Mir fiel es leicht ihm zu sagen, dass ich mich mit ihm unter vier Augen unterhalten wollte und er lotste mich in sein Zimmer. Dort angelangt stellte ich fest, dass er mindestens genauso betrunken war wie ich. Mit dieser Erkenntnisse hätte ich meinen Frontalangriff an dieser Stelle abbrechen sollen, aber das Schicksal meinte es nicht gut mit mir.
 

„Hör zu“, brachte ich lallend hervor. „Ich habe gesagt es tut mir Leid und mehr kann ich nicht machen.“

„Du kannst sehr wohl mehr machen“, entgegnete Gaara sauer. „Du kannst zu dir stehen und denen sagen, dass wir was miteinander hatten und, dass du mich liebst.“

„Wer hat denn behauptet, dass ich dich liebe?“ Könnte jemand bitte kommen und mich aufhalten, denn ich hatte meine Worte sicher nicht mehr unter Kontrolle. In meiner Verfassung fiel mir nicht einmal auf, was ich eigentlich für einen Müll von mir gab, dafür hörte ich jedoch sehr gut, was Gaara zu sagen hatte.

„Gut, dann eben nicht. Dann kannst du auch gleich gehen und bitte nicht mehr wieder kommen, weil egal, was zwischen uns gelaufen ist, es ist vorbei!“

„Von mir aus.“

„Dann raus hier!“

„Gerne doch!“
 

Wie und wann ich nach Hause gekommen war, wusste ich nicht mehr zu sagen. Mit schweren Kopfschmerzen erwachte ich irgendwann um die Mittagszeit in meinem Bett und gleißendes Sonnenlicht fiel durch die Fensterscheiben und stach in meinen Augen. Stöhnend rieb ich sie mir, wandte mich um und verkroch mich unter der Bettdecke, wo eine brodelnde Hitze kochte, doch das verschlimmerte meinen miserablen Zustand nicht unbedingt, dafür war er schon zu mies genug. Halbe Ewigkeiten verbrachte ich nur mit Stöhnen und dem Pochen in meinem Schädel. Nach und nach kamen die Erinnerungen an die Nacht zurück. Es stach in meiner Brust als ich mich an den Streit mit Gaara erinnerte. An alles, was danach geschah konnte ich mich nur schwer erinnern. Alles, was ich sicher wusste, war, dass ich nur kurze Zeit später das Haus verließ und mich auf den Heimweg machte. Irgendjemand hatte ich mich, glaube ich, sogar gebracht...
 

Ich drehte mich in meinem Bett, streckte die Hand unter der Decke hervor und tastete auf dem Nachttisch nach meinem Handy. Als meine Finger sich darum schlossen, zog ich es zur mir in mein heißes Versteck und schaltete es an. Die Helligkeit des Display schmerzte in meinen Augen. Ich kniff sie zu engen Schlitzen zusammen. Einen Moment brauche ich, um mich an das Licht zu gewöhnen, dann überkam mich etwas wie Enttäuschung, denn Gaara hatte sich nicht mehr gemeldet. Irgendetwas in mir hatte gehofft, er würde sich melden, um den Streit aus der Welt zu schaffen, doch wenn ich mich recht entsinne, war alles meine Schuld... was hatte er gesagt? Dass ich zugeben sollte, dass ich ihn liebte? Mir war als würde ein Sack Eiswürfel in meinen Magen gleiten. Er hatte gewusst, dass ich in ihn verliebt war. Vielleicht wusste er auch, dass sich diese Gefühle nicht mehr verändert hatte, obwohl wir im Streit waren. Andererseits hatte ich gestern behauptet, dass ich ihn nie geliebt hätte...
 

Fest biss ich mir auf die Unterlippe. Statt Gaara hatte mir mein bester Freund Simon eine Nachricht geschrieben, doch zum ersten Mal in meinem Leben interessierte es mich nicht. Vermutlich ging es wieder um Lynn und darum, wie sehr Simon Adrian hasste, in den sich Lynn scheinbar verliebt hatte, während Simon auf sie stand, wovon sie jedoch keine Ahnung hatte. Wie hatte auch jemand ahnen können, dass sich Simon aus heiterem Himmel in unsere langjährige, beste Freundin verliebte? Wichtiger war für mich in diesem Moment jedoch, was für ein bescheuerter Idiot ich doch war. Konnte ich nicht wenigstens einmal etwas richtig machen? Ich musste das schnell wieder in Ordnung bringen... also schrieb ich Gaara eine SMS. Mehrere Male löschte und tippte ich sie neu, bis ich einigermaßen zufrieden war. Nachdem ich auf 'Absenden' geklickt hatte, warf ich mein Handy in den Sitzsack, der auf der anderen Seite des Zimmers stand. Hauptsache, das Teil war weit genug von mir entfernt, ich wollte gar nicht wissen, was Gaara auf meine bescheuerte Entschuldigung zurück schrieb.
 

Eine weitere Stunde verbrachte ich im Halbschlaf, in dem mich meine Kopf- und Gliederschmerzen zunehmend plagten. Schließlich hörte ich, wie die Tür zu meinem Zimmer quietschend aufging und leise näherten sich Schritte meinem Bett. Sanft wurde ich an der Schulter gerüttelt. Als ich keine Reaktion zeigte, wurde ich fester gerüttelt und schließlich bekam ich einen schrecklichen Boxschlag gegen die Schulter verpasst. Schlagartig saß ich kerzengerade in meinem Bett und rieb mir die schmerzende Stellte. Bei dem schnellen Aufsetzen wurde mir für einen Moment schwindelig.
 

„Was soll das?“, brachte ich hervor und blickte meiner jüngeren Schwester Alex entgegen. Ihre herbstbraunen Haare hatte sie zu einem lockeren Dutt nach oben gebunden. Ihren schmächtigen, aber schlanken Körper kleidete sie in einem rot-schwarz-karierten Hemd, das ihr etwas zu groß war und vorne offen, sodass man ihr Top erkennen konnte, auf dem eine große Gänseblume abgebildet war. Alex sah mir sehr ähnlich mit den Welpenaugen und dem schmalen Gesicht. Nur waren ihre Lippen ebenfalls schmal und nicht so voll wie meine und ihre Augen hatten eine sehr feminine Form. Vielleicht lag dies auch daran, dass sie sie mit einem perfekten Lidstrich geschminkt hatte. Seit wir in Berlin wohnten, kleidete sich Alex wie eine junge Erwachsene. Sie war ihrem Alter von 15 Jahren ein gutes Stück voraus.
 

„Du sollst mal aufstehen und etwas essen“, sagte Alex und legte den Kopf schief. „Außerdem denkt sich Mum noch eine Strafe für dich aus, obwohl dein Kater scheinbar schon eine gute Strafe ist.“

„Wofür eine Strafe?“, fragte ich. „Weil ich mich betrunken habe?“

„Du hast uns gestern ins Wohnzimmer gekotzt?“ Alex blickte mich ungläubig an. „Sag mir nicht, das hast du vergessen.“

„Du lügst doch!“ Ich spürte, wie die Röte meinen Hals hoch kroch und sich in meinem Gesicht verteilte. War ich so voll gewesen? Und Mum und Alex hatten es mitbekommen. Normalerweise versuchte ich so etwas vor ihnen zu verbergen und möglichst nüchtern nach Hause zu kommen. „Ich habe nicht gekotzt.“

„Doch, hast du und Mum musste es noch morgens um vier Uhr weg machen und dann hast du angefangen zu heulen, aber niemand wusste, warum, weil du die ganze Zeit gesagt hast, du dürftest es uns nicht sagen. Ich hoffe, dass es sich dabei nur um irgendetwas Dummes gehandelt hat oder hast du wirklich Probleme?“ Alex blickte mich etwas besorgt an. „Weil, dieser Junge, der dich hergefahren hat, wusste auch nicht, was mit dir los ist.“

„Wer hat mich hergefahren?“, fragte ich dumpf.

„So ein Florian.“

„Oh, Gott sei Dank.“
 

Florian war einer meiner Klassenkameraden, der keine Drogen nahm und auch nur selten Alkohol trank. Mit seinem blassen Gesicht und den dunklen Augenringen sah er immer etwas kränklich aus. Er fehlte auch öfter mal in der Schule, war jedoch ein äußerst angenehmer Geselle, mit einer ruhigen Seele und einem großen Interesse an Literatur jeglicher Art. Wenn jemand wie Schifti oder Marc von meinem Absturz mitbekommen hätten, dann hätten sie es überall rum erzählt und mich damit wochenlang aufgezogen.
 

„Sagst du dann mal, was nicht mit dir stimmt?“, bohrte Alex weiter nach.

„Keine Ahnung, ich habe wohl einfach zu viel getrunken“, murmelte ich. „Ich war noch nie so verkatert...“ Langsam quälte ich mich aus dem Bett und folgte meiner Schwester in die Küche, wo meine Mutter mit zusammengepressten Lippen und Spaghetti Bolognese wartete. Peinlich berührt entschuldigte ich mich bei ihr und ließ mich am Küchentisch nieder. In meinem Kopf pochte es noch immer schmerzhaft, als würde jemand mit einem Hammer von innen gegen meine Schädeldecke schlagen. Schwerfällig würgte ich ein paar Spaghetti mit Soße herunter, musste das Essen jedoch schnell aufgeben, weil mir davon schlecht wurde.
 

„Wie viel hast du nur getrunken?“, sagte Alex empört. „Du hängst hier, als hättest du eine Alkoholvergiftung.“ Zu Mum gewandt meinte sie: „Lukas behauptet, er hätte einfach nur zu viel getrunken. Als ob wir ihn nicht gut genug kennen würden, um zu wissen, dass das nicht stimmt.“

„Geht es um Dad?“, fragte Mum und augenblicklich verstummte Alex. Das Thema Vater war bei uns noch immer schwierig anzusprechen, obwohl er nun schon seit über einem Jahr verstorben war. Uns alle Drei traf der Verlust noch immer sehr, vor allem, weil er so überraschend gekommen war. Ich wollte jetzt nicht über Dad nachdenken, doch aufhalten konnte ich es auch nicht. Sofort fragte ich mich, was er zu meinem Zustand sagen würde. Sicherlich wäre er enttäuscht von mir, wäre er auch enttäuscht von mir, wenn er von meiner Homosexualität wüsste? Den meisten Vätern gefiel es nicht, wenn ihr Sohn sich als schwul entpuppte...
 

„Nein, es geht nicht um ihn“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ich habe Streit mit einem Freund -“

„Mit Gaara?“, entfuhr es Alex bestürzt. „Aber ich dachte mit ihm bist du so gut wie zusammen! Ich hab mich schon gefreut ihn richtig kennen zu lernen und zum Abendessen einzuladen. Wieso habt ihr Streit?“

„Lange Geschichte“, sagte ich, obwohl das nicht wirklich stimmte. Ich hatte nur keinen Nerv ihnen das alles jetzt zu erklären, dafür war mir mein Kopf zu schwer. Mit einem dumpfen Schlag legte ich ihn auf der Tischplatte ab und stöhnte. „Irgendwie klärt sich das schon wieder. Aber eine Sache weiß ich jetzt ganz sicher: Alkohol ist keine Lösung.“
 

Mum gab mir eine Kopfschmerztablette, die ich mit etwas Wasser herunter würgte, dann zwang sie mich dazu noch etwas zu essen bevor ich mich erneut in meinem Bett verkroch. Bevor ich dies tat, nahm ich mir jedoch mein Handy und schrieb Simon, dass ich den Kater meines Lebens hatte und fragte, warum er angerufen hatte. Nach nur wenigen Sekunden kam von ihm die SMS zurück: 'Ach, du bist auch verkatert? Ich hasse Alkohol. Ich trinke nie wieder so viel. Ich wollte dich anrufen, um mich darüber zu beschweren, dass der Alkohol existiert.'

Ich musste grinsen und schrieb: 'Wenigstens leide ich nicht alleine.'

Als mein Handy erneut vibrierte, erwartete ich eine weitere Nachricht von Simon, doch stattdessen hatte Gaara auf meine Entschuldigung geantwortet. Augenblicklich stieg mir die Hitze ins Gesicht. Aufgeregt öffnete ich seine SMS und las: 'Das ändert nichts.'
 

Dumpf betrachtete ich diese drei Worte und wartete, als würden noch mehr erscheinen, doch Gaara schrieb nichts mehr. Erneut las ich es mir durch, wieder und wieder, bis die Worte in meinem Kopf langsam einen Sinn ergaben. Ich hatte das Gefühl als würden kalte Steine in meinen Magen gleiten und gleichzeitig durchbohrten Nadeln mein Herz, welches sich unter den Schmerzen verkrampfte. Ich krümmte mich ein wenig zusammen, als müsste ich mich vor einem Angreifer schützen und las es immer wieder. Das ändert nichts. Das ändert nichts. Ich hatte es versaut. Es war vorbei.

Gaara - Alte und neue Freunde Pt. 1

Verwirrt zog ich den rosafarbenen BH aus der Wäsche und hielt ihn mit Fingerspitzen ein Stück weit von mir entfernt. Er war oben mit weißen Spitzen besetzt und gehörte sicherlich nicht meiner Mutter, die ohnehin schon wieder seit zwei Wochen im Ausland unterwegs war. Wenn das immer noch Überreste meiner missratenen Hausparty waren, dann war es offiziell, dass ich diesen Sommer keine mehr schmeißen würde. Vielleicht würde ich auch einfach nie wieder eine Hausparty schmeißen, denn der Ausgang der Letzten war mehr als nur katastrophal gewesen. Erst der Streit mit Lukas, dann Noahs Zusammenbruch im Badezimmer, dann hatte Marc mir ins Spülbecken gekotzt und Kaito hatte einige Minuten damit verbracht mit einem Zahnstocher die Stücke raus zu picken, damit der Abfluss wieder funktionierte. Dafür stand Marc jetzt für den Rest seines Lebens in Kaitos Schuld, zumindest bestand mein bester Freund darauf.
 

Mit dem BH zwischen den Fingern ging ich ins Wohnzimmer, wo die Beiden nebeneinander auf der Couch saßen und sich während dem Zocken wieder darüber stritten, ob Marc Kaito nun etwas schuldig war oder nicht.

„Ich habe dich nicht darum gebeten meine Kotze wegzumachen“, beschwerte sich Marc. „Ich hätte das auch noch selbst gemacht.“

„Und solange hätten wir mit der Kotze im Spülbecken aushalten sollen? Nein Danke! Das war das Widerlichste, das ich je in meinem Leben machen musste und dafür schuldest du mir was.“

„Von wegen!“

„Wisst ihr von wem der hier ist?“, fragte ich und die Beiden schauten vom Fernseher auf. Sofort bildete sich ein breites Grinsen auf Marcs schmalem Gesicht.

„Du wirst wohl noch für den Rest deines Lebens Überreste deiner Hauspartys finden.“

„Du wirst wohl noch für den Rest deines Lebens bei meinen Hauspartys irgendwohin kotzen“, entgegnete ich. „Demnächst binde ich dir einen kleinen Eimer um den Hals, dann kannst du jeder Zeit darein kotzen und ihn mit dir herum schleppen.“

„Seltsamerweise finde ich die Idee nicht mal schlecht“, gestand Marc und Kaito begann zu lachen. Ich brachte den BH zurück in den Waschraum, weil ich nicht wusste, wo ich das Teil sonst hin legen sollte und ging danach in die Küche.
 

Aus dem Kühlschrank nahm ich mir meine tägliche Dosis Energydrink, ließ mich bei den Jungs auf der Couch nieder und nahm ein kleines Kästchen zur Hand, das gleich auf dem Wohnzimmertisch neben der kalten Pizza stand, von der Marc und Kaito immer wieder etwas aßen. Aus dem Kästchen entnahm ich eine kleine Plastiktüte mit Marihuana. Nicht gerade das Beste, das momentan auf dem Markt war, aber in letzter Zeit kam ich an kein anderes Zeug heran. Ich rollte etwas dickeres Papier zu einem Filter zusammen und steckte ihn mir zwischen meine blassen Lippen, dann begann ich Gras mit Tabak zu mischen, rollte alles in ein dünnes Paper und steckte den Filter auf die eine Seite, ehe ich den Joint zu klebte.
 

Seit dem Streit mit Lukas, seiner Entschuldigung und meiner Antwort, kiffte ich noch mehr als sonst, wenn das überhaupt möglich war. Leider war mein Marihuana nicht besonders gut, weshalb es mich nicht high machte, sondern nur ein wenig beruhigte. Immer noch besser als gar nichts. Ich nahm einen kräftigen Zug, lehnte mich in der Couch zurück und blies den Rauch in kleinen Kringeln wieder aus. Lukas... dieser Junge brachte mich echt um den Verstand. Als er mir gesagt hatte, dass er mich nicht liebte, war ich innerlich ein wenig gestorben. Ich hasste es verletzt zu werden und das hatte wirklich geschmerzt. Bevor ich ihn wieder an mich heran ließ, musste ich mich ein wenig sammeln und wieder zusammen flicken und mir erst einmal darüber bewusst werden, ob ich ihn überhaupt noch mal an mich heranlassen wollte. Wenn es nach mir ginge, würde ich gerne mit ihm zusammen sein und ihm das Hirn rausvögeln, doch ob das auch in seinem Interesse lag, war die andere Frage. Momentan kam ich mir wie benutzt vor. Ich wusste nicht, ob ich es noch einmal wagen sollte, denn ich wollte nicht noch einmal von ihm verletzt werden...
 

Noch einmal nahm ich einen kräftigen Zug, dann reichte ich den Joint an Kaito weiter. Als dieser den Rauch ausblies, fragte er: „Denkst du schon wieder über Lukas nach?“

„Du bist furchtbar, wenn du Liebeskummer hast“, sagte Marc und ich behauptete trotzig: „Ich hab keinen Liebeskummer.“

„Wenn du irgendein Problem hast oder verletzt bist, kiffst du dir immer den Kopf weg. Ein Glück ist das Gras auf dem Markt momentan so mies“, meinte Kaito und ich boxte ihm gegen das Bein.

„Das musst du gerade sagen“, murmelte ich. „Wir sollten noch mal nach Holland bevor die Schule wieder los geht und uns mit gutem Marihuana eindecken.“

„Bei deinem Zustand ist das vielleicht nicht gerade die beste Idee“, gab Kaito zu Bedenken, doch nach einer Sekunde Schweigen sagte er Schulterzuckend: „Aber wir sollten es trotzdem machen.“

Daraufhin begannen wir alle Drei zu lachen.
 

Eine Weile lang verbrachten wir mit zocken und kiffen, dann klingelte es unerwartet an der Tür. Ein wenig hoffte ich, dass es vielleicht Samantha war, die uns in den Arsch trat, weil wir bei dem sonnigen Wetter in der Bude hockten und uns mit nach draußen schleifte, doch vermutlich war sie es nicht. Seit sie mit Chris zusammen war, hatte sie viel weniger Zeit für uns und war nur noch mit ihm und seinen Geschwistern unterwegs. Laut Noah war dies in einer Beziehung normal, besonders, wenn sie noch so frisch war. Trotzdem hoffnungsvoll ging ich an die Tür und öffnete diese. Wie erwartet, stand dort nicht Samantha, dafür jedoch ein anderes Mädchen bei deren Anblick ich für einen Moment stutzte, dann brachen wir gleichzeitig in Grölen aus und umarmten uns schwankend.
 

„Was machst du da für nen Lärm?!“, kam es aus dem Wohnzimmer. Im nächsten Moment standen Marc und Kaito bei uns und brachen ebenfalls in Jubelschreie aus, als sie unsere Besucherin sahen: Larissa Eichinger. Bis zum Ende der zehnten Klasse hatten wir eine starke Clique in der Schule, zu der auch Larissa gehörte. Als dann alle ihren Realschulabschluss in der Tasche hatten, gingen viele andere Wege und unsere Clique zerbrach an dem fehlenden, täglichen Kontakt. Larissa zog mit ihrer Mutter nach außerhalb von Berlin, weshalb sie auch nicht zu meinen Hauspartys kam. Seit fast einem Jahr hatte ich sie nun nicht mehr gesehen, doch sie hatte sich kaum verändert.
 

Noch immer trug sie ihre Haare in einem pechschwarz, sie waren lang und glatt und ließen ihre Haut noch blasser wirken. Daran waren auch die dunklen Klamotten Schuld, welche sie meistens trug, doch wie immer kleidete sie sich äußerst stilsicher. Heute trug sie eine schwarze Leggins, in der sich viele Risse befanden, darüber ein etwas längeres Shirt, dass unter den Armen ausgeweitet war, sodass man ihren Spitzen-BH erkennen konnte. Ihre tiefbraunen, großen Augen hatte sie im Smokey-Eye-Look geschminkt. Der einzige Unterschied zu damals bestand in einem Septum, das ihre schlanke Nase zierte. Vielleicht hatte sie auch noch mehr Piercings an ihren Ohren, die ohnehin schon zahlreich gepierct waren, doch die langen Haare verdeckten sie.
 

„Tut das gut dich mal wieder zu sehen“, sagte Kaito, der Larissa zuletzt umarmt hatte und jetzt wieder los ließ. „Wie geht’s? Was machst du so? Willst du rein kommen?“

„Alles der Reihe nach“, sagte Larissa, die wie wir, das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekam. „Ihr wisst, dass ich da ein wenig gechillter bin. Lasst mich erst mal ankommen.“

Während sich Kaito, Marc und Larissa im Wohnzimmer nieder ließen, ging ich in der Küche ein paar abgepackte Muffins holen. Ich kannte Larissa noch immer gut genug. Früher hatte sie mir immer meinen Süßigkeitenvorrat aufgegessen, wenn sie bei mir. Wenn ich wusste, dass sie kam, war ich immer extra noch etwas einkaufen und diese Muffins mochte sie besonders. Als sie sie sah, streckte Larissa die Arme in die Luft und klatschte jubelnd in die Hände.
 

„Als hätte ich gewusst, dass du kommst“, grinste ich und stellte ihr die Packung hin, welche sofort angebrochen wurde. Larissa aß einen Muffin und ließ sich erst einmal von uns erzählen, was alles geschehen war. Kaito äußerte seine Bedenken, dass er sein Abitur vielleicht nicht schaffte, Marc erzählte, dass er mir ins Spülbecken gekotzt hatte und ich kam nicht umhin ihr von Lukas zu erzählen. Eigentlich gab es nichts, was in meinem Kopf präsenter wäre als er.

„Gaara hat sich verliebt“, stellte Larissa fest. Sie saß im Schneidersitz zwischen uns und blickte mich eine Spur mitleidig an. „Mir tut es Leid, dass ich nicht dazu in der Lage bin mich zu verlieben, sonst könnte ich dir bei dem Problem besser helfen. Mir fällt dazu ehrlich gesagt nur eine Sache ein: Selbst Schuld.“

„Was heißt denn hier selber Schuld?“, empörte ich mich.

„Ja, was verliebst du dich auch?“, zuckte Larissa die Schultern und die beiden Jungs begannen zu lachen. „Solche Gefühle musst du im Keim ersticken, sonst passiert dir genau das, was dir passiert ist. Nein, jetzt mal ehrlich – hört auf zu lachen, ihr Hohlbirnen, eigentlich ist das gar nicht witzig.“ Sie verpasste Kaito einen sanften Boxer gegen die Schulter und wandte sich wieder mir zu. „Was erwartest du denn noch von ihm? Er hat sich doch entschuldigt.“

„Mir geht es aber nicht um die Entschuldigung, sondern darum, dass er zu sich selbst steht.“

„Soll er zu diesen komischen Mädchen gehen und ihnen sagen, dass er schwul ist?“

„Zum Beispiel!“, nickte ich.

„Also manchmal bist du echt ne Pussy“, sagte Larissa kopfschüttelnd. „Du verhältst dich ja wie ein Mädchen. Wenn dir wirklich so viel an ihm liegt, solltest du noch mal auf ihn zugehen und mit ihm reden. Wenn ich er wäre, hätte ich auch behauptet, dass ich dich nicht liebe. Das war auch ne miese Aktion von dir, so was einfach in den Raum zu stellen. Entweder er verneint es und verliert dich oder er bejaht es und macht sich damit angreifbar. Hast du darüber schon mal nachgedacht?“

„Nein“, gab ich bedrückt zu und fühlte mich plötzlich schuldig.

„Dann hör auf so ein Mädchen zu sein und mach einen Gesprächstermin aus.“ Sie bohrte mir einen ihrer langen, gepflegten Fingernägel in die Brust. „Darauf bestehe ich. Sozusagen als Willkommensgeschenk.“

„Ich hab dich echt vermisst“, gab Kaito zu und umarmte Larissa ein weiteres Mal. „Bei dir sind alle Probleme plötzlich so einfach. Was machst du eigentlich wieder hier?“

„Ich hab jetzt eine eigene, kleine Wohnung und die ist nicht weit von hier entfernt“, erzählte Larissa und grinste. „Sofort mit dem 18. Lebensjahr ausgezogen.“

„Ich dachte du verstehst dich gut mit deiner Mutter?“, wunderte sich Marc.

„Ja, natürlich. Ich bin nur ausgezogen, weil ich in der Nähe eine Ausbildungsstelle habe. Übrigens feiere ich am Samstag eine kleine Einweihungsparty und ihr dürft auch kommen. Sam ist ebenfalls schon eingeladen.“
 

Wir verbrachten den Rest des Tages gemeinsam und gingen sogar raus in der schönen Sonne spazieren. Das Wiedersehen mit Larissa und die Erkenntnis, dass sie wieder in der Stadt war, verbesserten meine Laune erheblich und ich konnte Lukas sogar für einige Momente vergessen. Als ich jedoch spät abends im Bett lag und versuchte ein wenig Schlaf zu bekommen, musste ich nur an ihn denken. Und an Larissas Worte. Ich war mir noch immer nicht darüber im Klaren, ob ich mich auf die Sache einlassen sollte. Egal auf welcher Basis ich Lukas begegnete, selbst wenn wir entschieden nur noch gute Freunde zu sein, ich würde immer mehr für ihn empfinden und das machte mich verletzbar. Wenn er mit jemand anderem eine Beziehung einging, würde mich das verletzen. Wenn wir zusammen kamen und er sich von mir trennte, würde mich das verletzen. So oder so, am Ende wäre ich der gearschte. Wieso musste ich mich auch in ihn verlieben? Es wäre so viel einfacher, wenn er nur eine Fickbeziehung wäre...

Gaara - Alte und neue Freunde Pt. 2

An diesem Samstag hatte ich kaum Lust aus dem Haus zu gehen und bei Larissa eine Party zu feiern. Tagsüber kam ich mit meinen Gefühlen, die man eindeutig als Liebeskummer bezeichnen könnte, noch einigermaßen klar, doch nachts war es kaum auszuhalten. Ständig ging mir nur ein Gedanke durch den Kopf 'Er liebt mich nicht'. Natürlich musste ich an Larissas Worte denken. Bei ihr hatte es so einfach geklungen, aber das war es ganz sicher nicht. Eigentlich hatte ich nie ein Problem damit gehabt von einer Person zu bekommen, was ich wollte. Wollte ich mit jemandem schlafen, wusste ich um die richtigen Worte und Gesten, um denjenigen um den kleinen Finger zu wickeln, aber das mit Lukas war anders. Es ging nicht mehr darum sexuelle Lust zu stillen, sondern um Gefühle. Einen Korb zu bekommen, war katastrophal, wenn man sich in diejenige Person verknallt hatte. Momentan war da noch diese geringe Hoffnung, dass das zwischen Lukas und mir wieder etwas werden könnte, doch wenn ich mit ihm sprach und er mir einen Korb gab, dann war auch diese Hoffnung verschwunden. Zusammenfassend konnte man sagen, dass ich zu viel Angst hatte, um etwas zu unternehmen.
 

Als die Samstagnacht dann anbrach, saß ich eher mies gelaunt zwischen Kaito und Marc in der Straßenbahn. Draußen war es bereits dunkel und wie immer des Nachts zeigte Berlin seine düstere Seite, in der ich mich irgendwie auch Zuhause fühlen konnte. Bevor wir zu Larissa gingen, kauften wir noch etwas Marihuana bei einem Dealer unseres Vertrauens und ich konnte kaum abwarten mich in diese Taubheit versetzen zu lassen, in der ich alles vergessen konnte. Larissa hatte ihre kleine Wohnung in einem Plattenbau. Eine normale Gegend in der Vorzeigefamilien, Studenten und Hartz VI – Empfänger direkt beieinander wohnten. Larissa wohnte im dritten Stock, in einer Dreizimmerwohnung. Auf Zimmerlautstärke lief Musik und die Räume waren erfüllt von dichtem Rauch und dem Geruch von Alkohol und Pizza.
 

Larissa trug ihre schwarzen, glatten Haare zu einem lockeren, hohen Dutt, hatte die Augen im Smokey-Eye-Look geschminkt und trug überraschenderweise eine bunte, lockere Hose, die um ihre Beine schlackerte.

„Hipster“, ging es Marc sofort über die Lippen.

„Aber du“, grinste Larissa und zog an der Wollmütze, die seinen braunen Haarschopf bedeckte. „Kommt, wir sitzen alle in meinem Zimmer.“ Sie brachte uns dorthin und wir mussten feststellen, dass wir die Letzten waren. Von unserer alten Clique waren fast alle anwesend: Samantha, Noah und Schifti saßen nebeneinander und winkten uns zur Begrüßung übertrieben, was alle zum Lachen brachte. Auf dem Boden saß Jan, ein einfacher Typ mit rundem Gesicht und blauen Augen. Nach der zehnten Klasse war er auf ein privates Gymnasium gewechselt. Florian war ebenfalls gekommen, wie immer wurden seine Augen von dunklen Rändern geziert und sein Kopf von einer Kappe bedeckt. Außerdem waren noch zwei Mädchen gekommen, die ich nicht kannte.
 

„Hier die Zwei möchte ich euch vorstellen. Also, hier das ist Annalina.“ Larissa deutete auf das Mädchen, das ganz in der Ecke des Bettes saß. In einer Hand hielt sie eine Zigarette, in der anderen ein Glas mit einem Schluck Whiskey drin. Sie sah nicht besonders aus, hatte ein hübsches, schmales Gesicht, große, braune Augen und lange, braune Haare. Sie war nicht geschminkt und trug einfache Kleidung. In einer Menschenmenge würde sie nicht sonderlich auffallen.

„Und das ist hier ist Sky.“ Nun deutete Larissa auf das zweite Mädchen, das schon einen ganz anderen Eindruck hinterließ. Sky war eine blasse Schönheit mit langen, weißblonden Haaren und hellbraunen Augen. Ich fand, dass sie ein wenig high aussah, was daran lag, dass sie ihre Augen halb geschlossen hatte. Diese waren außerdem im Smokey-Eye-Look, passend zu ihren vollen Lippen, die sie dunkelrot geschminkt hatte. Sie hatte eine Stupsnase und ein rundliches Gesicht, einen ausgeprägten Busen, den man im engen Top gut sehen konnte. Dazu trug sie eine Hotpants und zeigte ihre langen, makellosen Beine, die in etwas höheren Stiefeln steckten, die oben abgeknickt und mit Nieten versehen waren. Ebenfalls waren ihre Schuhe mit Perlen und kleinen Glitzersteinen verziert. In einer Hand hielt sie einen Joint, während sie uns zuwinkte.
 

„Das sind Kaito, Gaara und Marc“, stellte Larissa uns vor. „Den Rest kennt ihr.“

„Bin mir nicht so sicher“, sagte Marc scherzhaft und tat als würde er überlegen. „Dieser komische Kerl mit der Sonnenbrille kommt mir so unbekannt vor.“

„Ach, halt die Klappe!“, maulte Schifti. Wir begrüßten Jan und setzten uns zu ihm auf den Boden.
 

Der Abend verlief sehr entspannt ab. Ich gab mir große Mühe high zu werden, doch das Marihuana wollte nicht richtig reinhauen. Stattdessen bediente ich mich also am Jack Daniels und hatte mir bereits ein Glas halb voll gemacht, als Larissa mich darauf hinwies, dass Annalina die Flasche mitgebracht hatte.

„Frag lieber erst mal um Erlaubnis“, tadelte sie. Annalina hatte mitgehört. Sie kam aus ihrer Ecke gekrochen, setzte sich neben mich auf den Boden, nahm den Jacky und machte mein Glas ganz voll.

„Kannst du das pur trinken?“, fragte sie neckisch.

„Forderst du mich heraus?“, entgegnete ich mit einem Grinsen. „Jacky ist mein Lieblingsgetränk.“

„Jacky ist das Lieblingsgetränk der Verzweifelten“, sagte Annalina und ich wusste nicht ganz, ob sie dies ernst meinte oder nur zum Scherz.

„Du hast die Flasche gekauft. Wenn ich verzweifelt bin, musst du es ebenfalls sein.“ Ich entschied mich dazu auf ihr kleines Spiel einzugehen. Sie versuchte mich kennen zu lernen, ohne es offensichtlich zu machen. Das gefiel mir. Es zeigte, dass sie intelligent war.

„Vielleicht habe ich die Flasche auch nur gekauft, weil Larissa mir sagte, dass ein Jacky – Liebhaber kommen wird.“ Annalina trank ihren letzten Schluck und schüttete sich dann ein wenig Whiskey nach. „Ich trinke meinen Jacky lieber als Shot. Schnell und mit Eis. Leider hat Larissa keins, also muss es so gehen. Ist leider nur der halbe Genuss.“

„Alkohol als Genussmittel“, murmelte ich.

„In deinem Fall wohl nicht“, stellte Annalina fest, während ich einen kräftigen Schluck nahm und der bittere Nachgeschmack meinen Mund erfüllte. Ich war es zu gewohnt, um mich noch zu schütteln oder das Gesicht zu verziehen, weshalb meine Miene gleich blieb. Das brachte Annalina zum Lächeln. „Du trinkst häufig.“

„Und gerne. Ich bin viel allein.“

„Einsamkeit kann einen Menschen in die Verzweiflung treiben“, sagte sie und nippte am Glas. „Du gehörst auch zu Larissas alter Clique, richtig?“

„Ja und woher kennt ihr euch?“

„Larissa macht ja eine Ausbildung zur Mediengestalterin. Sie war bei einem Job dabei, in dem es darum ging ein paar Models zu fotografieren.“

„Du warst eine der Models?“, fragte ich und versuchte meine Überraschung nicht durchklingen zu lassen. Ich wollte Annalina nicht verärgern, aber für mich sah sie nicht nach einem Model aus. Sie hatte einfach nichts an sich, was besonders hervorstechen würde, außer ihrer Intelligenz, doch die zählte beim Modeln nicht.

„Nein, ich mache eine Ausbildung zur Kostümdesignerin und durfte mit dabei sein. Aber Sky war eine der Models. Wir Drei haben uns näher kennengelernt, weil wir fast zwei Stunden lang gemeinsam die Fotos machen sollten. Darauf haben sich unsere Ausbilder geeinigt, dass wir mal ein bisschen Training bekommen. Danach sind wir zusammen Café trinken gegangen und seit dem treffen wir uns häufiger. Eher gesagt, seit dem wir gemerkt haben, dass wir auch die düstere Seite von Berlin lieben.“

„Du hegst also auch Sympathien für diese Seite?“, fragte ich und grinste verwegen. „Manchmal fühle ich mich zwischen dem Graffiti und den Drogen wohler als in unserem Einfamilienhaus.“

„Ich dachte du wärst allein.“

„Ich bin auch alleine in diesem Einfamilienhaus.“
 

Wir plauderten weiter. Obwohl wir dabei viel Jacky tranken und kifften, hörten wir nicht auf auf diesem etwas höheren Level zu bleiben. Anfangs musste ich immer noch viel an Lukas denken und daran, dass ich mich manchmal ebenfalls auf diese Weise mit ihm hatte unterhalten können, doch irgendwann konnte ich ihn in meinem Gedächtnis zurück drängen und nur noch auf unser Gespräch konzentrieren. Glücklicherweise wollte Marc mal kein Trinkspiel veranstalten. Stattdessen wurde mehr gekifft als getrunken. Larissa besaß eine eigene Bong, von der jeder ein paar Mal zog und wir waren uns alle einig, dass wir dringend mal wieder gutes Gras aus Holland gebrauchen könnten. Marc und Schifti hatten als einzige von uns den Führerschein, doch weder der eine noch der andere besaß ein eigenes Auto oder war dazu bereit die Spritkosten zu tragen, weshalb unser Wunsch vorerst nur ein Wunsch blieb.
 

Im Laufe der Nacht tauschten Annalina und ich Telefonnummern. Als Samantha unbedingt frische Luft schnappen wollte, entschieden wir uns dazu alle gemeinsam durch die Stadt zu laufen. Larissa erzählte, dass es in der Nähe einen Spielplatz gab, zu dem wir sogleich aufbrachen. Ich merkte nun doch etwas vom Marihuana und Alkohol, fühlte mich ein wenig wie in Watte gepackt und schummrig, aber es war keinesfalls unangenehm. Samantha und Larissa liefen vorne weg, Schifti und Marc rannten ihnen hinterher, während Florian und Jan weit hinter uns miteinander plauderten. Sky und Annalina schlenderten beide mit einer Zigarette in der Hand nicht unweit von Kaito und mir entfernt. Wir beobachteten die Mädchen, wie sie sich etwas erzählten und gemeinsam lachten.
 

„Die ist der Hammer“, sagte Kaito leise und voller Erstaunen. „Die ist einfach der Hammer.“

„Du meinst Sky“, stellte ich fest.

„Ja, sie sieht klasse aus. Solche Mädchen, die so aussehen, sind meistens arrogant und denken nur an Fingernägel lackieren und Party machen, aber sie ist total tief. Ich meine, sie ist so... sie ist ruhig, bescheiden und sie zeichnet für ein Tattoostudio. Sie erzählt nüchtern und wirkt etwas verträumt, aber irgendwie ist das niedlich. Ach scheiße noch mal!“

„Du stehst auf sie.“ Ich musste grinsen. „Versuch bloß den Kontakt zu halten.“

„Ich habe ihr erzählt, dass ich unbedingt Tattoos haben will und auch ungefähr weiß, wie sie aussehen sollen, aber sie nicht selbst zeichnen möchte. Es wäre seltsam meine eigenen Zeichnungen auf den Armen zu haben“, erzählte Kaito. „Normalerweise verstehen die Leute nicht, wo das mein Problem liegt, aber sie versteht es und hat vorgeschlagen, dass sie versuchen könnte meine Tattoos zu zeichnen. Wir wollen uns dafür Mittwoch treffen.“

„Ist doch super! Annalina ist auch nicht so übel. Ich könnte mich echt mit ihr anfreunden...“

„Aber nicht mehr“, sagte Kaito in einem beinahe harten Tonfall. „Du kehrst Lukas nicht jetzt schon unter den Teppich. Das mit euch Beiden ist noch nicht vorbei.“

„Ich könnte nicht jetzt schon was mit wem anders anfangen.“ Meine Stimmung wurde augenblicklich wieder düster, dabei hatte ich mich endlich mal wieder einigermaßen gut gefühlt.
 

Am Spielplatz angelangt, legten wir uns ins Gras und betrachteten die wenigen Sterne, die sich zwischen den Wolken zeigten. In der Großstadt war der Nachthimmel leider nicht so schön anzusehen, wie in Gebieten in denen keine Industrie die Luft verpestete, trotzdem hatte es etwas Tolles an sich mit den alten Freunden (und den beiden Mädels) hier zu sein.

„Wir sollten öfter so rum chillen anstatt immer zu feiern“, sagte ich als wir eine Zeit lang nur schweigend dort gelegen hatten. Allgemeine Zustimmung erklang von den Anderen.

„Ab sofort jedes Wochenende Chillerparty bei Larissa“, entschied Marc.

„Vergiss es“, kam es von dem Mädchen sogleich empört. Wir begannen zu lachen.

„Ihr wisst, dass meine Türen jederzeit offen stehen“, sagte ich und wandte mich zu Samantha, die gleich neben mir lag. „Auch für dich, Sam. Lass dich mal wieder öfter bei mir blicken.“

„Ja, ich weiß“, seufzte sie. „Ich hänge zu viel mit meinem Freund ab. Ich versuche mich zu bessern. Ich habe ja bereits gehört, dass Bambi und du Scheiße gebaut haben.“

„Und ich habe noch keine Standpauke erhalten?“, fragte ich verwirrt.

„Die hast du schon von Larissa bekommen. Meine Standpauke bekommt Bambi.“ Sam zwinkerte mir zu und ich konnte mir ein dankbares Lächeln nicht verkneifen. Eigentlich war das ein Problem unter Lukas und mir, doch ich hatte nichts dagegen, dass unsere Freunde sich einschalteten. Vielleicht würde Sam das Ganze richten und uns wieder miteinander verkuppeln. Im Streit schlichten war sie eine wahre Meisterin.
 

„Stehen deine Türen für jeden offen?“, hörte ich Annalinas Stimme fragen.

„Für jeden den ich leiden kann“, antwortete ich darauf.

„Darf ich mich eingeschlossen oder ausgeschlossen fühlen?“, fragte sie in einem neckischen Tonfall.

„Eingeschlossen.“ Und schon habe ich sie an der Angel. Aber was sollte ich mit ihr an der Angel? Kaito hatte Recht, ich durfte Lukas noch nicht aufgeben...

Lukas - Zurück in der Schule Pt. 1

Gegen Ende jeder Ferien nahm ich mir fest vor meinen Schlafrhythmus in den Griff zu bekommen bevor ich wieder morgens um halb sieben aufstehen musste, doch jedes Mal versagte ich in diesem Vorhaben. So auch gegen Ende dieser Sommerferien. Hinzu kam noch meine Panik vor dem ersten Schultag. Ich hatte Gaara das letzte Mal auf seiner Party gesehen, als wir im Streit auseinander gegangen waren und wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte, ihn jetzt wieder zu sehen. In meinem Kopf spukten sämtliche Szenarien wie der nächste Tag ablaufen könnte, was daraus hinaus lief, dass ich in dieser Nacht gar nicht schlief. Vollkommen übermüdet und gleichzeitig nervös, machte ich mich morgens also für die Schule fertig. Gemeinsam mit meiner jüngeren Schwester Alex verließ ich das Haus, wir fuhren mit derselben Straßenbahn in Richtung Schulzentrum.
 

„Du hast nicht mehr mit Gaara gesprochen, oder?“, fragte Alex, die mich von der Seite her beobachtete, während ich mir nervös auf der Unterlippe kaute und meine braunen Augen beobachteten, wie die Fassaden von Berlin an uns vorbei zogen. Für den ersten Schultag hatte sich Alex, meiner Meinung nach, zu sehr raus geputzt. Ihre herbstbraunen, lange Haare glänzten im Licht der Morgensonne, die bereits warm durch die Fenster der Bahn herein fielen. Ihre glatten Beine wurden nur von einer Hotpants gekleidet, auf ihrem Oberteil war eine Sonnenblume abgebildet und das Top war so locker, dass es ein wenig ihres flachen Bauches zeigte.

„Hmm“, machte ich als Antwort auf ihre Frage nur.

„Scheiße, ihn jetzt wieder zu sehen“, stellte Alex fest. „Aber daran bist du selbst Schuld, wenn du nicht versuchst, das Ganze zu klären.“

„Ich habe versucht es zu klären“, meinte ich trotzig. „Aber er lässt nicht mit sich reden. Eigentlich geht dich das auch gar nichts an.“

„Ach was.“ Alex prustete empört. „Wenn ich wieder was mit nem Kerl habe, willst du auch alles wissen, was zwischen uns passiert. Obwohl... du würdest dich noch freuen, wenn wir uns streiten und trennen.“

„Zu aller erst einmal, waren Gaara und ich nie zusammen“, sagte ich und spürte, wie mir diese Worte Schmerz bereiteten. Aber es stimmte, offiziell waren wir nie ein Paar, deswegen konnte ich mich auch nicht darüber beschweren, dass er sich von mir getrennt hatte. „Und zweitens, bin ich älter als du. Du bist gerade mal 15 Jahre alt, da darf man noch keinen Freund haben.“

„Das wirst mir auch noch in zwei Jahren sagen“, seufzte Alex und verdrehte die Augen.

„Stimmt, weil ich dein älterer Bruder bin. Ich darf das!“ Ich betonte die letzten drei Worte so, dass es Alex zum Lachen brachte. Auch mir zuckte ein stummes Lächeln über die vollen Lippen.
 

Wir stiegen an derselben Haltestelle aus, gingen dann jedoch in zwei unterschiedliche Richtungen davon. Alex traf sofort ein paar ihrer neuen Freundinnen, die alle ähnlich aussahen wie sie, mit kurzer Kleidung und viel zu jungen Gesichtern. Schwermütig seufzend beobachtete ich wie sie gemeinsam schnatternd und lachend davon gingen, dann wandte ich mich um und musste abrupt stehen bleiben. Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich nur wenige Zentimeter vor mir das äußerst wütende Gesicht von Samantha sah.
 

„Das steht dir nicht“, ging es mir über die Lippen. „So wütend zu sein...“ Ich griff mit meinen Fingern an ihre Mundwinkel und zog sie ein wenig nach oben, sodass ein etwas schiefes Lächeln entstand, das jedoch ihren finsteren Blick nicht erreichte. Ihre langen, hellbraunen Haare trug sie heute zu einem voluminösen Pferdeschwanz. Durch die warme Sonne des Sommers war ihre Haut noch gebräunter als sonst, passend zu ihren braunen, großen Augen, die durch die langen Wimpern noch größer wirkten. Sam trug ein luftiges Oberteil und darunter eine helle Hotpants zu schwarzen, einfachen Schuhen. Sie kleidete sich immer lieber etwas sportlich. Schnippisch schlug sie mir die Hände weg und griff mit einer Hand an mein Ohr. Sie zog daran und ich beugte mich mit dem Zug ein wenig nach unten.
 

„Aua!“, beschwerte ich mich. „Warum machst du das?“

„Ich habe euch den Rest der Ferien Zeit gegeben“, sagte Sam tadelnd. „Das war mehr als genug Zeit, um euren dummen Streit wieder auf die Reihe zu bekommen und, was habt ihr gemacht? Gar nichts! Gaara hat rum geheult und Noah hat mir erzählt, dass du auch rum geheult hast. Wieso tut ihr euch nicht zusammen und heult gemeinsam rum? Und, wenn ihr damit fertig seid, vögelt ihr euch gegenseitig das Hirn raus, dann braucht ihr auch nicht mehr über solche dummen Streits nach zu denken und könnt für den Rest eures Lebens miteinander dumm und glücklich sein. Na, wie klingt das?“

„Gut?“, fragte ich verwirrt und unsicher. „Bitte, lass mein Ohr los.“

Sie ließ los und ich rieb es mir schmollend. Sam seufzte schwer und strich mit ihren zarten Fingern ein paar meiner hellbraunen Strähnen aus meinem Gesicht.

„Du lässt dir die Haare wieder zu lang wachsen“, sagte sie in einem nicht mehr ganz so wütenden Tonfall. „Wie am Anfang, als ich dich kennen gelernt habe, da hast du dein Pony wie ein Schleier vor deinen Augen getragen, damit niemand sieht, wie verletzt du bist. Mach das nicht noch mal. Versteck dich nicht vor uns.“

„Ich versuch's“, murmelte ich. „Aber Sam, das mit Gaara ist nicht so einfach. Hat er dir erzählt, wie der Streit gelaufen ist?“

„Ich habe alles, was ich weiß, von Noah erfahren“, sagte Sam und lächelte etwas schief, als ich schwer seufzend die Augen verdrehte. „Du kennst ihn doch, er kann nichts für sich selbst behalten.“

„Er ist so eine Tratschtante, das ist furchtbar.“

„Ich weiß. Aber das hast du doch schon öfter mit erlebt, er kann nichts für sich behalten.“ Sam hakte sich bei mir unter und gemeinsam betraten wir den Weg zur Schule mit vielen anderen Schülern, die um uns herum gingen, sich begrüßten und gegenseitig von ihren Ferien erzählten.
 

„Ich versuche dir und Gaara zu helfen“, sagte Sam, während wir den Weg entlang schlenderten. „Aber vorher muss ich wissen, wie wichtig dir die Beziehung zu ihm ist. Reicht es dir nur mit ihm befreundet zu sein oder willst du mehr? Bist du nur sexuell an ihm interessiert oder sind da stärkere Gefühle im Spiel? Ich muss wissen auf was ihr Beide hinaus seid. Von Gaara weiß ich es schon, ich kenne ihn lange und gut genug, um zu wissen, wie er fühlt. Aber wie sieht es bei dir aus?“

„Wie fühlt Gaara denn?“, schoss mir die Frage hervor, doch Sam schüttelte nur lächelnd den Kopf.

„Das verrätst du mir nicht“, stellte ich seufzend fest. „Naja, also...“

Meinen Gefühlen gegenüber Gaara war ich mir definitiv bewusst. Ich wusste ganz genau, was ich von ihm wollte. Meine Neugierde, was er fühlte, was ziemlich groß, doch ich verkniff es mir zu versuchen es aus Samantha heraus zu quetschen. Sie war nicht wie Noah, sie behielt Geheimnisse für sich. Darum konnte ich mich ihr auch anvertrauen.
 

„Eigentlich müsste Noah es dir doch erzählt haben“, sagte ich.

„Nein, du hast niemandem jemals erzählt, was du gegenüber Gaara fühlst. Nur, dass es dich fertig macht, mit ihm im Streit zu sein.“ Für einige Momente kehrte Stille ein. Sie bogen um eine Ecke und vor ihnen erstreckte sich das riesige, zweigeteilte Schulgebäude, vor dem wie immer aus riesiges Chaos herrschte. Eltern brachte ihre Kinder zur Schule, ältere Schüler suchten in ihren Autos nach Parkplätzen, größere und kleinere Gruppen hatten sich über dem gesamten Gelände versammelten, Lachen und Gespräche erfüllten die sommerliche Luft.

„Bist du in ihn verknallt?“, fragte Sam schließlich.

„Ja“, antwortete ich. „Ziemlich.“ Ich spürte wie meine Wangen sich ein wenig rot verfärbten. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie Sam schmunzelte.
 

Noch immer miteinander verhakt, gingen wir die Treppen zum Eingang hoch und mit jedem Schritt fiel mir das Gehen etwas schwerer und mein Herz pochte heftiger. Ich rief mir die Erinnerungen an mein letztes Schuljahr zurück, als ich jeden Tag Mobbingattacken aushalten musste und ebenfalls kaum die Treppen hoch kam. Das war schlimmer gewesen, mich jeden Tag so demütigen und beleidigen zu lassen, diesmal musste ich nur einer Person gegenüber treten und die würde mich nicht mobben. Auch, wenn dieses gegenüber treten, schmerzen würde. Am besten tat ich erst mal so, als wäre nichts geschehen... nein, das ging auch nicht. Ich konnte mich unmöglich auf dieselbe Weise mit Gaara unterhalten wie vor diesem Streit, dann blieb mir nur übrig ihn entweder direkt anzusprechen oder zu ignorieren. Beides war schwierig, beides wollte ich nicht machen.
 

Direkt vor dem Eingang blieb ich schlagartig stehen und schluckte hart. Ich spürte wie Sam mir ermutigend über die Schulter strich.

„Keine Angst“, sagte sie. „Ich lasse mein Bambi nicht alleine im Wald.“

„Hast du einen Plan?“

„Ja, habe ich. Bevor wir alle in die Turnhalle gehen und unsere Stundenpläne und die alljährliche Predigt von Frau Beyl-Schüller abholen, setzen wir uns mit Gaara zusammen und reden mit ihm“, offenbarte Sam ihren Plan.

„Hmm“, kommentierte ich mit verzweifeltem Unterton.

„Wir werden den Streit wohl kaum jetzt klären können“, gab Sam zu. „Aber wenigstens mal aushandeln, wie ihr Zwei in nächster Zeit miteinander umspringt. Vielleicht klärt der Streit sich mit der Zeit von alleine.“

„Das wäre super“, gestand ich. Sam musste ein wenig an mir ziehen, damit ich mit ihr ins Schulgebäude ging. Bis zur Versammlung in der Turnhalle hatten wir nicht mehr allzu viel Zeit, weshalb wir sofort in die Gemeinschaftsräume der Oberstufe steuerten. Ab sofort waren wir im Gemeinschaftsraum der 12. Klassenstufe, in der ein reges Durcheinander herrschte. Man konnte deutlich erkennen, dass die Schüler seit der elften Klasse weniger geworden waren, doch von denen, mit denen ich am meisten zu tun hatte, war niemand bisher abgegangen. Schifti mimte in einer Ecke den Entertainer und erzählte lauthals von Partys und dem Festival in den Sommerferien. Florian und Kiaro, die unzertrennlichen und doch so unterschiedlichen, saßen in der anderen Ecke und unterhielten sich miteinander. Neben Kiaros Sessel stand seine geliebte Gitarre, die er so gerne mit in die Schule nahm, um in den Pausen und Freistunden ein wenig zu spielen. Und relativ mittig im Raum, auf zwei Couchs, die sich direkt gegenüberstanden, saß meine eigentliche Clique.
 

Kaito sah ungewöhnlich gut ausgeschlafen aus, seine Haut war mal ausnahmsweise nicht ganz so blass wie sonst und seine braunen Haare waren gewachsen. Hinter einem Ohr klemmte eine Zigarette, er trug ein einfaches Top, das die Ansätze seiner schlanken Brustmuskeln zeigte und darüber ein dünne Stoffjacke, die er an den Ärmeln hochgekrempelt hatte und die hinten eine Kapuze hatte. Gerade lachte er über etwas, das Noah erzählte. Am Ende der Sommerferien war es Noah immer besser gegangen und seine depressive Phase schien vorerst überwunden, obwohl ich jetzt schon wusste, dass sie wieder zurück kommen würde. So war das nun mal leider mit Depressionen. Heute trug Noah eine helle, lockere Jeans, die an den Knien aufgerissen war und darüber ein enges T-Shirt auf dem mit bunten Buchstaben der Name von irgendeiner Band stand, die kein Mensch kannte. Sein blasses Gesicht war geziert mit Sommersprossen, noch immer fand ich, dass Noah süß aussah. Für einen Jungen war er wirklich niedlich mit der Stupsnase und den riesigen, blauen Augen. Seine Haare waren kurz und blond. Und natürlich war Gaara ebenfalls dabei. Er saß gleich neben Kaito und war gerade damit beschäftigt Zigaretten zu drehen. Lässig lehnte er in der Couch, die Beine auf dem flachen Tisch zwischen ihnen hochgelegt. Er trug eine enge, schwarze Jeans und darüber ein einfaches Shirt. Ich liebte diese Jeans an ihm, ich fand darin sahen seine Beine am Besten aus... und sein Hintern auch, wenn ich das mal so zugeben darf. Wie immer fielen ihm seine braunen Haare verwegen auf die Stirn, darunter lugten grau-grüne Augen hervor und seine blassen Lippen wurden von einem frechen Grinsen geziert. Er sah so gut aus, dass ich ihn dafür gerne geschlagen hätte. Nein, am liebsten würde ich ihn küssen und mich einfach wieder mit ihm vertragen, aber das musste man sich auch erst einmal trauen.
 

Sam musste mich schieben und ziehen, dass ich mit ihr mit kam. Vollkommen verunsichert setzte ich mich neben Noah, Sam setzte sich neben mich und die besten Freunde Gaara und Kaito saßen uns gegenüber. Mit einem Schlag war die heitere Stimmung zwischen den Dreien wie verstorben und einige Sekunden peinlichster Stille kehrten ein. Dann platzte Samantha los.

„Nein, so wird es die nächsten Tage und Wochen nicht aussehen!“, sagte sie säuerlich. „Ich will nicht, dass wir uns gegenseitig anschweigen und ich will nicht, dass wir uns trennen, damit wir uns nicht anschweigen. Oder, dass sich einer ausklinkt, verstanden? Wir sind eine Clique – ein Team – und wir finden jetzt eine Lösung für dieses Problem.“

„Das ist aber nicht unser Problem“, ergriff Kaito das Wort. „Wenn die Zwei es nicht auf die Reihe kriegen, miteinander zu sprechen -“

„- müssen wir sie eben dazu zwingen“, beendete Sam den Satz. Ich gab mir große Mühe Gaara nicht anzuschauen, obwohl ich seinen Blick deutlich auf mir spüren konnte. Es bereitete mir eine Gänsehaut, von der ich nicht ganz wusste, ob sie mir angenehm war oder nicht.
 

Um uns herum begannen bereits die Ersten in die Turnhalle aufzubrechen. Nervös rieb ich meine Hände aneinander, starrte einen unbestimmten Punkt auf der Tischplatte an, während Sam anfing Vorschläge zu machen, wie wir weiter vorgehen sollten. Alle waren nicht so das Wahre. Ich war ihr dankbar dafür, dass sie sich Mühe gab, unsere Clique aufrecht zu erhalten, aber Fakt war, dass Gaara und ich nicht mehr normal miteinander umgehen konnten. Ich traute mich kaum ihn anzuschauen und ich konnte ihm ansehen, dass er sauer auf mich war. Wenn ich Eins und Eins zusammen zählte, gab es vorübergehend nur eine Lösung...
 

Abrupt stand ich auf, sodass Sam verstummte und die Blicke der Vieren auf mir lagen.

„Danke, dass du dir die Mühe machst“, sagte ich an Sam gewandt. „Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich euch vorerst aus dem Weg gehe. Oder zumindest...“ Ich schaffte es Gaara anzuschauen, unsere Blicke trafen sich und ich hoffte, er konnte mir nicht ansehen, wie verletzt ich war und wie schwerfällig mein Herz gerade gegen meine Rippen schlug. „Oder zumindest dir.“

Und mit den Worten brach ich ebenfalls zur Turnhalle auf.

„Ach Lukas“, hörte ich Noah noch seufzen und Sam meckerte Gaara an, ob er nun zufrieden wäre. Ich verließ den Gemeinschaftsraum und ging mit der Menschenmenge zum jährlichen Empfang durch unsere Stufenleiterin Frau Beyl-Schüller.

Lukas - Zurück in der Schule Pt. 2

Ehe ich mich versah, steckte ich bereits in der dritten Schulwoche und mittendrin in den Aufgaben. Unsere Geschichtslehrerin hielt uns Predigten, dass der Unterrichtsstoff in unserer Abi-Klausur in der 13 dran kommen würde und in Ethik hatte ich bereits ein Referat gehalten. Wie ich es hasste, Referate zu halten. Seit ich die Stufe gewechselt hatte und nicht mehr vor den kichernden Idioten sprechen musste, die mich noch für jedes Wort auslachten, war es etwas besser geworden, doch ich hasste es immer noch mich vor alle Schüler zu stellen und zehn Minuten lang zu sprechen. Und mit Gaara im Klassenraum war es nur noch schlimmer. Mehr denn je fiel mir auf, wie viel Unterricht ich eigentlich mit ihm hatte. Vor den Sommerferien saßen wir immer zusammen. Als ich zu ihnen in die Stufe gewechselt war, hatte er sogar Schifti kurzerhand einen anderen Platz zu gewiesen, damit ich bei ihm sitzen konnte. Jetzt saßen wir in jedem Unterricht, den wir zusammen hatten, so weit voneinander entfernt wie nur möglich. Vor wenigen Wochen hätte ich noch nicht gedacht, dass ich um die Fächer glücklich wäre, die wir nicht zusammen hatten.
 

Gerade hielten wir die letzten Minuten Deutsch Leistungskurs aus, in dem ich zwischen Kaito und Noah in der vorletzten Reihe saß. Während unsere Lehrerin vorne verzweifelt versuchte die Aufmerksamkeit der Klasse aufrecht zu erhalten, war mir Kaito angeregt und im Flüsterton von einem Mädchen namens Sky am Erzählen. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen zeigte er mir von ihr ein Foto auf seinem Handy, bei dem sie eine ihrer blonden Strähnen über die Lippe gelegt hatte, als wäre sie ein Schnurrbart. Ihre Lippen waren knallrot geschminkt, ihr Gesicht rundlich mit einer Stupsnase.

„Die ist ziemlich hübsch“, flüsterte ich Kaito zu.

„Ja, Mann. Die ist der Hammer. Sie sieht gut aus, hat einen klasse Körper, sie ist kreativ und talentiert und, wenn man sie erst mal richtig kennen lernt, hat sie auch Humor.“

„Klingt als hättest du dich verliebt“, stellte ich fest. Noah, der auf der anderen Seite neben mir saß, hörte nur mit einem halben Ohr zu und schrieb währenddessen ein wenig vom Unterricht mit.

„Ich fürchte schon.“ Kaito grinste verlegen, fuhr sich mit einer Hand durch seinen braunen, kurzen Haare und betrachtete das Bild auf seinen Handy. „Scheiße.“ Er schüttelte den Kopf und bekam das Grinsen nicht mehr von den Lippen. „Scheiße, Mann.“

„Oh je.“ Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.

„Ich kenne sie jetzt sein ungefähr einem Monat und wir sind schon so kurz davor zusammen zu kommen. Ich wäre der glücklichste Mensch dieser Welt.“

„Das freut mich für dich, ehrlich“, sagte ich.
 

Laut erklang das Klingeln der Schulglocke und sofort begannen alle ihre Sachen zusammen zu packen, während die Lehrerin uns daraufhin wies, dass wir bis zur nächsten Stunde die neue Lektüre haben sollten, damit wir anfangen konnten damit zu arbeiten. Fluchs verstaute ich meine Sachen in die Tasche, warf mir diese über den Rücken und verließ mit Noah und Kaito das Klassenzimmer. Plaudernd schlenderten wir über den Gang in Richtung des nächsten Unterrichts. Gerade als wir um die Ecke bogen, spürte ich, wie mich jemand an der Schulter anstieß. Ich wurde zur Seite gerissen und mein Ordner fiel mir fast aus der Hand. Überrascht wandte ich mich demjenigen zu, der mich angerempelt hatte und sagte: „Entschuldigung!“

„Nicht angenommen! Was fällt dir ein mich anzurempeln?“ Einen Moment stutzte ich, dann erkannte ich, dass es sich bei dem Schüler um Michael handelte. Einer der fünf Idioten, die mich während meines ersten halben Jahres, als ich noch in der parallelen Klassenstufe gewesen war, jeden Tag gemobbt hatten. Ich spürte wie mir das Herz heftiger in der Brust schlug, schnell senkte ich mein Gesicht, sodass mir die langen Strähnen meines Ponys in die Augen fielen. Michael machte einen Schritt auf mich zu und schlug mir den Ordner aus der Hand.

„Bist du bescheuert?!“ Kaito ging dazwischen und stieß Michael so heftig weg, dass dieser gegen die Wand krachte. Im nächsten Moment waren Hendrik und Marvin um ihn herum, die nächsten beiden Idioten, die Kaito mit vereinten Kräften von Michael weg zerrten. Heftig riss sich Kaito von ihnen los, sein Gesicht war wütend verzerrt, dass es mir beinahe Angst machte.

„Lasst Lukas gefälligst in Ruhe“, zischte Kaito. „Er hat euch nichts getan.“

„Das ist ne Sache zwischen uns und Lukas.“ Michael ging zu mir herüber, legte einen Arm um meine Schulter und drückte mich kumpelhaft an sich. „Oder nicht? Unsere kleine Schwuchtel hier. Wir wussten gar nicht, dass du auf Schwänze stehst? Würdest du mir einen kleinen Freundschaftsdienst ableisten und an meinen Eiern lutschen?“

„Du widerlicher -“ Diesmal war es Noah, der Kaito davon abhielt auf Michael los zu gehen. Dafür musste er nur die Hand heben und schon schluckte der Russe seine Beleidigungen herunter und atmete tief durch.

„Lukas, komm.“ Noah streckte die Hand nach mir aus und ich ergriff sie. Michael hielt mich nicht davon ab, als ich mich aus seinem Griff heraus wand. Fest drückte Noah meine Hand, als wollte er mir sagen, dass ich keine Angst zu haben brauche.

„Ist das dein Freund?“, erkundigte sich Hendrik mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen, diesem Lächeln bei dem ich mich immer wie der letzte Dreck fühlte. Mein Mund klappte auf und ich wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht was und selbst wenn, hätte ich wahrscheinlich ohnehin keine Worte über meine Lippen bekommen. Stattdessen neigte ich den Blick zu Boden und ging mit Noah, der meine Hand fest hielt bis wir beim nächsten Raum anlangten.
 

Kaum, da wir drin waren und unsere Plätze eingenommen hatten, begann Kaito auf russisch zu fluchen. So laut, dass es der halbe Mathekurs mit bekam.

„Was ist denn passiert?“, fragte Schifti. Gemeinsam mit ihm und Samantha belegten wir die letzte Reihe. Der hoch gewachsene, junge Mann mit dem flachen Gesicht saß direkt neben Kaito und hatte das Kinn auf einer Hand abgestützt.

„Nichts“, antwortete ich leise.

„Also, Kaito flucht nicht häufig wegen nichts“, sagte Schifti und Sam seufzte: „Bambi, du bist ein schlechter Lügner.“

Und, da Noah dabei gewesen und eine Tratschtante war, dauerte es keine Sekunde bis er ihnen alles genau erzählte. Als er endete, betrat der Lehrer den Klassenraum bevor Sam ihrer Wut Ausdruck geben konnte. Zähneknirschend wartete sie ab, bis sie ihre Aufgaben verteilt bekamen und sich in der Klasse ein dumpfes Gemurmel erhob. Wie immer halfen sich alle gegenseitig bei ihren stündlichen Aufgaben und der Lehrer war ständig damit beschäftigt irgendwem etwas zu erklären, weshalb er Sams gedämpften Wutausbruch nicht mitbekam.
 

„Die mach ich fertig“, zischte sie. „Was fällt denen ein?“

„Wieso hast du nichts gemacht, Lukas?“, fragte Schifti.

„Weil -“ Ich stockte und rang nach Worten. „Ich bin halt nicht... ich bin nicht gut in so etwas. Ich kann mich nicht verteidigen... ich weiß nie, was ich sagen soll... ich bin einfach nicht... ich bin nicht schlagfertig.“

„Ich auch nicht“, sagte Kaito. „Bei so etwas raste ich einfach aus.“

„Aber du bist stark.“ Ich packte meine Sachen aus, um etwas zu tun zu haben und den Anderen nicht in die Augen schauen zu können. „Du hast Michael einfach gegen die Wand gestoßen, das würde ich gar nicht schaffen. Ich bin körperlich nicht stark und verbal auch nicht, ich bin einfach... ein...“ Ich bin das geborene Opfer. Das hatte ich mir immer während des ersten halben Jahres auf dieser Schule gedacht. Ich wehrte mich nicht, beschwerte mich nicht bei einem Lehrer oder meiner Mutter, ich ließ alles über mich ergehen und versank dann Zuhause im Selbstmitleid. Und warum, konnte ich mir selbst nicht erklären. Meine Ausreden waren, dass ich niemanden damit belasten wollte, dass die Idioten mich nur noch mehr mobben würde, würde ich es jemanden verraten, dass es einfacher wäre, wenn ich versuchte sie zu ignorieren. Aber das änderte nichts daran, dass das Mobbing geschmerzt hatte. So bescheuert die meisten ihrer Sprüche auch gewesen waren.
 

„Ist ja auch nicht weiter wichtig“, sagte Samantha. „Wenn so etwas noch mal passiert, musst du mal was gegen sie sagen. Du musst ja keinen coolen Spruch klopfen oder dich mit ihnen prügeln, sag einfach, dass sie dich in Ruhe lassen sollen.“

„Was soll das bringen?“, murmelte ich verbittert.

„Wenn sie merken, dass du so etwas nicht mit dir machen lässt, hören sie auf“, erklärte Sam als wenn es so einfach wäre.

„Ich glaube dieser Zug ist für mich abgefahren“, sagte ich. „Damit komme ich ungefähr ein Jahr zu spät.“

Sie wusste, dass ich Recht hatte und das schien sie nur noch wütender zu machen. Die Anderen fingen an zu überlegen, was man gegen die Idioten zu könnte, bis ich sie darum bat, es einfach auf sich beruhen zu lassen. Mal abgesehen von der unglücklichen Begegnung beim Festival, war dies das erste Mal seit einem halben Jahr, dass sie etwas gegen mich gesagt hatten, weshalb es so schnell vermutlich nicht wieder passieren würde. Widerwillig hörten sie also auf darüber zu diskutieren, stattdessen widmeten wir uns den Mathematikaufgaben. Mal wieder bewies der Kurs, dass er der schlechteste Mathematik Grundkurs war, der jemals existiert hatte und existieren würde. Als zum fünften Mal eine falsche Lösung zu ein und derselben Aufgabe vorgetragen wurde, riss bei unserem Lehrer der Geduldsfaden.
 

„Es kann doch nicht möglich sein, dass ihr so oft die falsche Lösung heraus habt. Wie kann man denn so viele falsche Rechenwege finden?“ Er seufzte genervt und blickte zu mir. „Lukas, tu mir den Gefallen und rette mich.“ Und mal wieder blieb es an mir hängen, der Klasse Rechenweg und Lösung zu erklären.
 

In der Mittagspause entschied ich mich dazu zu Kiaro und Florian zu gehen, die auf dem Schulhof etwas weiter entfernt von der Raucherecke waren. Auf einer hölzernen Bank, der einige Schüler die Lehne abgerissen hatten, saß Kiaro im Schneidersitz und klimperte auf seiner Gitarre. Florian hatte seine dünne Stoffjacke wie eine Decke auf dem Boden ausgebreitet, lag mit dem Rücken darauf, die Füße auf der Bank abgelegt und las in seiner Englischlektüre.

„Kann ich mich zu euch setzen?“, fragte ich.

„Klar“, sagten die Beiden wie aus einem Mund und ich ließ mich gleich neben Kiaro nieder. Tasche und Ordner stellte ich auf dem Boden ab.

„Seit wann bist du nicht mehr bei den Anderen in der Raucherecke?“, fragte Kiaro und hörte auf zu spielen. Er trug lockere Klamotten, seine Haare waren schulterlange, hellbraune Dreads und sein Gesicht länglich und gebräunt. Florian sah im Gegensatz normal aus, mit kurzen, braunen Haaren, die er unter einer Kappe versteckte und einer blassen Haut. Unter seinen Augen waren wie immer dunkle Ringe zu erkennen.
 

Mein Blick glitt herüber zur Raucherecke, wo alle anderen versammelt waren. Es schmerzte zuzusehen wie Noah etwas Lustiges erzählte und alle zum Lachen brachte, während Schifti mit Sam herum alberte. Aber am Schlimmste war es Gaara zu sehen. Natürlich war er am Rauchen. Ich war nur ein Partyraucher und auch erst dann, wenn ich schon etwas getrunken hatte, doch Gaara rauchte ständig. Eigentlich mochte ich das gar nicht an ihm, doch es hatte etwas Attraktives an sich wie er dort stand, eine Hand lässig in der Hosentasche und den Rauch spitz ausblies. Wir hatten kein Wort mehr miteinander gewechselt. Wir ignorierten uns und ich konnte nicht einmal erklären, warum. Meiner Meinung nach hatte ich alles getan, was in meiner Macht stand, Gaara war es nicht genug, doch er wollte mir auch nicht sagen, was ich noch mehr machen sollte. Ich wusste, dass es ihm schwer fiel über seine Gefühle zu sprechen und vielleicht war das unser größtes Problem bei diesem bescheuerten Streit. Wir konnten nicht normal miteinander sprechen, weil Gaara nicht über seine Gefühle sprach und ich ihm gegenüber nicht zugeben wollte, was ich wirklich für ihn empfand.
 

„Ich wollte heute mal nicht den Rauch einatmen“, log ich zu Kiaro gewandt. „Ihr seid auch nicht immer in der Raucherecke.“

„Wegen dem.“ Kiaro deutete auf Florian, der die Lektüre ein wenig zur Seite schob, um ihm einen düsteren Blick zu schenken. „Flo kann sich nicht konzentrieren, wenn so ein Chaos um ihn herum herrscht.“

„Meine Noten letztes Jahr waren nicht gerade prickelnd“, sagte Florian. „Ich muss mich mehr anstrengen, wenn ich mein Abi schaffen will.“

„Naja... ich komponiere momentan ein eigenes Lied“, erzählte Kiaro mir.

„Ach echt?“, fragte ich überrascht.

„Ja, es geht ziemlich ins Reggae und es ist auch nur die Melodie auf der Gitarre. Ich kann nämlich nicht singen und bin auch nicht gerade gut darin eigene Songtexte zu schreiben... willst du es mal hören?“

„Klar, gerne!“
 

Und ich lauschte Kiaros Lied, als mir in den Sinn kam, dass das erste Halbjahr in der Elf in Grausamkeit nur dadurch übertroffen werden konnte, wenn zum Mobbing der Liebeskummer hinzu kam.

Gaara - Veränderungen Pt. 1

Summend ertönte die elektronische Nadel, fuhr mit Präzision über Kaitos blassen Oberarm und formte schwarze, geschwungene Linien. In seinen haselnussbraunen Augen erkannte man den Schmerz, doch er ließ sich weiter nichts anmerken. Als er von der Nadel zu Sky und mir aufblickte, änderte sich sein Blick ins Genervte.

„Habt ihr nichts Besseres zu tun?“, fragte er. Sky und ich wechselten kurze Blicke, ehe wir mit einem Lächeln auf den Lippen antworteten: „Nö, nicht wirklich.“
 

Das Tattoostudio gehörte nicht zu den Größten Berlins. Der Tätowierer war ein stämmiger, kleiner Kerl mit zahlreichen Tattoos und Piercings und einem dichten, grauen Bart, der ihm über das markante Kinn ragte. Dafür hatte er kein einziges Haar auf dem Kopf, welcher eine glatte Fläche bot. Er trug Fingerlose Lederhandschuhe und arbeitete äußerst konzentriert. Immer nur dann, wenn er die Nadel absetzte, um über das bisherige Tattoo mit einem Tuch zu wischen, sprach er. Sky und ich saßen nicht weit entfernt auf einer schmalen Bank und naschten Gummibärchen, während wir zuschauten, wie Kaito versuchte so zu tun als hätte er keine Schmerzen. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er vor Sky damit angeben wollte, doch ich war mir relativ sicher, dass man mit so etwas Frauen nicht beeindrucken konnte. Auch heute sah Sky wieder absolut hübsch aus. Ihre Lippen waren blutrot, ihre Augen schwarz und ihre weißblonden Haare fielen ihr wie ein Wasserfall über die schmalen Schultern. Sie trug ein enges Top, darüber eine lockere Weste mit Ansteckern und zerfetzten, aufgenähten Mustern. Ihre schönen Beine konnte man dank einer schwarzen Hotpants aus Kunstleder ebenfalls bestaunen. Daneben musste ich aussehen wie eine graue Ente.
 

Seit fast zwei Wochen hatte ich nichts mehr zum Kiffen gehabt und das Verlangen nach dem Geschmack und dem Gefühl wurde immer größer. Mit normalen Zigaretten versuchte ich es zu kompensieren, was darauf hinaus lief, dass ich jeden Tag so viel rauchte, dass ich abends das Gefühl hatte meine Lungen wären gestorben. Normalerweise hielt ich Phasen in denen meine Dealer an kein Gras mehr heran kamen, besser aus. Kaito und Marc waren sich ziemlich sicher, dass ich solche Probleme aufgrund von Liebeskummer hatte. Mittlerweile war zu viel Zeit vergangen, als dass ich mit Lukas einfach wieder umgehen könnte wie zuvor. Ihn jeden Tag in der Schule zu sehen, setzte mir mehr zu als ich zugeben wollte und zum Einschlafen brauchte ich Ewigkeiten, weil meine Gedanken mich wach hielten.
 

Vor wenigen Tagen hatten Sam und Larissa Vorschläge gemacht, wie ich ein Gespräch mit Lukas anfangen könnte. Eins, das darauf hinaus lief, dass wir unseren Streit aus der Welt schafften, doch sie waren zu keinem richtigen Schluss gekommen, weil sie nicht mehr genau wussten, warum wir uns eigentlich nicht miteinander vertrugen. Leider erging es mir ähnlich. Mittlerweile hatte ich nur noch das Gefühl, dass wir eine Sache kompliziert machten, die doch eigentlich einfach war und ich wusste, dass ich mit Lukas darüber reden musste, wenn ich ihn nicht komplett verlieren wollte. Wenn ich wollte, dass er wieder bei uns in den Pausen stand und sich nicht zu anderen Klassenkameraden verdrückte, weil er es in meiner Nähe nicht aushielt. Doch bisher hatte ich keinen passenden Zeitpunkt gefunden. Ich konnte nicht einfach so über ihn herfallen, der Moment musste stimmen und das hatte er bisher noch nicht getan. Das würde aber noch kommen...
 

Um wieder darauf zurück zu kommen, dass ich neben Sky aussah wie ein Penner: Dies lag nicht nur daran, dass ihre blasse Schönheit den Raum erhellte, sondern auch daran, dass ich kränklich und übermüdet aussah. Um die Nase herum war ich blass, unter meinen Augen befanden sich schwarze Schimmer von zu wenig Schlaf und meine Zunge fühlte sich an wie Pappe, woran das viele Rauchen Schuld war. Dass ich jetzt Gummibärchen aß, machte die Sache nicht gerade besser.

„Wir haben es gleich geschafft“, sagte der Tätowierer gerade. Er hatte sich uns vorgestellt, doch ich hatte seinen Namen schon wieder vergessen. Er hatte auch schon Sky ein Tattoo gestochen: Ein Skorpion ziemlich nahe an ihrem Schambereich. So nahe, dass sie ihn mir nicht zeigen wollte.

„Okay, klasse“, sagte Kaito und lugte auf seinen Oberarm.

„Hast du schon Pläne für das nächste Tattoo?“, fragte der Mann und lachte bei Kaitos verwirrtem Gesichtsausdruck.

„Woher weißt du, dass ich noch eins will?“

„Ich kenne das doch selbst. Du lässt dir eins stechen und dann kannst du damit nicht mehr aufhören. Fast wie mit Drogen.“ Er lachte und stach dann weiter. Kaito lächelte mich schief an, doch ich konnte es nur mit einem Mundwinkelzucken erwidern. Lustig, dass er bei Kaito ausgerechnet den Vergleich mit den Drogen gewählt hatte... obwohl er wirklich lange nichts mehr genommen hatte. Abgesehen von Gras und Alkohol natürlich, doch das zählte nicht. Wichtig war, dass er mit dem koksen aufhörte und das hatte er nun schon seit Monaten. Vielleicht hatte er es endlich geschafft.
 

Seltsamerweise freute ich mich darüber nicht so sehr wie ich es sollte und ich freute mich auch nicht so sehr darüber, dass Kaito und Sky so gut wie zusammen waren. Oder, dass Larissa eine Ausbildung hatte, bei der sie ständig auf Achse war, irgendwo hin fuhr, manchmal sogar mit Übernachtungen, ins Ausland oder zumindest in einen anderen Teil Deutschlands. Natürlich war das super. Eine solche Ausbildung passte zu ihr und machte sie auch glücklich, aber... Kaito übernachtete immer häufiger bei Sky, was zur Folge hatte, dass er immer weniger bei mir übernachtete. Und, wenn ich alleine war, fiel mir das Einschlafen nur noch schwerer. Eigentlich fiel mir alles schwerer, wenn ich alleine war. Sam hatte Chris und Noah brauchte viel Privatsphäre, außerdem traf er sich ständig mit Hannah und Lukas. Wenn ich mich darüber bei Marc beschweren würde, würde er mich nur auslachen. Er wohnte nur zwei Häuser weiter, warum sollte er also bei mir übernachten? Und Larissa hatte keine Zeit für mich. So langsam wurde ich immer einsamer.
 

„Das war's.“ Der Tätowierer setzte die Nadel endgültig ab und Kaito durfte sich endlich wieder bewegen. Erfreut klatschte Sky in die Hände.

„Zeig schon her!“ Kaito stand vom Stuhl auf und präsentierte uns sein erstes Tattoo. Es war noch gereizt, sah jedoch trotzdem ziemlich gut aus: Eine Friedenstaube, die eine Handgranate in den Krallen hatte, die Flügel ausgestreckt als würde sie fliegen. Es bedeckte einen Großteil von Kaitos linken Oberarm und war komplett in Schwarz und Grau gehalten.

„Willst du es irgendwann noch kolorieren?“, fragte Sky.

„Mal sehen“, antwortete Kaito. „Vielleicht, wenn ich mich entscheide, ob ich einen Sleeve haben will oder nicht.“

„Also, ich fände es scharf“, gestand Sky mit einem schüchternem Blick.

„Das ist ja schon mal ein Strich auf der Pro-Sleeve-Liste.“ Kaito grinste ihr zu, ehe er mich anblickte und fragte, wie ich denn das Tattoo fand.

„Ziemlich geil“, antwortete ich.

„Und was hältst du von einem Sleeve?“

„Hmm“, machte ich und überdachte meine Worte genau, ehe ich sie aussprach. „An sich finde ich, sehen Sleeves echt gut aus, wenn denn die Muster zueinander passen und alles einen schönen Übergang hat. Aber, mit so einem riesigen Tattoo ist es später schwierig... wenn du einen Job -“

„Ach Gaara!“, beschwerten sich Kaito und Sky gleichzeitig und begannen zu lachen.

„Von so etwas kann man sich doch nicht aufhalten lassen“, zwinkerte mir Sky zu und Kaito klopfte mir auf die Schultern.
 

Danach waren wir ziemlich schnell aus dem Studio draußen und fuhren mir der S-Bahn zurück zu mir. Kaito trug ein lockeres Top, auf dem sich ein wildes Muster befand und sein Tattoo schien mit einer Art Frischhaltefolie abgewickelt zu sein, damit kein Dreck in die noch offenen Wunden geriet und sich alles entzündete. Bei mir im Garten stellten wir auf der hölzernen Terrasse einen Tisch auf, gemeinsam mit drei Sitzsäcken und, während ich die Shisha vorbereitete, begannen Kaito und Sky zu kuscheln. Eher gesagt lagen ihre Sitzsäcke direkt beieinander, sodass sie sich quer legen und ihren Kopf in seinen Schoß betten konnte. Mit einer Hand strich Kaito ihr durch die weißblonden Haare und sie sahen so süß und glücklich aus, dass ich am liebsten geweint hätte. Oder gekotzt. Oder Beides. Und dann hätte ich noch mal gekotzt, weil ich so ein schlechter Mensch war, dass ich mich nicht einmal für meinen besten Freund freuen konnte, nur, weil es bei mir momentan nicht so super lief. Ich hasse mich.
 

„Ich brauche so dringend Gras“, entfuhr es mir als ich anfing die Shisha zu rauchen und im Schneidersitz auf meinem Sitzsack saß.

„Du solltest versuchen anders damit klar zu kommen“, sagte Kaito. „Du rauchst echt zu viel in letzter Zeit.“

„Hältst du mir gerade ne Drogenpredigt?!“, fragte ich eine Spur zu scharf.

„Kein Grund direkt so angepisst zu sein“, murrte Kaito.

„Nicht streiten“, sagte Sky und ihre Stimme klang wie verschleiert. Das tat sie häufig. „Nur, weil Kaito in der Vergangenheit Fehler gemacht hat, heißt das noch lange nicht, dass du sie nicht auch machen kannst. Und gerade, weil er sie gemacht hat, kann er dich auf deine hinweisen.“ Nach dieser Weisheit kehrten ein paar Sekunden der Stille ein, dann fuhr Sky fort: „Kaito hat mir erzählt, dass du gerne Gitarre spielst.“

„Habe ich schon lange nicht mehr gemacht“, meinte ich Schulterzuckend und zog kräftig den Rauch ein. Das Wasser in der Shisha blubberte und die Kohle glühte, dann reichte ich den Schlauch rüber zu Sky und blies weiße Wolken aus.

„Wieso fängst du nicht wieder damit an?“, fragte sie und ließ Kaito zuerst ziehen. „Lieder einzustudieren verbraucht viel Zeit, die du ansonsten mit rauchen verbringen würdest.“

„Das ist gar keine miese Idee“, stimmte Kaito zu, der sich in weißen Nebel gehüllt hatte. „Du könntest auch wieder in dieser Musikschule mitmachen.“

„Hast du in einer Musikschule Gitarre spielen gelernt?“, erkundigte sich Sky interessiert.

„Nein“, antwortete ich. „Ich war in einer Musikschule Lehrer.“

So plauderten wir noch eine ganze Weile, bis die Sonne langsam hinter den Häuserdächern verschwand und Berlin in ein beinahe rötliches Licht tauchte. Bis dahin war unsere Kohle schon längst verglüht und die Shisha kalt. Gemeinsam wuschen wir sie noch aus, ehe Kaito und Sky mich verließen und ich mich mit einer Zigarette wieder auf die Terrasse setzte. Gedankenversunken beobachtete ich den Sonnenuntergang, rauchte eine Zigarette nach der Anderen, bis sich meine Lungen wieder hart anfühlten und ich hustend die Letzte in der Hälfte ausdrücken musste. Im Garten nebenan hörte ich Kinder spielen, nur waren die Holzzäune, die die Gärten voneinander trennten zu hoch, als dass ich sie hätte sehen können. Kaum, da die Dunkelheit über uns eingebrochen war, erklang die Stimme der Mutter.
 

„Es ist dunkel, kommt schnell rein!“

„Noch fünf Minuten, Mama, bitte...“

„Ich dachte wir wollen uns den Film mit dem Polarexpress anschauen?“, fragte die Mutter beinahe neckisch. „Na, dann schaue ich ihn halt ganz alleine.“

„Nein!“, riefen die beiden Kinder im Chor und begannen lachend zu schreien. Ich konnte auch ihre Mutter lachen hören, bis sie im Haus verschwanden und die Tür zum Garten zu fiel. Danach umfing mich Stille und ich fühlte mich so einsam, wie schon lange nicht mehr. Einsamkeit war ein seltsames Gefühl. Es schien als wäre man ausgehöhlt und hilflos, doch im Herzen pochte ein erdrückender Schmerz. Manchmal schien er das Herz zusammen zu pressen, mal schien er es von innen zerreißen zu wollen. Seit der Sache mit Lukas war das Gefühl der Einsamkeit viel schlimmer geworden und dann hatten meine Freunde auch noch alle irgendetwas zu tun und keine Zeit jedes Wochenende bei mir rum zu hängen. Als ich das Gefühl nicht mehr aushielt, stand ich auf und ging ins Haus zurück, um meine Gitarre zu holen.
 

Verstaubt stand sie im hintersten Eck meines Zimmers. Ich musste sie erst einmal in der Küche sauber machen, ehe ich mich damit zurück auf die Terrasse setzen konnte. Ein Ton gespielt, reichte, um zu wissen, dass sie total verstimmt war. Es dauerte zwanzig Minuten bis ich alles richtig eingestellt hatte, denn ich arbeitete ohne Stimmgerät. Früher war mein Gehör wohl feiner gewesen oder ich war einfach aus der Übung, nur nach dem Klang die Gitarre richtig einzustimmen. Als ich endlich fertig war, klimperte ich zuerst nur ein wenig, bis ich irgendwann anfing ein richtiges Lied zu spielen. Nach wenigen Minuten hatte ich die Melodie gefunden und begann sogar zu singen.
 

The world was on fire and no-one could save me but you

It's strange what desire will make foolish people do

I'd never dreamed that I'd meet somebody like you

And I'd never dreamed that I'd lose somebody like you
 

No, I don't wanna fall in love

With You
 

What a wicked game to play, to make me feel this way

What a wicked thing to do, to let me dream of you

What a wicked thing to say, you never felt this way

What a wicked thing to do, to make me dream of you
 

In Gedanken war ich bei Lukas.
 

__
 

Übersetzung:
 

Die Welt hat gebrannt und niemand konnte mich retten außer dir

Es ist seltsam, was Verlangen dumme Menschen machen lässt

Ich habe niemals davon geträumt jemanden wie dich zu treffen

Und ich habe niemals davon geträumt jemanden wie dich zu verlieren
 

Nein, ich möchte mich nicht in dich verlieben
 

Was für ein gemeines Spiel, mich so fühlen zu lassen

Was für eine Gemeinheit, mich von dir träumen zu lassen

Was für eine Gemeinheit zu sagen, du hättest niemals so gefühlt

Was für eine Gemeinheit, mich von dir träumen zu lassen

Gaara - Veränderungen Pt. 2

In den letzten Jahren hatte sich in der Musikschule nichts geändert. Abseits vom Zentrum der Stadt lag dieses Gebäude, welches von außen wie ein normales Einfamilienhaus aussah, nur mit dem Unterschied, dass auf den Fenstern Bilder von Instrumenten geklebt waren. Nur die Silhouetten waren zu erkennen, ebenso wie Noten und andere Symbole, die etwas mit Musik zu tun hatten. Unsicher trat ich bis an die Eingangstür, auf der ein silbernes Schild mit den Öffnungszeiten befestigt war. Einen Moment lang verharrte ich und überlegte mir genau, ob ich dies nun tun sollte. Heute war wieder ein furchtbarer Tag gewesen, obwohl ich in letzter Zeit nur furchtbare Tage hatte, vollkommen egal, was passierte. Aber heute war es besonders schlimm gewesen, denn heute war Freitag. Normale Schüler freuten sich auf das Wochenende, aber ich war kein normaler Schüler. Ich kam nicht nach Hause zu einer Mutter, die mit dem Mittagessen wartete und ich hatte auch keinen Beziehungspartner, der über das Wochenende bei mir einzog und jetzt hatte ich auch keine Freunde mehr, die Zeit für mich hatten. In der Schule hatte ich so unauffällig wie möglich angemerkt, dass ich gerne wieder eine Party schmeißen würde, aber ausnahmslos jeder hatte mir abgesagt – außer Schifti. Aber mit dem wollte ich nicht unbedingt alleine sein. In der Schule war er ein lustiger Gefährte und auf jeder Party der Entertainer schlechthin, aber wir würden uns schon bald nicht mehr gut miteinander verstehen, wenn er mein depressives Ich kennen lernen würde.
 

Es war mir auch zu privat, um es mit jemandem zu teilen, den ich eigentlich nicht richtig kannte. Mit der Aussicht auf ein erneutes einsames Wochenende, ging ich in die erdrückende Stille meines Haus und hätte am liebsten die Tapeten abgerissen, die Möbel in Stücke geschlagen und schreiend gegen die Wände getrommelt. Doch ich schluckte diese aufkochende Wut herunter und verkroch mich für einige Stunden unter meine Bettdecke. Mein Kopf dröhnte und mein Hals fühlte sich geschwollen an. Als ich schon dachte, dass ich zu allem Überfluss auch noch krank werden würde, spürte ich, dass sich eine Träne ihren Weg über meine Wange bahnte. Meine Reaktion darauf war, erst mal in ein Kissen zu schreien bis mein Hals schmerzte, danach griff ich zu meinem Handy und wollte tatsächlich meine Mutter anrufen. Meine Mutter! Diesen idiotischen Einfall verwarf ich sofort, suchte stattdessen nach der Nummer meines Vaters, mit dem ich öfter Kontakt hatte und stellte fest, dass er ein neues Profilbild in WhatsApp hatte. Ich klickte drauf und das Erste, was mir den Kopf schoss, war: So sieht mein Vater aus?
 

Da wusste ich, dass auch mein Vater keine geeignete Lösung für mein Problem war. Stattdessen fiel mir wieder ein, was Sky und Kaito letztes Wochenende vorgeschlagen hatten. Es war gar keine schlechte Idee. Wenn man sich in die Musikschule richtig reinhing, konnte man dort extrem viel Zeit tot schlagen und man hatte immer jemanden um sich. Ich ging sofort los und nun stand ich hier und überdachte meine Entscheidung, obwohl es eigentlich nichts daran auszusetzen gab... außer, wenn der Leiter der Schule immer noch sauer auf mich war, was ich mir jedoch nicht vorstellen konnte. Schließlich überredete ich mich dazu, es wenigstens zu versuchen. Seufzend legte ich die Hand an die Klinke und öffnete die Tür.
 

Auch innen sah sie immer noch so aus wie ich sie in Erinnerung hatte. Als Erstes gelangte man in einen großen Raum, in dem sich auf der einen Seite eine Theke befand und auf der anderen allerhand Musikinstrumente, die an den Wänden hingen. Ich konnte mich erinnern, dass der Leiter der Musikschule, Herr Kemp, immer davon gesprochen hatte, dass man diese Instrumente neu sortieren und aufhängen sollte, da der Anblick ein ziemliches Chaos bot, doch nie hatte sich jemand hinter diese Arbeit geklemmt. Und bis heute schien dies auch niemand getan zu haben. Ein Schmunzeln zuckte über meine Lippen. Manche Dinge änderten sich einfach nie. Hinter der Theke saß ein junges Mädchen, das ich nicht kannte. Sie konnte nicht älter als 16 Jahre sein. Ihre lockigen, blonde Haare waren zu einem Zopf zusammen gebunden. Ihr Gesicht war recht adrett, nur hatte sie die pubertären Pickel mit so viel Puder überschminkt, dass man es deutlich erkennen konnte. Sie trug lockere Klamotten und ein nervöser Ausdruck huschte über ihr Gesicht als ich mich an sie wandte.
 

„Ehm... ehm“, machte sie überfordert ehe ich auch nur den Mund aufmachen konnte. „Wie kann ich dir – Ihnen – meine ich – ehm – behilflich sein?“ Sie stand von ihrem Bürostuhl auf und warf dabei einen Stapel Blätter zu Boden. Bei dem Mädchen musste es sich um eine Aushilfskraft handeln. Die Musikschule war streng genommen in zwei Teile geteilt, die jedoch beide von Herr Kemp geleitet wurden. Zum einen gab es die Schule an sich, die sich im hinteren Teil des Gebäudes befand, mit der Möglichkeit auch im Hintergarten zu üben und zum Anderen gab es den Laden, der sich im vorderen Teil befand. Hier wurden Instrumente und andere Musik-Utensilien verkauft, aber auch repariert, wobei Herr Kemp dies häufig kostenlos tat, wenn es sich um keinen größeren Aufwand handelte, wie z.B. Saiten auf eine Gitarre neu beziehen. Dann berechnete er nur die Saite und nicht die Reparatur.
 

Herr Kemp hatte immer viel Spaß an seiner Arbeit, doch leider verdiente er nicht allzu viel, weshalb all seine Arbeitskräfte nur Aushilfen waren. Dieses Mädchen musste neu sein, denn zum einen kannte ich sie nicht und zum Anderen war sie die menschlich gewordene Nervosität.

„Bitte duze mich“, sagte ich, legte die Arme auf der Theke ab und warf heimlich einen Blick dahinter. Hektisch sammelte das Mädchen die Blätter ein, die sie herunter geworden hatte. Rote Flecken bildeten sich vor Scham auf ihrem schlanken Hals, den sie mit einer Beste Freunde – Kette zierte. Diese Ketten, die meistens Herzen waren und man in zwei Teile teilen konnte, sodass die eine beste Freundin den einen Teil und die Andere den anderen Teil trug.

„Du kannst mir tatsächlich helfen“, sagte ich. Ihr Schreibtisch war das reinste Chaos und sie machte sich auch nicht die Mühe die Blätter sofort zu sortieren, sondern warf sie nur in das Chaos hinein und blickte mich dann wieder durchatmend an. „Ich würde gerne zu Herr Kemp.“

„Er gibt gerade Unterricht“, sagte das Mädchen und blickte auf die tickende Uhr, die hinter ihr an der Wand hing. „Obwohl er gleich fertig sein sollte... ehm... wie lange ging noch mal der Nachmittagsunterricht... oder war das ein Privatkunde? Ich... ehm...“

„Du bist ziemlich chaotisch“, stellte ich fest und musste lachen, als sie daraufhin dunkelrot anlief. Sie würde sich super mit Lukas verstehen... Autsch. Warum genau musste ich schon wieder an den Kerl denken? Das Lachen verblasste von meinen Lippen.
 

„Ja, ich bin...“ Das Mädchen räusperte sich. „Ich schaue mal gerade nach Herr Kemp...“

Noch immer dunkelrot auf den Wangen kam sie hinter der Theke hervor und betrat den Flur, an dessen Ende sich eine Tür zur eigentlichen Musikschule befand. Ich beobachtete wie sie dahinter verschwand, dann verbrachte ich meine Wartezeit damit die Instrumente zu inspizieren, die an der Wand hingen. Noch immer hing dort dasselbe E-Gitarren-Modell, das ich schon früher unbedingt haben wollte. Mittlerweile musste es davon schon einige Neuerungen und verbesserte Formate geben, doch mein Musikerherz schlug jedes Mal höher, wenn ich dieses sah. Diese E-Gitarre war leicht zu handhaben und ihr klang war nicht ganz so metallisch, sondern eher melodisch, wenn man den Verstärker richtig einstellte.
 

Es dauerte nicht lange bis die Tür wieder aufging und das blonde Mädchen in Begleitung von Herr Kemp und einer Schülerin zurück kam. Auf den ersten Blick kam mir die Schülerin bekannt vor, auf den Zweiten erkannte ich Annalina, die ich in den Sommerferien bei Larissa kennen gelernt hatte. Sie schaute mich nicht weniger überrascht an als ich sie.

„Dich kenne ich doch“, entfuhr es ihr und sie begann zu grinsen. Das Lächeln stand ihr. Ihre schlichte, braunen Haare trug sie zu einem hohen Pferdeschwanz, während ein gerade geschnittenes Pony auf ihre Stirn fiel. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie dieses noch nicht in den Ferien hatte.

„Du hast dir die Haare geschnitten“, stellte ich fest und merkte noch im selben Moment, dass das eine dämliche Begrüßung war, nachdem wir uns wochenlang nicht mehr gesehen hatten.

„Ja, das habe ich“, nickte Annalina. Auf ihrem Rücken trug sie eine Gitarre, die sich in einer Stoffumkleidung befand, damit sie keinen Schaden nahm. Sie trug eine schlichte Röhrenjeans und dazu schwarze Turnschuhe, die schon etwas vertreten aussahen.

„Sieht gut aus“, merkte ich an. „Gefällt mir besser als ohne Pony.“

„Na dann, von dir muss ich leider sagen, dass du nicht so gut aussiehst.“ Annalina verzog ein wenig den Mund, behielt jedoch das angesetzte Lächeln auf den Lippen. „Du wirkst ein bisschen krank.“

Krank vor Liebe.

„Kann gut sein, ich fühle mich nicht so fit.“ Das war nur zur Hälfte gelogen. „Ich wusste nicht, dass du Musik machst.“

„Das wusste ich auch nicht von dir oder warum bist du hier?“

„Ja, warum bist du hier?“, schaltete sich nun Herr Kemp dazwischen. Auch er sah noch immer so aus wie ich ihn in Erinnerung hatte, nur ein wenig älter. Seine Haare waren grau und weiß und sahen ziemlich zerzaust aus, sein markanter Kiefer wurde von einem ebenso farblosen Bart geziert, während auf seiner Hakennase eine quadratische Brille saß. Wie schon früher trug er ein einfaches Hemd, heute in pechschwarz.
 

„Bist du hier, um mir noch einmal in den Rücken zu fallen?“, erkundigte sich Herr Kemp schnippisch.

Das kann doch nicht wahr sein, dass der alte Knacker immer noch wütend auf mich ist.

„Das ist schon Jahre her, Opa“, grummelte ich.

„Opa?“, fragten Annalina und das blonde Mädchen, das wieder hinter der Theke saß, gleichzeitig überrascht.

„Er ist nicht wirklich mein Opa“, erklärte ich sofort. „Ich nenne ihn nur so, weil er so alt ist.“

„So alt bin ich gar nicht!“, empörte sich Herr Kemp.

„Für mich schon!“

Manche Dinge änderten sich nie und, dass wir Beide uns stritten, würde sich wohl auch nie ändern. Eigentlich mochte ich den alten Knacker und ich war mir auch sicher, dass er mich immer gemocht hatte, trotzdem diskutierten wir wegen jedem Kram. Vermutlich war dies früher immer so gewesen, weil ich ein schwieriges Kind war. Als ich noch klein war, hatte ich hier angefangen Gitarre zu spielen, weil meine Eltern es für eine gute Idee hielten. Doch mit Herr Kemp hatte ich mich überhaupt nicht verstanden, weil er mir immer vorschrieb, welche Lieder ich spielen sollte, außerdem versuchte er mir krampfhaft das Notenlesen beizubringen, etwas, was ich bis heute nicht beherrschte. Stattdessen hörte ich die Lieder, suchte mir die Töne nach dem Gehör auf der Gitarre und fand die Melodie auf meine eigene Weise. Herr Kemp erklärte mir, dass das ein selten gegebenes Talent wäre und man daraus viel machen könnte, trotzdem versuchte er mir die Lieder weiterhin vorzuschreiben. Da ich jedoch keine Lust auf seine Lieder hatte, weigerte ich mich strikt etwas von ihm zu lernen.
 

Irgendwann gab ich nach und erlernte eines seiner langweiligen Lieder. Bei der Aufführungen, spielte ich dann jedoch stattdessen ein ACDC – Medley, was der alte Knacker überhaupt nicht lustig fand. Danach durfte ich eine ganze Weile lang nicht mehr auftreten...
 

„Aber jetzt mal ernsthaft, Gaara, was um alles in der Welt willst du hier?“, fragte Herr Kemp und verschränkte die Arme vor der Brust. Grummelnd schob ich das Kinn vor. Da war mal wieder etwas in mir, was mich in solchen Situationen immer dazu brachte das Falsche zu tun: Mein verdammter Stolz. Wenn ich hier wieder anfangen wollte zu spielen, musste ich mich für damals entschuldigen. Da gab es keinen Weg dran vorbei.

„Also...“ Ich räusperte mich. Annalina und die Chaotin blickten mich gespannt und noch immer recht verwirrt an, während Herr Kemp erwartungsvoll eine Augenbraue hob. „Erst einmal... wegen damals... die Sache mit dem nationalen Wettbewerb, also... dafür gibt es eine logische Erklärung... aber erst mal... ehm...“ Leise nuschelte ich: „Entschuldigung.“

„Wie war das?“, fragte Herr Kemp und beugte sich etwas vor.

„Beschaff dir ein Hörgerät, Opa“, murmelte ich.

„Nein, das hast du nicht gesagt. Ich glaube das war etwas, was ein paar Jahre zu spät kommt.“

„Ich sag dir, dafür gibt es eine Erklärung“, behauptete ich trotzig. „Du hast nie gefragt.“

„Doch habe ich“, entgegnete Herr Kemp. „Ich habe mir sogar Sorgen um dich gemacht, aber du hast vorgezogen mich zu ignorieren und einfach nicht mehr aufzutauchen, ohne ernsthaft zu kündigen.“

„Was ist hier los?“, fragte die Chaotin, die ein wenig verloren hinter der großen Theke aussah.

„Charlenne, das ist Gaara“, stellte Herr Kemp mich vor. „Er war einer der talentiertesten Schüler, die ich je hatte und ebenfalls ein sehr guter Lehrer. Und gleichzeitig war er unglaublich anstrengend gewesen. Alles lief einigermaßen gut bis zum nationalen Wettbewerb, an dem er gemeinsam mit unserem Orchester teilnehmen sollten. Aus irgendeinem Grund entschied sich Gaara, einfach nicht aufzutauchen. Damals dachte ich, ihm wäre etwas zugestoßen, ein Unfall oder ähnliches. Schließlich erfuhr ich, dass er einfach keine Lust darauf hatte. Danach hat er sich nie wieder gemeldet.“

„Dafür gibt es eine ordentliche Erklärung!“
 

Die gab es tatsächlich: Meine Mutter. Einige Monate vor dem nationalen Wettbewerb hatte sie mir verboten weiterhin zur Musikschule zu gehen, weil ich dort zu viel Zeit verbringen und sich dies auf meine Noten auswirken würde. Ich hatte ihr versprochen aufzuhören, war jedoch weiterhin heimlich in der Musikschule aufgetaucht. Ausgerechnet in der Woche, in der der wohl wichtigste Wettbewerb für die Schule gewesen war, kam sie wieder nach Hause. Und wie immer, wenn sie Zuhause war, wollte sie, dass ich jede freie Minute mit ihr verbrachte. Damals wollte ich das ebenfalls noch, weil ich noch der Meinung gewesen war, wenn sie nur genug Zeit mit mir verbrachte, würde sie mich genug lieben, um nicht mehr ins Ausland zu reisen. Dieser kindliche Glauben existierte mittlerweile nicht mehr. Ich hatte es Herr Kemp nie erklärt, weil es mir immer unangenehm gewesen war über meine Eltern zu reden. Besonders früher log ich mich lieber dumm und dämlich als die Wahrheit über sie zu verraten, obwohl sie – vergleichsweise mit Kaito zum Beispiel – schlimmer sein könnte.
 

„Ich will keine Erklärung mehr hören“, sagte Herr Kemp. „Sag mir einfach, warum du her gekommen bist. Bestimmt nicht, um dich zu entschuldigen.“

„Eigentlich wollte ich fragen, ob ich...“ Zögerlich kaute ich auf der Innenseite meiner Wange, ehe ich sie wieder los ließ und schwer seufzte. „Vergiss es, Alter, am Ende sagst du eh Nein.“

„Wenn du mich 'Alter' und 'Opa' nennst, fange ich wieder an dich 'Göre' und 'Balg' zu nennen. Darauf kannst du dich verlassen“, sagte Herr Kemp säuerlich. „Komm morgen um 17 Uhr noch mal vorbei, da werde ich Zeit für den Vertrag haben und wir können uns gemeinsam den Dienstplan anschauen.“

„Hä?“

„Du willst doch hier wieder arbeiten, oder?!“

„Jaa...“

„Ja, dann ist doch alles klar.“
 

In meinem Kopf ratterte es noch eine Weile bis ich endlich verstand, dass mich Herr Kemp tatsächlich wieder in der Musikschule aufgenommen hatte. Nachdem der Start so misslungen war, hätte ich dies nicht erwartet.

„Solltest du unsere Gruppe aber noch einmal so hängen lassen, fliegst du für immer raus“, fügte Herr Kemp noch hinzu, doch ich konnte mir das breite Grinsen im Gesicht nicht mehr verkneifen.

„Geht klar!“

„Charlenne, wir haben einen neuen Mitarbeiter“, sagte der Knacker an das Mädchen gewandt, als hätte sie dies nicht selbst mitbekommen. „Drucke bitte noch den Arbeitsvertrag aus bevor du gleich Feierabend machst.“

„Ja, mache ich sofort!“ Sie wandte sich an den Computerbildschirm, der gleich neben ihr stand und warf dabei erneut die Blätter herunter, die sie schon zuvor hatte aufsammeln müssen. Scharlachrot im Gesicht beugte sie sich herunter, um sie aufzuheben.
 

Annalina und ich verabschiedeten uns gemeinsam von den Beiden und verließen die Musikschule. Warm fiel das Sonnenlicht auf unsere Gesichter, während wir nebeneinander her den Weg zur S-Bahn entlang schlenderten.

„Sowie du mit Herr Kemp umspringst, könnte man glatt meinen ihr würdet zur selben Familie gehören“, sagte Annalina mit einem Lachen. „Das hat mich schon ein wenig geschockt, muss ich sagen. Aber warum bist du damals nicht aufgetaucht?“

„Das ist eine etwas längere Geschichte, glaube ich“, antwortete ich.

„Also ich habe Zeit“, sagte Annalina und seufzte schwerfällig. „Leider habe ich Zeit.“

„Warum leider?“

„Na, mir wäre es lieber, ich hätte was vor. Es ist Freitag und niemand hat Zeit für mich. Wir haben gestern in der Firma einen wichtigen Auftrag zu Ende gebracht, für den wir wochenlang durch gearbeitet haben, weshalb unsere Chefin allen für heute freigegeben hat, damit wir mal ein ganzes Wochenende durchatmen können. Wenn man aber jeden Tag so viel zu tun hatte und dann plötzlich gar nichts mehr, fühlt man sich ein wenig verloren, muss ich gestehen.“
 

Soweit ich mich erinnerte, machte Annalina eine Ausbildung zur Kostümdesignerin. Larissa, Sky und sie hatten sich gemeinsam bei demselben Auftrag kennen gelernt. Mir fiel auf, dass ich über diesen Beruf so gut wie gar nichts wusste.

„Mir geht’s genauso“, gestand ich. „Mit Aussicht auf ein komplettes Wochenende ohne Freunde, die haben alle keine Zeit.“

„Mies.“

„Mies“, stimmte ich zu. Für ein paar Sekunde kehrte Stille zwischen uns ein, dann lachte Annalina ein wenig und sagte: „Ich bin davon ausgegangen, wir wären nicht so verkrampft, was neue Leute kennen lernen angeht.“

„Dachte ich“, grinste ich.

„Dann frage ich einfach mal: Gehen wir heute zusammen was trinken? Es gibt da eine Kneipe, in der man gut einen trinken gehen kann. Dort läuft nur gute Rockmusik, aber nicht allzu laut, sodass man sich gut unterhalten kann. Jede Menge Ecken um sich zurück ziehen zu können und man darf überall rauchen. Ich gehe nicht gerne in Clubs bis morgens um fünf Uhr oder so etwas, ich bin eher der Kneipentyp bis ein Uhr nachts und danach vielleicht noch bei jemanden einen bescheuerten Film schauen oder an einem ruhigen Plätzchen einen Joint kiffen.“

„Ich glaube, wir werden uns gut verstehen“, sagte ich. Also machten wir einen Zeitpunkt aus, wann wir uns tragen, einen Ort, wo wir uns trafen und stiegen am Bahnhof in zwei unterschiedliche Straßenbahnen.
 

Zum Glück war ich zur Musikschule gegangen und zum Glück hatte ich Annalina getroffen. Wenigstens für heute konnte ich die Einsamkeit bekämpfen.

Lukas - Ferien sollten eigentlich Spaß machen

Wehmütig seufzend saß Samantha neben mir in der Raucherecke und starrte ins das Notizbuch, welches sie als Hausaufgabenheft benutzte. Gemeinsam saßen wir gegen die Wand gelehnt auf dem harten Asphaltboden und ausnahmsweise steckte eine Zigarette in meinem Mund, obwohl ich normalerweise nur auf Partys rauchte. Kräftig zog ich den Rauch in meine Lungen, was mich zum husten brachte und Sam seufzte noch ein wenig lauter, um meinen Lärm zu übertönen.

„Ich kann nicht glauben, dass wir so viel über die Ferien auf bekommen haben“, klagte sie und hielt mir das Notizbuch vor die Nase, als hätte ich selbst nichts von den Hausaufgaben mit bekommen. „Das ist eine Katastrophe, Bambi, wir sollten den Notstand ausrufen.“

„Sag das nicht mir.“ Ich musste ein wenig über sie lachen und drückte die Zigarette auf dem Boden aus. „Simon kommt die zwei Wochen zu mir, ich habe überhaupt keine Zeit für Hausaufgaben.“

„Hat der denn keine auf?“ Sam klappte ihr Buch zu und verstaute es in der Umhängetasche, die sie als Schulranzen benutzte. Heute war unser letzter Schultag vor den Herbstferien, was bedeutete, dass wir nur die ersten vier Stunden Unterricht hatten. Zwei waren bereits vorbei und wir befanden uns in der Viertelstunde Zwischenpause. Die meisten unserer Stufe haben es vorgezogen für den letzten Schultag gar nicht aufzutauchen. Viele von ihnen hatten gerade mal ein oder zwei Stunden Schule und dafür wollten sie sich nicht abmühen herzukommen. Zu diesen Leute zählten zu meinem Entsetzen auch Gaara.
 

Man könnte meinen, ich wäre glücklich darüber ihn für einen Schultag mal nicht um mich zu haben und ständig darüber nachzudenken, wie gerne ich wieder etwas mit ihm anfangen würde. Doch leider hatte ich Gaara in unserer Halbbeziehung gut genug kennen gelernt, um zu wissen, dass er keine Minute, die er nicht Zuhause verbringen musste, versäumen würde. Was nichts anderes bedeutete, als dass es etwas anderes als die Schule gab, das ihn noch besser von der Einsamkeit ablenkte. Oder er war krank. Ich ertappte mich dabei, wie ich hoffte, dass er krank war. Vielleicht unternahm er auch einfach etwas mit Kaito... obwohl dieser in letzter Zeit nur von seiner Freundin erzählte. Sky und er waren offiziell zusammen. Noch nicht seit sehr langem und sie fingen genauso an, wie Chris und Samantha: Sie verbrachten nur noch Zeit miteinander und mit sonst niemandem.
 

„Außerdem kann ich nicht glauben, dass so wenige gekommen sind“, fuhr Sam mit ihren Beschwerden vor. „Ich meine, dass Schifti für den letzten Schultag nicht mehr herkommt, war ja wohl zu erwarten. Aber Gaara, Kaito und Noah?“

„Noah geht es nicht gut“, sagte ich und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Bereits gestern hatte er ein Gesicht wie Sieben Tage Regenwetter gemacht und mir heute Morgen dann in einer SMS geschrieben, dass er sich unwohl fühlte. In anderen Worten bahnte sich wieder eine Depressionsphase an und das zog mich nur noch mehr herunter. Ich wünschte so sehr, ich würde nach Nordrhein-Westfalen fahren und nicht Simon zu mir, doch bei seinem Betteln war ich schwach geworden.
 

Denn er hatte es momentan ebenso wenig leicht wie ich und wollte ebenso sehr dem Ganzen entfliehen und, da ich meinem besten Freund noch nie etwas ausschlagen konnte, hatte ich nachgegeben und nun kam er her. Viel lieber wäre ich für zwei Wochen aus Berlin verschwunden, hätte mit Genesis ein ausgiebiges Gespräch geführt und Lynn mal wieder gesehen... ein anderes Mal. Irgendwann würde ich wieder zu ihnen fahren, dessen war ich mir ganz sicher. Vielleicht im Winter. Mum hatte darüber gesprochen, dass wir über Weihnachten zu Verwandten nach NRW fahren. Bisher war es nur eine Idee, doch ich hoffte es sehr.
 

„Na super“, seufzte Sam schwermütig. Als eine etwas kühlere Brise über den Schulhof wehte, zog sie ihre dünne Stoffjacke fester zu und blickte mich aus braunen, großen Augen an.

„Es gibt da etwas, was du wissen solltest“, sagte sie und spürte, wie mir augenblicklich heiß wurde. Der Tonlage ihrer Stimme war ungewöhnlich ernst, weshalb ich mich ein wenig aufrichtete und sie mit zusammen gepressten Blicken erwartungsvoll anblickte. „Wegen Gaara.“

„Was ist mit ihm?“ Die Worte schienen mir im Hals zu trocknen und kamen nur geröchelt hervor.

„Gestern war ich mal bei ihm gewesen“, erzählte Sam. „Und, da habe ich erfahren, dass er in letzter Zeit ständig etwas mit einem Mädchen namens Annalina macht. Er hat sie über eine gemeinsame Freundin von uns kennen gelernt. Ich will dir nicht unnötige Sorgen bereiten, aber du solltest mal langsam etwas unternehmen, wenn du nicht möchtest, dass Gaara etwas mit jemand anderem anfängt.“
 

Mein Herz pochte schmerzhaft gegen meine Brust. So schmerzhaft, dass ich den Blick von Sam abwandte, weil ich Angst hatte, sie könnte mir ansehen, wie verletzt ich war. In mir bahnte sich ein widerliches Gefühl hoch, das abscheulichste Gefühl, das ich mir nur vorstellen konnte: Eifersucht. Und augenblicklich hasste ich dieses Mädchen, von dem ich gerade mal den Namen kannte. Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten und Gaara traf sich mit nur als gute Freunde, aber vielleicht würde sich zwischen den Beiden auch etwas entwickeln und das würde ich nicht aushalten. Bisher hatte ich nichts machen müssen, um von Gaara das zu bekommen, was ich wollte, da Gaara immer alle Schritte getan hatte und mir ständig hinterher gerannt kam. Egal, wie häufig ich ihn von mir weg stieß, egal, wie häufig ich sagte, wir würden es ein anderes Mal miteinander treiben, er war immer an mir dran geblieben. Jetzt hatte er darauf offensichtlich keine Lust mehr.
 

„Wenn du ihn nicht verlieren willst, musst du etwas machen“, bestätigte auch Sam diese Vermutung. „Dir bleibt gar keine andere Wahl, Lukas.“

„Wie ist diese Annalina so?“, fragte ich und verschluckte die Worte halb an dem Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte.

„Die ist gar nicht so übel“, gestand Sam. „Sollte sie sich jedoch an Gaara ran machen, werde ich sie abgrundtief hassen.“

Das brachte mich ein wenig zum Schmunzeln, doch das Lächeln erstarb schnell wieder auf meinen Lippen. Na toll. Ich hatte schon zu lange gewartet. Annalina. Schon alleine ihr Name klang beschissen. Kurz nach dem Gedanken vergrub ich das Gesicht in den Händen und stöhnte genervt. Wie konnte ich ein Mädchen schon hassen, wenn ich nichts über sie wusste? Ich sollte nicht immer direkt den Teufel an die Wand malen, obwohl der bei meinem Glück vermutlich schon längst dort tanzte.
 

„Ich hätte es dir nicht sagen sollen“, murmelte Sam. „Jetzt machst du dir Gedanken... obwohl das richtig ist! Ja, verdammte Scheiße! Das passiert, wenn du nicht dran bleibst!“

„Für einen Moment dachte ich echt, du würdest so etwas wie Mitgefühl besitzen“, sagte ich und zwang mir eine schiefes Lächeln auf die Lippen.

Nach der Pause erwartete mich eine Doppelstunde Erdkunde, die nur schleppend vorbei gehen wollte. In meinem Kopf schwirrten unzählige Szenarien, wie ich Gaara wieder für mich gewinnen konnte, aber keine endete mit dem von mir gewünschten Ergebnis. Mein Herzschlag pochte gegen die Innenseite meiner Schädeldecke und verursachte Kopfschmerzen, die meine Konzentration forderten. Warum musste der Lehrer auch noch am letzten Tag vor den Herbstferien seinen scheiß Unterricht machen?
 

Ich könnte Gaara wieder eine SMS schreiben, aber das war wohl die feige Möglichkeit wieder richtigen Kontakt mit ihm aufzunehmen. Ansonsten wäre es am einfachsten über die Schule, doch die würde für die nächsten zwei Wochen ausfallen und in zwei Wochen konnte viel geschehen. Auf jeden Fall war ich jetzt ein wenig froh darüber doch nicht nach NRW zu fahren. Es wäre kaum auszuhalten gewesen am anderen Ende von Deutschland zu sitzen und mir ständig vorzustellen, wie Gaara mit dieser Annalina rummachte. In meiner Vorstellung entwickelte sie sich zu einer blonden Schönheit mit langen Locken und einem lieblichen Grinsen, die einen so reinen Charakter hatte, dass man sie gar nicht hassen konnte. Ohne irgendwelche Probleme mit denen sie Gaara belastete, doch dafür mit der Fähigkeit einfach jeden Menschen auf dieser Welt glücklich zu machen. Je weiter ich mich dort hinein steigerte, desto mehr konnte Annalina und am Ende war sie ein Gesangstalent, das obendrein noch kochen konnte.
 

Endlich befreite mich die Schulglocke von meinen wirren Fantasien. Schnell packte ich mein Zeug zusammen und verließ das Schulgebäude. Von den wenigen Schülern meiner Stufe, die nicht geschwänzt hatten, verabschiedete ich mich und traf mich vor dem Gebäude mit Sam, die eine Doppelstunde Geschichte bei der Furie hinter sich hatte und dementsprechend genervt aussah.

„Drei mal darfst du raten“, murrte sie. „Die hat uns noch mal Hausaufgaben über die Ferien aufgegeben.“

„Du musst mir Annalina beschreiben“, verlangte ich. „Oder hast du eine Foto von der?“

„Wie wäre es, wenn du sie dir selbst anschaust“, schlug Sam Schulterzuckend vor, während wir in Richtung Straßenbahn schlenderten. Wie so häufig hakte sie sich bei mir unter. „Gaara schmeißt nächste Woche Donnerstag eine Hausparty und er meinte wir könnten so viele einladen wie wir wollen. Ich lade hiermit Simon und dich ein.“

„Denkst du das geht klar?“, fragte ich unsicher.

„Ja, auf einer Party könnt ihr euch besser wieder näher kommen“, antwortete Sam. „Wenn ihr erst mal wieder miteinander glücklich seid, werdet ihr mir das noch danken.“

Ich bezweifelte zwar, dass es so einfach gehen würde, doch ich behielt mir ihre Einladung im Hinterkopf. Am besten besprach ich das Ganze erst einmal mit Simon... obwohl ich meinen besten Freund gut genug kannte, um zu wissen, dass er sich eine Party bei Gaara nicht entgehen lassen wollte.
 

An der Straßenbahn trennten wir uns voneinander, da Sam ihren Heimweg zu Fuß ablegte und ich mit der Bahn weiter musste. Noch am Bahnhof traf ich auf Alex, die jedoch mit ein paar Freundinnen in die entgegengesetzte Richtung wollte. Zum Abschied drückte sie mir einen Kuss auf die Wange, dann war sie auch schon verschwunden und ich fuhr alleine nach Hause, um meine Schulsachen abzulegen und direkt weiter zum Hauptbahnhof zu fahren. Wie immer dauerte der Weg eine gefühlte Ewigkeit, so hatte ich mehr als genug Zeit über Sams Vorschlag nachzudenken. Ich wollte wirklich zu dieser Party, in der Hoffnung, dass es zwischen mir und Gaara etwas ändern würde, doch kam ich mir auch dämlich vor bei ihm Zuhause aufzukreuzen, obwohl wir in den letzten Wochen kein Wort miteinander gesprochen hatten. Dann wiederum würde ich in dieser Nacht nicht schlafen können bei der Vorstellung, dass er im Alkoholrausch mit dieser Annalina anfing rum zu machen. Alleine bei dem Gedanken daran wurde ich wieder eifersüchtig.
 

Am Hauptbahnhof herrschte wie immer ein reges Durcheinander. Berlin hatte den wahrscheinlich unübersichtlichsten Hauptbahnhof aller Zeiten, der sich über drei Stockwerke erstreckte und auf zwei dieser Stockwerke Bahngleise hatte, was meiner Meinung nach schon ziemlich absurd war. Wie immer war ich erst einmal auf der Suche nach dem Gleis, auf dem Simon erscheinen würde und musste dort feststellen, dass sein Zug ein paar Minuten Verspätung hatte. Ungeduldig wartete ich in düsteren Gedanken an Gaara und Annalina. Alleine ihr Name war schon furchtbar. Annalina, wie konnte man nur so heißen... Es war doch seltsam, wie voreingenommen Liebeskummer machen konnte. Vielleicht war sie ein nettes Mädchen und wollte nur mit Gaara befreundet sein. Hoffentlich. Sonst musste ich sie leider umbringen.
 

Endlich fuhr der Zug ein und nach einem Schwall fremder Menschen, die den Bahngleis erfüllten, sah ich auch endlich Simon mit seiner Reisetasche und einem eher genervten Gesichtsausdruck. Als er mich jedoch ebenfalls erblickte, begannen wir Beide zu grinsen und Gaara und Annalina und alles andere, was mir Sorgen bereitete, war vergessen. Die letzten Schritte lief ich auf ihn zu, zog ihn dann in eine feste Umarmung. Erst als seine dunklen Haare in meinem Gesicht kitzelten und ich seine Stimme hörte, die mich begrüßte, wurde mir bewusst wie sehr ich ihn vermisst hatte. Einfach alles an ihm hatte ich vermisst, selbst diesen vertrauten Geruch, der stets an ihm haftete. Der nach nichts Bestimmten roch, sondern einfach nur nach Simon. Ich ließ meinen Kopf auf seine Schulter fallen und ihn nicht mehr los.
 

„Du hast es wieder nicht leicht, oder?“, hörte ich ihn fragen. Zur Antwort schüttelte ich den Kopf.

„Da sind wir ja schon Zwei“, meinte Simon. Nun ließ ich ihn doch los und blickte ihn an. Simon hatte einen frechen Kurzhaarschnitt und sah unverschämt gut aus. Selbst im Winter hatte seine Haut einen dunkleren Teint als hätte er den ganzen Tag in der Sonne gelegen und aus seinem schmalen Gesicht blickten mich tiefbraune, große Augen an.

„Wenn es dir nichts ausmacht, fahren wir heute zusammen zu Felix, dann können wir uns alles erzählen“, sagte ich und Simon nickte zustimmend. Gemeinsam fuhren wir mit der Straßenbahn weiter, in der etwas passierte, was mir seit dem Umzug nach Berlin nicht passiert war: Unsere Fahrkarten wurden kontrolliert! Da ich mit der Bahn jeden Morgen zur Schule fuhr, hatte ich von dieser aus eine Karte bekommen, Simon hingegen hatte sich eine Wochenkarte am Hauptbahnhof gezogen. Doch als die Kontrolleurin bei uns war, sagte sie nur grummelig: „Die Karte muss noch abgestempelt werden.“

„Was muss die?“, fragte Simon verstört.

„Du musst die Karte stempeln lassen, damit das Datum drauf steht, an dem du sie gekauft hast“, erklärte ich und an die Frau gewandt fragte ich: „Können Sie das nicht machen?“

„Nein, bei der nächsten Station aussteigen, stempeln lassen und wieder einsteigen. Du hast genug Zeit dafür.“ Sie ging weiter, blieb jedoch in unserem Abteil, um darauf zu achten, dass Simon auch wirklich seine Karte stempelte.
 

Bei der nächsten Station stieg er also aus und lief zu den Automaten herüber, an denen man die Stempel machen konnte. Ich blieb in der Straßenbahn an der Tür stehen und war mir ziemlich sicher, dass Simon wusste, wie es ging, doch scheinbar hatte er keine Ahnung, denn er brauchte viel zu lange und blickte schließlich gestresst zu mir herüber.

„Wie geht das?!“

„Reinstecken!“, rief ich zurück, da ertönte schon das Piepsen der Türen. Verzweifelt versuchte ich sie aufzuhalten, doch die Türen der Straßenbahn gingen einfach zu, wenn die Wartezeit an der Station vorbei war. Schließlich sah ich mich dazu gezwungen einen Schritt zurück zu gehen. Von außen versuchte Simon per Knopfdruck die Tür wieder aufzumachen und blickte mich mit riesigen Hundewelpenaugen an, als wollte er sagen, dass ich ihn retten sollte. Ich konnte nur mit den Schultern zucken. Die Straßenbahn setzte sich in Bewegung und Simon streckte noch wehmütig die Hand nach mir aus, doch ich rauschte mit der Bahn einfach weiter. Es war schwierig sich das Lachen zu verkneifen. Sofort griff ich zu meinem Handy und rief meinen besten Freund an. Kaum, da er abgehoben hatte, begann ich zu lachen.

„Warum hat das denn auch solange gedauert?“, fragte ich ihn. „Du hast mich angeschaut als hätte ich dich ausgesetzt!“

„Der Automat war verwirrend“, sagte Simon gespielt beleidigt. „Was machen wir jetzt?“

„Wann kommt bei dir die nächste Bahn?“

„Hmm... in sechs Minuten.“

„Du weißt ja, wo du aussteigen musst, dann treffen wir uns dort.“
 

Ich legte auf und hatte immer noch ein breites Grinsen auf den Lippen. Und genau wegen solchen Erlebnissen hatte ich meinen besten Freund vermisst. Vielleicht war es wirklich eine gute Idee auf diese Party zu gehen, mit Simon an meiner Seite traute ich es mir sogar zu, Gaara wieder anzusprechen.
 

Später an diesem Tag fuhren wir den ewig langen Weg bis aufs Land hinaus, wo die Familie von Felix lebte. Da meine Mutter keine Zeit hatte uns zu fahren, mussten wir den Bus nehmen und ich hatte mehr als genug Zeit, um Simon ein wenig über die Familie zu erzählen. Kennen gelernt hatte ich sie, als ich den Hund Joker adoptieren wollte, er jedoch bei dieser Familie landete. Wir machten aus, dass ich Joker immer mal wieder besuchen und auf ihn aufpassen darf. Mit der Zeit freundete ich mich besonders mit dem – mittlerweile – zwölfjährigen Felix an, welcher seit einem schweren Autounfall querschnittsgelähmt war. Bei dem selben Autounfall starb der Vater der Familie. Nun bestand sie noch aus der Mutter, den vier Kindern, drei Hunde und einer Katze. In einem dementsprechend großen Haus lebten sie. Von der Bushaltestelle aus, mussten wir noch einige Minuten gehen ehe wir bei dem Einfamilienhaus ankamen, welches im Schatten von einigen hohen Bäumen lag, deren Blätter im Wind raschelten. Hier draußen erkannte man gut, dass es langsam Herbst wurde, denn die Kleider der Bäume bestanden aus roten, gelben und braunen Farben und viele Blätter bedeckten den Boden und federten unsere Schritte ab.
 

Vor der Haustür erwartete uns die Zweitjüngste der Familie, die vierzehnjährige Ella, gemeinsam mit ihrer Shiba Inu Happy. Stutzig blieben wir stehen, denn Ella war in einer Rüstung aus Karton gekleidet. Auf ihrem Kopf saß ein quadratischer Papphelm, der ihr ein wenig in die blauen Augen rutschte und die braunen Locken verdeckte. In einer Hand hielt sie außerdem ein rundes Pappschwert, mit welchem sie nun auf uns deutete und feierlich rief: „Ihr seid Narren, wenn ihr glaubt, ihr könnt so einfach die Burg erklimmen! Mein treues Ross Happy wird auch aufhalten!“

Ihr treues Ross bellte glücklich. Happy war eine Shiba Inu von heller Farbe mit langer Schnauze, dunklen Knopfaugen und einem buschigen, geringelten Schwanz. Sie sah einfach nur niedlich aus. Ella wirkte nicht als wäre sie bereits vierzehn Jahre alt, doch genau dies gefiel mir so an ihr. Meine Schwester war gerade mal ein Jahr älter, verhielt sich jedoch wie 18... und zog sich auch so an. Wohingegen Ella sehr jungenhafte, sportliche Klamotten trug.

„Los, Happy!“ Und Happy rannte glücklich auf mich zu und sprang an meinem Bein hoch. Erst als ich mich zu ihr herunter kniete, hörte sie auf. Mit einem Lächeln auf den Lippen streichelte ich sie und ließ sie über meine Hände lecken.

„Ich glaube, dein Ross hat nichts dagegen, wenn wir rein kommen“, sagte ich zu Ella gewandt, die nun ebenfalls mit einem Lächeln zu mir gelaufen war. Kaum, da ich stand, warf sie sich in meine Arme und schlug mir dabei ihren Papphelm ins Gesicht.

„Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr her!“, sagte sie und klopfte mir tadelnd mit dem Schwert gegen den Kopf. „Und, wer ist das?“ Sie wandte sich an Simon, der ein wenig verwirrt, aber auch amüsiert aussah.

„Mein bester Freund Simon“, stellte ich ihn vor.

„Dann kommt mal rein, Felix wird sich freuen dich zu sehen!“ Überraschenderweise packte sie mit ihrer freien Hand Simons Arm und zog ihn mit sich hinterher ins Haus.
 

Wie immer fühlte ich mich schon beim Eintreten wohl. Die Familie hatte ein schönes Haus mit Erdgeschoss und einem oberen Stockwerk, in welchem sich die Zimmer befanden. Gleich, wenn man durch die Eingangstür ging, gelangte man in einem riesigen Raum, der sich in der Mitte durch eine kleine Theke teilte. Hinter der Theke befand sich die große Küche mit Esstisch, davor das Wohnzimmer in welchem jedoch kein Fernseher stand. Stattdessen stand dort ein Kamin, in dem heute kein Feuer knisterte. Zwischen den Couchs lagen Decken, Kissen und Felle auf dem Boden und dort saß, wie so häufig, Felix. Er war damit beschäftigt etwas aus Pappe zu basteln. Neben der bedeckten Fläche standen Wasserfarben. Ein wenig Rot klebte in seinem Gesicht und seine Finger waren voll mit Flüssigkleber. Als ich vor ihm zum Stehen kam, hielt er mit sein Gebasteltes unglücklich hin. Eigentlich war es nur eine rechteckige Pappe, auf der etwas gekritzelt war und, die an einer eingerollten Pappe klebte. Leider hielt es nicht. Die bekritzelte Pappe fiel dumpf zurück in die Kissen.
 

„Och Manno, Felix“, klagte Ella und klopfte mit ihrem Schwert gegen seinen Kopf. Die Beiden sahen sich ziemlich ähnlich. Auch Felix hatte dunkle Haare und blaue Augen, sein Gesicht war recht schmal und blass und, obwohl er erst zwölf Jahre alt war, schien er immer einen traurigen Eindruck zu machen. „Ich brauche eine Flagge, die ich führen kann.“

„Ich kann aber nicht basteln und noch schlechter zeichnen“, sagte Felix. „Du musst warten bis Chris wieder zurück ist, dann kann er dir die Flagge basteln und Mia kann dir was darauf zeichnen.“

„Aber die Beiden kommen doch erst heute Abend zurück“, jammerte Ella.

„Solange ist das auch wieder nicht!“

„Für mich schon!“ Ella drehte sich zu mir und klopfte mit ihrem Schwert einmal auf meine rechte, dann auf meine linke Schulter und verkündete feierlich: „Hiermit schlage ich dich zum Ritter. Und dich auch.“ Simon konnte sich dem Ritterschlag ebenfalls nicht entziehen, dann rannte Ella los und rief noch, dass sie den Rollstuhl holen würde.
 

Aus Richtung Küche kam Joker zu uns und ließ sich von mir streicheln, während ich Felix begrüßte und ihn fragte, wie es ihm heute ging.

„Wie immer“, antwortete Felix. „Ist das Simon?“

„Ja, ja.“ Simon streckte ihm die Hand entgegen. „Hi, du bist dann wahrscheinlich Felix.“

„Ja, leider.“ Wenn Simon über diese Aussage geschockt war, ließ er sich nichts anmerken. Wir hoben Felix in den Rollstuhl, den Ella vorbei brachte und brachen gemeinsam mit ihr und den beiden Hunden zum Spaziergang auf. Außer ihnen schien momentan niemand im Haus zu sein. Wir gingen denselben Weg, den ich immer mit Felix ging. Wenn man der Straße folgte und sich immer rechts hielt, gelangte man irgendwann an einen Fluss mit weiten Wiesen. Im Sommer hatten wir uns immer Decken mitgenommen und hier niedergelassen, doch heute war es dafür etwas zu kühl.
 

Während Ella mit den Hunden spielte, erkundigte sich Felix, wie es zwischen mir und Gaara aussah. Manchmal fühlte ich mich schuldig mit einem Zwölfjährigen über meine Probleme zu sprechen, doch ich kannte niemanden, der mir in Charakter und Meinung so ähnlich war wie Felix. Ihm ging es ebenso. Auch er klagte über seine Probleme und Gefühle und ich schien die einzige Person zu sein, die diese vollends nachvollziehen konnte. Wir waren wie Seelenverwandte.

„Immer noch gleich“, antwortete ich. Felix wurde von uns nicht geschoben, er rollte die Räder mit seinen Händen. Häufig wurde ihm dies irgendwann zu anstrengend und den Rückweg schob ich ihn dann, doch er wollte irgendwann komplett unabhängig von der Hilfe anderer sein. Bis dahin war es jedoch noch ein weiter Weg.

„Also redet ihr immer noch nicht miteinander“, stellte Simon fest, dem ich schon zuvor einmal am Telefon mein Leid geklagt hatte.

„Ja, aber Sam sagt, Gaara startet am Donnerstag wieder eine Party und sie hat mich eingeladen hinzu gehen. Das ist wieder so eine, zu der einfach jeder kommt und ich überlege ernsthaft hinzu gehen.“

„Du solltest dazu keine Party brauchen“, sagte Felix. „Aber ich kann verstehen, wenn du dich nicht traust von dir aus hinzu gehen. Trotzdem könnte es seltsam sein, wenn du zu seiner Party gehst, obwohl du wochenlang nicht mit ihm gesprochen hast.“

„Vielleicht freut er sich, wenn du kommst“, meinte Simon.

„Er freut sich bestimmt“, korrigierte Felix.

„Ja und ich komme als Unterstützung mit, damit du auch wirklich mit ihm redest“, sagte Simon. Wir diskutierten noch ein wenig darüber und kamen zu dem Entschluss, dass wir wirklich auf diese Party gehen würden. Während ich Sam eine Zusage per SMS schickte, begann Simon darüber zu klagen, dass Lynn beinahe mit Adrian zusammen war. Lynn, seine beste Freundin in die er sich unglücklicherweise verliebt hatte und Adrian, ein guter Freund ihrer älteren Schwester, in die sie sich verliebt hatte.
 

„Hast du ihr schon gesagt, was du für sie empfindest?“, fragte Felix.

„Nein“, antwortete Simon sofort. „Das könnte -“

„- die Freundschaft kaputt machen“, endeten Felix und ich gleichzeitig den Satz.

„Versteh schon“, nickte Felix. „Habt ihr eigentlich nur Probleme mit Liebe oder auch welche, bei denen ich besser mit reden kann? Ich bin noch nicht so alt, wisst ihr.“

„Mein Stiefvater hat mich vor ein paar Tagen raus geschmissen“, sagte Simon und schlagartig blieb ich stehen. Entsetzt blickte ich meinen besten Freund an.

„Was? Davon hast du mir gar nichts erzählt!“

„Ich erzähle es dir jetzt“, merkte Simon an. „Ich dachte, ich mache das lieber so als über das Telefon. Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Wir hatten uns wieder mal gestritten mit dem Ergebnis, dass er mich endgültig rausgeworfen hat. Jetzt wohne ich komplett bei meinem Vater. Und ich meine so komplett, dass mein Stiefvater schon Pläne macht mein Zimmer zu renovieren und es als Arbeitszimmer zu nutzen.“

„Das ist nicht schlimm?“, fragte Felix mit großen Augen. „Das klingt total heftig, du...“

„Ich bin das gewohnt“, zuckte Simon mit den Schultern. Als sich Felix' Augen nur noch mehr weiteten, begann mein bester Freund sogar zu grinsen.

„Anfangs ist es scheiße“, erklärte er und verstaute die Hände in den Hosentaschen. „Die Eltern lassen sich scheiden und dann kommt dieser Kerl in dein Leben, der dich von Anfang nicht ausstehen kann und sich gar nicht die Mühe macht mit dir klar zu kommen. Am Härtesten ist, dass es deiner Mutter egal ist. Du glaubst gar nicht, wie enttäuscht man von der eigenen Mutter sein kann und, wie schmerzhaft das ist. Aber irgendwann steht man über diesen Dingen und man versteht, dass ein Mann, er ein Kind schlägt, einfach nur erbärmlich. Und irgendwann ist es einem auch zu schade sein Leben damit zu verschwenden sich über Dinge zu beschweren, die nicht zu ändern sind. Meine Mutter hat ihn mir vorgezogen, dafür hat mein Vater eine feste Freundin, die mich wie ihren eigenen Sohn behandelt. Ich weiß, dass es genug Leute gibt, die es viel schlimmer haben als ich, also was soll's. Ich werde nicht mehr versuchen mich mit meiner Mutter zu verstehen, ich habe es lange genug probiert.“

„Das ist bemerkenswert“, stellte Felix leise fest. „Ich wünschte, ich könnte mein Problem auch so einfach bekämpfen.“ Er deutete auf seine nutzlosen Beine.

„Manchmal muss man auch schlechte Dinge akzeptieren, damit sie besser werden.“
 

Zu diesem Zeitpunkt hatten wir nicht gewusst, dass Simons Worte ziemlich viel in Felix bewirkt hatten. Als wir zurück zum Haus kehrten, hatten die Hunde Ellas Schwert zerstört und sie verdonnerte uns dazu ihr ein Neues zu basteln. Wir bastelten ihr auch eine Flagge, die Simon mit einem Hundekopf bemalte. Er war im Zeichnen noch lange nicht so gut wie Kaito, aber um Längen besser als wir anderen Drei. Ella war mit dem Ergebnis sehr zufrieden und bedankte sich sogar mit einer Umarmung. Mit Felix vereinbarte ich, dass wir nächste Woche noch einmal wieder kamen, damit er das Ergebnis der Party hören konnte.

Gaara - Fehler machen ist menschlich

Auf der Küchenzeile gelehnt, schaute ich zu, wie uns Annalina in fünf Shotgläser Jägermeister einfüllte. Den halben Tag hatten wir mal wieder damit verbracht, mein Haus für die Party herzurichten. Nun dauerte es nur noch knappe zehn Minuten bis die ersten Gäste eintreffen würden und Marc hatte sich lauthals darüber beschwert, dass wir noch nicht betrunken waren.

„Bei jeder guten Party sind die Gastgeber schon betrunken, wenn die Gäste kommen!“, behauptete er und hatte den Jägermeister aus dem Kühlschrank gegriffen. Diese Aussage hielt ich zwar für ein Gerücht, doch wir gönnten uns nun trotzdem jeder einen Shot. Marc, Kaito, Sky, Annalina... ich war sehr froh gewesen, dass sie mir geholfen hatten, besonders, da ich so die Einsamkeit bestens bekämpfen konnte. In den Ferien war es schon immer schlimmer gewesen als unter der Schule. Zuerst dachte ich, ich würde diese Herbstferien nicht überleben, wenn ich ständig an Lukas denken musste, aber zum Glück hatte mir Annalina beinahe jeden Tag Gesellschaft geleistet. Eigentlich hätte sie momentan für zwei Wochen Berufsschule, aber da nun einmal Ferien waren, fiel diese für sie aus.
 

Gestern hatte Larissa mich abends angerufen, kurz nachdem Annalina wieder nach Hause gegangen war und mir eine etwas säuerliche Predigt darüber gehalten, dass ich nicht mit anderer Leute Gefühle spielen sollte. Verzweifelt hatte ich versucht den Naiven zu spielen, doch Larissa kannte mich zu gut, um zu wissen, dass ich alles andere als naiv war. Natürlich wusste ich, worauf Annalina aus war. Sie wollte nicht nur mit mir befreundet sein, sie stellte sich mit mir mehr vor und Larissa machte mir dies gestern noch einmal explizit klar.

„Ich weiß, dass du in diesen Lukas verliebt bist“, sagte sie in scharfem Tonfall. „Sag Annalina, dass das nichts zwischen euch Beiden wird, damit sie sich keine Hoffnungen macht und du nicht auf dumme Gedanken kommst. Wenn du etwas mit ihr anfängst, tust du damit niemanden einen Gefallen.“

Doch, wenn ich Annalina einen Korb gab, dann war ich mir ziemlich sicher, würde ich sie verlieren. Wenn ich mich in ihre Situation hinein dachte, wäre es mir an ihrer Stelle zu peinlich mich weiterhin alleine mit der Person zu treffen. Von meinen wahren Gefühlen – dass sie eigentlich nur ein Mittel war, um meine Einsamkeit zu unterdrücken – konnte ich ihr nichts erzählen. Zum Einen klang es ihr gegenüber gemein, zum Anderen kannten wir uns einfach noch nicht gut genug, dass ich solche privaten Gefühle preis geben wollte. Niemand wusste, wie schwer es momentan für mich war. Nicht einmal Kaito, obwohl er mein bester Freund war. Nicht einmal Larissa, obwohl ich ihr dies gestern alles hätte erklären können. Vielleicht lag ich auch falsch und Annalina wollte wirklich nur mit mir befreundet sein.
 

Gleichzeitig kippten wir unsere Shots und der bittere, Kräuter-artige Geschmack von Jägermeister breitete sich in meinem Mund aus. Neben mir schüttelte sich Sky, während Annalina den Alkohol ohne den Mund zu verziehen, ertrug.

„Und direkt noch eine Runde“, verkündete Marc und schüttete uns noch einmal 2cl Jägermeister ein. Erneut kippten wir die Getränke, dann fragte Annalina: „Bin ich eigentlich die Einzige, die Bock hat, sich heute so richtig zu betrinken?“

„Nein“, antwortete Sky als Erstes. „Aber ich muss leider morgen arbeiten, deswegen darf ich es nicht übertreiben.“

„Langweiler“, behauptete Marc prompt.

„Du betrinkst dich doch immer“, sagte Kaito, der einen Arm um seine Freundin gelegt hatte. Heute trug sie ihre weißblonden Haare zu einem festen Pferdeschwanz und wie immer waren ihre blauen Augen von dickem, schwarzen Eyeliner umrandet. Dadurch wirkte sie noch schläfriger als ohnehin schon, doch es nahm ihr nichts von ihrer blassen Schönheit.

„Natürlich, nur so feiert man richtig“, sagte Marc mit einem Grinsen.

„Wenn du mir noch einmal in die Spüle kotzt, feierst du hier nicht noch einmal“, drohte ich und brachte damit die Anderen zum Lachen.

„Bei jeder guten Party gibt es ein Absturzopfer!“, verteidigte sich Marc.

„Das stimmt nicht“, entgegnete Kaito. „Erinnerst du dich noch an Sams 18. Geburtstag. Das war die beste Party überhaupt und da hatte es niemand übertrieben.“

„Aber so ne geile Party erlebt man auch nur einmal“, seufzte ich beinahe wehmütig.
 

Obwohl Sams 18. Geburtstag wirklich nur positive Erinnerungen in sich trug, stimmte mich der Gedanke daran traurig. Draußen im Garten hatten wir die Farben geworfen und eingehüllt in Blau, Rot, Gelb und Grün hatte ich Lukas geküsst. Da war noch alles in Ordnung gewesen oder zumindest mehr in Ordnung als es momentan der Fall war.

Unser Gespräch wurde durch das Klingeln an der Tür unterbrochen. Es war Marc, der sich dazu erbarmte den ersten Gästen aufzumachen. Kaito und Sky entschieden sich dazu, die Shishas im Raucherraum vorzubereiten, damit die Anderen sofort los legen konnten. Und Annalina kam um die Theke herum auf mich zu. Sie trug eine lange Jacke, die bis auf ihren Oberschenkel reichte und bis unter das Kinn zugezogen war. Ihre Beine waren in eine schwarze Strumpfhose mit Muster gekleidet, passend zu lockeren Turnschuhen.

„Kann ich meine Jacke in dein Zimmer legen?“, fragte sie.

„Klar, ich kann sie grad hinbringen“, bot ich mich an. Annalina öffnete den Reißverschluss und als sie ihre Jacke auszog, staunte ich nicht schlecht. Normalerweise trug sie immer einfache, sportliche Kleidung, die ihre weiblichen Rundungen nicht sonderlich zum Vorschein brachten. Heute jedoch, war ihr Oberkörper in einem Top mit weiten Ärmeln gekleidet. Diese waren so weit, dass man ihren breiten BH erkennen konnte und die nackte Haut ihrer Seiten. Dazu trug sie eine knappe Hotpants.
 

Sie reichte mir die Jacke und ich konnte mir mein verwegenes Grinsen nicht verkneifen.

„Sieht echt süß aus“, zwinkerte ich ihr zu, ehe ich an ihr vorbei zu meinem Zimmer ging. Ihre Reaktion auf meinen Kommentar sah ich nicht mehr, doch ich ging jede Wette ein, dass sie am Lächeln war. Marc hatte mal erzählt, dass man Liebeskummer auch einfach mit Vögeln weg bekam. Auch dies hielt ich nur für eine von seinen Mythen, die er sich ausdachte, weil er eben ein bisschen bescheuert war, doch manchmal konnte man so verzweifelt sein, dass man selbst versuchte Mythen auf den Grund zu gehen. Sollte es also vielleicht helfen, wenn ich was mit Annalina anfing? Ich verwarf den Gedanken, während ich ihre Jacke auf mein Bett warf und das Zimmer wieder verließ. Wie immer, wenn ich eine große Party gab, schloss ich es lieber ab, bevor Fremde dort drin landeten. Auch das Zimmer meiner Eltern war abgeschlossen, obwohl dieses ohnehin nicht in nächster Zeit von ihnen genutzt werden würde.
 

Es war gemein darüber nachzudenken Annalina auf diese Weise zu benutzen. Schließlich war sie ein nettes, intelligentes Mädchen und hatte jemanden verdient, der sie wirklich auf die Weise wollte. Solange ich nicht mit jemanden etwas anfangen konnte, ohne darüber nachzudenken wie gerne ich Lukas an dessen Stelle hätte, sollte ich es auch mit niemandem probieren. Dann wiederum konnte ich mir gut vorstellen, dass es lange dauern würde, bis ich endlich über Lukas hinweg war...

Überrascht stellte ich bei der Rückkehr in den Wohnbereich fest, dass ziemlich viele Gäste auf einen Schlag gekommen waren. Bereits von dieser Anzahl kannte ich ein paar überhaupt nicht, doch das war bei meinen Hauspartys normal. Annalina stand noch immer an der Theke, in beiden Händen hielt sie jeweils ein Glas mit Jägermeister – Red Bull. Lächelnd streckte sie mir eines entgegen. Ich nahm es an und sie hielt mir ihres zum Anstoßen hin, was ich auch sogleich tat.
 

„Auf eine trunkenvolle Nacht“, sagte sie. „Und auf ein paar kleine Überraschungen.“

„Hoffentlich nur Gute“, fügte ich hinzu. Wir tranken einige Schlucke, dann gingen wir in den Raucherbereich, um uns eine Bong zu machen. Denn endlich, nach Wochen, hatte ich wieder Gras. Der Dealer meines Vertrauens war mit ein paar Kumpel nach Holland gefahren und ohne Probleme mit ein paar vielen Gramm Marihuana zurück gekehrt. Davon hatte er mir zwei Sorten verkauft, die seiner Meinung nach die Besten waren und bis heute hatte ich mich zurück gehalten davon etwas zu rauchen. Annalina meinte, wir sollten es erst bei der Party probieren und es war wirklich schwer gewesen mich solange zu beherrschen. Dass ich es geschafft hatte, machte ich ein wenig stolz...
 

Kaito und Sky leisteten uns Gesellschaft. Die beiden Mädchen begannen sich über irgendwelche Leute zu unterhalten, die ich nicht kannte, doch von dem Gespräch bekam ich ohnehin nichts mit, da ich die Bong vorbereiten musste. Dabei handelte es sich um mein bestes Stück aus der G&G Bongserie, mit 40 cm Höhe, 50 mm Durchmesser und ohne Kickloch. Überall wurden an dem Glas grüne Akzente gesetzt und in der unteren Hälfte gab es ein paar Einkerbungen, die nach innen gingen, sodass man Eiswürfel rein packen konnte. Mit der Bong ging ich in die Küche, füllte etwas Wasser rein und nahm mir aus dem Eisfach einen Eiswürfel, den ich oben hinein packte. Dass mich dabei ein paar Gästen neugierig beobachteten, ignorierte ich gekonnt. Manche, die noch nie auf einer meiner Partys gewesen waren, schockte es zu sehen, dass hier überall gekifft wurde, aber mir konnte es egal sein. Als ich mich wieder umwandte, um zurück in den Raucherraum zu gehen, blieb ich überrascht stehen.
 

Vor mir stand Larissa, ebenfalls raus geputzt. Ihren schwarzen Haaren hatte sie mit Haarspray Volumen verliehen, sodass sie ihr blasses Gesicht noch besser zur Geltung brachten. Wie immer trug sie dunkle Farben, ein Septum zierte ihre schmale Nase und sie hätte heute wirklich hübsch ausgesehen, würden ihre dunkelbraune Augen nicht von so einem Todesblick gezeichnet sein.

„Du hast mir doch schon gestern eine Predigt gehalten“, klagte ich.

„Ich möchte nur noch einmal klar stellen, dass du stirbst, wenn du mit ihr spielst“, sagte Larissa und verengte die Augen zu Schlitze. „Aber du kannst es wieder gut machen.“

„Was denn wieder gut machen?! Ich habe noch gar nichts falsch gemacht!“

„Lass mich mit kiffen.“ Larissa begann ein wenig zu grinsen und ich musste lachen.

„Das darfst du sowieso immer“, sagte ich und wies sie an mit zu kommen.
 

Somit waren wir in unserer Runde zu fünft. Da dürfte mein Gras mehr als nur ausreichend sein, vor allem, weil ich von meinem Dealer versichert bekommen hatte, dass das Zeug rein hatte. Selbst mich sollte es angeblich umhauen und das musste schon etwas heißen, denn ich konnte viel kiffen ohne etwas zu spüren. Schnell bereitete ich einen Kopf vor, eine gute Mischung aus Marihuana und Tabak, zündete in mit einem Feuerzeug an, während ich oben zog. Dabei musste ich den Mund so auf die Öffnungen pressen, dass keine Luft mehr hindurch kam. Kräftig ziehen bis die Bong voll mit weißem Rauch war, dann den Kolben mit dem Kopf aus der Öffnung ziehen, damit Luft ins Rohr gelangte und ich den Rauch mit einem Schlag in die Lungen ziehen konnte.
 

„Ich habe noch nie Bong geraucht“, gestand Annalina. Für wenige Sekunden hielt ich die Luft an, dann blies ich den Rauch wieder aus. Mein Kopf wurde schon ein wenig schummrig. Normalerweise dauerte es ein paar Minuten bis man die Wirkung besser zu spüren bekam. Da noch nicht alles Marihuana verbrannt war, steckte ich den Kolben zurück in das kleine Rohr und zündete den Kopf erneut an. Wieder kickte ich den gesamten Rauch auf einen Schlag, blies ihn aus, während ich merkte wie es zu wirken begann. Meine Umgebung verschwamm vor meinen Augen – nicht viel, gerade so, dass ich es bemerkte und meine Lungen schienen immer wärmer zu werden. Es schaltete sich dieses Gefühl ein, das man nur beim Kiffen erlangen konnte. Wenn man plötzlich alles viel stärker wahr nahm als normalerweise, insbesondere der eigene Körper. Unterschiedliche Stellen am Körper wurden angenehm heiß und, wenn man etwas Kaltes trank oder etwas Warmes aß, konnte man deutlich spüren wie es durch die Speiseröhre in den Magen drang. Dieses Gefühl hatte es mir schon früher angetan und ich war beinahe froh als es sich jetzt wieder einschaltete.
 

„Das erste Mal Bong rauchen, ist ein bisschen krass“, sagte Kaito, während ich den nächsten Kopf vorbereitete. „Am Besten zieht dir jemanden den Rauch hoch, dann musst du ihn nur noch einatmen. Das ist für dich einfacher.“

„Okay...“ Annalina blickte mich an. „Würdest du das für mich machen?“ Dabei lächelte sie mich so frech und herausfordernd an, dass mir ebenfalls ein Grinsen auf die blassen Lippen schlich.

„Klar.“ Also zog ich den Rauch hoch und hielt Annalina die Bong direkt hin, damit sie ihn einatmen konnte. Ich zog den kleinen Kolben heraus, doch Annalina musste bereits nach einem kurzen Atemzug anfangen zu husten.

„Schnell, bevor der ganze Rauch weg ist.“ Im Gegensatz zu mir konnte sie nur kleinere Züge nehmen, dabei ging ein guter Teil des Rauches verloren, doch das war mir auch egal. Es war klar, dass Annalina nicht so kicken konnte wie ich, dafür kiffte sie viel zu wenig.
 

Nach ihr waren auch die Anderen dran. Kaito kickte ebenso hart wie ich, auch Sky hatte damit keine Probleme und bewies, dass sie auch beim Bong rauchen heiß aussah. Larissa ging es ein wenig langsamer an, zog jedoch viel mehr als Annalina. Jeder von uns spürte die Wirkungen bereits nach einem Kopf. Ein zufriedenes Grinsen bildete sich auf Kaitos Lippen aus.

„Alter, das Zeug haut rein“, gab er zu bekennen und Sky begann zu lachen.

„Was ist daran so witzig?“, fragte er seine Freundin.

„Ich weiß es nicht“, kicherte sie. „Du hast dabei so lustig auszusehen.“

„Die ist einfach nur high“, sagte ich und blickte Annalina fragend an. „Du auch?“

„Ich merke schon was...“, gestand sie. Das Weiß ihrer Augen hatte sich in einem hellen Rot gefärbt, woran ich gut erkennen konnte, dass das Marihuana bei ihr wirkte.
 

Unsere Gespräche waren von da an eher schleppend und Kaito brachte uns alle zwei Sekunden zum lachen, obwohl er gar nichts Lustiges machte. Schließlich verschwand er mit Sky in Richtung Gästezimmer und Larissa wurde von einem betrunkenen Marc zum Tanzen aufgefordert. Widerwillig gab sie sich ihm hin und wurde in den Wohnraum geschleift, in welchem die meisten Leute waren und einen ziemlichen Lärm veranstalteten. Im Raucherraum waren nur wenige Gäste. Plötzlich hatte ich Lust mich auf den Boden zu setzen, anstatt in den Sitzsack. Verwirrt schaute Annalina zu wie ich mich auf dem Boden nieder ließ und mir eine Zigarette anzündete. Auch sie rutschte vom Sitzsack herunter und ein wenig näher an mich heran, sodass sich unsere Beine berührten.
 

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du echt heiß aussiehst, wenn du rauchst?“, fragte Annalina mich.

„Nein“, antwortete ich ehrlich und grinste sie verwegen an, während ich den Rauch ausblies. „Willst du auch?“ Ich reichte ihr die Zigarette, von der sie einen etwas leichteren Zug nahm. Noch ein wenig näher rückte sie, sodass sie beinahe auf meinem Schoß saß und unsere Gesichter nicht weit voneinander entfernt.

Was ist schon so schlimm daran? Niemand behauptete, dass Annalina sich in mich verliebt hätte. Vielleicht wollte sie nur einmal mit mir rummachen, nur einmal mit mir vögeln und dann eine normale Freundschaft zu mir pflegen. Oder sie war auf ein Freundschaft Plus aus, sowie früher Sheila eines mit Kaito gehabt hatte, ehe herauskam, dass Fynn Noah mit ihr betrog. Ich war nicht vergeben. Ich konnte niemanden betrügen und, selbst wenn Lukas noch Interesse an mir hatte, würde er nie etwas von Annalina und mir erfahren.

Ein weiteres Mal zog ich an der Zigarette, blies den Rauch aus und zerdrückte dann die Zigarette in meinem Aschenbecher.

„Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich etwas ausprobiere?“, fragte ich Annalina, die sogleich den Kopf schüttelte.

„Mach, was immer du willst.“

Ich nahm ihr schmales Gesicht in meine Hände, beugte mich vor und küsste ihre Lippen. Zuerst küssten wir uns nur ganz sanft, dann öffnete sie ihren Mund und ich ließ meine Zunge hinein gleiten. Das Erste, was mir durch den Kopf schoss war, dass sie nicht annähernd so gut küssen konnte wie Lukas. Trotzdem machte ich weiter. Ihre Hände klammerten sich an mein Oberteil, während ich meine Finger in ihre langen, braunen Haare vergrub.
 

Wenn sie jetzt Lukas wäre, würde ich vor Freude tanzen. Wenn sie jetzt Lukas wäre... wenn sie doch nur Lukas wäre... ich konnte diesen Gedanken nicht abschalten. Je mehr wir rummachten, desto stärker wurde er. Schließlich hörten wir auf und Annalina grinste mich glücklich an.

„Lass uns auch ein wenig tanzen und noch mehr trinken gehen, ja?“

„Gute Idee“, sagte ich. Vielleicht konnte ich ihn dann endlich vergessen. Auf jeden Fall lag Marc mit seinem Glauben, dass Sex gegen Liebeskummer half, ziemlich daneben. Gerade hatte es mehr geschmerzt als jemals in den letzten Wochen. Eher geknickt folgte ich Annalina in die Küche, in welcher sie uns Cuba Libre zusammen mischte. Ich blieb vor der Theke stehen, während sie den Kühlschrank öffnete, um eine frische Cola zu holen und genau in diesem Moment packte mich jemand am Shirt und riss mich mit sich. Eher verwirrt folgte ich der Person bis ich mit ihr wieder in der Raucherecke stand und erkannte eine äußerst wütende Samantha. Nein, wirklich, so wütend hatte ich sie noch nie erlebt und wir hatten schon viele Dinge erlebt, die sie wütend gemacht hatten. Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten mich an als wollten sie mich töten wollen und eine Ader pulsierte auf ihrer Stirn.
 

„Toll hast du das gemacht!“, fauchte sie, versuchte dabei nicht allzu laut zu klingen, damit es nicht jeder mit bekam.

„Jaa, ich weiß. Nein, worum geht’s?“, fragte ich.

„Das weißt du so ziemlich genau.“

„Hast du gesehen, dass ich mit Annalina rumgemacht habe?“

„Es geht nicht darum, dass ich es gesehen habe.“ Sam fuchtelte mit der Faust rum als hatte sie vor mir damit eine runter zu hauen. „Es geht darum, dass Lukas es gesehen hat!“

Lukas - Depressionen und Beziehungsstress

In ein paar Tagen würde Simon wieder abreisen und die Schule beginnen und ich hatte noch nichts von den Hausaufgaben gemacht, die wir so zahlreich über die Ferien auf bekommen hatten. Mal abgesehen davon, dass ich nun einmal Besuch hatte, konnte ich mich ohnehin nicht konzentrieren, denn meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich in der letzten Woche bewahrheitet. Gaara hatte mit mir abgeschlossen. Nun hatte er Annalina an der Angel. Sie war nicht die perfekte Blondine, für die ich sie gehalten hatte, aber scheinbar reichte sie für Gaara vollkommen aus. Vielleicht waren wir fünf Minuten auf dieser Party gewesen. Kamen gerade an, hatten nach Gaara gefragt und dann auch schon gesehen, dass er mit Annalina rummachte. Sogleich hatte ich das Haus wieder verlassen, Simon war mir gefolgt, während Sam zurück geblieben war. Später erzählte sie mir, dass Gaara bestürzt reagierte als er erfuhr, dass ich ihn gesehen hatte und ich wollte ihr auch gerne glauben, dass es ihm Leid tat, doch ich glaubte ihr nicht. Bevor zwischen Gaara und mir überhaupt etwas gelaufen war, hatte ich schon einmal die Angst gehabt, dass er nur mit mir spielte, um mich ins Bett zu bekommen. Und, wenn es ihm zu kompliziert wurde, schob er mich ab und suchte sich ein neues Spielzeug. Diese Angst war jetzt wieder da und, nachdem mich der Anblick am Donnerstag so verletzt hatte, wollte ich mir dieses Spiel nicht antun. Als Gaara mir also eine SMS schrieb, ob wir reden könnten, antwortete ich mit einem einfachen 'Nein.' Ich schrieb nicht mehr und nicht weniger. Simon hielt es für ziemlich hart, aber Simon gehörte auch zu der Sorte Mensch, die noch aus allem Hoffnung schöpfen konnten. Er machte sich Mühe mir einzureden, dass noch nicht alles vorbei war, aber für mich war es vorbei. Ich sah es nicht ein, mit mir spielen zu lassen, auch wenn ich noch so eifersüchtig, sauer und verletzt war.
 

„Das ist beinahe bewundernswert“, gab Noah zu, als wir ihn gemeinsam besuchten. Seit dem Beginn der Herbstferien hatte er das Haus nicht mehr verlassen. Seine strohblonden Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab und seine großen, tiefblauen Augen, die immer so sehr strahlten, waren von Müdigkeit gezeichnet. Er saß im Schneidersitz auf der Couch in seinem Zimmer, in einer bequemen Jogginghose gekleidet, mit einem dicken Kissen im Schoß und einer kleinen Schüssel Mandarine mit Quark in der Hand, welche er lieblos aß. Sein sommersprossiges Gesicht war ungewöhnlich blass und schon bei unserer Ankunft hatte er gesagt, dass wir nicht allzu lange bleiben konnten. Was mich jedoch am meisten an ihm erschreckte, war die Bandage, die am rechten Arm unter seinem Ärmel hervor lugte. Ich wagte es nicht ihn darauf anzusprechen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass er sich wieder geritzt hatte.
 

„Wenn auch ziemlich dämlich“, fuhr Noah fort. „Ich kenne Gaara gut genug, um zu wissen, dass er nicht mit dir spielen will. Er hat nicht nachgedacht. Wahrscheinlich hat er wieder gekifft und getrunken und dann irgendwelche Entscheidungen getroffen, die auf ein schiefes Denken beruhten. Du darfst ihn nicht schon direkt abschieben.“

„Sam meinte, ich solle ihn warten und leiden lassen.“

„Das ist aber gemein“, schaltete sich Simon leise ein.

„Was er gemacht hat, ist auch gemein“, sagte ich. Mein bester Freund saß neben mir auf dem Boden, gleich gegenüber den Couch. Draußen war es extrem windig, sodass sich die Bäume im Hintergarten bogen und Blätter gegen die Fensterscheiben klatschten, welche Noahs halbe Wand ausmachten. Er hatte ein riesiges Zimmer. Und wenn man zu seinem Schlafbereich wollte, musste man eine Wendeltreppe hoch gehen und gelangte in einen kleineren Raum, in den eigentlich nur sein riesiges Bett passte. Wenn man darauf lag, konnte man durch schräge Dachfenster in den Himmel blicken.
 

„Es ist deine Entscheidung, wie du es machst“, seufzte Noah. „Bei so etwas bin ich nicht gerade der beste Ansprechpartner. Ich wollte mit Fynn immer noch zusammen sein, obwohl ich wusste, dass er mich betrügt...“

„Ich werde mich nicht so von Gaara verletzen lassen“, entschied ich. „Wegen ihm kann ich mich nicht mal auf meine Hausaufgaben konzentrieren.“

„Scheiße, die Hausaufgaben!“ Beinahe verzweifelt fasste sich Noah mit einer Hand an die Stirn und fuhr sich durch seine strohblonden Haare. Hilflos saßen wir da und schauten zu, wie ihm Tränen in die Augen traten. „Scheiße...“

„Du hast doch noch Zeit dafür“, sagte Simon überfordert. „Du musst doch nicht... und auch, wenn du sie nicht hast, ist es doch nicht so schlimm. Du musst doch nicht anfangen zu weinen.“

„Noah...“, versuchte ich es mit sanfter Stimme, doch der Junge war schon am Weinen.

„Ich bin so ein Desaster“, klagte er und stellte die Schüssel auf den Couchtisch zwischen uns ab. „Ich mache den ganzen Tag lang nichts außer im Bett liegen und ich weiß, dass ich so viel zu tun hätte und Hausaufgaben machen muss und mal aufräumen sollte, aber ich bekomme nichts auf die Reihe. Ich kann nicht einmal... ich kann nicht einmal Dinge machen, auf die ich Lust habe.“

Während er sprach, stand ich auf und setzte mich neben ihn. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, deswegen nahm ich ihn einfach nur in den Arm und drückte ihn an mich.

„Ich würde mich so gerne mit euch treffen und rausgehen wollen, aber ich will nicht. Verstehst du das? Versteht das irgendjemand?! Ich hasse es, ich hasse es.“

„Das geht wieder vorbei...“, versuchte ich ihn zu trösten.

„Ja und dann kommt es wieder.“
 

Simon und ich hatten Mühe Noah wieder einigermaßen zu beruhigen. Schließlich hing er erschöpft in meine Armen und es war als würde ich ein kleines Kind halten. Bedrückt saß Simon daneben und schien nicht so recht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. Seit Donnerstag war ich nur wütend, ich hatte nicht geheult oder so etwas, ich war einfach nur wütend gewesen, aber jetzt spürte ich, wie mich das alles selbst erschöpfte. Das waren wirklich nicht die Art von Herbstferien wie ich sie mir erhoffte. Ehrlich gesagt, war das Erlebnis mit Simon, als er sich aus der Straßenbahn aussperrte, noch das Fröhlichste gewesen. Schließlich wollte Noah uns heim schicken, weil er sich schuldig fühlte, dass er uns den Tag versaute.
 

„Wenn du Gesellschaft brauchst, bleiben wir hier“, sagte ich entschieden.

„Nein, Simon kommt doch nicht nach Berlin, damit ihr mir beim Heulen zu schauen könnt“, sagte Noah und rieb sich über die gereizten Augen. „Es ist wirklich okay, wenn ihr geht.“

„Bist du dir ganz sicher?“, fragte nun auch Simon, doch Noah blieb dabei. Unsicher erhoben wir uns und ich beugte mich noch vor, um Noah einen Kuss in die Haare zu geben, dann verließen wir sein Zimmer. Noahs Vater saß im Wohnzimmer auf der Couch und las ein Buch. Vorsichtig klopfte ich gegen den Türrahmen und sagte ihm Bescheid, dass es Noah ziemlich schlecht gehen würde.

„Ich weiß, das geht schon seit Anfang der Ferien so“, seufzte der Mann und klappte sein Buch zusammen. „Ich gehe zu ihm. Danke, dass ihr hier wart.“
 

Ich wusste zwar nicht so recht wofür er sich bedankte, denn wirklich geholfen hatte unser Besuch nicht. Während dem Weg zur Straßenbahn schwiegen wir uns nur gegenseitig an, bis Simon leise sagte: „Scheiße.“

„Jap.“

„Depressionen zu haben... das würde ich mir nicht mal meinem schlimmsten Erzfeind wünschen“, murmelte Simon.

„Ich auch nicht.“

„Momentan scheint es ja echt niemandem gut zu gehen... außer Lynn“, fügte er verbittert hinzu.

„Und außer Annalina“, ergänzte ich noch verbitterter. Wir blickten uns an und aus irgendeinem Grund mussten wir anfangen zu lachen. Ich wusste wirklich nicht wieso, denn eigentlich gab es nichts zum Lachen und ich fühlte mich auch nicht danach. Seit letzter Woche war ich nicht mehr richtig mit den Gedanken zusammen und besonders nachts war es schwierig sich nicht vorzustellen wie Gaara mit Annalina rummachte und glücklich war. Doch gerade schienen wir den Punkt erreicht zu haben, bei dem man sich nicht mehr sicher war, ob man lachen oder weinen sollte und in einer solchen Situation entschied man sich immer lieber zum Lachen. Zumindest, wenn Simon dabei war.
 

„Ich will nicht, dass du wieder fährst“, sagte ich schließlich. „Wenn du bei mir bist, fühlt sich alles viel einfacher an.“

„Das klingt einfach nur ultra schwul...“

„Ich darf das!“, betonte ich empört und brachte Simon damit zum Lachen.

„Mir geht es aber genauso“, gestand er. „Und ich will nicht wieder in die Schule und mir anhören, was Lynn über Adrian zu berichten hat. Sie kann einfach von nichts Anderem erzählen. Wahrscheinlich kommt jetzt noch raus, dass sie über die Herbstferien mit ihm zusammen gekommen ist.“
 

Mit dieser Vermutung lag Simon leider richtig. Am letzten Tag vor seiner Abreise bat Lynn darum, dass wir gemeinsam skypten. Während sie also in Nordrhein-Westfalen hinter dem Bildschirm saß, klemmten wir uns gemeinsam hinter meinen Laptop und hörten zu, wie sie glücklich grinsend davon berichtete wie Adrian sie ganz offiziell gefragt hatte, ob sie seine Freundin sein möchte. Sie zeigte die Halskette, die er ihr geschenkt hatte und gestand dann, dass sie noch am selben Tag miteinander geschlafen hatten. Simon sah aus als hätte sie ihm ein paar kräftige Schläge direkt ins Gesicht verpasst und für einige Augenblicke dachte ich, er würde aufstehen und abhauen oder ihr sagen, dass sie die Klappe halten sollte, doch zu meiner Verwunderung begann er zu lächeln.
 

„Glückwunsch“, sagte er, während Lynn sich ganz verlegen durch die langen, braunen Haare strich. Sie hatte ein rundes Gesicht mit einer Stupsnase und großen, braunen Augen, die vor Freude strahlten. Auch von hier konnte man ihre stark ausgeprägten, weiblichen Rundungen erkennen, denn sie trug häufig Tops mit weitem Ausschnitt.

„Adrian will dich auch mal endlich richtig kennen lernen“, erzählte Lynn Simon beinahe aufgeregt. „Wir wollen demnächst mal zusammen grillen, solange das Wetter noch nicht ganz so kühl ist. Liane wird dabei sein, ein paar Freunde von Adrian und ihr und Genesis hat auch schon zugesagt. Könnte echt lustig werden und ihr müsst euch unbedingt mal richtig kennen lernen! Ich bin mir sicher, dass ihr euch gut verstehen werdet.“

„Klar, ich bin dabei“, versicherte Simon und ich konnte ihn dafür nur bewundern. Mir selbst tat es ihm Herzen weh zuzuhören, wie Lynn ihn in diese Sache hinein wickelte, obwohl es Simon nur Schmerzen bereitete. Dessen war ich mir ganz sicher, doch er ließ sich nichts anmerken. Ich verzichtete darauf ihr von dem Desaster mit Gaara zu erzählen, da sie gerade so glücklich war und ich sie nicht herunter ziehen wollte. Am Ende des Gesprächs schärfte sie mir ein, dass ich in den Winterferien nach Nordrhein-Westfalen kommen sollte, damit auch ich Adrian kennen lernte und überhaupt mal wieder bei ihr war. Ich musste es ihr hoch und heilig versprechen und erst danach beendeten wir das Gespräch und ich klappte den Laptop zu.
 

Für einige Momente kehrte in meinem Zimmer Stille ein. Zu hören war nur noch der laute Wind, der an den Fenstern rüttelte und die gedämpfte Musik, die aus Alex' Zimmer drang. Durch meinen Kopf gingen tausende Gedanken, doch ich konnte keinen fassen und aussprechen. Schließlich war es Simon, der zuerst die Stimme hob.

„Sie sah echt glücklich aus“, stellte er dumpf fest.

„Ja, richtig glücklich“, stimmte ich zu.

„Ich schätze, als ihr bester Freund sollte mich das auch glücklich machen.“

„Aber sie ist für dich mehr als eine beste Freundin.“ Simon blickte mich mit seinen braunen Augen an, deren Blick so bemitleidenswert aussah und zuckte die Schultern.

„Vielleicht sollte ich trotzdem glücklich sein“, sagte er. „Ich habe Adrian schon ein wenig kennen gelernt... er ist... nett und... er passt zu Lynn, also... ich denke nicht, dass er es nicht Ernst meint. Solange Lynn glücklich ist, ist alles okay.“

„Und was ist mit dir?“, fragte ich, zum Einen entsetzt, zum Anderen beeindruckt von seiner Denkweise. „Du hast auch ein Recht darauf glücklich zu sein.“

„Scheinbar noch nicht.“ Erneut zuckte er mit den Schultern und ein schiefes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. „Aber das ist schon okay so. Ich muss mit dem Gedanken leben, dass wir nur beste Freunde sind.“
 

Simon sagte das so leicht, aber ich wusste, dass es nicht so einfach für ihn war. In dieser Nacht konnte keiner von uns Beiden schlafen und am nächsten Tag waren wir noch mieser gelaunt als ohnehin schon die ganzen zwei Wochen. Nun hieß es wieder einmal Abschied nehmen. Am Bahnhof blickte mich Simon niedergeschlagen an, während der Zug einfuhr.

„In den Winterferien sehen wir uns wieder“, versuchte ich die Stimmung ein wenig aufzuheitern. „Und bis dahin haben wir all unsere Probleme geklärt.“

„Schon wär's“, lachte Simon mit einem Hauch von Spott in der Stimme.

„Du bist doch sonst immer so optimistisch.“ Ich knuffte ihn den Oberarm und versuchte es mit einem Lächeln, welches er schwach erwiderte.

„Wir sind ja noch jung“, sagte Simon. Um uns herum begannen die Menschenmassen in den Zug einzusteigen. „Das ist das erste Mal Liebeskummer, muss man leider auch mal erlebt haben. Irgendwann wird es besser.“

„Ja, jetzt sprichst du schon wie Simon.“ Ein Grinsen zierte meine Lippen. Zum Abschied umarmten wir uns, diesmal nur kurz und er stieg ebenfalls in den Zug ein. Ich blieb noch solange bis er wieder davon fuhr und fühlte mich für einen Moment wie ein ausgesetzter Hund. Mein Blick schweifte auf die Uhr, die hier am Bahnsteig hing und ich presste fest die Zähne aufeinander.

Mir blieben keine 24 Stunden mehr für die Hausaufgaben und ich hatte bisher kaum etwas gemacht. Aber noch viel schlimmer war, dass ich Morgen Gaara wieder sehen würde.

Gaara - Beste Freunde lässt man nicht im Stich Pt. 1

Wenn man vor der Entscheidung stand, ob man sich einem Problem stellen oder davor davon laufen sollte, dann gehörte ich zu denjenigen, die sich als Angsthasen outeten. Bei der Aussicht Lukas nach diesem Desaster wieder gegenüber zu treten, hatte ich mich also dazu entschieden den Schwanz einzuziehen und die ersten paar Tage lieber Zuhause zu bleiben als zur Schule zu gehen. Eltern, die mich dafür tadelten, hatte ich keine... Beziehungsweise, würde ich sehr wohl Ärger für das Schwänzen bekommen, wenn sie davon wüssten, doch da sie sich schon immer mehr für ihre Arbeit als für mich interessiert hatten, bekamen sie nichts davon mit. Am ersten Tag bekam ich Besuch von einer immer noch wütenden Samantha, die meine Ausreden, dass ich „krank“ wäre, gar nicht erst hören wollte. Genauer gesagt hatte sie mir eine Ohrfeige verpasst als ich damit anfing, danach hatten wir uns gestritten und nun ließ sie nichts mehr von sich hören. Es war ja nicht so als würde der Streit mit Lukas nicht vollkommen ausreichen, um meine Nerven blank liegen zu lassen, jetzt war auch noch eine meiner besten Freundinnen wütend auf mich.
 

Am zweiten Tag schneite dann zu meiner Überraschung Noah herein, der ein wenig blass um die Nase aussah, mir aber versicherte, dass er sich schon viel besser fühlen würde als in den Herbstferien. Groß und breit erzählte er mir, dass Lukas glaubte, ich würde nur mit ihm spielen und, dass er nicht noch mehr verletzt werden wollte. Dass ich ihn verletzt hatte, schmerzte auf der einen Seite, ließ mich auf der anderen Seite jedoch auch hoffen, dass Lukas tatsächlich mehr für mich empfunden hatte. Die Betonung lag auf 'hatte', denn jetzt wollte er ganz offiziell nichts mehr mit mir zu tun haben. Noah ging davon aus, dass noch nicht alles verloren war, außerdem machte er mir klar, dass meine 'Ich will ihm nicht mehr hinterher laufen'-Ausrede ab sofort nicht mehr zog.
 

Und am dritten Tag stattete mir dann Kaito einen Besuch ab. Zum Glück verzichtete er darauf mir eine Standpauke zu halten oder irgendetwas von Lukas zu erzählen, sondern berichtete mir davon, dass er sich zehn Gramm Hasch für wenig Geld besorgt hatte.

„Wenn du willst, können wir das am Wochenende einbacken“, meinte er, während wir draußen im Hintergarten saßen und gemeinsam eine rauchten. Da es mittlerweile recht kalt geworden war, trugen wir beide unsere Jacken. „Sky würde mitmachen und wir könnten noch ein paar Leute einladen... Larissa und Samantha zum Beispiel... wenn Sam sich bis dahin ein wenig beruhigt und du dich bei ihr entschuldigt hast.“

„Ich denke, Larissa ist auch sauer auf mich“, sagte ich. „Ich habe seit über einer Woche nichts mehr von ihr gehört, aber Annalina wird ihr wohl mittlerweile berichtet haben, was zwischen uns vorgefallen ist.“

„Du bist auch so ein Held“, seufzte Kaito schwermütig. „Wie kann man mit einem einzigen Fehler so viele Leute verärgern?“

„In so etwas war ich schon immer gut“, murmelte ich niedergeschlagen. „Um wie viel Uhr willst du das Samstag machen? Ich bin tagsüber in der Musikschule. Der alte Knacker zwingt mich dazu den Kinderchor zu leiten.“

„Ach, wie niedlich“, spöttelte Kaito mit einem frechen Grinsen auf den Lippen. „Dann schlage ich danach bei dir auf... so gegen 19 Uhr?“

„Einverstanden.“
 

Wie verbrachten den Tag ziemlich entspannt bis Kaito dann um fünf Uhr zu seine Freundin wollte und er da fiel mir ein, dass wir doch eigentlich Schule hatten...

„Warum bist du heute nicht in der Schule?“, fragte ich ihn verwirrt, als er schon halb zur Tür raus war. Bevor er mir eine Antwort gab, bekam er einen Lachflash.

„Das fällt dir echt früh auf!“

„Lass mich in Ruhe!“ Ich konnte nicht anders als das Lachen zu erwidern. „Ich hab meine Gedanken nicht richtig beisammen.“

„Ich hatte keine Lust auf den Nachmittagsunterricht“, antwortete Kaito Schulterzuckend. „Und ich musste dich doch besuchen gehen, Morgen kommst du aber wieder, oder? Sonst wollen die ein ärztliches Attest haben.“

„Ja, morgen komme ich wieder“, grummelte ich unglücklich.
 

In dieser Nacht schlief ich nicht gut. Als ich dann am nächsten Morgen aufstand, hatte ich Kopfschmerzen und war vollkommen übermüdet. Mit halb geschlossenen Augen zog ich mich um, gönnte mir einen Energy Drink und verließ ohne Frühstück das Haus. Ich steckte mir die Kopfhörer in meine Ohren und schlenderte auf die Musik von Imagine Dragons zur Straßenbahn. Normalerweise stieg ich in dieselbe Bahn mit der auch Kaito zur Schule fuhr, doch heute konnte ich ihn nirgends finden. Nicht in dem Abteil, in dem wir jeden Tag saßen und auch nicht in einem der Anderen. Also setzte ich mich einfach zu Schifti, der mit der Stirn gegen die Fensterscheibe gelehnt am Schlafen war. Bis wir bei der Schulstation ankamen, wachte er nicht mehr auf, weshalb ich unsanft an ihm rütteln musste.
 

„Scheiße!“, rief er aus und schreckte aus dem Schlaf hoch. Seine Augen waren rot und halb geschlossen und seine Lippen aufgesprungen. Scheinbar hatte er gestern Abend gefeiert – an einem Mittwoch. So was konnte auch nur Schifti.

„Mann, Gaara...“, stöhnte er als er mich erkannte.

„Steigst du mit aus?“ Ich klopfte ihm auf die Schulter und er quälte sich vom Stuhl hoch. Langsam schleppte er sich mir hinterher auf den Bahnsteig, wo er erst einmal die Arme in die Luft reckte und lauthals gähnte.

„Gestern war echt hart“, ließ er mich wissen. Gemeinsam gingen wir mit dem Strom der Schülermassen in Richtung Schulgebäude. Eine kalte Brise riss an meinen Klamotten, während ich die Kopfhörer in meiner Jackentasche verstaute. „Warum warst du eigentlich nicht dabei? Kaito meinte, dir ginge es momentan scheiße.“

„Wo dabei?“, fragte ich verwirrt.

„Hä? Na, bei dem Treffen gestern. Hat dir Kaito nichts davon erzählt?“

„Nein.“
 

Mir wurde seltsam zumute. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit, gemeinsam mit dieser schrecklichen Hitze, die in meinen Kopf kroch. Ich wurde nicht rot, diese Hitze fühlte sich an wie eine kochende Flüssigkeit, ein Vorbote von schlechten oder schockierenden Nachrichten. Warum sollte mir Kaito nichts von einem Treffen erzählen? Er war mein bester Freund. Solange wir nicht darauf aus waren mit jemanden Sex zu haben, machten wir alles gemeinsam.

„Echt komisch“, stellte Schifti fest und verzog seinen Mund. „Bin ich jetzt Schuld, wenn ihr euch streitet? Du rastet doch nicht aus, nur weil er dir nichts davon erzählt hat, oder?“

„Nein, ich frag mich nur wieso“, sagte ich und zog die Augenbrauen zusammen. „Was habt ihr bei dem Treffen denn gemacht?“

Gerade fiel mir nur eine Sache ein, wegen der Kaito mich nicht dabei haben wollte, doch diese Sache wollte ich nicht wahr haben. Es musste eine andere Erklärung geben. Er hatte sich doch so gut geschlagen, war diszipliniert geworden und hatte mir noch immer von Rückfällen erzählt, damit ich ihm beim Haare rasieren helfen und ihn wieder aufbauen konnte. Ich war seine Stütze, das hatte er mir selbst einmal gesagt. Deswegen musste es eine andere Erklärung geben...
 

„Wir haben uns ein bisschen was gegönnt“, sagte Schifti und rieb sich über die Augen. „Irgendjemand hatte so Pilze dabei und irgendjemand anderes Ecstasy und wir haben uns dazu entschieden beides zu nehmen. Anfangs der Hammer, das Runterkommen ist schon mies, aber der nächste Tag ist zerstörerisch. Ich wollte Zuhause bleiben, aber dann hätte mein Vater spitz gekriegt, dass ich gestern feiern war... oder so etwas in der Richtung und den Stress will ich mir echt sparen.“

„Ihr habt Drogen genommen“, stellte ich mir hohler Stimme fest. Schifti bemerkte erst jetzt, dass ich stehen geblieben war. Verwirrt wandte er sich zu mir um. Als er meinen Gesichtsausdruck sah, begann er plötzlich zu grinsen.
 

„Alter, Gaara. Du willst mir jetzt keine Predigt über Drogen geben, du bist der schlimmste Kiffer, den ich kenne. Und auf deinen Partys gibt es immer Ecstasy, Kokain, LSD und was weiß ich nicht alles. Deswegen dachte ich auch, dass du mitkommen würdest.“

„Nein.“ Tatsächlich wäre ich nicht mitgekommen, wenn mich jemand auf das Treffen eingeladen hätte. Unter der Woche irgendwelche Drogen nehmen. Außerdem verzichtete ich auf alles außer auf Marihuana und Alkohol, andere Drogen hatte ich schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr genommen. Was mich jedoch wirklich so schockierte war, dass Kaito zu diesem Treffen gegangen war.
 

„Er hat mir erzählt er wollte zu Sky“, sagte ich und schloss zu Schifti auf.

„Was meinst du, wo wir uns getroffen haben?“

„Ich wusste nicht, dass sie so offen mit Drogen ist!“

„Du siehst doch, wie die immer guckt.“ Schifti machte Skys schläfrigen Blick nach, bei dem ihre Augen nur halb offen waren und lachte. „Die ist dauerdrauf, glaub mir.“

Verdammt noch mal, Kaito! Ich biss mir auf die Unterlippe und wusste nicht, was ich denken oder tun sollte. Dass er mir solche Sachen verheimlichte, war etwas vollkommen Neues für mich. Eigentlich erzählten wir uns alles. Ich musste sofort mit ihm reden... doch wenn ich jetzt ging, würde ich einen ärztlichen Attest für die Schule brauchen und den bekam man nicht mehr so leicht wie früher. Mittlerweile wollten die Ärzte tatsächlich eine Untersuchung durchführen und schrieben ihre Atteste nicht mehr einfach so aus. Früher war das mal anders gewesen. Vielleicht war Kaito doch heute in der Schule oder kam nach, weil er verschlafen hatte oder Ähnliches. Ich ging also mit Schifti mit zur Schule, konnte jedoch keine ruhige Minute mehr finden.
 

Ständig zerbrach ich mir den Kopf über Kaito und malte mir die schlimmsten Szenarien aus, in denen Sky ihn dazu brachte Chrystal Meth und Heroin zu probieren, was irgendwann mit dem goldenen Schuss endete. Nein, Kaito würde nicht ein solches Drogenopfer wie seine Mutter werden, davor hatte er immer Angst gehabt. Deswegen wollte er auch eigentlich keine Drogen mehr nehmen, allerhöchstens nur noch an den Wochenenden auf einer meiner Partys, sodass ich dabei war und auf ihn aufpassen konnte. Das war unser Deal gewesen – Nein, unser Versprechen! Kaito hatte es mir versprochen und eigentlich dachte ich, dass ich mich auf der Versprechen meines besten Freundes verlassen könnte.
 

Ich war in Gedanken so mit ihm beschäftigt, dass ich nur die Hälfte des Unterrichts mitbekam. Kaito tauchte den ganzen Vormittag nicht in der Schule auf, Sam warf mit ständig wütende Blicke zu und Lukas hielt so viel Abstand zu mir wie nur möglich. Seltsamerweise konnte ich mich nicht wirklich damit beschäftigen. Nicht mit der wütenden Sam und auch nicht mit Lukas. Meine Nervosität konnte ich kaum verbergen, denn mein Bein zuckte unablässig und ich kaute mit die Unterlippe halb durch. In der Mittagspause war es dann Noah, der mich darauf ansprach.
 

„Du bist heute so durcheinander“, stellte er besorgt fest. Ich saß auf dem Boden in der Raucherecke mit einer Zigarette ihm Mund, Noah kniete sich vor mich und auch Sam ließ sich bei uns nieder und sah nicht mehr ganz so wütend aus. Am Ende konnte sie keinem von uns Dreien (Kaito, Noah und mir) lange wütend sein, dafür bauten wir zu häufig Scheiße und machten ihr zu viele Sorgen.

„Ja, tut mir Leid“, sagte ich, während ich mein Handy auspackte. Keine neue Nachrichten. Ich öffnete Kaito in den Kontakten und begann eine SMS zu tippen. Erst einmal wollte ich so tun als wüsste ich nichts von dem Treffen und Skys Drogenproblemen, sondern fragte bloß, warum er nicht in der Schule war.

„Ist was passiert?“, fragte Noah.

„Hmm, die Sache mit Lukas macht mir zu schaffen.“

„Als ich vorgestern bei dir gewesen war, warst du aber nicht so durcheinander“, merkte Noah an und Sam seufzte schwer. „Gaara, wie lange kennen wir uns jetzt schon? Glaubst du, wir würden es nicht merken, wenn du etwas zu verbergen hast?“
 

Ich blickte die Beiden an. Schon seit Jahren waren wir eine Clique, wir Vier gemeinsam, die besten Freunde, die gemeinsam durch Dick und Dünn gingen. Auch wenn wir uns manchmal stritten, auch wenn Sam häufiger mal sauer auf uns war, auch wenn wir uns gegenseitig schon das ein oder andere Mal ziemlichen Ärger eingehandelt hatten. Am Ende hielten wir immer zusammen, deswegen könnte ich ihnen doch von Kaito erzählen... obwohl wir in letzter Zeit keine richtige Clique mehr waren. Noah verbrachte mehr Zeit mit Hannah und Lukas und Sam war beinahe nur noch bei ihrem Freund, ebenso wie Kaito ständig mit seiner Freundin unterwegs war. Mich hatte man dabei so ein bisschen vergessen. Außerdem würde Sam Kaito direkt eine Standpauke halten, wofür er mir wahrscheinlich dann sauer war und Noah hatte schon genug eigene Probleme, da musste ich ihm nicht noch die von Kaito und mir aufladen.
 

„Es ist nicht Wichtiges“, winkte ich ab. „Ich glaube, ich bin so nervös, weil ich schon wieder was zum Kiffen brauche.“

„Ach Gaara!“ Und Sam hielt mir eine Standpauke.
 

Am Nachmittag, als die Schule dann endlich vorbei war, bekam ich eine Antwort von Kaito. Alles, was er schrieb, war, dass er bis eben geschlafen hatte und scheinbar fand er das auch noch lustig, denn er hatte einen Lachsmiley dahinter gesetzt. Wäre es ihm einfach so passiert, ohne die Drogengeschichte, wäre es auch eine witzige Situation, aber da nun einmal die Drogen daran Schuld waren, dass er so lange geschlafen hatte, konnte ich es nicht lustig finden. Ich fragte ihn, ob wir uns treffen könnten und er schrieb zurück, dass er schon mit Sky verabredet war.
 

„Wir treffen uns doch Samstag“, stand in der SMS.

„Könntest du dann etwas früher als die Anderen kommen?“, schrieb ich zurück und Kaito antwortete: „Klar!“

Gut, dann würde ich also am Samstag mit ihm darüber reden...

Gaara - Beste Freunde lässt man nicht im Stich Pt. 2

Der Samstag kam und ich hatte kaum Konzentration mich um den Kinderchor zu kümmern. Mal wieder war es ein absolutes Chaos, was hauptsächlich darauf basierte, dass keines der Kinder Lust hatte, das Lied zu singen, welches mir Herr Kemp in die Hand gedrückt hatte. Dabei handelte es sich um ein einfaches Kinderlied, welches man vielleicht mit Grundschülern hätte einstudieren können. Doch ich saß hier mit einem Haufen 12 – 15 Jähriger und die hatten sicherlich keine Lust auf so eine 'Alle meine Entchen'-Scheiße. Irgendwann saß ich mit Kopfschmerzen auf einem der Stühle, während die jungen Jugendlichen mich nicht mehr länger beachteten, sondern herum alberten oder sich stritten oder sich prügelten oder sich gegenseitig ärgerten – was Kinder in einem solchen Alter nun einmal taten. Als würde ich hier eine Schulklasse leiten. Mein Blick fiel auf die Uhr, die über der Tür hing und mir anzeigte, dass wir nur noch eine viertel Stunde hatten. Seufzend erhob ich mich und brüllte so laut ich konnte: „ALLE MANN, FRESSE HALTEN!“
 

Augenblicklich war es still und die zwanzig Jugendlichen blickten mich aus großen Augen heraus an. Ich hatte dreizehn Mädchen und sieben Jungen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen sozialen Schichten. Es war so eine bunte Mischung, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie in irgendeiner Weise harmonieren könnten. Nur in einer Sache waren wir uns alle einig: Niemand hatte Lust auf dieses Lied.
 

Ich hob den Zettel auf dem der Text stand und zerriss ihn in mehrere Teile. Überrascht und verwirrt blickte mich der Chor an.

„Eine kurze Geschichte, wie ich dazu gekommen hier zu arbeiten“, sagte ich und warf die Blätter wie Konfetti in die Luft. „Meine Eltern wollten, dass ich ein Instrument lerne, also haben sie mich hierher gesteckt. Herr Kemp ging mir auf den Sack je älter ich wurde und irgendwann habe ich mich so mit ihm gefetzt, dass er sagte: Wenn du der Meinung bist, du kannst die Klasse besser leiten als ich, dann mach es doch! Gesagt, getan und er musste sich eingestehen, dass ich tatsächlich ein guter Musiklehrer bin. Ich finde dieses Lied ebenfalls scheiße.“ Ich zeigte auf den Blätterhaufen, der sich auf dem Boden verteilte. „Daher habe ich einen Vorschlag für euch: Nächste Woche trägt jeder von euch ein Lied oder ein Ausschnitt aus einem Lied vor. Mir scheißegal welches, es soll nur eins sein, dass zeigt, was ihr drauf habt. Danach entscheiden wir gemeinsam, welches Lied wir einstudieren. Abgemacht?“
 

Zuerst wechselten die Jugendlichen untereinander Blicke, dann bildeten sich auf verschiedenen Gesichtern ein breites Lächeln und sie nickten zustimmend. Damit entließ ich sie für heute und kaum, da alle weg waren und ich ebenfalls gehen wollte, wurde ich von Herr Kemp im Musikladen aufgehalten. Gerade als ich schon die Tür auf und einen Fuß draußen hatte.

„Eh, Balg.“

„Alter Knacker?“

„Kannst du mir mal verraten, warum du die Kinder schon heim geschickt hast?“, fragte der Alte säuerlich. Charlenne, die ebenfalls damit beschäftigt war Feierabend zu machen, tat als wäre sie unsichtbar und würde dieses Gespräch nicht mitbekommen. Irgendwie hatte ich das Mädchen lieb gewonnen, obwohl sie kein Wort über die Lippen brachte, wenn ich sie ansprach.

„Wir waren fertig für heute“, antwortete ich.

„Ihr seid fertig, wenn die Zeit rum ist!“, entgegnete Herr Kemp. „Du hattest noch eine viertel Stunde!“

„Reg dich ab, ich hab alles unter Kontrolle.“

„Das habe ich gehört! Das war das schlimmste Geschrei seit langem. Du hast nicht ein einziges Mal mit ihnen gesungen.“

„Das kommt noch!“, sagte ich und wurde langsam ebenfalls wütend. In meinem Kopf hämmerte es. Ich musste Heim, damit ich noch mit Kaito reden konnte bevor die Anderen kamen. Merkte der Knacker nicht, dass ich Wichtigeres zu tun hatte?

„Das hoffe ich für dich, sonst bist du schneller wieder draußen als du gucken kannst.“

„Du gehst mir echt auf die Nerven!“

„Und du mir erst!“
 

Mit den Augen rollend verließ ich das Gebäude und ließ die Tür hinter mir zufallen. Schnell ging ich in Richtung der Straßenbahn und grummelte Beleidigungen und Flüche gegen Herr Kemp. In meiner Kindheit hatte ich häufig das Gefühl gehabt, dass er mir eher ein Vater war als mein Richtiger. Ich sah ihn häufiger, er hatte immer versucht mich zu erziehen und wir hatten uns ständig gestritten, was zwischen Vater und Sohn nicht gerade unnormal war. Nun ja... so wirklich ein Vater konnte er mir nicht sein, dafür ging er mir zu sehr auf die Nerven. Wenn ich daran zurück dachte wie Lukas über den Tod seines Vaters geheult hatte, mir würde es nicht so schlimm sein, wenn der alte Sack drauf ging. Und damit war ich in Gedanken mal wieder bei Lukas angelangt, was meine Kopfschmerzen nur noch schlimmer machte.
 

Ich hatte darüber nachgedacht wie ich ihm die Sache erklären sollte, aber egal wie, jede Erklärung klang absolut mies. 'Ich wollte nur mal ausprobieren, ob sie so gut küssen kann wie du' – Nope. 'Ich hatte Sehnsucht danach berührt und geliebt zu werden' – Na klar, das glaubt er mir niemals. 'Marc meinte mal vögeln hilft über Liebeskummer' – Für wie blöd kann ich mich selbst eigentlich halten? Am Ende kam keine Erklärung heraus, die in meinen Augen ausreichend wäre. Ich hatte Scheiße gebaut. Das war alles, was es zu Annalina und mir zu sagen gab. Doch seltsamerweise hörte ich nicht damit auf, denn ich hatte mich mit ihr für nächste Woche schon wieder verabredet. Wenn Sam das heraus fand, wird sie mich mindestens zwei Köpfe kürzer machen.
 

Während der Fahrt nach Hause grübelte ich vor mich und war so in Gedanken versunken, dass ich beinahe an meiner Station vorbei gefahren wäre. Noch rechtzeitig stieg ich aus und kam nach wenigen Minuten vor meiner Haustür an. Drinnen erwartete mich das Chaos, welches ich in den letzten Tagen hinterlassen hatte. Normalerweise räumte ich regelmäßig auf, putzte das Haus und kümmerte mich überhaupt um den Haushalt, weil es ja sonst keiner machte, doch in letzter Zeit hatte mich die Faulheit voll im Griff. Seufzend räumte ich so auf, dass es wenigstens nur ein bisschen chaotisch aussah, schließlich wollte ich meinen Gästen keine Unordnung zumuten. Gerade als ich zwei randvolle Aschenbecher ausleerte und in die Spülmaschine stellte, wurde die Tür zu meinem Haus aufgeschlossen. Das konnte nur Kaito sein.
 

Mit einem Grinsen auf den Lippen warf er die Tür wieder hinter sich zu und pflanzte sich auf einen Stuhl vor der Theke. Stumm machte ich die Spülmaschine an und während ihr Rauschen los ging, wandte ich mich mit ernstem Blick meinem besten Freund zu. Das Grinsen wich beinahe sofort von seinen Lippen und verwandelte sich in einen ertappten, unschuldigen Ausdruck. Wahrscheinlich wusste er ganz genau, worüber ich mit ihm reden wollte.
 

„Warum hast du mir nichts von dem Treffen erzählt?“, fragte ich also ohne große Umschweife. „Waren die Drogen echt so hart, dass du drei Tage lang nicht zur Schule kommen konntest? Du siehst echt nicht so krank aus. Und du hast dir auch nicht die Haare rasiert.“

Ich deutete auf die braunen Haare, deren kurzen Strähnen ein wenig in sein blasses Gesicht fielen. Er trug seine Lieblingsjacke: Eine graue Stoffjacke und darüber eine Jeansweste, auf deren Rücken 'Life sucks and then you die' eingenäht war.

„Ich rasiere mir die Haare nur, wenn ich wieder kokse“, antwortete Kaito schulterzuckend. „Und das hab ich seit Monaten nicht mehr gemacht.“

„Aber Pilze und Ecstasy sind auch nicht gerade schwache Drogen.“

„Genau deswegen habe ich dir übrigens nichts von dem Treffen erzählt“, sagte Kaito seufzend. „Weil ich genau wusste, dass du mir nur eine Predigt halten würdest und ich hatte keine Lust mich mit dir zu streiten.“

„Also wolltest du mir nie etwas davon erzählen?“

„Ich wollte es dir heute erzählen.“

Ich konnte nicht sagen, ob Kaito dies Ernst meinte oder nicht. Sowohl er als auch ich waren immer so gut im Lügen gewesen, dass wir sogar manchmal voneinander nicht wussten, ob wir die Wahrheit sprachen. Gerade war wieder ein solcher Moment, denn, dass Kaito vor mir Geheimnisse hatte, war mir etwas vollkommen Fremdes. Und es fühlte sich nicht gut an.
 

„Ich will mich auch nicht mit dir streiten“, gab ich zu. „Aber bitte, hör auf mich so aus deinem Leben auszuschließen. Das fühlt sich echt scheiße an.“

„Tut mir Leid“, murmelte Kaito betreten. „Du wärst aber ohnehin nicht zu dem Treffen gekommen, oder? Dafür kenne ich dich so gut, das ist nichts für dich.“

„Ja, aber es wäre trotzdem cool, wenn du mir von so etwas erzählst... ich muss doch aufpassen, dass du es nicht übertreibst.“ Eigentlich hatte ich das Ernst gemeint, doch Kaito brachte es zum Lachen. Etwas beleidigt blickte ihn an, bis ich bemerkte, dass der Satz schon ziemlich kitschig klang. Ein Schmunzeln bildete sich auf meinen Lippen.

„Ja, gut, ich sag dir ab sofort immer Bescheid. Heute Abend zum Beispiel, werde ich Haschmuffins essen.“

„Das weiß ich doch selbst!“, entfuhr es mir und diesmal mussten wir Beide lachen.
 

Seltsam, wie schnell ich ein Problem mit Kaito lösen konnte. Wenn es mit Lukas doch auch so einfach ginge. Gemeinsam bereiteten wir alles vor bis dann unsere Gäste eintrafen. Dabei handelte es sich um Larissa, Sky und Samantha. Während Sky und Sam anfingen zu backen – Niemand machte besser Haschmuffins als Sam! - saßen wir anderen Drei im Wohnzimmer und plauderten. Wie so häufig steckte eine Zigarette zwischen meinen Lippen, grauer Rauch erfüllte die Luft und Larissa hatte sich dazu entschieden sich rücklings auf die Couch zu legen. Sodass ihre Beine über die Rückenlehne lagen und ihr Kopf über den Rand hing. Ihre schwarzen Haare fielen wie ein Wasserfall herunter. Eine Weile lang unterhielten sich Kaito und ich über irgendwelche bescheuerten Sachen, die in der Schule geschehen waren, dann meldete sich Larissa trocken zu Wort.
 

„Das Blut steigt in meinen Kopf... wenn ich einen Penis hätte, würde mich das jetzt nerven.“

„Hä?“ Kaito und ich begannen zu lachen.

„Die Muffins sind noch nicht mal fertig und du redest schon so nen Scheiß!“

„Ihr wisst, dass ich für so etwas nicht high sein muss“, grinste Larissa.

Wenig später backten die Muffins im Ofen und wir warteten ungeduldig darauf, dass sie fertig wurden. Die beiden Mädchen hatten nicht alles an Hasch verwendet, dass Kaito besorgt hatte, da es ansonsten zu heftig wäre, doch versicherten sie uns, dass es nicht ohne sein würde. Jeder von aß einen Muffin als diese ein wenig abgekühlt waren und dann bedeutete es abzuwarten bis die Wirkung einsetzte. In dieser Zeit schalteten wir den Fernseher an. Larissa und ich entschieden uns irgendwann gemeinsam draußen eine Rauchen zu gehen, während die anderen drin blieben, da es ein wenig regnete und ziemlich kühl war. Larissa zog sich meine Jacke an, sodass ich nur im Shirt draußen saß, doch das machte mir wenig aus. Ich genoss die kühle Luft auf meiner Haut. Wir setzten uns auf die Sitzsäcke und lauschten dem gleichmäßigen Prasseln des Regens, der auf das Vordach traf und die Wiesen benetzte. Das Gras war ziemlich lang geworden... eigentlich müsste ich mal wieder den Rasen mähen, aber das war eine der Arbeiten, auf die ich immer am Wenigsten Lust hatte.
 

„Annalina hat mir erzählt, was zwischen euch passiert ist“, sagte Larissa irgendwann und blies den Rauch ihrer Zigarette aus.

„Ich dachte, du würdest sauer werden, wenn du es erfährst.“

„War ich auch erst“, gab Larissa zu. „Aber dann habe ich länger darüber nachgedacht und denke, dass ihr Beiden alt genug seid, um solche Entscheidungen selbst zu treffen. Wenn du sie näher an dich heran lässt, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass sie sich in dich verlieben könnte. Sie ist ein nettes Mädchen und du bist ein netter Junge, lass deine Frustration nicht darin aus, sie zu verarschen.“

„Ich will sie nicht verarschen.“

„Wenn du ihr vorspielst Gefühle für sie zu empfinden, obwohl du in jemand anderen verknallt bist, ist das für mich Verarschen.“ Sie blickte mich aus ernsten Augen an. Aus dem Wohnzimmer drang gedämpft das Gelächter der Anderen, die miteinander herum alberten. „Sie weiß nicht einmal, dass du bisexuell bist.“

„Muss sie auch nicht unbedingt wissen“, sagte ich schulterzuckend. „Ich werde sie nicht verarschen.“
 

Vor meinen Augen begann langsam die Umwelt zu verschwimmen. Das Hasch begann zu wirken, weshalb Larissa und mein Gespräch an dieser Stelle beendet war. Wir drückten unsere Zigaretten aus und gingen zurück zu den Anderen, um gemeinsam eine Reise ins Fledermausland zu unternehmen.

Gaara - Beste Freunde lässt man nicht im Stich Pt. 3

In der nächsten Woche kam Kaito wieder zur Schule und ich konnte mich wieder auf das Problem mit Lukas konzentrieren. Wunderbar... nicht. Wenn er noch mehr Abstand von mir halten würde, müsste er zurück nach Nordrhein-Westfalen ziehen müssen, was ich natürlich nicht hoffte. In den Pausen stand ich geistig abwesend in der Raucherecke und beobachtete ihn quer über den Schulhof, wie er auf einer der Bänke mit Kiaro und Florian saß. Häufig leisteten ihm auch Sam und Noah Gesellschaft, solange sie nicht gerade eine rauchen wollten. Und immer beobachtete ich ihn bis zum Pausenende mit einem nervösen, schmerzhaften Herzklopfen, weil ich mir vornahm ihn anzusprechen, es mich aber nicht traute. Dass der Tag einmal kommen würde, an dem ich zu viel Angst davor hatte, jemanden anzusprechen, hätte ich niemals für möglich gehalten. Ebenso wenig für möglich hatte ich es immer gehalten, dass ich mich in jemanden verlieben würde. Dank meiner Eltern hielt ich von Anfang an nicht allzu viel von Liebe, sondern bezog mich lieber auf das Körperliche. Bisher hatte mir das auch gereicht, aber jetzt konnte ich mir einfach nicht vorstellen jemals wieder glücklich zu werden, solange ich nicht mit Lukas zusammen war. Trotzdem sprach ich ihn nicht an.
 

Schließlich kam der Tag an dem ich mich abends mit Annalina verabredet hatte und nach nur kurzer Zeit fand ich mich auf der Couch sitzend wieder, ihr Kopf auf meiner Schulter gelehnt. Mit einer Hand streichelte sie mir über den Oberschenkel. Ich konnte nicht aufhören mir zu wünschen, dass an ihrer Stelle Lukas dort sitzen würde. Vermutlich wäre ich dann schon hart in der Hose, nur von den Berührungen an meinem Oberschenkel, aber, da es sich nicht um ihn handelte, war ich mit der Situation eher unglücklich. Wenn ich mich ganz darauf einließ, spürte ich, dass mir gut tat so sanft angefasst zu werden, aber dieser tief verankerte Wunsch nach Lukas hörte einfach nicht auf.
 

Im Fernsehen lief ein Film, der angeblich gut sein sollte, von dem ich aber nicht allzu viel mitbekam. Annalina unterhielt sich mit mir, doch es war eine eher einseitige Unterhaltung, da ich immer nur in kurzen Sätzen antwortete. Schließlich richtete sie sich auf und blickte mich besorgt an.

„Du bist heute total abwesend“, stellte sie fest. „Ist etwas passiert?“

Wenn ich ihr jetzt die Wahrheit sagte, bekam ich vermutlich eine Backpfeife verpasst und würde sie nie wieder sehen.

„Ach, ich mache mir nur etwas Sorgen um Kaito“, antwortete ich also, was zumindest die halbe Wahrheit war. „Außerdem stresst mich Herr Kemp mit seinem Kinderchor und ich schreibe nächste Woche zwei Prüfungen.“

„Klingt wirklich nach Stress“, sagte Annalina und legte den Kopf ein wenig schief. Ein Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen. „Wenn du willst, helfe ich dir dabei, ein wenig zu entspannen.“ Sie lehnte sich vor und gab mir einen Kuss.
 

Ich wusste nicht einmal, ob ich dies wollte oder nicht. Das letzte Mal hatten wir uns auf meinem Geburtstag geküsst und es war in einer Katastrophe geendet. Aber diesmal würde Lukas wohl kaum vorbei schauen und uns miteinander sehen. Es fühlte sich komisch an Annalina zu küssen, doch ich ließ sie machen, was sie wollte. Warum? Weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich ein Idiot war und Idioten taten idiotische Sachen. Sie stupste mit ihrer Zunge gegen meine Lippen und ich öffnete sie, ließ sie mit meiner Zunge spielen. Schließlich setzte sie sich zu mir gewandt auf meinen Schoß und ihre langen, braunen Haare fielen wie ein Schleier um unsere beide Gesichter, verdeckten wie wir uns küssten. Ich hielt sie mit den Händen an den Oberschenkeln fest. Als sie ihre Finger unter mein Oberteil geleiten ließ und über meine nackte Brust strich, hörte ich abrupt auf in dem was ich tat.
 

„Was ist?“, fragte sie mich verwirrt. „Gefällt es dir nicht?“

Nein, nicht solange du nicht er bist.

„Doch, aber... noch nicht. Lass uns erst mal schauen, worauf das Ganze hinaus läuft.“

„Tun wir doch gerade“, grinste sie neckisch.

„Ich habe zu oft mit Mädchen geschlafen und danach nie wieder etwas mit ihnen zu tun gehabt. Das ist nichts gegen dich, es geht hier eher um meine Einstellung.“ Ich log mich um Kopf und Kragen, aber die Worte wollten nicht aufhören aus meinem Mund zu purzeln. „Mir wäre es lieber, wir lernen uns noch besser kennen, bevor wir über das Küssen hinaus gehen.“

„Na schön“, seufzte Annalina und klang dabei ein wenig enttäuscht. „Aber du bist selbst Schuld, wenn ich mehr von dir will. Wer hat dir auch erlaubt so gut auszusehen? Dann hätte ich mal eine Frage an dich... Larissa wollte mir darauf nicht antworten, sie meinte ich soll dich selbst fragen... also... warum sind deine Eltern nie Zuhause?“
 

Der Rest des Abends bestand daraus, dass wir uns gegenseitig von unseren Familien erzählten und ich erfuhr, dass sie eine ganz normale Familie hatte. Keine Scheidung, ein kleiner Bruder. So normal, dass es schon wieder langweilig war. Doch ihre Geschichten waren recht lustig, weshalb die Unterhaltung nicht peinlich oder langweilig wurde. Schließlich verabschiedete sie sich nach Hause und gab mir noch einen Kuss auf die Lippen ehe sie verschwand. Ich schloss hinter ihr ab und blieb für einige Momente mit der Hand an der Klinke stehen, legte den Kopf auf der Tür ab und presste die Augenlider zusammen. Das lief in eine Richtung, in die ich nicht wollte. Schwer seufzte ich, löste mich von der Eingangstür und ging zurück ins Wohnzimmer, um dort mein Handy zu holen. Ich suchte die Nummer von Kaito raus und klingelte ihn an.
 

Es dauerte eine Weile bis er abhob und sich mit verschlafener Stimme meldete: „Hallo?“

„Krass, warst du schon im Bett?“, fragte ich vor jeder Begrüßung.

„Sozusagen“, antwortete er.

„Ok, tut mir Leid. Aber es ist wichtig, hör zu. Ich weiß nicht, was ich hier eigentlich mache und brauche Hilfe. So langsam wird das zwischen Annalina und mir echt Ernst und sie hat es gar nicht verdient, mit jemandem wie mir etwas anzufangen, sie hat viel Besseres verdient! Jemanden, der wirklich was von ihr will und nicht, wie ich, eigentlich in einen Kerl verliebt ist. Aber ich bekomme nichts auf die Reihe und abgesehen davon, brauche ich noch mehr gutes Gras. Mein Vorrat geht zuneige!“ Während ich sprach war ich in die Küche gegangen und hatte aus einem der Schränke meinen Marihuanavorrat geholt, den ich in einer Plastikdose aufbewahrte. Der Geruch umspielte meine Nase und ließ mich ihn für einen Moment mit geschlossenen Augen genießen. Ja, ich brauchte einen Joint, um jetzt wieder runter zu kommen. Ich klemmte mit das Telefon zwischen Ohr und Schulter und begann mit einen zu bauen.
 

Als ich mit meinem kleinen Vortrag endete, herrschte auf der anderen Seite der Leitung Stille.

„Hast du mich gehört?“, fragte ich nach.

„Ehm... nicht so richtig.“ Kaito klang noch immer verschlafen und er sprach ungewöhnlich langsam. „Du brauchst Gras. Mehr hab ich nicht gerafft.“

„Natürlich, den Part mit den Drogen hast du verstanden“, sagte ich scherzhaft und begann zu grinsen, doch statt einem frechen Kontrakommentar, wie ich ihn von ihm erwartete, kam nur ein „Was?“ zurück.

„Ist alles klar bei dir?“, fragte ich besorgt. An der Leitung konnte es nicht liegen, ich verstand Kaito perfekt. Außerdem hatte es dahingegen noch nie Probleme beim Telefonieren gegeben.
 

„Jaja“, antwortete Kaito lahm. „Alles klar... ich bin... halb am schlafen.“

„Wir haben gerade mal elf Uhr. Seit wann gehst du so früh ins Bett?“

„Es ist alles klar bei mir, alles klar.“

Das war mir nun doch zu seltsam. Die einzige logische Erklärung, die mir in den Sinn kam, war, dass Kaito schon wieder Drogen genommen hatte. Wieder unter der Woche, und das, obwohl er morgen seine Deutschprüfung schrieb.

„Ist jemand bei dir?“, erkundigte ich mich. „Bist du Zuhause oder bei Sky?“

„Sky.“

„Kannst du mir die mal geben?“

„Schläft.“

„Du schreibst morgen Deutsch, weißt du?“

„Jaja... ich geh mal... wir reden morgen... ja?“ Und damit legte er wieder auf.
 

Unglücklich blickte ich auf mein Handy. Hoffentlich würde er morgen kommen. Auf jeden Fall musste ich morgen Samantha davon berichten, auch wenn das nur wieder Stress geben würde, wenigstens traute sie sich jedem ihre Meinung zu geigen. Darum würde ich ihr auch nicht von der Sache mit Annalina erzählen, da musste ich mir wohl einen anderen Ansprechpartner suchen. Oder ich wartete bis sich Kaito mit seinem Problem wieder gefangen hatte, das war wohl das Beste.
 

Ich steckte mir den Joint in den Mund und zündete ihn an. Genüsslich machte ich einen kräftigen Zug, spürte wie der Rauch meine Lungen füllte und das Gefühl in meinen Kopf stieg und mich betäubte. Dabei fiel mir wieder der Bergriff Fledermausland ein, den wir aus einem Lied aufgegriffen hatten. Ursprünglich stammte er aus einem Film in dem ein Mann, der auf Drogen war, sagte „Wir können hier nicht weiter, hier ist Fledermausland.“ Für uns bedeutete das Fledermausland high zu sein, obwohl der Begriff an sich eine ganz und gar nicht positive Bedeutung hatte.

„Und das Wohnmobil hat Räder, verdammt, doch wir können hier nicht weiter, hier ist Fledermausland“, sang ich leise vor mich hin und blies den Rauch aus. „Und so bleib ich in der Wagenburg und lebe hier, kannst du die Berge nicht erreichen, hol den Schnee zu dir...“
 

Am nächsten Tag hätte ich nicht mieser gelaunt sein können. Von Kaito fehlte wieder jede Spur, was meinen Verdacht, dass er am gestrigen Tag Drogen genommen hatte, nur noch verstärkte. Übermüdet saß ich im Unterricht und hörte nur mit halbem Ohr zu, selbst in den Fächern, in denen ich nächste Woche meine Prüfungen schreiben würde. In meiner Freistunde setzte ich mich in die Bibliothek und versuchte die Englischlektüre weiter zu lesen, bei der ich ein paar Kapitel hinterher hing, doch meine Konzentration war so gut wie gar nicht vorhanden. Schleppend ging der Vormittag rum und in der Mittagspause hatte ich dann endlich Zeit Sam beiseite zu nehmen. Leider musste sie gerade mit Lukas und Noah auf dem Weg nach draußen sein, weshalb ich ziemlich unsicher ein paar Meter hinter ihnen ging. Irgendwie musste ich an Sam ran, ohne dabei Lukas' Aufmerksamkeit zu erregen. Unter seinem Blick würde ich wahrscheinlich zusammen schrumpfen und die Flucht ergreifen.
 

Nervös schloss ich auf, sodass ich Sam von hinten am Oberteil zupfen konnte. Als sie stehen blieb und sich umwandte, taten es ihr die anderen Beiden gleich, weshalb ich mir verzweifelt auf die Unterlippe biss. Überrascht fragte Sam: „Was gibt es?“

„Ich müsste mal mit dir reden“, murmelte ich, versuchte jeglichen Augenkontakt mit Lukas zu vermeiden.

„Worum geht es denn?“

„Erkläre ich dir dann, aber es ist mir echt wichtig.“

„Okay... Jungs, wir sehen uns.“ Sie winkte den Beiden und folgte mir in die entgegengesetzte Richtung. Da ich mit ihr ebenfalls raus wollte, nahm ich den Hinterausgang, welcher eigentlich ein Notausgang war, den wir im Normalfall nicht benutzen durften, aber an diese Regelung hielt sich niemand. Gemeinsam gingen wir raus und ich führte sie ein wenig von der Schule weg, sodass wir nicht einmal mehr den Schulhof sehen konnte. Heute hielt ich es dort kaum aus, was schon seltsam war, da ich normalerweise wirklich gerne zur Schule ging.
 

„Weißt du was, Gaara?“, fragte Sam, während ich uns Beiden jeweils eine Zigarette aus meiner Schachtel zückte. Wir setzten uns auf dem Bordstein nieder in einer etwas unbelebteren Straße, in der viele Wohnhäuser standen. „Bambi hat wieder Stress mit diesen Typen, die ihn letztes Jahr gemobbt haben.“

„Echt?“, fragte ich. Zuerst war ich verwirrt, dann spürte ich die Wut in mir aufkommen. Egal, wie sehr ich mich mit Lukas zerstritten hatte, niemand durfte ihn ärgern. Es reichte schon, dass ich ihn verletzt hatte. Er war doch so zerbrechlich!

„Ja, heute Morgen war schon wieder so ne Aktion“, erzählte Sam und zündete ihre Zigarette an. Sie nahm einen kräftigen Zug, blies den Rauch aus und fuhr fort: „Die haben total laut Schwuchtel quer durch den Gang geschrien, damit es auch jeder hört. Zuerst dachte Noah, dass sie ihn meinen und hat ordentlich Kontra gegeben, das hat die gar nicht interessiert. Sie sind sofort darauf angesprungen und meinten, dass Noah und Lukas wahrscheinlich auch miteinander vögeln würde und so etwas. Echt peinlich. Ich hab Bambi gesagt, dass er es nicht Ernst nehmen soll und er sagte zwar, dass würde er nicht, aber man sieht ihm an, dass es ihm zu schaffen macht. Er hält so etwas einfach nicht aus, das muss er noch lernen. Als Homosexueller muss er sich solche Sprüche leider noch öfter anhören.“

„Diese Wichser“, war alles, was mir dazu einfiel. Ich wusste nicht, warum Sam mir solche Sachen über Lukas erzählte. Falls sie wollte, dass ich Mitleid mit ihm hatte, hatte sie dies geschafft. Falls sie wollte, dass ich wütend wurde und darüber nachdachte mir die Typen vorzuknöpfen, hatte sie dies ebenfalls geschafft.
 

„Wie dem auch sei... was wolltest du mir erzählen?“, fragte Sam und blickte mich erwartungsvoll an. Ein schweres Seufzen ging über meine Lippen und ich ließ mir ein paar Sekunden Zeit, um an meiner Zigarette zu ziehen, ehe ich ihr vom gestrigen Telefonat mit Kaito erzählte, davon, was Schifti mir über Sky erzählt hatte und davon, dass Kaito das Ganze nicht sonderlich ernst zu nehmen schienen. Nachdenklich und wütend zog Sam die Augenbrauen zusammen, doch in ihrem Blick lagen auch Besorgnis und Mitleid.

„Dieser Idiot“, zischte sie. „Ich habe ihm – euch! Ich habe euch schon hundert Mal gesagt, dass er nicht von alleine von den Drogen runter kommt. Ich weiß, dass Kaitos Willensstärke nicht gerade gering ist, aber Drogensucht ist eine echt harte Sache. Wenn er so weiter macht, kommt er selbst mit Entzug niemals ganz von den Drogen runter.“

„Jetzt malst du aber den Teufel an die Wand“, sagte ich erschrocken. „Wir sind noch Jugendliche, das kann sich doch ändern, wenn wir erst mal richtig erwachsen sind und einen Job haben und eine Familie und so etwas.“

„Und wie genau erwartest du von Kaito sein Abitur zu schaffen?“, fragte Sam. „Also, Noah und Lukas haben heute ihre Prüfung im Deutsch Leistungskurs geschrieben, Kaito nicht. Und wieso? Weil er gestern Drogen genommen hat? Denkst du so schafft er das Abitur? Du weißt, dass er zu der normalen Sorte von Schüler gehört. Diejenigen, die sich anstrengen müssen, um gute Noten zu schreiben. Nicht so wie du.“

„Ja, das weiß ich doch“, murmelte ich bedrückt. „Aber trotzdem muss man nicht direkt alles schwarz sehen... was sollen wir denn jetzt machen?“

„Wir statten ihm einen Besuch ab.“

„Ich frage ihn mal, wo er heute Abend ist...“ Ich wollte schon mein Handy herausnehmen, da widersprach mir Sam.

„Nein, wir statten ihm einen Überraschungsbesuch ab. Wenn wir nicht wissen, wo er ist, müssen wir ihn eben suchen. Wahrscheinlich Zuhause oder bei Sky, richtig?“

„Weißt du denn, wo Sky wohnt? Ich nämlich nicht.“

„Wir können Larissa fragen“, sagte Sam. „Erzählen wir Noah davon?“

„Vielleicht sollten wir das lieber lassen“, überlegte ich. „Er hatte in den Herbstferien wieder krasse Depressionen gehabt, wir müssen ihn nicht noch mehr belasten.“

„Ok, vorerst behalten wir es für uns. Wir treffen uns heute Abend um sechs bei dir und fahren dann los.“

Gaara - Beste Freunde lässt man nicht im Stich Pt. 4

Nervös wartete ich hinter Sam, während sie an der Tür zu dem Haus klingelte, in dem Kaito wohnte. Wie immer fühlte ich mich in dieser Gegend unwohl, obwohl ich früher ziemlich häufig hier gewesen war. Alles wirkte so grau und düster, die Menschen kümmerten sich nicht darum, dass es vor ihrem Haus sauber war und schienen sich auch nicht dafür interessieren, dass ihre Häuserwände teilweise mit Graffiti beschmiert waren. An einer Ecke standen ein paar jüngere Jugendliche und feixten jeden mit herausfordernden Blicken, der vorbei kam. Am Schlimmsten war jedoch der Anblick einer jungen Mutter, die ein Baby im Kinderwagen vor sich her schob und dabei telefonierte. Ich wusste nicht, wieso, doch es machte mich traurig sie zu sehen. Zu sehen, wie dieses Baby in einer solchen Gegend aufwuchs, im Wissen, dass es später vermutlich zu den Jugendlichen gehören würde, die sich Drogen kauften. Und genau hier war Kaito aufgewachsen. Einmal hatte er mir gesagt, dass, wenn ich nicht gewesen wäre, er vielleicht viel schlimmer geendet wäre. Nur mit einem Hauptschulabschluss als Kassierer in irgendeinem miesen Laden. Ich hatte ihn dazu getrieben sich in der Schule mehr anzustrengen und zu verstehen, dass es an ihm selbst liegt, sein Leben zu ändern. Doch jetzt schien Kaito das alles vergessen zu haben.
 

Endlich wurde uns die Tür geöffnet. Ein lautes Dröhnen erklang und wir traten ein. Auch im Haus waren die Wände gräulich und von Graffiti beschmiert. Ich wusste, dass ein paar der Sprüche von Kaito selbst stammten, die er dort mit schwarzem Edding hin gekritzelt hatte. Als wir das Stockwerk erreichten, auf dem Kaito mit seiner Mutter wohnte, stand diese im Türrahmen und sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Über ihrem schlanken Körper trug sie eng umschlungen einen Bademantel, ihre Haare waren ein wenig zerzaust und eine Zigarette steckte zwischen ihren Lippen. Von ihr ging ein starker Geruch von Tabak aus. Mit einer hoch gezogenen Augenbraue betrachtete sie uns.
 

„Ach Gaara“, erkannte sie mich. „Kaito ist nicht hier.“

Das war vermutlich eine der wenigen Dinge, die positiv an ihr. Zumindest vergleichsweise mit meiner eigenen Mutter. Die hatte keine Ahnung, dass Kaito mein bester Freund war. Beschwerte sich immer über ihn, doch, wenn er direkt vor ihr stand, brauchte sie zwei Mal zu blinzeln, um ihn wieder zu erkennen. Ganz im Gegensatz zu Kaitos Mutter, die schon immer wusste, dass wir unzertrennlich waren. Eigentlich unzertrennlich. Seit er Sky kennen gelernt hatte, war das auch so eine Sache geworden.

„Er hängt schon wieder bei diesem Mädchen rum“, erklärte seine Mutter. „Seiner Freundin.“

„Ok, danke. Dann werden wir da vorbei schauen“, sagte ich, fasste Sam am Handgelenk und verschwand mit ihr wieder. Bevor wir losgezogen waren, hatte Sam Larissa angerufen und nach Skys Adresse gefragt. Um zu ihr zu gelangen, mussten wir noch eine Station weiter mit der Straßenbahn. Sie wohnte nicht weit von Larissa entfernt in einer eher ruhigen Wohngegend.
 

Schnell verschwanden wir aus diesem düsteren Viertel, ließen die grauen Fassaden hinter uns und stiegen in die Straßenbahn ein. Mittlerweile wurde es schon langsam dunkel und die Straßenlaternen gingen an, um die Wege in ein trübes Licht zu hüllen. Wenige Minuten später stiegen wir an der richtigen Station aus, mussten uns erst einmal orientieren ehe wir den Weg zu Skys Wohnung fanden. Meine Nervosität stieg. Ich hatte Angst, dass wir Kaito dabei erwischten wie er schon wieder Drogen genommen hatte. Um jeden Preis wollte ich eine logische Erklärung zu seinem Verhalten hören, die nichts damit zu tun hatte, dass er rückfällig wurde, doch egal wie sehr ich nach einer solchen Erklärung suchte, mir wollte keine einfallen. Ich wollte einfach nicht, dass er Drogenprobleme hatte. Kaito hatte es nicht verdient, dass es ihm schlecht ging, er war so ein guter Mensch und ein so guter bester Freund...
 

Erneut dauerte es einige Minuten bis wir am richtigen Haus ankamen und klingelten. Nach einer Weile des Wartens wurde uns dröhnend die Tür geöffnet und wir gingen die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo Sky ihre Wohnung hatte. In kurzer Hose und überlangem Shirt, das allem Anschein nach eigentlich Kaito gehörte, stand sie am Türrahmen und sah auch ohne Make-Up und ihren üblichen Stil wunderschön aus. Ihre weißblonden Haare sahen ein wenig zerzaust aus und ihre Augen waren wie immer leicht geschlossen. Überrascht erkannte sie uns.

„Ihr wollt bestimmt zu Kaito“, sagte sie. „Kommt doch rein.“

Tatsächlich wollte ich schon einen Schritt in die Wohnung machen, da hielt mich Sam mit einer Hand zurück und sagte ernst: „Danke, aber es wäre besser, wenn wir mit ihm draußen sprechen.“

„Ach ja.“ Skys Tonfall ließ anmerken, dass ihr das nicht gefiel und für einen Moment warfen sich die beiden Mädchen Todesblicke zu, wegen denen mit Sicherheit irgendwo auf der Welt gerade jemand starb. Trotzdem wandte sie sich in die Wohnung und rief nach ihrem Freund, der nur kurze Zeit später an ihrer Seite auftauchte. Kaito sah eigentlich recht gesund aus und er trug ein lockeres Top, sodass man das Tattoo auf seinem rechten Oberarm erkennen konnte. Als er uns sah, zuckte er etwas nervös mit den Augenbrauen, begann dann jedoch zu lächeln.
 

„Was macht ihr denn hier?“

„Überraschungsbesuch“, antwortete Sam.

„Die wollen mit dir alleine reden“, sagte Sky und strich ihrem Freund mit sanften Fingern über die Brust. „Ich darf wohl nicht mit dabei sein...“

„Wir gehen raus“, entschied Sam und deutete die Treppe hinunter. Kaito warf mir einen skeptischen Blick zu, als wäre die ganze Sache auf meinem Mist gewachsen und meine Schuld, dann zog er sich Schuhe und Jacke an und folgte uns nach draußen. Als wir vor der Tür ankamen, begann Kaito sofort zu zittern, dank dem eisigen Wind, der durch Berlin fegte.
 

„Macht schnell, es ist echt kalt“, sagte er bibbernd.

„Wo warst du heute?“, fragte Sam eingeschnappt. „Du siehst alles andere als krank aus.“

„Mir geht es wieder besser.“

„Ja, nachdem du dich von deinem Rausch erholt hast?“ Sie zog eine Augenbraue hoch und Kaito blieb für einen Moment der Mund leicht offen stehen, ehe er sagte: „Woher willst du das denn wissen?“

„Schon vergessen, dass du gestern mit Gaara telefoniert hast?“

„Ich habe...“ Kaito sah ehrlich verwirrt aus und blickte Hilfe suchend zu mir. „Ich habe mit dir telefoniert?“

„Ja“, nickte ich knapp.

„Echt? Krass, daran kann ich mich gar nicht erinnern.“ Er lachte ein wenig, verstummte jedoch sofort, als Samantha deswegen auf 180 Grad hoch fuhr.

„Findest du das etwa witzig, solche Sachen einfach zu vergessen? Weißt du, dass das bedeutet, dass du einen Filmriss hattest? Was hast du gestern bitte genommen, dass dich so umgehauen hat??“

„Jetzt mach mal langsam, du redest ja als wärst du meine Mutter.“

„Deine Mutter interessiert das alles doch einen Scheiß“, blaffte Sam. „Deswegen müssen wir es auch übernehmen dir deswegen eine Standpauke zu halten!“
 

Während sie ihn zusammen stauchte, fragte ich mich, ob das wirklich der beste Weg war, um Kaito zu helfen. Vielleicht hätten wir erst einmal mit ruhigen Worte anfangen sollen, obwohl ich die schon seit Jahren benutzte, um ihm mit dem Koks zu helfen. Doch genau deswegen hatte sich Kaito auch immer Hilfesuchend zu mir gewandt, wenn das Suchtverhalten zurück kam. Nur jetzt schien er nicht einmal daran zu denken die Wahrheit zu sagen, wenn wir direkt vor ihm standen und ihn darauf ansprachen. Niedergeschlagen stand ich bloß daneben, während die Beiden in einen heftigen Streit verfielen.
 

„Du – IHR habt mir gar nichts zu sagen“, behauptete Kaito wütend. „Ich kann selbst entscheiden, was gut für mich ist und ich habe das alles unter Kontrolle, klar?! Ich habe euch deswegen nichts davon erzählt, weil ich ganz genau weiß, dass ihr mir diese Kontrolle nicht zutraut. Ihr haltet mich einfach nur für schwach und ich hatte kein Bock darauf mir eure Standpauken anzuhören!“

„Du hast es unter Kontrolle?“, wiederholte Sam spöttisch. „Du fehlst deswegen ständig in der Schule.“

„Ich verpasse nicht!“

„Willst du mich eigentlich verarschen?!“, fauchte Sam. „Also Lukas und Noah haben heute ihre Deutsch Klausur geschrieben und, wo warst du? Du hast hier deinen Rausch ausgeschlafen!“

Auf Kaitos Gesichtszügen zeigte sich erst Verwirrung, dann das Entsetzen über die Erkenntnis, dass Sam Recht hatte und er tatsächlich die Deutschklausur verpasst hatte, doch nur einen Moment später war er wieder wütend.

„Ey, du gehst mir so auf die Nerven. Lass mich einfach in Ruhe.“
 

Er wandte sich ab und wollte zurück ins Haus gehen, blieb jedoch stehen, um sich noch mal mir zuzudrehen und hinzufügen: „Das nächste Mal kannst du auch selbst kommen und nicht den Drachen vor schicken. Oder besser, du kommst dich gar nicht beschweren. Du kannst mich genauso in Ruhe lassen, klar?!“

Das saß.
 

Wenn etwas schmerzhafter war, als von Lukas gesagt zu bekommen, dass es zwischen uns keine Hoffnung mehr gab, dann waren es diese Worte aus dem Mund meines besten Freundes. Nadelstiche durchbohrten meine Brust und ich zuckte darunter sogar ein wenig zusammen, während Kaito im Haus verschwand und die Tür hinter sich zufallen ließ. Alles Rufen von Sam half nicht, um ihn zurück zu halten. Auch als sie darum bat noch mal in einem normalen Ton mit ihm zu sprechen, kam keine Reaktion.

„Ich war zu hart“, gestand sich Sam sofort ein und blickte an der Häuserfassade auf. „Wenn ich ihn jetzt noch mal raus klingle, geht es aber wieder schief, oder? Am Besten warte ich bis Morgen. Dann haben wir uns Beide wieder beruhigt. Gaara...?“
 

Noch während sie gesprochen hatte, war ich los gegangen, um zurück zur Straßenbahn zu gelangen. Ich wollte nur noch nach Hause und mich in meinem Bett verkriechen. Noch nie hatte ich mich mit Kaito gestritten und noch nie hatte ich mir eine solche Zurückweisung von ihm anhören müssen, das war schlimmer als alles andere. Sam folgte mir und versuchte mich mit Worten zu trösten, doch ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, denn dieses schmerzhafte Gefühl in meiner Brust forderte meine Konzentration. In der Straßenbahn saßen wir irgendwann stumm nebeneinander, bis wir an meiner Haltestelle anlangten.
 

„Soll ich mitkommen?“, fragte Sam.

„Nein, ist schon okay“, antwortete ich, obwohl ich mir gar nicht sicher war, ob ich nicht doch etwas Gesellschaft brauchen könnte. Zuerst wollte ich Heim, das war das Einzige, woran ich denken konnte. Unsicher nickte Sam und blickte mir beinahe mitleidig hinterher, als ich ausstieg und mich auf den Weg nach Hause machte. Dort angelangt schaffte ich es nicht einmal bis zu meinem Zimmer, sondern ließ mich mit dem Rücken gegen die Eingangstür gelehnt auf den Boden fallen. Ich zog die Knie an meinen Körper heran und vergrub das Gesicht in ihnen. In meinem Schädel pochte es schon wieder. Verdammt noch mal, Kaito! Wieso hatte ich auch Sam von der Sache erzählt? Warum musste er sich wie ein Idiot verhalten? Man hatte ihm doch angesehen, dass er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Dass er sogar eine Deutscharbeit einfach vergessen hatte, obwohl Deutsch einer seiner Leistungskurse war. Sonst machte er sich doch immer solche Gedanken um die Schule und nun schien sie ihm egal geworden zu sein!
 

Ich wusste nicht wie lange ich dort saß und innerlich fluchte. Als mein Handy in meiner Hosentasche vibrierte, zuckte ich zusammen und zog es eilig heraus. Vielleicht war es eine Nachricht von Kaito, eine Entschuldigung, eine Bitte um Hilfe oder wenigstens ein einfaches 'Hey', doch die SMS kam von Annalina.

'Na, ich sitze gerade beim Musikunterricht von Herr Kemp und langweile mich. Wenn er mich erwischt, tötet er mich, denke ich, aber ich hatte Lust dir zu Schreiben ;) Na, wie geht’s dir so?'

Enttäuschung machte sich in mir breit und trieb mir beinahe die Tränen in die Augen. Wütend und überrascht zugleich wischte ich mir über das Gesicht und atmete tief durch. Es war Ewigkeiten her, dass ich geheult hatte und ich wollte damit nicht wieder anfangen. Als ich noch jünger gewesen war und mich jeden Tag nach meinen Eltern gesehnt hatte, hatte ich häufig nachts alleine in meinem Bett gelegen und mir die Augen aus geheult. Mehr durch Zufall hatte Kaito davon erfahren und danach bestimmt, dass er so häufig wie möglich bei mir einzog. Damit war mir aber auch ihm geholfen, der sich ständig mit seiner Mutter stritt und sich überhaupt schlecht in dieser Wohnung fühlte. Bei der Erinnerung daran fühlte ich mich nur noch schlechter.
 

'Ehrlich gesagt, ist gerade alles scheiße', antwortete ich Annalina. 'Kaito ist richtig wütend auf mich.'

'Kacke, was ist passiert?', kam die SMS recht schnell zurück.

'Zu lange zum Erklären...'

'Soll ich vorbei kommen?'

Für einen Augenblick zögerte ich. Sollte sie vorbei kommen? Lieber wäre mir die Gesellschaft von Lukas, aber wenn ich ihm jetzt eine 'Mir geht’s so scheiße, tröste mich' – SMS schrieb, wäre das mehr als nur unfair. Schließlich war ich es gewesen, der ihn zuvor verletzt hatte.
 

'Ja', antwortete ich also. 'Wäre echt toll, wenn du vorbei kommen könntest.'

Lukas - Neue Welten entdecken Pt. 1

„Das könnte dir stehen.“ Alex zog ein Shirt im Regenbogenmuster hervor und hielt es mir breit grinsend unter die Nase. Mein genervter Gesichtsausdruck war für sie Antwort genug.

„Oh Mann, aber das ist in den Farben der Homosexualität!“

„Damit kannst du vielleicht zu Noah kommen, aber nicht zu mir. Außerdem suchen wir doch nach Klamotten für dich, oder?“ Zielstrebig verließ ich die Männerabteilung des Geschäftes und Alex folgte mir, nachdem sie das Shirt zurück in den Stapel gelegt hatte. Heute war ihr 16. Geburtstag. Leider musste Mum den ganzen Tag arbeiten, weshalb sie mir über hundert Euro in die Hand gedrückt und gesagt hatte, dass ich mit Alex shoppen gehen sollte. Was auch immer sie wollte, solange es sich in diesem Budget befand, konnte sie sich alles kaufen. Natürlich wollte meine Schwester Klamotten, somit endete es in einer Shoppingtour. Es war das erste Mal, dass wir zu Zweit einkaufen gingen.
 

Bisher hatten wir in zwei Läden eingekauft und selbstverständlich musste ich die Tüten tragen, doch das machte mir nur wenig aus. Es gefiel mir mal etwas mit meiner Schwester zu unternehmen, auch wenn ich bei einigen Klamotten die Nase rümpfte und ihr ausreden wollte, sie zu kaufen. Nur wäre Alex nicht meine Schwester, wenn sie genau das nicht als Grund sah, die Kleidung doch zu nehmen. Nicht, dass mir die Stücke nicht gefallen würden, es ging mehr darum wie knapp sie waren. Alex mochte es ihren schlanken Bauch zu zeigen und je kürzer die Hotpants war desto besser. Dass es in Richtung Winter ging und draußen ständig regnete, war ihr dabei egal.
 

„Man kann die Hotpants ja mit einer Strumpfhose anziehen“, erklärte sie zu ihrer Verteidigung. Ich verdrehte nur die Augen und ließ sie schließlich machen. Immerhin war sie mittlerweile 16 Jahre alt, somit alt genug, um über ihren Kleidungsstil selbst zu entscheiden. Als wir das Geld von Mum vollends ausgegeben hatten, kaufte mir Alex mit dem letzten Rest im Starbucks noch einen Kaffee, dann verließen wir das riesige Einkaufscenter. Im Himmel hingen die schwarzen Bäuche von Regenwolken, ein starker Wind zerzauste unsere Haare und in weiter Ferne konnten wir das Grollen von Donner vernehmen.
 

„Am besten beeilen wir uns“, sagte ich zu Alex. Es war schwierig alle Tüten und gleichzeitig meinen Kaffee zu tragen, doch meine Schwester kam auch nicht auf die Idee mir etwas abzunehmen. Wahrscheinlich genoss sie das Privileg heute Geburtstag zu haben, das zum Einen und zum Anderen, dass sie meine jüngere Schwester war. Sie nickte mir nur zu und gemeinsam gingen wir zur Straßenbahn. Mit jeder Minute wurde es stürmischer. Alex' hellbraunen, lange Haare verdeckten ihr Gesicht, weshalb sie sie mit beiden Händen zurück halten musste. Schilder wurden umgeworfen und eine ältere Frau mussten ihren kleinen Hund auf den Arm nehmen, da er zu viel Angst hatte weiter zu gehen. Das würde wieder einer von Berlins typischen Stürmen werden, die um diese Jahreszeit keine Seltenheit waren. Umso mehr beeilten wir uns in die Straßenbahn zu kommen und damit Richtung Heimat zu fahren.
 

Als wir an der richtigen Station ausstiegen, peitschte uns der Wind sofort entgegen und Alex war nicht die Einzige, die erschrocken aufschrie. Ein Lachen ging über meine Lippen als ich sah wie ihre Haare in alle Richtungen flogen.

„Das ist nicht so witzig!“, empörte sie sich, lachte jedoch auch.

„Los, bevor es anfängt zu regnen“, drängte ich sie weiter.
 

Wir schafften es noch gerade rechtzeitig nach Hause. Kaum, da die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war, entluden sich die Wolken und heftiger Regen prasselte auf die Stadt nieder. Er peitschte gegen die Fenster, die Bäume bogen sich unter dem starken Wind und Blitz und Donner begannen ihren Tanz im Himmel. Nachdem wir uns in gemütliche Klamotten geworfen hatten, führte Alex mit ihren neuen Klamotten eine Modenshow auf. Über mein Handy schaltete ich dazu passende Musik an, was irgendwann darin endete, dass wir durch das Wohnzimmer tanzten und auf der Couch herum sprangen. Erst als das Gewitter direkt über uns war, hörten wir damit auf und setzten uns mit zwei heißen Tassen Kakao ans Fenster, um dem Spektakel zuzuschauen.
 

„Hmm, da hat man ja gar keine Lust mehr rauszugehen“, murmelte Alex und seufzte. „Ich glaube, ich sage den Mädels, sie sollen herkommen. Eigentlich wollten wir in die Stadt gehen, aber bei so einem Wetter... wolltest du dich nicht noch mit Felix treffen?“

„Ja, aber das hat sich auch erledigt“, sagte ich angesichts dieses Unwetters. „Ich rufe ihn gleich an und sag ihm Bescheid.“

Wir tranken unseren Kakao leer, unterhielten uns noch eine Weile über belanglose Dinge und entschieden uns dann unsere Anrufe zu tätigen. Auf der anderen Leitung hob die vierzehnjährige Ella ab. Kaum, da sie meine Stimme erkannte, begann sie zu meckern.

„Du musst trotzdem herkommen!“

„Aber das Wetter ist echt krass“, verteidigte ich mich. „Du weißt, dass es gefährlich ist bei so einem Sturm rauszugehen.“

„Ein Ritter hat keine Angst vor solchen Dingen!“

„Aber ich bin kein -“

„Ich habe dich zu meinem Ritter geschlagen, schon vergessen?“

Jetzt, da sie es sagte, erinnerte ich mich wieder. Nicht nur mich, sondern auch Simon war von ihr zum Ritter geschlagen wurden, was ein Lächeln auf meine Lippen zauberte.

„Habe ich die Erlaubnis heute Zuhause zu bleiben, meine Königin?“

„Nur, wenn du dafür nächste Woche kommst! Aber das ist dann ein Versprechen!“

„Gut, versprochen. Gibst du mir trotzdem Felix?“
 

Mit Felix telefonierte ich noch ein wenig und er erzählte mir von einem Sportverein für Querschnittsgelähmte, dem er bald beitreten wollte. Gemeinsam mit Chris, seinem älteren Bruder, wollte er zu einer kostenlose Übungsstunde hinfahren und herausfinden, ob es das Richtige für ihn war. Über diese Nachricht freute ich mich mehr, als ich zu beschreiben wusste. Bisher hatte Felix seine Zeit damit verbracht im Selbstmitleid und Depressionen zu versinken, was man einem Dreizehnjährigen nicht verübeln konnte. Ich war davon ausgegangen, dass es noch länger dauern würde, bis er sein Schicksal akzeptierte. Doch einem solchen Verein beizutreten und Gleichgesinnte zu finden, war der erste Schritt in die richtige Richtung.
 

„Wie kommt's, dass du es jetzt machst? Ich erinnere mich, dass du dich gegen einen solchen Vorschlag geweigert hast“, sagte ich.

„Hm.“ Für einen Moment schwieg Felix, dann fragte er: „Erinnerst du dich noch daran als du hier mit Simon warst?“

„Ja, klar.“

„Ich musste die ganze Zeit über diesen einen Satz nachdenken, den er gesagt hast... 'Manchmal muss man auch schlechte Dinge akzeptieren, damit sie besser werden'. Ich denke, ich habe das jetzt verstanden. Wenn er noch mal in Berlin ist, dann würde ich ihn gerne noch einmal sehen und mich bei ihm bedanken. Er ist wirklich unglaublich, was Worte angeht.“

„Ich weiß“, schmunzelte ich. „Er wird immer so nervös, wenn jemand anfängt vor seinen Augen zu weinen und meint, er könnte nicht so mit Gefühlen. Aber, wenn es darauf ankommt, findet er immer die richtigen Worte. Ohne es zu merken.“

„Du hast einen wirklich tollen besten Freund.“
 

Unsere Unterhaltung ging noch eine Weile weiter, dann legten wir auf. Nur kurze Zeit später kam Mum nach Hause. Ihre blonden Haare waren ebenfalls zerzaust und ihr schmales Gesicht war vom Stress gezeichnet. Doch, nachdem sie erst einmal etwas Ruhe hatte, wollte sie auch Alex neue Klamotten sehen, weshalb sie sie erneut unter Musik vorführte. Ich kommentiere jede Klamotte, als würde es sich tatsächlich um eine Modenshow handeln, was die Beiden immer wieder zum Lachen brachte. Die gemeinsame Zeit mit meiner Mutter und meiner Schwester tat gut, erinnerte mich jedoch auch wieder daran, dass wir ein Familienmitglied verloren hatte. Als Alex' Freundinnen klitschnass und zerzaust eintrafen, entschwanden sie in ihr Zimmer, während Mum es sich im Wohnzimmer mit einem Buch gemütlich machte. Auch ich ging in mein Zimmer, ließ mich dort rücklings auf mein Bett fallen und blickte zur Decke herauf. Dumpf ertönten die Stimmen der Mädchen, ich konnte ihre Worte nicht verstehen, da der prasselnde Regen und der Donner lauter waren.
 

Mir fiel auf, dass ich lange nicht mehr an Dad gedacht hatte. Seltsamerweise schmerzte die Erinnerung nicht mehr so sehr wie sie es früher getan hatte. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich fragte, was er mir wohl in Bezug auf Gaara raten würde. Weder Mum noch Alex wussten um den aktuellen Stand, aber das brauchten sie auch nicht unbedingt. Ob Dad überhaupt Verständnis zeigen würde? Schließlich starb er, bevor ich merkte, dass ich schwul war. Einige Zeit dachte ich darüber nach, wurde jedoch vom Klingeln meines Handys abgelenkt. Ein Blick auf den Display verriet mir, dass es sich bei dem Anrufer um Hannah handelte. Von ihr hatte ich schon seit ein paar Wochen nichts mehr gehört. Mit einem erfreuten Lächeln nahm ich also den Anruf entgegen, doch mein Gesichtsausdruck verwandelte sich schnell ins Entsetzen als ich ihre schluchzende Stimme hörte.
 

„Lukas?“

„Was ist passiert?“, fragte ich geschockt.

„Dennis hat Schluss gemacht.“ Ihr schien es schwer zu fallen diese Worte über die Lippen zu bringen und gleich darauf begann zu weinen. Für einige Augenblicke wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Mein Mund stand leicht offen, ich hörte wie sie schluchzte und musste mir unweigerlich ihr verweintes Gesicht vorstellen. Da tat ich das Einzige, was in dieser Situation logisch war: Ich begann ebenfalls zu weinen.

„Aber warum?“

„Er hat gesagt, ihm wäre eine Beziehung mit mir zu stressig“, jammerte Hannah.

„Zu stressig, mit dir?“, fragte ich ungläubig. „Hannah, wo bist du gerade?“

„Ich fahre jetzt zu Noah. Kannst du bitte auch kommen?“

„Natürlich, ich bin sofort auf dem Weg!“
 

Scheiß auf den Sturm. Wenige Sekunden nach dem Telefonat war ich fertig angezogen, zerrte mir halbhohe Stiefel über die Jeans und zog mir eine Regenjacke mit Kapuze über. Mum war sofort auf den Beinen und blickte mich mit besorgter Miene an.

„Schatz, warum willst du denn bei diesem Sturm raus?“

„Eine Freundin braucht mich“, antwortete ich schlicht und wischte mir die letzte Träne aus dem Gesicht. Hoffentlich weinte ich nicht wieder vor Hannah, das konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen.

„Pass auf dich auf“, gab mir Mum noch mit auf den Weg, dann wagte ich mich hinaus in das Unwetter.
 

Es dauerte nicht lange, da war ich klitschnass. Die Kapuze brachte nicht allzu viel, da der Wind sie mir vom Kopf fegte. Meine Haare klebten in meinem Gesicht und ich brauchte für den Weg zu Straßenbahn viel länger, da ich gegen den heftigen Wind ankämpfen musste. Als ich endlich bei Noah ankam, war ich bis auf die Knochen nass und halb erfroren. Obwohl ich direkt am Eingang meine Schuhe und Jacke auszog, hinterließ ich eine Regenspur bis in sein Zimmer, für die ich mich mehrfach entschuldigte, auch wenn Noah versicherte, dass das nur halb so wild war. In seinem Zimmer saß Hannah auf der Couch, trug einen überweiten Pullover und hatte ein Kissen mit beiden Armen umschlungen, ihre Knie an ihren Körper heran gezogen und ein vollkommen verweintes Gesicht. Als sie mich erblickte, traten ihr erneut Tränen in die Augen und ich machte gleich mit, weil ich ihren niedergeschlagenen Anblick nicht ertragen konnte.
 

„Fang nicht an zu weinen, sonst muss ich auch weinen!“, drohte ich, doch Hannah konnte die Tränen nicht zurück halten. „Du blöde Kuh!“, beschwerte ich mich und spürte wie meine Augen feucht wurden und sich mein Hals zuschnürte. Für einen Moment brachte meine Beschwerde Hannah zum Lachen, dann streckte sie die Arme nach mir aus und ich ließ mich sogleich neben ihr nieder, um sie in einem tröstende Umarmung zu ziehen. Noah, der ebenfalls fertig aussah, setzte sich auf die andere Seite neben sie und eine Weile lang waren wir nur damit beschäftigt sie zu beruhigen, dann erklärte sie mir, was genau passiert war.
 

„Es war in letzter Zeit schwierig zwischen uns, deswegen habe ich mich auch kaum noch bei jemandem gemeldet“, sagte sie weinerlich. „Aber in einer Beziehung sollte es normal sein, dass man auch mal schwierige Zeiten durchlebt. Ich hatte wieder Ärger mit meinem Vater, weil meine Schulnoten nicht so gut waren und er hatte Ärger mit seiner Chefin, was ihm total die Nerven geraubt hatte. Wir waren Beide so gereizt, dass wir uns ständig stritten und irgendwann hat er dann angefangen mit anderen Mädchen zu schreiben. Als ich das herausgefunden habe, war ich sauer auf ihn und hab ihn gefragt, ob ich nicht gut genug für ihn wäre und daraufhin hat er Schluss gemacht. Er meinte, ich wäre ihm zu schwierig.“

„Was ein Idiot“, platzte es aus mir heraus. „Du hast völlig recht, dass es auch mal schwierige Zeiten in einer Beziehung gibt, aber gerade so etwas schweißt doch eigentlich zusammen.“

„Sollte es“, ergänzte Noah. „Macht es aber in den meisten Fällen nicht. Fynn hatte auch ständig Affären, weil er mit meinen Depressionen nicht klar kam und Gaara hat sich nach eurem Streit auch an Annalina ran geschmissen. Die Kerle sind alle Idioten.“
 

Dass Noah Gaara mit Fynn und Dennis gleich stellte, gefiel mir überhaupt nicht. Ich wollte schon mit der Erwiderung anfangen, dass er völlig anders war, jedoch fiel mir dann auf, wie erbärmlich es klingen würde. Wie ein verliebtes Mädchen, das nicht einsehen wollte, dass ihr ach so perfekter Prinz auch nur ein Mensch war. Daher presste ich nur die Lippen fest aufeinander und schluckte meine Erwiderung herunter.
 

„Vielleicht will er mich wieder haben, wenn er sich beruhigt hat“, sagte Hannah, was dem Zünden einer Bombe gleich kam. Gleichzeitig begannen Noah und ich auf sie ein zu reden.

„Nein nein, Süße“, schüttelte Noah den Kopf. „Mir hast du auch gesagt, ich soll Fynn vergessen und das war die beste Entscheidung gewesen. Ihr hattet doch schon in der Vergangenheit häufiger Probleme, irgendwann ist auch mal Schluss.“

„Er kann dich ja nicht jedes Mal verlassen, wenn es Stress gibt und danach wieder mit dir zusammen kommen. So kann eine Beziehung auch nicht laufen“, argumentierte ich.

„Aber das ist so schwer“, klagte Hannah. „Und es tut so weh.“

„Das wissen Lukas und ich auch zu gut“, seufzte Noah.
 

Es dauerte den halben Abend sie davon zu überzeugen, dass sie nicht noch mal mit Dennis zusammen kommen sollte und auch als wir fertig waren, schien sie noch insgeheim nicht überredet zu sein. Einige Zeit lang saßen wir dann noch zusammen, unterhielten uns über andere Dinge, um Hannah abzulenken, während sich draußen der Sturm nur langsam legte. Schließlich kam Noah auf eine Idee.

„Wir sollten alle drei gemeinsam das Vogue besuchen!“

„Was ist das?“, fragte ich verwirrt.

„Das ist ein Schwulen- und Lesbenclub in Berlin“, antwortete Noah mit strahlenden Augen. „Es gibt keinen besseren Ort, um über eine gescheiterte Beziehung hinweg zu kommen.“ An Hannah gewandt fügte er hinzu: „Du hast doch selbst gesagt, du wolltest es auch mal mit einem Mädchen versuchen.“

„Ja, aber momentan kann ich nur an Dennis denken“, sagte sie nüchtern. „Wenn es mir besser geht... dann gerne... aber gerade kann ich mir nicht vorstellen irgendwohin feiern zu gehen.“

„Okay, aber sobald du dich dazu bereit fühlst, gehen wir. Alle Drei zusammen, versprochen?“ Hannah nickte zustimmend, ich war mir unsicher, ob ich das wirklich wollte. Ja, ich war schwul, doch ich fühlte mich zu der Szene nicht sehr hingezogen. Nun ja, eigentlich war ich noch nie unter Homosexuellen gewesen, außer bei Noah. Gaara konnte man nur halb dazu zählen, da er bisexuell war und man ihm dies auch gar nicht anmerkte. Aber vielleicht gefiel es mir ja...

Lukas - Neue Welten entdecken Pt. 2

Ein weiteres Mal las ich mir mein Geschriebenes durch, während die Stimme der Lehrerin lauthals verkündete, dass wir nur noch wenige Minuten Zeit hatten. Alle Aufgaben waren erledigt und dabei hatte ich nicht einmal Probleme bekommen. Gut, bei Aufgabe Drei musste ich mich ein wenig anstrengen, um mich an die genauen Jahreszahlen zu erinnern, aber alles in allem hatte mir die Geschichtsklausur nur wenige Sorgen bereitet. Das war etwas Gutes, aber für meine Verhältnisse auch sehr ungewöhnlich, weshalb ich mir jedes Wort dreimal durchlas, um nach Fehlern zu suchen. Schließlich überwandte ich mich dazu meine Klausur abzugeben, packte meine Sachen zusammen und verließ das Klassenzimmer. Noah schrieb wie immer bis zur letzten Sekunde, weshalb ich noch ein wenig warten musste, ehe er gemeinsam mit den anderen Schülern herauskam. Sofort begannen alle über die Klausur zu sprechen, beschwerten sich darüber oder freuten sich, dass es ihnen einfach gefallen war. Noahs Augenbrauen waren zusammen gezogen und sein Gesichtsausdruck vom Stress gezeichnet, so sah er nach jeder Arbeit aus. Seufzend fuhr er sich durch die strohblonden Haare, hielt sich am Hinterkopf fest und blickte mich gequält an.
 

„Ich glaube ich habe es total versaut.“

„Das sagst du immer“, stellte ich fest. „Aber in Geschichte bist du doch eigentlich immer gut, ich denke nicht, dass du dir Sorgen machen musst.“

„Hoffentlich hast du Recht... heute war auch die Kunstklausur, oder?“ Wir gingen gemeinsam den Gang runter in Richtung Ausgang. Da heute Freitag war, hatten wir keinen Nachmittagsunterricht und konnten sofort nach Hause gehen. Nach einer fünf Stunden langen Klausur war das auch bitter nötig.

„Ich glaube schon“, zuckte ich mich den Schultern. „Sollen wir auf Kaito warten?“

„Denkst du, er war da?“, zweifelte Noah. „Ehrlich gesagt, denke ich, er hat selbst die Kunstklausur geschwänzt.“
 

Daraufhin verzog ich nur missbilligend den Mund. Natürlich war uns irgendwann aufgefallen, dass sich Kaito kaum mehr in der Schule zeigte. Als ich ihn per SMS danach fragte, kam nur zurück, dass er krank wäre oder er schrieb, dass er heute keine Lust hatte. Irgendwann hatten Noah und ich Samantha darauf angesprochen, die sogleich anfing sich lauthals darüber zu beschweren, dass Kaito wieder heftige Drogenprobleme hatte, die er einfach nicht erkennen wollte. In der Hoffnung ihm zu helfen, riefen Noah und ich ihn an, doch das Vorhaben ging völlig nach hinten los. Obwohl wir ihn nicht einmal angeschnauzt hatten, endete es darin, dass er nun ebenfalls wütend auf uns war. Ich schrieb ihm, dass er sich melden sollte, wenn er dazu bereit war, sich mit uns wieder zu vertragen, doch das war nun schon anderthalb Wochen her.
 

Draußen wurde es mit jedem Tag kälter. Als Noah und ich das Gebäude verließen, zerrte ein eiskalter Wind an unseren Klamotten und zerzauste unsere Haare. Die Bäume waren kahl und die letzten braunen und gelben Blätter bedeckten den Boden. Vom blauen Himmel war nichts zu erkennen, stattdessen hingen dicke Schneewolken in der Luft und ich war mir sicher, dass es nicht mehr lange bis zum ersten Schnee dauern würde. Aus meiner Jackentasche nahm ich mir eine Zigarette, zündete diese an, während wir den Schulhof verließen und zur Straßenbahn steuerten. Ja, ich hatte richtig mit dem Rauchen angefangen. Dafür könnte ich mich selbst erwürgen, doch durch die ganze Sache mit Gaara hatte ich immer häufiger geraucht und nun brauchte ich jeden Tag mindestens eine Zigarette, um nicht durchzudrehen. Ein Grund mehr sauer auf Gaara zu sein. Obwohl ich sehr an mich halten musste, nicht Mitleid mit ihm zu verspüren. Wenn ich mir vorstellte, dass Simon solche Drogenprobleme hätte... das wäre das Schlimmste. Laut Samantha war Kaito auch sauer auf Gaara und ich wusste, wie sehr die Beiden aneinander hingen. Jeden Tag sah Gaara blass und erschöpft aus, momentan hatte er es wirklich nicht leicht. Egal, wie sehr ich versuchte kein Mitleid zu haben, ich verspürte dieses Gefühl trotzdem.
 

„Übrigens werden wir heute Abend in den Schwulenclub gehen“, teilte mir Noah mit, während wir auf die Straßenbahn wartete. „Hannah hat mir geschrieben, dass sie sich dazu bereit fühlt.“

„Hat auch nur über einen Monat gedauert“, murmelte ich, weshalb mir Noah einen Faustschlag gegen den Oberarm verpasste.

„Lukas, solche Sprüche kenne ich gar nicht von dir!“, beklagte er sich. „Das war echt gemein!“

„Tut mir Leid“, sagte ich und schämte mich tatsächlich für diesen Kommentar. Es war nicht fair, nicht jeder konnte eine gescheiterte Beziehung so gnadenlos wegstecken wie ich es tat. Besonders Hannah nicht, von der ich ganz genau wusste, wie emotional und verletzlich sie war.

„Zieh dir was Hübsches an, Hase“, sagte Noah und hakte sich bei mir unter, während ich die Zigarette auf dem Boden austrat. Gerade fuhr die Straßenbahn ein und die Schüler drängten sich an den Eingängen. „Falls mich ein Kerl anmacht, von dem ich absolut nichts will, werde ich behaupten, dass du mein Freund bist. Dasselbe kannst du übrigens auch machen.“

„Wie freundlich von dir.“

„Dafür wirst du noch dankbar sein, glaub mir“, grinste Noah und ich konnte mir ein Lachen nicht unterdrücken. Hoffentlich merkte er nicht, dass es sich auch ein wenig nervös anhörte. Eigentlich war ich ganz froh gewesen, dass wir noch nicht in diesen Club gefahren waren. Ich wusste nicht, was mich dort erwartete und hatte auch ein wenig Angst davor.
 

An diesem Abend stand ich überfordert vor meinem offenen Kleiderschrank. Mir fiel auf, dass ich wirklich mal ausmisten sollte, über die Hälfte der Klamotten hatte ich seit Monaten nicht mehr getragen. Seufzend schaute ich mir unterschiedliche Oberteile durch, zog zwei Jeans hervor zwischen denen ich mich nicht entscheiden konnte und warf schließlich alles auf den Boden.

„HILFE!“, rief ich laut und keine Sekunde später ertönte die Stimme meiner Schwester an der Tür: „Was gibt's?“

„Was soll ich anziehen?“

Sogleich sprang die Tür auf und Alex stolzierte mit einem breiten Grinsen herein. Ihre herbstbraunen Haare waren zu einem lockeren Dutt nach oben gebunden, sie trug eine bunte Leggins und ein lockeres Oberteil, das ihr viel zu weit war.

„Da rufst du genau die Richtige“, verkündete sie feierlich. „Wo soll es denn hingehen? Hast du ein Date?“

„Nein, wir gehen feiern“, antwortete ich und fügte kleinlaut hinzu: „In einen Schwulenclub.“

„U lala“, machte Alex überrascht. „Lukas, das hätte ich aber nicht erwartet. Na gut, dann muss es etwas sein in dem du wirklich gut aussiehst... ehm...“
 

Gemeinsam entschieden wir uns für ein Outfit. Dieses beinhaltete ein dunkelblaues Oberteil mit V-Ausschnitt, welches laut Alex äußerst gut an mir aussah und eine enge, helle Jeans, die ich in halbhohe Stiefel steckte. Diese band ich nicht komplett zu, sodass die Lasche locker herunter hing. Ebenfalls laut Alex sollte das die neueste Mode sein und gut aussehen. Als Jacke trug ich meine dunkle Winterjacke mit der grauen Stoffkapuze, die ich mir über meine zerzausten, hellbraunen Haare zog, ehe ich das Haus verließ. Sowohl Alex als auch meine Mutter verabschiedeten mich mit einem breiten Grinsen und der Bitte mir am nächsten Tag alles von dem Besuch im Schwulenclub zu erzählen.
 

Mit der Straßenbahn fuhr ich direkt in die Stadt, traf mich dort am Bahnhof mit Noah und Hannah, die sich ziemlich heraus geputzt hatte und ein enges schwarzes Kleid mit Paletten besetzt trug, welches ich erkennen konnte, da ihre warme Winterjacke offen war. Ihre mausbraunen, schulterlangen Haare waren kunstvoll zerzaust und ihre kleinen, blauen Augen schwarz geschminkt.

„Gut siehst du aus“, sagte ich, als wir uns zur Begrüßung umarmten.

„Danke“, sagte Hannah verlegen. Danach gab mir Noah einen Kuss auf die Wange, er trug eine enge, dunkle Jeans und eine strahlend weiße Winterjacke, die ihn noch blasser zu machen schien. Doch wie immer sah er mit seinen strohblonden, kurzen Haaren, den Sommersprossen und den großen, stechend blauen Augen süß aus.
 

Noah nahm Hannah und mich rechts und links an seine Hände und führte uns fröhlich plaudernd in die Stadt hinein. Wie zu erwarten war, war extrem viel los. Überall waren Menschen und Lichter, es war laut und wir gingen geradezu in der bunten Masse unter. Das Vogue befand sich auf der Partymeile Berlins, die meistens von Jugendlichen und Studenten besucht wurde, am Eingang mussten wir unsere Ausweise vorzeigen, was mir bisher noch nie in einem Club in Berlin geschehen war. Schließlich waren wir früher auch immer als Minderjährige in die Clubs gegangen, ohne, dass jemand jemals nach unseren Personalausweisen gefragt hätte. Doch kaum, da wir drin waren, wusste ich wieso hier nur Volljährige hinein durften. Das Vogue war ein Club, wie man ihn sich vorstellte. Die Tanzflächen befanden sich auf Podesten und waren teilweise mit silbernen Stangen ausgestattet, an denen sowohl halbnackte Frauen als auch halbnackte Männer tanzten. Insgesamt gab es drei Theken, tausende bunte Lichter, die die Szenerie erhellte und mehrere hundert Gäste in den schrägsten Outfits.
 

Überfordert blieben Hannah und ich am Eingang stehen und starrten auf das bunte Treiben. Bei unseren Gesichtsausdrücken musste Noah anfangen zu lachen.

„Nun kommt schon.“ Er zog an unseren Händen und führte uns zur Garderobe. „Es wird euch mit Sicherheit gefallen, ihr müsst euch nur darauf einlassen.“

Bisher war ich mir ziemlich sicher, dass es mir nur mit viel Alkohol gefallen würde. Wir gaben unsere Jacken ab und gingen zur ersten Theke, welche von einem eindeutig heterosexuellen Mann geführt wurde. Fröhlich plauderte er mit den anderen Gästen, begrüßte uns als würde er uns bereits seit Jahren kennen und gab uns erst einmal drei Jägermeister aus.
 

„Warum bekommen wir die umsonst?“, fragte ich verwirrt.

„Ich seh euch doch an, dass ihr zum ersten Mal hier seid... außer ihm vielleicht.“ Damit deutete auf Noah. „Zum Einsteigen bekommt ihr also erst mal einen Shot ausgegeben. Lasst es euch schmecken, wisst ihr schon, was ihr danach trinken wollt?“

„Drei Cuba Libre“, bestellte Noah und kramte in seiner Brieftasche nach fünfzehn Euro, die er dem Barkeeper hinlegte. Wir tranken unseren Jägermeister aus, nahmen danach die Gläser und setzten uns damit an einen der Tische, die in den Ecken des Clubs standen. Eine Weile lang beschäftigten wir uns damit uns zu unterhalten und zu trinken. Als wir unsere Cuba Libre leer hatten, besorgte uns Hannah drei Gin Tonic und wir begannen die Leute zu beobachten.
 

„Wie sieht's aus, Hannah?“, fragte Noah und zeigte auf die Tanzfläche. „Schon ein Mädchen gesehen, das du süß findest?“

„Hmm“, machte Hannah und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Getränk. „Und selbst wenn, ich glaube, ich traue mich nicht sie anzusprechen.“

„Ach komm, wir helfen dir“, grinste Noah. Ging er etwa davon aus ich war gut darin Fremde anzusprechen? Skeptisch zog ich meine Augenbrauen zusammen, sagte jedoch nichts. „Hast du eine?“

„Na gut...“ Hannah deutete auf die zweite Theke, die sich weiter weg befand und an der einiges los war. „Seht ihr dieses eine Mädchen mit den kurzen, blonden Haaren? Mit dem blauen Oberteil?“

„Jaa...“
 

Auch ich konnte sie sehen. Sie war nicht besonders groß, hatte bernsteinfarbene große Augen und rappelkurze, blonde Haare, sodass man ihr schmales, hübsches Gesicht erkennen konnte. Ihr Körper war eher schmächtig, jedoch trotzdem schön anzusehen.

„Die finde ich ganz niedlich“, gab Hannah verlegen zu.

„Dann lass uns rüber gehen.“ Noah sprang sogleich auf. Sichtbar überfordert wollte Hannah ihn davon abhalten, doch er ging zielstrebig durch den Club auf das Mädchen zu. Noch immer an meinem Getränk schlürfend stand ich auf und folgte ihm, Hannah ging mir nur widerwillig hinterher.

„Das ist peinlich, wartet doch“, beklagte sie sich leise, doch Noah war schon damit beschäftigt sich mit dem Mädchen zu unterhalten. Als wir bei ihr ankamen, war Hannah knallrot angelaufen, was man dank der Lichter nicht so gut erkennen konnte. Ein Schmunzeln schlich auf meine Lippen. In ihrer Situation hätte ich vermutlich genauso reagiert.
 

„Das sind meine beiden Freunde.“ Noah zeigte auf uns, das Mädchen hatte ein breites Lächeln auf den Lippen und sah sehr erfreut darüber aus uns kennen zu lernen. „Das ist Lukas und das ist Hannah.“

„Ich heiße Emilia“, stellte sie sich uns vor. „Ich bin mit meiner besten Freundin hier, sie ist gerade auf Toilette. Wollen wir ne Runde Absinth trinken, wenn sie zurück kommt?“

„Absinth?“, wiederholte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ist das nicht dieser richtig starke Alkohol?“

„Ja“, nickte Emilia. „Perfekt, um die Nacht zu starten.“

„Wir sind dabei“, verkündete Noah, ohne auf unsere Antworten zu warten. Nur wenige Momente später kam Emilias beste Freundin zurück, sie war einen halben Kopf größer als das blonde Mädchen, hatte feuerrote Locken und extrem blasse Haut. Ihre Oberweite war sehr ausgeprägt und durch einen weiten Ausschnitt gut erkennbar. Sie stellte sich uns als Darcy vor. Ein Name bei dem ich zwei Mal nachfragen musste, bis ich ihn richtig verstanden hatte. Darcy gab uns allen eine Runde Absinth aus, der Alkohol war giftgrün, weshalb ich mein Glas skeptisch in die Hand nahm.
 

„Auf eine wilde Nacht“, verkündete Darcy mit einem Augenzwinkern. Wir stießen an, tranken den Absinth mit einem Schluck. Von Alkohol schmeckte ich kaum etwas, eigentlich schmeckte es eher nach Hustensaft und schien meine Kehle zu öffnen. Als hätte ich einmal kräftig frische Luft geschnappt. Bis wir unsere Gin Tonic ebenfalls leer hatten, unterhielten wir uns noch und erfuhren, dass die Beiden ihr Abitur bereits fertig hatten, Emilia machte momentan ein freiwilliges, soziales Jahr, während Darcy angefangen hatte zu studieren, jedoch wieder aufhören wollte, da es ihr absolut nicht gefiel. Endlich wurden unsere Getränke leer und wir konnten die Tanzfläche betreten.
 

Die erste Hälfte der Nacht verbrachten wir mit Tanzen und Plaudern. Mehrmals gingen wir zusammen zur Theke zurück, um unsere eine weitere Runde Absinth oder Jägermeister zu gönnen und schon bald stieg mir der Alkohol in den Kopf. Das schummrige Gefühl machte mir jedoch nichts aus, es war schön sich mal wieder so fallen zu lassen und richtig Spaß zu haben, ohne an irgendwelche Gaaras oder Klausuren denken zu müssen. Schließlich wurde Hannah von Darcy und Emilia entführt und Noah und ich blieben alleine zurück auf der Tanzfläche. Mit Noah zu tanzen, war eine der Sachen, die mir am meisten Spaß machten. Im Gegensatz zu mir konnte er sogar wirklich tanzen. Schließlich brauchten wir eine Pause, verließen gemeinsam die Fläche und kauften uns eine kleine Flasche Wasser, die wir mit an einen der Tische nahmen. Zuerst tranken wir Beide nur nacheinander, dann sagte Noah: „Lukas, ich wollte schon immer mal was ausprobieren.“

„Was denn?“, fragte ich.

„Das hat keinen Hintergrund oder so etwas“, erklärte sich Noah. „Also, du bist ein wirklich guter Freund und mehr nicht, aber... du hast verdammt geile Lippen. Und ich glaube, ich werde niemals glücklich, wenn ich nicht einmal mit dir rumgemacht habe. Würdest du das auch wollen?“
 

Verwirrt blinzelte ich ihn an. Ja, wir waren Beide schwul. Nein, ich hatte noch nie darüber nachgedacht mit Noah rumzumachen. Seine blauen Augen strahlten mich bettelnd an, was ihn nur noch niedlicher aussehen ließ. Vielleicht hätte ich eine andere Entscheidung getroffen, wenn ich nicht betrunken gewesen wäre. Doch, da ich schon einiges an Alkohol getrunken hatte, zuckte ich mit den Schultern und sagte: „Von mir aus, gerne.“

„Cool.“ Ein Grinsen ging über Noahs Lippen, dann beugte er sich schon vor und küsste mich. Er rutschte mit seinem Stuhl etwas näher an mich heran, nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und begann meine Lippen zu küssen. Ich erwiderte es. Dass wir das in aller Öffentlichkeit taten, interessierte mich kaum. Vielleicht war es mir egal, weil wir in einem Schwulenclub waren und hier überall Pärchen miteinander rummachten.
 

Gleichzeitig öffneten wir unsere Münder und begannen ein Spiel zwischen unseren Zungen, das mich erregte. Auf eine andere Weise, als es bei Gaara der Fall gewesen war. Bei Gaara fühlte es sich so süß und wohl an, es war die Liebe gewesen, die es so perfekt gemacht hatte. Bei Noah spürte ich solche Gefühle nicht, es ging nur darum körperliche Lust zu stillen. Wir waren Freunde und mehr würde ich für ihn auch nicht empfinden, dessen war ich mir ganz sicher. Unsere Zungenküsse wurden wilder, bis wir schlagartig aufhörten und unsere Lippen voneinander trennten. Noah grinste und biss sich dabei auf die Unterlippe, seine Augen fixierten meinen Mund.
 

„Verdammt, du kannst gut küssen“, sagte er. „Ich bin ehrlich, ich würde am liebsten auch mit dir schlafen.“

„Ich hatte lange keinen Sex mehr gehabt“, gab ich zu.

„Würdest du dich auf einen One Night Stand einlassen?“, fragte Noah. Einen Moment überlegte ich. Zwischen Noah und mir würde sich nicht mehr entwickeln, ich war mir ganz sicher. Wenn wir miteinander schliefen, würde das entweder eine einmalige Sache sein oder in einem Freundschaft Plus enden. Beides hatte seine Reize.

„Ja, würde ich“, antwortete ich also.

„Ok...“ Noah war am Grinsen wie ein kleines Kind, das sich auf Weihnachten freute. „Gott, was machen wir hier gerade? Aber ich finde es gut, ich freue mich. Sollen wir noch einen Shot trinken?“

„Dann sagen wir Hannah Bescheid und fahren zu dir?“, fragte ich und warf einen Blick auf die Uhr von meinem Handy. „Die Straßenbahnen fangen in einer halben Stunde wieder an zu fahren.“

„Dann fahren wir direkt mit der Ersten“, entschied Noah. Gemeinsam standen wir auf, um nach Hannah zu suchen. Insgeheim war ich sogar ein wenig aufgeregt auf den Sex, doch noch größer war die Freude. Vielleicht bekam ich Gefallen an Sex ohne Gefühle und könnte darüber endlich Gaara vergessen...

Lukas - Neue Welten entdecken Pt. 3

Kopfschmerzen waren das Erste, was ich nach dem Aufwachen wahr nahm. Stöhnend fasste ich mir an den pochenden Schädel, öffnete quälend die Augen und starrte direkt in einen grauen Himmel, an dem Blitze entlang zuckten. Es dauerte ein paar Augenblicke bis ich mich daran erinnerte, dass in Noahs Bett lag. Dieser war scheinbar bereits aufgestanden, denn ich war alleine. Und nackt, wie ich feststellen musste. Langsam kamen die Erinnerungen an den Sex zurück und ein Grinsen bildete sich auf meinen Lippen, welches im Angesicht des Katers gleich wieder verblasste. Zum ersten Mal hatte ich den aktiven Part übernommen. Obgleich ich betrunken gewesen war, war ich mit dieser Position überfordert gewesen. Als passiver Part fühlte ich mich viel wohler, trotzdem hatte es mir gefallen. Nach und nach erinnerte ich mich daran wie viel ich mit Noah noch ausprobiert hatte und mir kroch die Röte ins Gesicht. Darunter waren einige Sachen eher gesagt Positionen gewesen, die ich auch gerne einmal mit Gaara ausprobiert hätte... als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, fühlte ich ein schmerzhaftes Stechen in meiner Brust. Ich stöhnte noch ein wenig lauter und gequälter, drehte mich auf den Bauch und umschloss das Kissen mit beiden Armen. Ich vermisste Gaara...
 

„Morgen“, ertönte eine murmelnde Stimme. Noah kam so leise die Wendeltreppe zu seinem Bett hoch geschlichen, dass ich seine Schritte nicht gehört hatte. Er trug ein lockere Jogginghose, darüber ein einfaches Shirt und hielt in einer Hand eine dampfende Tasse Kaffee. Seine blauen Augen waren nur halb geöffnet und zeigten seine Erschöpfung. „Hast du auch solche Kopfschmerzen?“

„Hm hm“, machte ich zustimmend, die müden Augen geschlossen.

„Willst du was essen? Danach kannst du eine Kopfschmerztablette nehmen.“

„Noah, ich hab ein Problem“, murmelte ich und öffnete die Lider, um ihm einen gequälten Blick zuzuwerfen. „Ich vermisse Gaara.“

„Oh nein“, sagte Noah entsetzt. „Aber warum denn?“

„Weil wir miteinander geschlafen haben, das erinnert mich daran, wie gerne ich mit ihm geschlafen habe...“ Ich begann gespielt zu jammern.

„Gott, du bist so schlimm wie Hannah, was das angeht... das erinnert mich daran, dass wir sie mal fragen sollten, wie es zwischen ihr und den beiden Mädchen weiter gegangen ist.“ Noah gab mir einen kräftigen Schlag mit der flachen Hand auf den Hintern und forderte mich mich anzuziehen und etwas in der Küche essen zu gehen. Keuchend zuckte ich ein wenig zusammen, begann mich dann aus der Decke zu schälen.
 

Schleppend zog ich mich an, wusch mein Gesicht im Badezimmer und saß danach übermüdet in der Küche, um eine Schüssel Cornflakes herunter zu würgen. Noah saß neben mir und versuchte Hannah zu erreichen, erst nach dem dritten Mal anklingeln, hob sie ab. Da er sein Handy auf Lautsprecher gestellt hatte, ertönte ihre Stimme auch für mich hörbar.

„Hallo“, murmelte sie müde.

„Hab ich dich geweckt?“

„Jaa...“

„Wie viel Uhr haben wir überhaupt?“, wunderte ich mich und blickte zur Uhr, die über der Küchenzeile hing. Zu meinem Entsetzen war es bereits halb Vier am Nachmittag. Wir hatten es letzte Nacht wirklich übertrieben.

„Wir wollten mal wissen, was bei dir noch so passiert ist“, sagte Noah. „Mit den beiden Mädels. Ist da was gelaufen?“

„Ne ne“, antwortete Hannah. „Wir hatten uns nur total gut verstanden, zusammen getanzt und uns unterhalten. Ich hab ihre Handynummern und Emilia hat mir sogar heute noch geschrieben. Ich denke nicht, dass ich was mit einem Mädchen anfangen kann, aber... habt ihr zwei wirklich miteinander...?“

„Jup“, antworteten wir wie aus einem Mund.

„Hat es denn gefallen?“

„Jup.“

„Und jetzt?“, fragte Hannah zögerlich. „Wird da mehr draus? Ich meine...“

„Ne“, sagte Noah, blickte mich nach Bestätigung suchend an. „Von meiner Seite aus, ist das nur eine gute Freundschaft mit ein paar Extras.“

„Bei mir auch so“, stimmte ich zu. „Und es hat mir wieder in Erinnerung gerufen, wie sehr ich Gaara zurück haben will...“

„Ach, du Armer“, seufzte Hannah mitleidig. Wir unterhielten uns eine Weile, dann beendete Hannah das Gespräch, da sie noch ein wenig schlafen wollte, bevor sie sich aus dem Bett quälte. Nachdem ich meine Cornflakes leer hatte, schluckte ich eine Kopfschmerztablette von Noah, die jedoch nicht allzu viel brachte. Ich fühlte mich einfach nur platt und halbtot. Nie wieder Alkohol. Nie wieder...
 

Nur eine halbe Stunde später entschied ich mich dazu nach Hause zu gehen, was Noah nur begrüßte, da er sich selbst noch etwas ausruhen wollte. Wie so häufig verabschiedete er sich bei mir mit einem Kuss auf die Wange, der sich nach dieser Nacht jedoch etwas seltsam anfühlte. Auf meinen zusammen gezogenen Gesichtsausdruck hin, reagierte Noah mit einem frechen Grinsen.

„Ach Luki, wir sind schwul, da ist es doch ganz normal, dass man mal miteinander schläft. Für uns Homosexuelle ist es nicht gerade einfach jemanden kennen zu lernen.“

„Jaja“, winkte ich ab. „Im Nachhinein finde ich es trotzdem seltsam, dass wir miteinander geschlafen haben...“

„Das geht wieder vorbei“, versicherte Noah. „Wir sehen uns am Montag.“

„Ja, bis dann.“
 

Schleppend setzte ich zum Weg nach Hause an, wäre in der Straßenbahn beinahe eingeschlafen und hätte meine Station verpasst und kroch in meinem Zimmer in mein Bett hinein. Weitere zwei Stunden verbrachte ich mit schlafen. Als ich dann aufwachte, ging es mir ein wenig besser und ich entschied mich dazu mich zu duschen, mir frische Kleidung anzuziehen und eine Pizza aufzuwärmen, damit ich mal etwas Richtiges in den Magen bekam. Während ich auf meine Pizza wartete, setzte ich mich an den Küchentisch und schaltete mein Handy an. Ich hatte eine SMS von Samantha verpasst, in der sie mich fragte, ob ich am nächsten Tag mit ihr zu Chris und Felix fahren wollte. Momentan wollte ich absolut gar nichts machen, doch ich hatte Felix und Joker schon seit zwei Wochen nicht mehr besucht, weshalb ich ihr mit einem 'Ja' antwortete.
 

Da ich gleich nachdem ich die Pizza gegessen hatte, wieder ins Bett kroch, wachte ich am Sonntag bereits um fünf Uhr morgens auf und konnte nicht mehr weiter schlafen. Zuerst nutzte ich die Zeit, um all meine Hausaufgaben zu erledigen, zu lernen und ein Referat für Ethik vorzubereiten. Um neun Uhr morgens stand endlich meine Mutter auf. Sogleich schlüpfte ich aus meinem Zimmer und machte ihr den Vorschlag, dass ich Brötchen kaufen ging, damit wir zu Dritt frühstücken konnten. Einige Augenblicke lang schaute sich mich blinzelnd und verwirrt an. In einer Hand hielt sie einen frisch aufgebrühten Kaffee, ihre blonden Haare waren noch vom Schlaf zerzaust.

„Bist du ganz sicher Lukas?“, fragte sie todernst. „Was hast du mit meinem Sohn gemacht?“

„Das war nur ein Vorschlag“, sagte ich genervt. „Ich kann es auch lassen.“

„Nein, nein, das würde mich wirklich freuen.“ Ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen. „Ich bin es nur nicht gewohnt dich vor zwölf Uhr mittags wach zu sehen. Aber dafür hast du ja gestern den ganzen Tag lang geschlafen. Wie war eigentlich der Schwulenclub?“

„Das kann ich euch später erzählen.“ Ich spürte wie mir die Röte ins Gesichts kroch. Ich konnte doch meiner Familie nicht erzählen, dass ich mit einem meiner besten Freunde gevögelt hatte. Und, was wir alles getan hatten. Noah hatte schon wirklich häufig Sex gehabt und kannte alle möglichen Positionen und Tricks, an die ich nicht einmal im Traum gedacht hatte.
 

„Ich geh dann mal“, sagte ich und verließ die Küche, damit ich nicht noch roter vor meiner Mutter wurde. Schnell zog ich mich in meinem Zimmer um, machte mich dann auf den Weg, um zwei Straßenecken weiter im Bäcker ein paar Brötchen zu kaufen. Gemeinsam frühstückten wir später, auch wenn Alex nur sehr widerwillig aufstand und eine halbe Stunde brauchte, um nicht mehr schlecht gelaunt zu sein. Beide schafften es aus mir heraus zu quetschen, dass ich mit Noah geschlafen hatte, was Alex nur mit einem „Hab ich mir schon gedacht“ kommentierte. Dass ich nun wieder Gaara vermisste, behielt ich erst mal lieber für mich. Was das anging, waren die Beiden ohnehin nicht auf dem neuesten Stand und konnten sich nur denken, was zwischen uns vorgefallen war. Während ich auf Samantha wartete, musste ich viel über ihn nachdenken und war beinahe so weit ihm eine SMS zu schreiben.
 

Ich hatte mein Handy bereits draußen, hatte seinen Kontakt geöffnet und ein 'Hey' eingetippt. Auf Absenden zu drücken, kam mir in diesem Moment wie das Schwierigste auf der Welt vor. Nervös biss ich mir auf die Unterlippe. Was zwischen mir und Noah vorgefallen war, war ja ganz schön und gut, aber es hatte mir lange nicht so gut gefallen, wie alles, was ich mit Gaara gemacht hatte. Gaara war immer sanft mit mir gewesen, liebevoll, er hatte mich berührt als wäre ich aus Porzellan, als hätte er Angst ich könnte in seinen Händen zerbrechen. Wenn er mich berührt oder auch nur angesehen hatte, war das ein süßes, feuriges Gefühl gewesen, das meinen ganzen Körper aufleben ließ. Und ich wollte es wieder haben. Dieses Gefühl, diesen Freund, diese Beziehung. Doch wahrscheinlicher war, dass ich es für immer verloren hatte. Wenn ich ihn nun anschrieb, würde es wieder in Tränen enden.
 

Bevor ich mich weiter in diesen Gedanken verlieren konnte, klingelte es an der Tür und ich löschte schnell mein 'Hey', verstaute das Handy in meiner Hosentasche und lief ins Wohnzimmer, um die Wohnungstür zu öffnen. Davor stand Samantha, die ich mit einer Umarmung begrüßte. Sie deutete hinter sich zu dem Auto, das am Straßenrand stand.

„Chris wartet schon, wir fahren direkt los, okay?“

„Lass mich nur noch Schuhe und Jacke anziehen...“ Gesagt, getan. Keine Minute später saßen wir im Auto und fuhren los. Auf der Fahrt erzählte Sam, dass sie am Wochenende mit Tami und einigen anderen Freundinnen aus war und ich erzählte etwas widerwillig von unserem Besuch im Schwulenclub. Dass ich mit Noah in der Kiste gelandet war, verschwieg ich ihr lieber.
 

Da Chris und seine Familie auf dem Land lebte, waren wir eine Weile unterwegs und, als wir ausstiegen, peitschte uns ein um einiges kälterer Wind entgegen. Normalerweise verbrachten wir viel Zeit draußen, doch angesichts des Wetters hatte niemand Lust das Haus zu verlassen, weshalb es darin endete, dass wir im Wohnzimmer ein Zelt bauten. Laut Ella war es eine Burg. Sie trug einen Helm aus Karton auf dem Kopf und in einer Hand ein gebasteltes Schwert und forderte Chris heraus, der sich nur mit ein paar Kissen verteidigen konnte. Sam und ich bauten aus Laken und Kissen eine begehbare Höhle, in der Felix mit Joker und Ellas Hund saß. Von seiner Schwester wurde er zum 'Burgwächter' ernannt, ich war der Ritter, der ihn bewachte und Sam war die Prinzessin, die von Ella gerettet werden sollte. Eine Weile lang spielten wir dieses Spiel und hatten viel Spaß dabei, dann wurden wir von Katharina, der Mutter der Familie, dazu aufgefordert mit den Hunden Gassi zu gehen. Da es kalt war, gingen wir nicht besonders weit.
 

Gerade erzählte mir Felix begeistert von seinem Training mit den anderen querschnittsgelähmten Kindern, die er kennen gelernt hatte, da blieb Sam ruckartig neben mir stehen. Verwirrt hielt ich ebenfalls an, ich schob Felix und er verstummte, als ich plötzlich stehen blieb. Wir wandten uns beide Sam zu, die mit einem entsetzten Ausdruck auf ihren Handydisplay starrte.

„Was ist los?“, erkundigte ich mich. Chris und Ella, die mit den Hunden weit vor gelaufen waren, bekamen nichts mit.

„Ehm“, machte Sam und schaute mich geschockt hat. „Gaara hat mir gerade geschrieben.“

„Was hat er dir geschrieben?“, fragte ich und spürte, wie mir die Hitze in den Kopf stieg. Hoffentlich war ihm nichts passiert... hoffentlich war er nicht mit Annalina zusammen...

„Er hat geschrieben, dass Kaito die Schule abgebrochen hat.“

Gaara - Herzkönig und Kreuzdame Pt. 1

'Das kann dir verdammt noch mal egal sein. Ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht will, dass du dich weiter einmischst. Lass mich einfach in Ruhe.'
 

Mehrmals las ich mir die SMS von Kaito durch. Immer und immer wieder, bis ich deren Bedeutung nicht mehr länger verleugnen konnte. Wie um alles in der Welt hatte ich es auf die Reihe bekommen, mich nun auch noch mit Kaito zu zerstreiten? Ich konnte mir nicht einmal erklären, wie das geschehen war. Plötzlich war er sauer auf mich gewesen, nur weil ich mir Sorgen um ihn gemacht hatte. Oder hatte ich etwas falsch gemacht? Bei Lukas hatte ich Scheiße gebaut, dessen war ich mir bewusst, doch bei Kaito? Ich wollte ihm nur meine Hilfe anbieten und ihm klar machen, welche fatalen Folgen es hätte, wenn er jetzt die Schule abbrach und zurück kam diese Antwort. Er konnte doch nicht einfach in der zwölften Klasse aufgeben. Sein Realschulabschluss war alles andere als gut gewesen und ein abgebrochenes Abitur machte sich im Lebenslauf auch nicht gerade als Pluspunkt bemerkbar. Natürlich wusste ich, dass es Kaito immer schwer gefallen war Prüfungen abzulegen, doch er hatte sich so gut gemacht. Besonders in seinen Leistungskursen war er viel besser geworden und nun schmiss er das alles einfach hin?
 

'Ich kann dich nicht einfach in Ruhe lassen. Du bist mein bester Freund und ich mache mir Sorgen!', schrieb ich zurück. Mit dem Kopf lehnte ich gegen die kühle Glasscheibe der Straßenbahn, welche gemütlich vor sich hin ruckelte. Draußen war es mal wieder grau und verhangen. Es sah nach Regen aus, der Wind riss an den Fenstern der Bahn. Über meinem braunen Haarschopf trug ich eine Stoffkapuze, die zu meiner dunklen Winterjacke gehörte. Auf meinem Schoß platzierte sich eine Umhängetasche, die mit nur wenig gefüllt war. Ich war auf dem Weg zur Musikschule und mit diesem Chaos von Chor ein Lied einzustudieren. Zwar hatten wir uns alle gemeinsam auf ein Medley geeinigt, doch es umzusetzen war schwieriger als gedacht. Schließlich handelte es sich bei meinen Schülern um zwanzig pubertierende Jugendliche.
 

Nachdem ich meine SMS abgeschickt hatte, wartete ich auf eine Antwort, doch diese kam nicht. Bei der richtigen Station angelangt, steckte ich das Handy in meine Jackentasche und stieg aus. Meine Kapuze wurde mir fast vom Kopf geweht, weshalb ich sie mit einer Hand festhielt. Schnell ging ich den Weg zur Musikschule, die etwas weiter entfernt lag. Als ich die Tür öffnete und eintrat, war Charlenne mal wieder anwesend. Ihre blonden Haare waren zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen gebunden und sie beriet gerade einen Kunden, der eine Akustikgitarre kaufen wollte.

„Hey Charlie“, grüßte ich sie. Überrascht blickte sie mich an, ihre Wangen verfärbten sich dunkelrot und sie ließ die Gitarre beinahe fallen.

„H-Hi“, stotterte sie vor sich, während mit der Kunde ein freundliches Lächeln zuwarf. Ich erwiderte es und ging nach hinten durch zur eigentlichen Musikschule. Wie immer war ich wenige Minuten vor Beginn da, stellte meine Umhängetasche auf einen der Stühle ab, die am Rand entlang aufgestellt waren und zog meine Winterjacke aus. Darunter trug ich einen einfachen, dunklen Pullover. Einen weiteren Blick warf ich auf meinen Handydisplay, doch Kaito hatte noch immer nicht geantwortet. Seufzend verzog ich den Mund, steckte das Handy in meine Hosentasche und nahm aus meiner Tasche die Blätter mit all den Notizen, die ich mir für den Unterricht gemacht hatte. Gerade als ich die Aufzeichnungen für heute fand, ging die Tür zum Klassenzimmer auf und die ersten Schüler traten ein.
 

Keine paar Minuten später waren alle zwanzig Schüler versammelt und unterhielten sich bis ich sie lauthals unterbrach und dazu aufrief ruhig zu sein. Nach und nach trat Stille ein, alle Blicke wandten sich mir zu.

„Heute haben wir etwas länger Zeit“, eröffnete ich den Unterricht. „Ich habe mir lange Gedanken gemacht und finde, dass wir etwas Neues ausprobieren sollten. Wir sollten nicht von einem Orchester begleitet werden. Das Schönste am Singen ist, dass nur die Stimme alleine zählt. Ihr seid zwanzig Leute, das ist mehr als genug für eine Acapella Gruppe.“

„Acapella?“, wurde vereinzelt wiederholt. Einige warfen sich gegenseitig skeptische oder abschätzende Blicke zu, während sich andere freuten. Besonders breit grinsten sich Joe und Raffi an. Die Beiden hatten sich bereits vor ihrer Zeit in der Musikschule gekannt, lagen im Alter zwei Jahre auseinander, lebten jedoch in derselben Nachbarschaft und waren schon seit Kleinkindertagen unzertrennlich. Vielleicht war es etwas klischeehaft, dass ausgerechnet die Beiden afrikanischer Abstammung waren. Ihre Haut war dunkel, die schwarzen Haare nur Stoppeln, welche von Kappen verdeckt wurden. Stets kleideten sie sich im Hip Hop Stil und sie hatten ein Talent, von dem man als Musiklehrer nur hoffen konnte ein solches zu finden: Sie konnten Beatboxen.
 

„Joe und Raffi können Beatboxen, das wisst ihr alle“, begann ich mich zu erklären. „Der alte Knacker würde niemals wollen, dass sie das zeigen. Für ihn ist es genauso wie Rap Ghettomusik, aber ich finde das verdammt cool und es wäre absolut schade, wenn wir beim Musikfest nicht zeigen, dass sie ein solches Talent haben. Oder, was sagt ihr?“

Ich blickte die beiden Jungen an und ihre Grinsen wurden noch ein wenig breiter.

„Sehr geil, Alter“, nickte Joe.

„Ich bin dabei!“, stimmte Raffi zu.

„Der Rest auch?“ Ich blickte in die Runde, doch nur schleppend stimmten die Anderen zu. Einige zuckten auch nur mit den Schultern als wäre es ihnen vollkommen egal, was wir sangen. Es war wirklich nicht einfach sie zu irgendetwas zu motivieren.

„Also wird es ein Acapella Medley“, stellte ich noch einmal für alle hörbar. Innerlich wurde mir bewusst wie viel Arbeit dies eigentlich bedeutete, doch ich verdrängte diesen Gedanken direkt. „Ich habe eine Liste mit den Liedern, die wir benutzen werden und ich habe das Arrangement, wie ich es mir bisher vorstelle, schon einmal fertig. Das heißt wir müssen nur noch die Stimmen verteilen, sie einstudieren, schauen wie es sich am besten anhört... alles auswendig lernen... und darauf hoffen, dass es der Alte nicht mitbekommt.“
 

Ein Lachen ging durch die Reihen der Jüngeren. Ich zückte einen meiner Zettel und las laut vor: „Also, wir haben Price Tag und Jessie J, Don't you forget about me von den Simple Minds, Give me everything von Pitbull, Just the way you are von Bruno Mars, Party in the USA von Miley Cyrus und Turn the beat around von Vickie Sue Robinson. Ich habe schon einmal fest gelegt, dass es fünf Hauptsänger geben wird. Eher gesagt, ist das meine erste Planung, die können wir immer noch umwerfen... meine bisher festgelegten Hauptsänger sind Amber -“

Ein triumphierendes, beinahe überlegendes Lächeln bildete sich auf den Lippen der vierzehnjährigen Blondine und die Mädchenclique, die sich um sie herum gebildet hatte, pfiff anerkennend. Eine solche Reaktion hatte ich bereits erwartet und Amber war mir alles andere als sympathisch, doch sie hatte mit die beste Singstimme des Chors und das konnte ich nicht einfach so übergehen.

„- Liah -“

Das dunkelhäutige fünfzehnjährige Mädchen mit den kräftigen, schwarzen Haaren und dem bereits extrem hübschen Gesicht gehörte ebenfalls zu derselben Clique und die beiden Mädchen schlugen erfreut ein. Sie hakten einander ein und blickten mich erwartungsvoll an. Vermutlich wollten sie nun hören, dass die anderen Drei der Clique die restlichen Hauptparts hatten, doch da musste ich sie bitter enttäuschen.

„- Zoé -“

Und schon wurde es unter den Reihen der Jüngeren unruhig. Leises Gemurmel ertönte und die schmächtige Dreizehnjährige bekam vor Scham rosa Wangen. Nervös tippte sie die Spitzen ihrer Zeigefinger einander und wandten den Blick zu Boden, sodass ihre braune Locken das Gesicht verdeckten. Sie war extrem schüchtern, doch ihre Stimme war bereits jetzt grandios, deswegen musste ich sie unbedingt dazu bringen, dass sie einen Part übernahm. Insgeheim hoffte ich auch, dass es ihrem Selbstbewusstsein half.

„- Emil und Vicky.“
 

Die beiden letzten Namen sagte ich schnell hintereinander, denn Beide würden eine Bombe zünden, das wusste ich bereits. Da Zoé immer sehr schweigsam war und nur schüchtern daneben stand, war es bei ihr noch nicht so schlimm, doch Emil und Vicky waren absolute Außenseiter in der Gruppe. Und das bekamen sie nun wieder im vollem Ausmaß zu spüren.

„Die Schwuchtel?!“, entfuhr es dem selbsternannten Gangster Maxi mit seiner Kappe auf dem Kopf und dem frechen Milchzähnegrinsen, deutete dabei mit einem Kopfnicken auf Emil, der nur wenige Zentimeter neben ihm stand.

„Wenn die Emotussi nen Part bekommt, wird das eine totale Blamage“, sagte Amber und meinte damit Vicky, welche so pechschwarz wie die Nacht selbst aussah. Zumindest was Kleidung und Haarfarbe anging, ihre Haut war dahingegen so weiß wie Schnee. Ihre Klamotten sahen wirklich gewöhnungsbedürftig aus, sie trug eine gestreifte Leggins, darüber einen Rock im Gothic – Look und das Pony ihrer schwarzen Haare verdeckte beinahe gänzlich ihre Augen.

„Keine Sorge, Amber“, sagte Liah und warf ihre schwarze Mähne nach hinten. „Wahrscheinlich bringt sie sich vor der Show um.“
 

„Fresse halten, Liah“, entfuhr es mir. Heute hatte ich wirklich keinen Nerv für solche Sprüche. Wenn sie sich gegenseitig ärgerten, konnte ich häufig nur daneben stehen und die Augen verdrehen, aber Scherze über Selbstmord ließen bei mir eine Sicherung durchbrennen.

„So darfst du nicht mit uns sprechen“, begann Amber sofort von oben herab, was beinahe lächerlich war, wenn man bedachte, dass ich sie um fast zwei Köpfe überragte. „Wenn das ihr Vater herausfindet, bekommst du echt Ärger.“

„Wenn ihr Vater herausfindet, dass sie Scherze über Selbstmord macht, bekommt sie echt Ärger“, entgegnete ich und brachte damit vorerst Ruhe in die Mädchenclique rund um Amber und Liah. Auch die Anderen wurden wieder schweigsam. Ernst schaute ich in die Runde, überlegte mir meine nächsten Worte gut, ehe ich sie aussprach: „Ich weiß, dass ihr euch miteinander nicht sonderlich gut versteht, in eurem Alter ist das beinahe normal. Es gibt ein paar Dinge bei denen ich die Augen zudrücken kann, aber Scherze über psychische Probleme wie Selbstmord gehen weit unter die Gürtellinie. Ich habe selbst einen guten Freund, der schon einmal versucht hat Selbstmord zu begehen. Glaubt mir, so etwas wollt ihr nicht erleben... kommen wir jetzt einfach wieder zurück zum Song. Den Rest von euch habe ich bereits für bestimmte Parts aufgeteilt. Auch, wenn nicht jeder einen Hauptpart hat, wird es für jeden, der es möchte, zwischendurch einen besonderen Auftritt geben. Und, wenn es nur ein Satz ist -“

„Gaara“, unterbrach mich Vicky leise.

„Ja?“

„Ich... ehm... ich brauche keinen Hauptpart“, sagte sie, blickte dabei die Schuhspitze ihrer angemalten Chucks an. „Das kann gerne jemand anderes übernehmen...“

„Ich brauche auch keinen“, murmelte Emil.

„Ich auch nicht“, piepste Zoé. Aus dem Augenwinkel erkannte ich triumphierende Lächeln auf den Gesichtern der Mädchenclique von Amber und den Möchtegerngangstern Maxi und Julius. Sie warfen sich gegenseitig vielsagende Blicke zu, schauten dann mich an, als erwarteten sie, dass ich die Hauptparts sofort neu besetzte. Bevor ich den Mund aufmachen konnte, war es die fünfzehnjährige Maya, die das Wort ergriff. Säuerlich wandte sie sich Vicky zu.
 

„Der Lehrer hat aber entschieden, dass du einen Hauptpart singst!“, sagte sie in einem harten Tonfall, stemmte dabei die Hände in die Hüften. Amber war nicht die Einzige, die genervt die Augen verdrehte. Ich mochte Maya ganz gerne, besonders, da sie zu den Wenigen gehörte, die meine Vorschläge ohne wenn und aber entgegen nahm, doch ihre kontrollierende Art ging auch mir manchmal auf die Nerven. Sie hatte ein spitzes Gesicht, hohe Wangenknochen und extrem kurze Haare, sie war die Größte unter den Mädchen und rückte alle immer zurecht, wenn sie nicht auf mich hören wollten. Leider ging dieses Vorhaben häufig nach hinten los und endete in einem Zickenkrieg. „Wenn Gaara sagst, du singst, dann singst du auch! Dasselbe gilt auch für euch Beide!“

„Maya, danke“, beendete ich ihr Gezeter. „Es gibt einen guten Grund, wieso ich euch als Hauptparts haben möchte... Vicky, du hast eine total besondere Stimme. Du klingst beim Singen rau und eigen und genau das liebe ich an deiner Stimme, du gibst jedem Song eine eigene Note und das schaffen nicht viele. Zoé, auch wenn du immer sehr leise bist, hast du eine extrem zarte und weiche Stimme, mit der du noch jeden zum Lächeln bringen kannst und Emil, ich hoffe du kommst niemals in den Stimmbruch, denn deine Stimme zergeht wie Butter, du bist perfekt als Tenor. Für das Musikfest hätte ich gerne euch als Hauptparts. Wenn ihr das absolut nicht wollt, dann kann ich nichts dagegen machen, ich kann euch schlecht zwingen. Aber überlegt es euch, ihr seid doch nicht hierher gekommen, um immer nur im Hintergrund zu singen. Jeder wird mal in einem Lied einen Hauptpart singen, mit euch fünf möchte ich anfangen. Überlegt es euch.“
 

Die Drei warfen sich gegenseitig stumme Blicke zu, dann fuhr ich mit meinem regulären Unterricht fort. Da ich heute nicht mit allen gleichzeitig üben konnte, teilte ich den Rest in kleine Gruppen ein und achtete darauf, dass nicht diejenigen zusammen kamen, die normalerweise immer zusammen herum hingen. Jede Gruppe sollte einen Song ihrer Wahl einstudieren und am Ende des Unterrichts vortragen. Dass es in einem einzigen, riesigen Streit und einer Menge Beleidigungen endete, hätte ich mir eigentlich schon denken können. Völlig erschöpft beendete ich schließlich den Unterricht, sogar zeitig und entließ die Chaostruppe nach Hause. Geplant hatte ich noch ein kurzes Gespräch mit Vicky, Emil und Zoé, um sie davon zu überzeugen, die Hauptparts zu übernehmen, doch sie waren schneller weg als ich blinzeln konnte. Tatsächlich war ich nur eine Minute später vollkommen alleine im Klassenzimmer, setzte ich auf den Stuhl neben meine Tasche und legte den Kopf in den Nacken. Für einige Momente schloss ich die Augen, hörte dem Wind zu, der draußen die Bäume bog und spürte das nervende Hämmern in meinem Kopf.
 

Vielleicht hatte Kaito endlich geantwortet. Ein kurzer Blick auf den Display reichte, um mich noch mehr zu enttäuschen. Momentan lief einfach gar nichts. Der Junge, den ich liebte, war wütend auf mich und wollte nichts mehr mit mir zu tun haben, mein bester Freund hatte sich mit mir zerstritten und ich schaute hilflos zu, wie er sich selbst das Leben zerstörte und mein Chor bestand aus zwanzig pubertären Jugendlichen, die sich gegenseitig am Liebsten umbringen würden. Das Ganze könnte nur noch getoppt werden, wenn meine Mutter oder mein Vater entschieden mal wieder nach Hause zu kommen.
 

„Harten Tag gehabt?“

Überrascht blickte ich auf und erkannte Annalina, die mit einem Schmunzeln vor mir stand. Ihre braunen Haare waren vom Wind zerzaust und auf dem Rücken hatte sie einen lockeren Rucksack geschnallt. Wie immer sah sie so normal aus, wie ein Mädchen nur normal aussehen konnte.

„Die Kinder bringen mich noch um“, murmelte ich und seufzte. „Wahrscheinlich bekomme ich mit ihnen nichts auf die Reihe und Herr Kemp schmeißt mich wieder raus.“

„Bitte nicht, dann kann er sich nicht mehr bei mir über dich aufregen“, sagte Annalina und streckte grinsend die Zunge raus. „Du bist Thema Nummer Eins, weißt du das? Er ist sich immer nur über dich am Beschweren.“

„So kenn ich den Alten.“ Ich musste ein wenig schmunzeln, dann raffte ich mich dazu auf, aufzustehen und meine Jacke anzuziehen. Annalina half mir die Zettel in meiner Tasche zu verstehen, welche ich mir danach über die Schulter hing. Als ich schon einen Schritt in Richtung Tür machen wollte, streckte mir Annalina eine Hand entgegen. Es brauchte einige Sekunde bis der Schalter bei mir fiel und ich verstand, dass sie wollte, dass ich ihre Hand hielt. Etwas zögerlich ging ich darauf ein. Ihre zierlichen Finger umschlossen meine, doch ich spürte keinerlei Regungen in meinem Körper oder gar in meinem Herzen. Genauso gut hätte ich mit Kaito Händchen halten können.
 

„Lass uns zu dir gehen“, sagte sie und führte mich mit einem Lächeln hinaus.

Gaara - Herzkönig und Kreuzdame Pt. 2

Ein weiteres Mal hatten Samantha und ich versucht mit Kaito zu reden und erneut ging es nach hinten los. Diesmal hielt Sam ihre Wut zurück, sprach so ruhig mit ihm, wie es ihr nur irgend möglich war, doch Kaito wollte einfach nicht auf uns hören. Als dann auch noch Sky dazu kam und behauptete, dass er seine Entscheidungen selbst treffen könnte, brannte bei mir eine Sicherung durch.

„Ich will kein Wort von dir hören, Fotze“, schleuderte ich der blonden Schönheit entgegen. Sogleich klappte ihr erschrocken der Mund auf, ebenso wie Sam, die solche Worte aus meinem Mund nicht kannte, während Kaito vor Wut das Gesicht verzerrte. Sauer wandte ich mich ihm zu. „Alter, ich hab mich für dich gefreut, als du eine Freundin bekommen hast, wirklich! Vor allem, weil ihr super zueinander passt und sie einfach nur Bombe aussieht, aber ihr zieht euch gegenseitig einfach nur in die Scheiße rein! Ich habe kein Bock mehr dir hinterher zu rennen, wenn du meinst Drogen nehmen zu müssen, dann mach's halt.“

„Genau wegen der Einstellung hast du Lukas verloren“, sagte Kaito, was mich nur noch mehr zur Weißglut brachte. „Jemand, der meine Freundin als Fotze bezeichnet, kann mir eh gestohlen bleiben. Verpiss dich einfach.“

„Fick dich, Junge!“
 

Und das waren die letzten Worte, die ich mit Kaito gewechselt hatte, bevor wir für Wochen den Kontakt zueinander abbrachen. Alle Prüfungen waren mittlerweile geschrieben, das letzte Referat hatte ich in Geschichte gehalten, epochale Noten waren vergeben und die Winterferien standen kurz bevor. Überraschenderweise besaß Marc genug Feingefühl, um zu wissen, wie hart mich der Streit mit Kaito traf, sodass er sich dazu entschied beinahe jedes Wochenende bei mir einzuziehen. Dabei kam nach und nach raus, dass er großes Interesse an Larissa hegte, mit der ich mich ebenfalls häufiger traf. Um Kaito und Lukas zu vergessen, begann ich mit Annalina einen Plan auszuhecken, wie wir die Beiden miteinander verkuppeln konnten. Außerdem steckte ich so viel Kraft und Konzentration wie nur möglich in meinen Kinderchor. Momentan hatte es noch reichlich wenig mit singen und sehr viel mit Zickenkriege schlichten zu tun, weshalb wir nur schwerfällig voran kamen. Schließlich war es Maya gewesen, die die Idee hatte, dass wir einen einfacheren Acapella – Song für das Weihnachtsfest einstudieren könnten. Das besagte Fest fand jedes Jahr in der Stadthalle des Viertels statt und wurde reichlich besucht. Alle fanden die Idee gut, weshalb wir uns nun damit beschäftigten 'Little Drummer Boy' einzustudieren.
 

Einige Tage vor Weihnachten kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich noch Geschenke kaufen musste, weshalb ich mich mit Annalina, Larissa und Marc zusammen tat, um gemeinsam in die Stadt zu gehen. Nachdem sich die beiden Mädchen einen Kaffee in Starbucks besorgt hatten, verschwanden wir in einem Elektronikgeschäft, teilten uns dort auf, sodass ich mich mit Annalina bei den PS3 – Spielen wieder fand.

„Ich sollte dir ein Spiel kaufen“, stellte Annalina fest und griff ins Regal, um den neuen Assassins Creed – Teil raus zu nehmen. „Hier das zum Beispiel...“

„Hab ich schon“, winkte ich ab. „Der ist schon seit Oktober draußen. Aber nein, du solltest mir kein Spiel kaufen, die sind verdammt teuer.“

„Für meinen Freund nur das Beste“, lächelte Annalina, stellte das Spiel zurück und schaute sich welche an, die kurz vor Weihnachten raus gekommen waren. Um diese Jahreszeit kam viel auf den Markt, damit es verschenkt werden konnte. Über ihren Kommentar kam ich ins grübeln, die Hitze stieg in mir auf und ich blickte sie verwirrt an. Was sollte das heißen 'für meinen Freund'? Wir waren doch nicht zusammen... waren wir zusammen? Hatte ich etwas verpasst? Ja, wir machten häufiger miteinander rum und kuschelten zusammen, wenn wir alleine waren, aber... oh Gott, so etwas tat man nur in Beziehung.
 

Ehe ich mir weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, war Annalina mit einem Spiel zurück gekehrt, das ich tatsächlich noch nicht besaß.

„Es ist zwar keine Überraschung mehr, aber ich habe zu viel Angst dir etwas zu kaufen, was dir nicht gefällt“, sagte sie. „Wie sieht es mit dem hier aus?“

„Du brauchst nichts Teures zu schenken“, beharrte ich. „Durch meine Eltern habe ich so viel Geld, dass ich mir den ganzen Scheiß selbst kaufen kann. Darum braucht mir auch niemand etwas zu Weihnachten zu schenken. Manchmal finden meine Freunde irgendetwas, was gut zu mir passt oder denken sich etwas Schönes aus, aber sie geben nie sonderlich viel Geld für meine Geschenke aus. Und so soll es auch bleiben.“

„Na schön.“ Annalina seufzte und stellte das Spiel zurück ins Regal. „Dann denke ich mir etwas aus, was du dir nicht einfach kaufen kannst.“ Daraufhin zwinkerte sie, ergriff meine Hand und führte mich zu Marc und Larissa, die gerade darüber diskutierten, wer von ihnen mehr Hipster war.
 

Im Laufe des Tages einigten wir uns darauf, dass wir uns am zweiten Weihnachtsfeiertag gemeinsam treffen würden, um eine Session abzuhalten: Den ganzen Tag lang kiffen. Natürlich würde dieses Treffen bei mir stattfinden. Geschenke fand ich keine, nur für Sam kaufte ich zwei Konzerttickets zu einer Band, welche sie verehrte. Weder für meine Mutter noch für meinen Vater fand ich Geschenke, für Kaito und Lukas kaufte ich nichts, obwohl es mich vor allem bei Letzterem in den Fingern juckte. Bei Noah wusste ich einfach nicht, was ich ihm kaufen sollte. Ich war noch nie gut darin gewesen anderen Leuten Geschenke zu machen. Niedergeschlagen kehrte ich am Abend nach Hause zurück. Schnee lag auf den Straßen, knirschte unter meinen Schuhen und legte sich auf meinen Klamotten nieder. Die schwarze Mütze, die ich über meinen braunen, zerzausten Haaren trug, war mit einer weißen Schicht bedeckt. Genüsslich rauchte ich eine Zigarette und, wenn ich den Rauch ausblieb, vermischte er sich mit meinem warmen Atem, den man in der Kälte deutlich erkennen konnte. Die Ruhe, die der Winter mit sich brachte, tat gut.
 

Als ich die Tür aufschloss, erwartete mich eine Überraschung, die mir diese Ruhe auf einen Schlag wegnahm. Vor Überraschung und Entsetzen – anders konnte man es nicht ausdrücken – blieb ich mit offenem Mund im Türrahmen stehen. Nur wenige Meter entfernt im Wohnraum standen meine Eltern und stritten sich. Nicht nur einer von Beiden – Nein, BEIDE. Ich wusste nicht, wie lange es her war, dass ich beide gemeinsam in einem Raum gesehen hatte. Meine Mutter trug einen langen Wintermantel über ihrem schmalen Körper. Ihre braunen Haare fielen wie ein Wasserfall über ihre Schultern, in einem Ohr steckte ein schwarzer Kopfhörer, über den sie telefonieren konnte. Auch mein Vater schien gerade erst angekommen zu sein. Er war einen Kopf größer als meine Mutter, hatte dunkle Haare und die grün-braunen Augen, die ich von ihm geerbt hatte. Sein Körper war breit und stark gebaut. Die Koffer der Beiden standen mitten im Raum. Dass ich soeben eingetreten war, bemerkten sie nicht.
 

„Entschuldige mal, es ist doch selbstverständlich, dass ich über Weihnachten nach Berlin komme“, fauchte meine Mutter, während sie sich den Wintermantel vom Leib riss. Darunter kam ein enges, schickes Outfit zum Vorschein, welches geradezu zu schreien schien, dass es teuer gewesen war.

„Selbstverständlich?“, wiederholte mein Vater ungläubig. „Letztes Jahr warst du über Weihnachten nicht hier gewesen!“

„Letztes Jahr hatte ich Wichtigeres zu tun gehabt.“

„Dann hättest du mir Bescheid sagen müssen, dass du diesmal herkommst. Dann wäre ich nicht gekommen! Wie lange bleibst du?!“

Donnernd ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Nun erst wandten sich die Beiden mir zu, erkannten mich überrascht, als wäre es ebenso seltsam, dass ich hier war, wie es bei ihnen der Fall war. Ein nervöser Ausdruck huschte auf mein Gesicht, in mir drehte sich alles. Einerseits konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als nun auch noch meine Eltern bei mir zu haben, andererseits hüpfte das kleine Kind in mir vor Freude auf und ab. Wenn sie sich miteinander verstehen würden, könnten wir beinahe ein normales, familiäres Weihnachten haben.
 

„Gaara.“ Erfreut breitete meine Mutter die Arme aus, kam zu mir und umarmte mich zur Begrüßung, dann ergriff sie meine Schultern und verkündete: „Ich werde eine Woche hier bleiben, gerade zum Weihnachtsfest. An Silvester kannst du dann mit deinen Freunden hier feiern, da willst du mich bestimmt nicht dabei haben.“

„Ich werde auch eine Woche bleiben, vielleicht ein bis zwei Tage länger“, sagte mein Vater und grüßte mich mit einem Schulterklopfen. „Wo kommst du gerade her? Warst du mit Freunden in der Stadt?“

„Ja“, murmelte ich, noch immer zu überrascht und durcheinander, um richtig zu funktionieren. „Wir wollten Geschenke kaufen, aber... ich habe nicht so viel gefunden...“

„Schatz, sei doch bitte so lieb und hilf mir mit dem Koffer...“
 

Als die Koffer ausgepackt, eine Maschine Wäsche angemacht und die Kaffeemaschine benutzt wurden war, saßen wir zu Dritt am Küchentisch und es kam mir wie das Seltsamste auf der Welt vor. In anderen Familien war es normal zusammen zu essen oder einen gemeinsamen Abend zu verbringen, doch in meiner Familie könnte es nichts ungewöhnlicheres geben. Überfordert mit der Situation saß ich gegenüber meines Vaters, neben meiner Mutter, und hörte mir von ihnen an, wie es in ihren Firmen lief. Mum erzählte etwas davon, dass sie nach der Woche in München auf einer Modekonferenz eingeladen war und Dad würde zu Verhandlungen nach Japan fliegen müssen. Schließlich erkundigten sie sich über meine schulischen Leistungen. Als ich von einer Drei Minus in Mathematik berichtete, verzog Dad das Gesicht.
 

„Eigentlich bist du doch besser in Mathe“, sagte er und zog die Augenbrauen zusammen. „Du solltest dich besser konzentrieren, eine Drei Minus ist nicht akzeptabel. Ich erwarte, dass du das mit deiner mündlichen Note ausbesserst.“

„Ja, klar.“

„Nur ein Ausrutscher“, winkte Mum ab. „Solange es nur einmal passiert, ist das doch kein Problem. Wie geht es dir denn sonst so? Hast du endlich eine Freundin gefunden?“

„Ehm...“ Zwar handelte es sich um eine einfache Frage, doch die Antwort darauf war so kompliziert und persönlich, dass ich nicht dazu gewillt war, es meinen Eltern zu erzählen. „Nein.“

„Du lässt dir wirklich Zeit“, seufzte Mum. „Schatz, in wenigen Wochen wirst du schon 19. Langsam wird es doch mal Zeit.“

„Er ist noch jung“, widersprach Dad. „Vielleicht hat er lieber kurze Affären und möchte es uns nur nicht erzählen.“

„Also wirklich! Als ob unser Sohn so etwas tun würde -“

„Und selbst wenn, er studiert, heiratet, bekommt Kinder, übernimmt die Firma -“

„Und was ist mit meiner Modefirma?“, fragte Mum gereizt.

„Das hat doch keine Zukunft! Bei mir sieht es finanziell momentan absolut makellos aus und bei dir ist es ein ewiges Auf und Ab.“

„So ist das nun einmal in der Modebranche!“

„Weil es kein richtiger Beruf ist!“

„Also wirklich!“ Empört zog Mum die Luft ein und ehe ich mich versah, waren die Beiden wieder am Streiten. Stumm saß ich daneben, sank mit jeder Sekunde weiter in meinen Stuhl und zog mir meine Mütze tiefer ins Gesicht, bis sie beinahe meine Augen verdeckte. Ich hatte schon beinahe vergessen, dass meine Eltern meine Zukunft bestens durchgeplant hatten. Wobei Beide unterschiedliche Planungen vor sich hatten. Wenn sie wüssten, dass ich bisexuell und in einen Jungen verliebt war, würden sie mich einen Kopf kürzer machen. Nun, Mum würde es vielleicht noch ganz gut auffassen, schließlich arbeitete sie in der Modebranche und, da war jeder zweite Kerl schwul. Auch, wenn es noch mal etwas anderes war, wenn der eigene Sohn davon betroffen war. Aber Dad... ich wusste seine genaue Meinung zur Homosexualität nicht, doch ich konnte mir schon denken, dass es keine Gute war.
 

Schließlich lösten wir uns auf. Dad musste über Laptop irgendein Meeting veranstalten und Mum wollte sich ein Duftbad gönnen. Mich verschlug es auf mein Zimmer, welches ich zwei Mal abschloss, bevor ich mich auf mein Bett fallen ließ, mir ein Kissen schnappte und einige Sekunden lang hinein schrie. Warum hatten sie sich nicht angekündigt? Im Wohnzimmer stand meine PS3 angeschlossen am Fernseher, hinter der Couch neben den Pflanzen stand meine Shisha und im Küchenschrank über der Theke versteckte ich meine Bong. Wenigstens das Marihuana hatte ich auf meinem Zimmer, ansonsten gab es jedoch genug Dinge außerhalb von diesem, die meine Eltern garantiert nicht sehen sollten. Angefangen mit dem Garten, um den ich mich immer noch nicht gekümmert hatte. Der sah mittlerweile aus wie Kraut und Rüben, was Beiden scheinbar noch nicht aufgefallen war. Wundern tat es mich nicht, sie nahmen sich nie die Zeit etwas genau zu betrachten.
 

Als meine Kehle schon schmerzte, hörte ich auf in das Kissen zu schreien und warf es seufzend zur Seite. Eine Weile lang lag ich nur in meinem Bett, nicht willentlich mich zu bewegen und schaute dem ruhigen Schneetreiben vor meinem Fenster zu. Sanft fielen die Flocken gegen die Scheibe, schmolzen dort zu kleinen Tropfen, die in dünnen Fingern am Glas herunter liefen. Schließlich raffte ich mich dazu auf mein Handy heraus zu nehmen und meinen Freunden Bescheid zu geben, dass meine Eltern für eine Woche da waren. Normalerweise bekam ich häufig unangekündigte Besuche. Solange meine Eltern da waren, konnte ich dies jedoch nicht zulassen. Ich schrieb die Nachricht in unsere WhatsApp – Gruppe. Es dauerte nicht lange, da kamen auch schon die Antworten zurück.
 

'Warte mal! Das heißt wir können uns am zweiten Weihnachtsfeiertag nicht bei dir treffen!', stellte Marc fest.

'Dann müssen wir das wohl bei mir machen', schrieb Larissa. 'Das geht schon in Ordnung. Wie war denn das Wiedersehen mit deinen Eltern?'

'Wie zu erwarten, kacke.'

Ich wünschte Kaito wäre noch in unserer Gruppe. Nach unserem letzten Streit hatte er sie schlussendlich verlassen, zuvor hatte er schon immer weniger darin geschrieben und nun hatte er sich völlig aus unserer Clique geklinkt. Lukas besaß kein WhatsApp, ansonsten wäre er mit Sicherheit Teil der Gruppe.

'Oh nein, du Armer', kam es von Noah mit einem traurigen Smiley dahinter. 'Wenn es dir zu viel wird, kannst du bei mir unter kommen.'

'Danke.'

'Huch, ich weiß von gar nichts Bescheid. Warum ist es so schlimm, dass deine Eltern mal Zuhause sind?', erkundigte sich Annalina, jedoch nicht über die Gruppe, sondern über einen privaten Chat. Sogleich öffnete ich diesen und antwortete: 'Erst einmal, dass sie beide gleichzeitig hier sind, bedeutet sie werden die Zeit nur mit Streiten verbringen. Und zum zweiten Mal schreiben sie mir vor, was ich zu tun habe und merken nicht, dass sie beschissene Eltern sind. Sie wissen gar nichts über mich.'

'Hmm', schrieb Annalina zurück. 'Das Angebot von Noah steht übrigens auch bei mir. Man könnte meiner Meinung nach schon sagen, dass wir zusammen sind, also wäre es auch keine schlechte Idee, wenn du mal zu mir nach Hause kommst. Übermorgen bin ich zum Beispiel alleine, da ist der Rest meiner Familie weg.'

'Ok.'

'Magst du dann her kommen?'
 

Ich biss mir bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage auf die Unterlippe. Erst als mein Vater plötzlich aus dem Wohnzimmer brüllte, was um alles in der Welt eine Shisha hinter der Couch machte, schrieb ich schnell zurück: 'Ja, ich komme übermorgen zu dir.'

Lukas - Wieder Zuhause Pt. 1

Ich hatte schon vergessen, wie nervig packen sein konnte. Besonders, wenn man nicht nur alleine, sondern mit Mutter und Schwester über die gesamten Weihnachtsferien weg fuhr. Meiner Meinung nach war es das Beste, was ich tun konnte. Abstand zu all dem Chaos hier zu suchen, obwohl ich es mittlerweile sogar ein wenig auf die Reihe bekam Ordnung in meine Gedanken und Gefühle zu bringen. Ich war mir ganz sicher, dass ich Gaara vermisste und immer noch starke Gefühle für ihn hegte, doch ich war mir ebenso sicher, dass ich mich nicht weiter von ihm verletzen lassen wollte. Somit schwebte ich zwischen diesen beiden Seiten, dem Reden und Vergeben und dem Ignorieren und Vergessen und wusste nicht, welche die Richtige war. Vielleicht würde es mir noch klar werden, wenn ich eine Weile darüber nachdachte. Erst einmal freute ich mich darauf Simon und Lynn wieder zu sehen. Auf den Rest meiner Familie freute ich mich nicht übermäßig, besonders meine Großmutter wollte ich nicht wieder sehen. Eigentlich mochte ich meine gesamte Familie und es war immer lustig, wenn alle zusammen waren, doch nun... meine Mutter wollte, dass ich ihnen erzählte, dass ich homosexuell war. Und darauf hatte ich absolut gar keine Lust.
 

Dementsprechend schlecht gelaunt war ich auf der gesamten Autofahrt. Düster blickte ich aus dem Fenster hinaus, hörte über beide Kopfhörer Musik und wurde erst wieder fröhlicher, als ich eine SMS von Simon erhielt, in der er mir mitteilte, wie sehr er sich auf mich freute. Ein Lächeln bildete sich auf meinen Lippen und schließlich packte auch mich die Vorfreude auf meine Freunde und übertraf meine Unlust. Als wir am Abend endlich ankamen, wurden wir bereits von der Mutter meiner Mutter erwartet. Leider würden wir ausgerechnet bei dir die Weihnachtsferien verbringen. Ich hatte bereits mehrmals versichert, dass ich zwischendurch auch einige Nächte bei Simon bleiben würde, ansonsten müssten sie mich in einem Sarg zurück nach Berlin verfrachten. Meine Großmutter war eine faltige, kleine Frau mit schneeweißen Haaren und strengen Gesichtszügen. Obwohl sie bereits ein hohes Alter erreicht hatte, war sie immer noch topfit und mein Vater hatte immer Scherze darüber gemacht, dass sie uns alle überleben würde. Mit ihm zusammen war es bei ihr immer erträglicher gewesen, weil er stets einen lustigen Spruch auf den Lippen hatte. Mit ihm würde es mir auch einfacher fallen meiner Familie von meiner sexuellen Neigung zu erzählen. Erst mal konnte dies jedoch warten.
 

„Milena, da seid ihr ja endlich, ich habe das Abendessen bereits fertig“, begrüßte sie meine Mutter. Seufzend blies sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, schleppte ihren Koffer schwerfällig ins Haus hinein. Auch Alex und ich folgten mit unseren Taschen, doch als wir alles im Wohnzimmer fallen ließen, wurden wir dafür sofort getadelt. Der Boden könnte schließlich davon kaputt gehen.

„Wie auch immer das passieren soll“, flüsterte ich Alex zu und sie kicherte leise.

„Lukas und Alex müssen sich ein Zimmer teilen“, sagte Oma und scheuchte uns zu den beiden Gästezimmern, die sich im zweiten Stock befanden. Wir trugen unsere Taschen hoch und ich ließ mich sogleich auf eines der beiden Betten fallen. Unser Zimmer war nicht sonderlich groß. Zwischen den Betten stand ein Nachttisch, gleich vor dem Fenster. Es gab nur eine Kommode und gerade genug Platz, dass wir ein paar Schritte machen konnten. Für die Ferien würde es reichen.
 

„Wirst du es machen?“, fragte Alex, während sie sich frische Klamotten aus ihrer Tasche kramte. Für die Autofahrt hatte sie eine graue Jogginghose getragen, ihre herbstbraunen Haare locker hoch gebunden, geschminkt hatte sie sich ebenfalls nicht.

„Was?“, fragte ich, den Blick starr gegen die Decke gerichtet. Obwohl ich mir schon denken konnte, worauf Alex hinaus wollte.

„Na, was wohl... ihnen sagen, dass du schwul bist.“

„Ich weiß es nicht“, murmelte ich. „Ist das denn so wichtig, dass ich es breit verkünden muss? Ich kann doch einfach lieben, wen ich will. Spätestens, wenn ich den Mann fürs Leben gefunden habe, wissen sie Bescheid. Warum jetzt so ein Drama daraus machen?“

„Ich weiß, was du meinst“, seufzte Alex. Sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus, kleidete sich dann neu ein, in eine enge Jeggings und einen weiten Baumwollpullover. „Das ist auch meine Meinung, aber... ich wette, sie würden es gerne wissen. Es ist immer noch etwas Ungewöhnliches homosexuell zu sein. Und ich glaube, es wird auch noch einige Jahre dauern, bis es nicht mehr als Ungewöhnlich angesehen wird.“

„Wahrscheinlich hast du Recht...“
 

Das änderte jedoch nichts daran, dass ich absolut keine Lust darauf hatte es ihnen zu erzählen. Für heute musste ich darüber ohnehin keine Gedanken machen. Oma rief uns säuerlich zum Abendessen herunter, weil wir uns zu viel Zeit ließen. Bei ihr galten noch die Regeln, dass man das Essen komplett leer machen musste, danach halfen wir beim Abwasch – sie besaß keine Spülmaschine – mussten unsere Betten beziehen und uns von ihr anhören, dass wir am letzten Tag vor unserer Abreise das gesamte Zimmer von oben bis unten putzen müssen. Danach bemängelte sie mal wieder, dass meine Haare zu lang wären. Ich war mehr als nur froh, als ich eine SMS von Simon bekam, in der geschrieben stand, dass er sich mit ein paar Freunden bei Genesis treffen wollte und mich einlud mitzukommen. Sogleich zog ich mich an, verabschiedete mich von meiner Familie und floh regelrecht, erst einmal zu meinem besten Freund, da ich den Weg zu Genesis nicht mehr in Erinnerung hatte.
 

Kaum, da ich geklingelt hatte, sprang die Tür und Simon stand mit einem breiten Grinsen auf seinem unverschämt gutaussehenden Gesicht vor mir. Seine schwarzen Haare lagen verwuschelt auf seinem Kopf und in seinen tief braunen Augen glänzte die Freude.

„Endlich bist du da!“ Wir umarmten uns zur Begrüßung. „Lass uns sofort los gehen, die Anderen sind schon alle bei Genesis.“ Er wandte sich der offenen Tür zu und rief lauthals, dass er nun gehen würde. Von seinem Vater kam ein 'Okay' zurück, dann schloss Simon die Eingangstür und gemeinsam gingen wir los.
 

„Wird Lynns Freund auch da sein?“, fragte ich.

„Ich schätze schon“, seufzte Simon. Mir fiel auf, dass er nicht mehr so wütend klang wie vorher, eher trübselig. Vielleicht hatte er langsam angefangen zu akzeptieren, dass Lynn mit einem Anderen zusammen war. „Das größte Problem ist, dass er total nett ist.“

„Das ist ein Problem?“, wunderte ich mich.

„Ja, ich wünschte, ich könnte ihn einfach hassen, aber... ich hab dir doch schon in den Herbstferien gesagt, dass er zu Lynn passt und ihr gut tut.“

„Ich kann dich verstehen“, murmelte ich.

„Ist Gaara jetzt eigentlich mit dieser Tussi zusammen?“

„Weiß ich nicht.“ Ich zuckte die Schultern und seufzte schwer. „Ich möchte auch nicht darüber reden.“
 

Damit war das Thema vorerst abgeschlossen. Nur kurze Zeit später standen wir von Genesis' Haus, dem man bereits von außen ansehen konnte, dass drinnen die Hölle los war. Dumpf klangen die Geräusche einer Party zu uns, erinnerten mich schmerzhaft an die vielen Partys in Gaaras Haus. Stumm verzog ich den Mund, versuchte diese Gedanken zu verdrängen. Schließlich war ich genau deswegen hier, um Gaara und das ganze Chaos mal für zwei Wochen zu vergessen, mich mit alten Freunden zu treffen und andere Zeiten aufleben zu lassen. Als ich noch nicht unglücklich verliebt gewesen war. Uns wurde die Tür von Genesis selbst geöffnet. Mir fiel auf, dass ich sie wirklich lange nicht mehr gesehen hatte, doch das hielt sie nicht davon ab mich mit einer Umarmung zu begrüßen. Vom Körperbau her war sie eher schmächtig, hatte jedoch einen großen Busen aufzuweisen, der einem nicht weiter auffiel, da sie einen lockeren Pullover als Oberteil trug. Ihre Hose war bunt und weit, passend zu ihrer Hippie – Erscheinung, welche von ihren Dreadlocks komplementiert wurde. Ihre Dreads waren dünn und in verschiedenen Farben, reichten ihr bis zum Hintern. Aus ihrem dünnen Gesicht blickten zwei große, blaue Augen hervor, die mich langen, dichten Wimpern umrandet waren. Wie ich sie Erinnerung hatte, war sie recht blass, sah sogar beinahe kränklich aus.
 

„Toll dich mal wieder zu sehen, du musst mir alles erzählen, was bei dir passiert ist“, sagte sie, schenkte auch Simon eine Umarmung und führte uns dann ins Haus hinein. Im Wohnzimmer herrschte der meiste Trubel, der Shisha-Rauch stand im Raum, Alkohol floss in Mengen, in der einen Ecke tanzten ein paar Mädchen auf die Musik, in der Anderen waren ein paar Jungen am Kiffen. Überall waren Jugendliche, die ich von meiner alten Schule her kannte, genauso wie es genug Leute gab, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Ich wurde begrüßt, über mein Leben in Berlin ausgefragt, in Unterhaltungen gezogen. Mir wurde ein Glas Jägermeister mit Red Bull in die Hand gedrückt, Genesis reichte mir einen Joint, wollte mit mir reden, dabei hielt ich nur Ausschau nach einer bestimmten Person. Und es dauerte eine ganze Weile bis ich Lynn endlich ausfindig machen konnte. Sie kehrte so eben aus dem Garten zurück, im Schlepptau Adrian, den ich bisher nur auf dem Festival in den Sommerferien getroffen hatte. Als sie mich erblickte, ging ihr ein helles Kreischen über die Lippen, das mir das Trommelfell zum Erzittern brachte. Danach warf sie sich in meine Arme und stimmte in mein Lachen mit ein.
 

„Ich hab dich vermisst“, sagte sie, als sie mich wieder los ließ. Klagend blickten mir ihre braunen Augen entgegen. Sie hatte ein rundliches Gesicht mit einer Stupsnase und braune Haare, die sie meist offen trägt. Mir fiel auf, dass sie ein wenig zugenommen hatte. Bei Lynn machte dies nichts weiter aus, ihre weiblichen Rundungen waren stark ausgeprägt. Man könnte sagen, bei ihr gab es richtig etwas zum Anfassen. Gerade das machte sie für Männer so anziehend.

„Ich dich auch“, sagte ich. „Wie geht’s dir? Erzähl schon.“

„Mir geht es super.“ Mit einem Grinsen deutete sie zu Adrian herüber, der sich in einem Gespräch mit irgendwelchen Jugendlichen befand, die ich nicht kannte. „Wir sind immer noch überglücklich miteinander, du musst ihn unbedingt näher kennen lernen...“
 

Eigentlich hatte ich nicht geplant den halben Abend damit zu verbringen Adrian kennen zu lernen, doch genau darauf lief es hinaus. Schließlich endete es in einem Trinkspiel, das auch unglaublich viel Spaß machte und ich erkannte schnell, welches Problem Simon in Adrian sah: Er war ein Mensch, den man nur mögen musste. Freundlich, intelligent und lustig. Er war Student, hatte ähnliche Interessen wie ich, was Filme und Serien anging, weshalb wir uns in einem Gespräch über die Herr der Ringe Trilogie vertieften. Auch als er betrunken war, hörte er nicht auf weiterhin freundlich zu sein. Simon versuchte so wenig wie möglich bei uns zu sein. Irgendwann bekam ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn so sitzen ließ, verabschiedete mich aus der lustigen Runde und ging zu meinem besten Freund herüber, der mit Genesis am Rand saß und einen Joint rauchte. Dank des Alkohols drehte sich in meinem Kopf alles und ich war froh, als ich mich zwischen den Beiden auf den Boden fallen ließ.
 

„Und was hältst du von ihm?“ Simon reichte mir den Joint und ich gönnte mir einen Zug.

„Genau, wie du gesagt hast“, seufzte ich. „Er ist echt nett.“

„Hast du diese Tussi mal näher kennen gelernt und bei ihr dasselbe Problem?“, fragte Simon. Ich blies den Rauch aus, musste ein wenig husten und schüttelte den Kopf.

„Sie heißt übrigens Annalina.“ Schon alleine ihren Namen auszusprechen, bereitete mir Magenkrämpfe und dieses widerliche Gefühl der Eifersucht, das sich in mir verankert hatte.

„Wer ist das?“, fragte Genesis. „Ich habe wohl einiges verpasst...“

„Gaara hat mit ihr in den Herbstferien rumgemacht“, antwortete Simon für mich. Ihre blauen Augen weiteten sich noch ein wenig.

„Was soll das denn heißen? Ich dachte, ihr seid zusammen.“

„Nein, aber... das ist eigentlich meine Schuld“, murmelte ich. „Sozusagen, ich hatte Gaara verleugnet und... ich erkläre es dir...“ Ich erzählte ihr alles. Vom Festival, vom Streit als wir betrunken waren, davon, dass ihm eine Entschuldigung nicht reichte, von dem Kontaktabbruch und natürlich von Annalina. Und, da ich schon einmal am Erzählen und dazu noch betrunken war, ließ ich auch Kaitos Drogenprobleme und meinen One-Night-Stand mit Noah nicht aus. Als Simon davon erfuhr, verschluckte er sich am Rauch und hustete sich eine knappe Minute lang die Seele aus dem Leib, ehe er krächzend fragte: „Was?!“
 

Das brachte Genesis und mich zum Lachen.

„Ja, ich hab mit ihm geschlafen, aber das hat nichts zu bedeuten“, sagte ich. „Es war ganz schön gewesen, aber... ohne Gefühle. Wir sind nur Freunde. Und ich habe Gaara am nächsten Tag nur noch mehr vermisst.“

„Hm, also so wie ich das sehe, macht ihr euch Probleme, wo keine sind“, meinte Genesis, spielte mit einer ihrer Strähnen, die eine besonders helle Farbe hatten.

„Er hat mit Annalina rumgemacht“, murrte ich. „Und ich glaube, da läuft noch mehr zwischen denen. Ich sollte mir keine Hoffnung mehr machen...“

„Ach, Lukas“, seufzte Genesis. „Du hast mir schon so viel über ihn erzählt... er hat dir unglaublich geholfen, oder? Dein letztes Jahr war alles andere als leicht für dich gewesen und er war für dich da und hat dich getröstet, dir bei deinen Panikattacken geholfen und dein Selbstbewusstsein wieder aufgebaut. Wenn ich dich mit dem Jungen vergleiche, den ich letzten Jahr in den Herbstferien kennen gelernt habe... das sind Welten.“

Düster erinnerte ich mich daran, dass ich meine erste Panikattacke bei Genesis im Badezimmer gehabt hatte. Es war auch gleichzeitig meine Schlimmste gewesen, am Ende war ich sogar ohnmächtig geworden, konnte mich am nächsten Tag nur noch an wenig erinnern.

„Und, weil er mir geholfen hat, soll ich ihm nun verzeihen, dass er mit diesem Mädchen rumgemacht hat?“, fragte ich zweifelnd.

„Du solltest jetzt ihm helfen“, entgegnete Genesis mit einem Lächeln. „Natürlich liegt die Entscheidung bei dir, aber, wenn ich mir das hier so anhöre, hat es Gaara momentan nicht leicht, oder? Hast du nicht selbst einmal gesagt, er würde die Einsamkeit hassen?“

„Ja, habe ich...“

„Und denkst du nicht, dass er einsam war, als all seine Freunde um ihn herum plötzlich in Beziehungen kamen und du ihm dann auch noch verloren gegangen bist? Und dann kam diese Annalina und ihr Interesse hat er ausgenutzt, um sich nicht mehr einsam zu fühlen. So viel zu meiner Einschätzung. Jetzt wird das Ganze nur noch schlimmer, bei dem, was mit seinem besten Freund geschieht. Er braucht Hilfe, das würde ich behaupten.“

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er überhaupt etwas für mich empfindet?“, murmelte ich, noch immer zweifelnd. Diesmal war es Simon, der antwortete. Und er sagte dieses Wort, als wäre es vollkommen offensichtlich und ich nur ein zu großer Narr, um es zu erkennen: „Hoch!“

„Überlege es dir“, sagte Genesis. „Wenn du ihn nicht für immer verlieren willst, mach einen Schritt auf ihn zu. Klär diesen Streit.“

„Ich denk darüber nach...“

Lukas - Wieder Zuhause Pt. 2

Für die nächsten paar Tage dachte ich tatsächlich an nichts anderes als an Genesis' Worte. Ein weiteres Mal trafen wir uns, diskutierten das Thema Gaara solange aus, bis ich zu dem Entschluss kam, dass ich wirklich mit ihm reden wollte. Fest nahm ich mir vor, dass ich solange wartete bis ich wieder in Berlin war. Wenn mein Verlangen den Streit zu klären bis dahin nicht verklungen war, würde ich die Sache angehen. Auch, wenn ich bereits jetzt Angst davor hatte. Was, wenn Genesis und Simon sich nun täuschten und er nichts mehr für mich empfand? Doch dieses Risiko musste ich eingehen, wie Genesis mir klar machte. Besser, als es nie versucht zu haben und es für ewig zu bereuen. An Weihnachten war ich mit den Gedanken nicht ganz beisammen, unterhielt mich nur halbherzig mit dem Rest der Familie. Wir feierten bei einer meiner beiden Onkel, bei dem mit dem größeren Haus und dem viel größeren Wohnzimmer, in welchem alle Platz fanden. Der Küchentisch wurde herüber getragen und zu doppelter Größe ausgezogen und wie immer herrschte ein totales Chaos. Ich war der Älteste der 'Kinder' und bekam deswegen die Aufgabe erteilt auf die Jüngeren ein wenig aufzupassen.
 

Eine Weile lang waren wir draußen im Park, welcher unweit vom Haus entfernt war. Auf einer der Bänke ließ ich mich nieder, schaute gedankenversunken zu, wie die Anderen zusammen Fußball spielten. Hier unten in Nordrhein-Westfalen lag keinerlei Schnee, nicht einmal grauer Matsch, verglichen mit Berlin war es nicht einmal richtig kalt. Schließlich schaffte es der neunjährige Leon, unser Jüngster, mich dazu zu überreden mit zu spielen. Es lenkte mich ein wenig von meinen Gedanken ab, doch als wir von unseren Eltern zum Essen rein gerufen wurden, versank ich wieder in meinen Überlegungen. Geistig abwesend saß ich am Tisch, während alle Anderen miteinander am plaudern und herum albern waren. Es gab so viel unterschiedliches zu Essen, dass ich mich kaum entscheiden konnte. Schließlich wurde das allgemeine Gesprächsthema auf etwas gelenkt, was mir nicht gefiel, doch dies bemerkte ich erst, als ich von meiner Mutter an gestupst wurde. Verwirrt blickte ich auf, stellte fest, dass alle Blicke auf mir lagen.
 

„Milena sagte, du möchtest uns etwas mitteilen“, sagte einer meiner beiden Tanten mit einem freundlichen Lächeln. Sogleich warf ich Mum einen Todesblick zu. Das konnte doch jetzt nicht ihr Ernst sein...

„Es ist nichts Wichtiges“, winkte ich ab. „Nichts worüber man sprechen müsste.“

„Lukas, es wird langsam Zeit“, sagte Mum leise.

„Wieso sollte ich es überhaupt erzählen?“, murrte ich. „Das ist nichts besonderes.“

„Es ist aber doch nicht unwichtig.“

„Dränge ihn doch nicht dazu“, schaltete sich nun auch Alex ein.

„Milena, wenn er nicht darüber reden möchte, dann muss er es doch nicht“, sagte einer meiner Tanten.

„Er soll sich nicht so zieren!“, beschwerte sich Oma.

„Du musst es jetzt aber erzählen“, jammerte meine dreizehnjährige Cousine Alicia. „Ihr habt uns total neugierig gemacht!“

„Ja, das wäre voll unfair, wenn du es jetzt nicht sagst“, stimmte ihre ältere Schwester Laura zu.

„Aber, wenn er doch nicht will“, sagte ihr Vater mit verzogenem Gesicht. Und schon entbrannte eine Diskussion darüber, ob ich ihnen erzählen sollte, was ich zu verbergen hatte oder nicht. Von allen Seiten redeten sich auf mich ein. Mum schien langsam zu verstehen, dass sie einen Fehler gemacht hatte und Alex verdrehte nur genervt die Augen. Überfordert hielt ich mir mit beiden Händen den Kopf, während ihre Stimmen immer lauter wurden. Schließlich wurde mir das Chaos zu viel. Mit einem Mal war ich auf den Beinen und verkündete so laut, dass ich jeden Einzelnen übertönte: „Ich bin schwul!“
 

Augenblicklich kehrte Stille ein. Im nächsten Moment wurde mir bewusst, wie peinlich die Situation war. Das Blut schoss mir in den Kopf und ließ mich knallrot werden. Am Liebsten hätte ich sofort die Flucht ergriffen, doch ich wusste, dass mir das nicht viel bringen würde. Einige Sekunden des Schweigens musste ich ertragen und sie fühlten sich wie Ewigkeiten an, unerträglich. Verbittert presste ich die Lippen aufeinander.

„Okay“, ergriff dann eine meiner Tanten das Wort, die Jüngere, die vom Beruf auf Friseurin war und von der ich auch eigentlich wusste, dass sich einen schwulen Kollegen hatte, mit dem sie sich ständig außerhalb der Arbeit traf. „Ich dachte schon, es wäre etwas Schlimmes vorgefallen.“

„Dachte ich auch“, stimmte ihr Ehemann zu, ein muskulöser Mann mit Tätowierungen auf beiden Armen, von dem ich, wenn ich etwas darüber nachdachte, wusste, dass er sich seine Tattoos in einem Studio stechen ließ, welches von einem lesbischen Pärchen geführt wurde. Das waren die Tätowiererinnen seines Vertrauens, wie er mir einmal erzählt hatte. Auch die Söhne der Beiden nahmen es mit einem Schulterzucken auf.

„Ist doch voll okay“, meinte der sechzehnjährige Konrad. Sein jüngerer Bruder war gerade mal acht Jahre alt und blickte mit großen Augen zu seiner Mutter auf.

„Das heißt, Lukas liebt Männer, oder?“

„Ja, richtig.“

„Okay.“

Mehr nicht. Er akzeptierte es einfach, ohne es infrage zu stellen oder sich Gedanken darüber zu machen und ebenso reagierte auch der Rest meiner Familie. Langsam setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl und nun schämte ich mich dafür, geglaubt zu haben, sie würden meine Homosexualität nicht akzeptieren. Neben mir grinste sich Mum einen. Auch, wenn ihr Vorhaben gut verlaufen war, würde sie später noch von mir Ärger bekommen, dass sie mich dazu gezwungen hatte. Bloß Oma war alles andere als begeistert, doch das hatte ich bereits erwartet und eigentlich war es auch klar gewesen, schließlich war sie konservativ erzogen wurden.
 

„Zu meiner Zeit galt so etwas noch als Krankheit!“, meckerte sie und klopfte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. „Daran ist alleine der Tod deines Mannes Schuld, Milena. Danach hat er diese Probleme bekommen.“

„Mutter“, entfuhr es Mum wütend. „Es gibt nichts wofür jemand Schuld sein könnte.“

„Es ist eine psychische Störung -“

Eine Diskussion entfachte, die hauptsächlich darauf basierte, dass alle auf Oma einredeten, während sie bei ihrem Standpunkt blieb. Erst als Alicia, gerade einmal zwölf Jahre alt, sich einschaltete, wurden alle ruhig und hörten ihr zu.
 

„Aber das ist doch Schwachsinn“, sagte sie an Oma gerichtet. „Eine psychische Störung würde Lukas doch schaden und in einen Jungen verliebt zu sein, schadet ihm nicht.“

„Na, das verliebt sein vielleicht nicht, aber wenn er mit ihm Sex hat, bekommt er Aids.“

„Um Himmels Willen“, stöhnte Alex. Als wir uns anblickten, mussten wir seltsamerweise anfangen zu lachen. Wir bekamen regelrecht einen Lachanfall, der erst vom Rest mit schiefen Blicken kommentiert wurde, bis dann auch andere mit einfielen. Mit Oma konnte man wirklich nicht reden, aber so war sie nun einmal. Sie war schon zu alt, um noch bekehrt zu werden, dafür sah es bei den jüngeren Generationen sehr gut aus, was die Toleranz anging...
 

Am Ende war das Weihnachtsfest doch gar nicht so schlimm gewesen, wie anfangs befürchtet. Zu meinem Überraschen bekam ich eine PS3 geschenkt, was ich wirklich nicht erwartet hatte. Dafür gab es jedoch auch nichts anderes, außer einem Plüschhund, den mir Alicia von ihrem eigenen Taschengeld gekauft hatte. Zur Erklärung sagte sie, dass sie von Joker erzählt bekommen hatte, den ich nicht hatte adoptieren dürfen, zum Trost bekam ich nun also ein Stofftier. Darüber freute ich mich beinahe mehr als über die Konsole. Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Nur, wenn ich abends im Bett lag und die Nacht herein brach, zogen sich die Stunden wie Ewigkeiten, denn dann hatte ich Zeit nachzudenken und natürlich ging mir Gaara nicht aus dem Kopf. Mein Verlangen mit ihm zu reden, wurde von Tag zu Tag stärker. Dementsprechend positiv überrascht war ich, als ich am Silvesterabend von ihm eine Nachricht erhielt. Mehr als 'Frohes Neues' stand zwar nicht drin, doch alleine die Geste zählte. Ich schrieb ihm 'Dir auch' mit einem Smiley dahinter zurück und konnte in dieser Nacht nicht mehr aufhören zu schmunzeln. Durch diese simple SMS hatte sich meine Laune um Einiges gehoben und Silvester wurde zu einer absolut genialen Feier.
 

Das Dorf lag in einem Tal. Es gab in den „Bergen“, soweit man die Hügel als solche bezeichnen konnte, viele Plätze an denen man sich mit einer großen Gruppe sammeln konnte. Auch wir suchten uns mit allen Freunden eine freie Fläche von der aus man einen tollen Blick über das Dorf hatte. An Mitternacht ließen wir Raketen fliegen, schauten zu wie die bunten Lichter im schwarzen Himmel explodierten und das Echo des Feuerwerkes von überall erwidert wurde. Alkohol floss in Mengen und mit Genesis teilte ich mir mal wieder einen Joint, all diese Drogen stiegen mir ziemlich schnell in den Kopf und nur kurze Zeit später, waren wir alle miteinander ziemlich lustig. Zumindest fand ich die Anderen unglaublich lustig, über alles und jeden war ich am Lachen. Gegen drei Uhr ließ die Wirkung dann nach und ich fand mich zwischen Simon und Lynn sitzend im Gras wieder. Beide Arme schlang ich um meine Knie, die ich an meinen Körper heran gezogen hatte. Obwohl ich eine Winterjacke trug, war ich am Frieren, hatte die Kapuze über meinen hellbraunen Haarschopf gezogen und ein Schmunzeln auf meinen Lippen.
 

„Ich weiß nicht, warum, aber ich finde das Leben gerade schön“, teilte ich ihnen mit.

„Ach echt?“, wunderte sich Simon, der eine Zigarette am Rauchen war und eine Augenbraue skeptisch hoch zog. „Obwohl du so einen Stress mit Gaara hast?“

„Obwohl einer deiner Freunde Drogenprobleme hat und dich abweist?“, sagte Lynn, die eine Jacke von Adrian über ihrem Körper trug, um sich zusätzlich Wärme zu spenden. Die Arme hatte sie ineinander verschränkt, rieb sich mit den Händen über die Oberarme. „Und, obwohl es gerade echt scheiße kalt ist?“

„Und deine Oma meint, du wärst psychisch krank, weil du schwul bist?“, fiel Simon ein.

„Ich glaube, uns fällt noch mehr ein“, meinte Lynn.

„Ihr braucht nicht weiter zu machen.“ Mein Schmunzeln wurde zu einem Lächeln, ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Sterne, die sich über uns wie ein Zelt ausbreiteten. „Ich habe gesagt, ich finde es gerade schön. Dieser Moment, mit euch Beiden mal wieder zusammen zu sein, nur zu Dritt, das macht mich echt glücklich.“

„Vielleicht hast du auch etwas zu viel gekifft“, bedachte Simon.

„Ach, sei doch leise!“, sagte Lynn empört. „Was Lukas gesagt hat, war gerade soo schön.“
 

Sie umgriff meinen Arm mit ihren Händen, ließ sich gegen meine Schulter fallen und schloss lächelnd die Augen. „Ich finde es auch gerade schön.“

Simon und ich wechselten stumme Blicke. Er sah ein wenig traurig aus. Vermutlich dachte er wieder daran, wie sehr er mit Lynn zusammen sein wollte und, wie wenig ihm dies möglich war. Ich hoffte sehr für ihn, dass er darüber hinweg kommen würde oder, dass Lynn vielleicht ebenfalls Gefühle für ihn entwickelte, obwohl ich mir dies kaum vorstellen konnte. Für sie waren wir schon immer wie Brüder gewesen.
 

Erst gegen sechs Uhr morgens beendeten wir unsere Feier. Vollkommen durch gefroren fiel ich im Gästezimmer meiner Oma in mein Bett, konnte jedoch nicht lange schlafen, da sie um neun Uhr darauf bestand, dass wir alle gemeinsam frühstückten. Am ersten Tag des neuen Jahres tat ich aufgrund von Müdigkeit somit nicht allzu fiel. Nur zwei Tage später packten wir unsere Sachen und machten einen Großputz im Gästezimmer, den vor allem Alex genervt aufnahm. Alle paar Minuten begann sie zu fluchen, meistens auf Oma. Zu Zweit brauchten wir zum Glück nicht allzu lange für das Putzen, obwohl Oma nicht sehr zufrieden mit dem Ergebnis war.

„Milena, du musst den Beiden wirklich beibringen, wie man ein Zimmer putzt. Diese Schmieren am Fenster sind einfach nicht schön anzusehen! Das mache ich morgen noch mal selbst!“

„Du hättest es einfach direkt selbst machen können“, zischte Alex neben mir säuerlich, sodass nur ich es hören konnte. Sofort musste ich kichern, bekam jedoch einen Todesblick von Oma zugeworfen und hörte direkt damit auf. Nun war es an Alex leise zu prusten. Zum Glück rettete uns Mum aus der Situation, die so schnell wie möglich losfahren wollte, damit wir nichts erst spät abends in Berlin ankamen.
 

Vor dem Haus erwartete uns ein Abschiedskomitee bestehend aus Simon, Lynn, Genesis, zwei von Alex' Freunden aus Nordrhein-Westfalen und einem Teil unserer Familie. Küsse und Umarmungen wurden verteilt, jeder gab jedem noch einen Satz mit auf den Weg, zuletzt verabschiedete ich mich von meinen Freunden.

„Hol ihn dir zurück“, sagte Genesis und hob die Faust, damit ich mit ihr einschlagen konnte.

„Und richte allen einen schönen Gruß aus“, kam es von Lynn, die mich zum Abschied auf die Wange küsste.

„Vor allem Noah“, meinte Simon.

Nach einem langen Hin und Her stiegen wir schließlich in bepackte Auto und fuhren los. Bereits nervös schaute Mum in den Himmel, sie hasste es im Dunkeln zu fahren, weshalb sie ganz schön schnell fuhr als wir auf der Autobahn landeten. Die erste Hälfte der Fahrt verbrachte ich mit Musik hören, Herumalbern mit Alex und meinen nervösen Gedanken. Heute würde ich nicht mehr mit Gaara sprechen, aber Morgen... ja, am Besten so schnell wie möglich, bevor ich mich nachher doch nicht traute. Aber, was sollte ich ihm sagen? Wie sollte ich anfangen? Vielleicht sollte ich mich vorher noch einmal mit Noah und Hannah besprechen, die wussten bestimmt Rat.
 

Ich packte mein Handy aus, da ich den Beiden eine SMS schreiben wollte, ob sie noch heute oder wenigstens morgen Zeit hatten und stellte fest, dass ich fünf verpasste Anrufe hatte. Zwei von Samantha, drei von Noah. Verwirrt entschied ich mich dazu erst einmal Sam anzurufen, da sie mich als Erstes erreichen wollte, obwohl die Anrufe der Zweien in der Zeit nicht weit auseinander waren. Eine Weile lang klingelte ich ihr Handy an, dann nahm sie ab.

„Lukas, wo bist du gerade?“, fragte sie vor jedem Hallo.

„Ehm, noch auf der Autobahn“, antwortete ich. „Wir fahren vielleicht noch drei Stunden... zwei, wenn meine Mutter weiter so aufs Gas drückt.“

„Das habe ich gehört“, kam es von vorne empört.

„Dann kommst du zu spät“, sagte sie und seufzte schwer. „Ich will dich nicht beunruhigen, die Besucherzeit ist schon vorbei, wenn du in Berlin ankommst, aber... ich gehe einfach mal davon aus, du willst hingehen.“

„Besucherzeit?“ Mir wurde plötzlich ganz flau in der Magengegend. „Wovon redest du? Was ist passiert?“

„Gaara liegt im Krankenhaus.“

Gaara... - ...Hat die Schnauze voll! Pt. 1

Drehen wir die Uhr um zwei Wochen zurück und schauen mal, wie Gaara seine Winterferien verbracht hat...
 

Kacke. Absolut kacke.
 

Mehr konnte man zur momentanen Situation nicht sagen. Ich brachte es nicht fertig Annalina zu sagen, dass ich nicht ihr Freund sein wollte, weshalb unser Treffen recht kurz ausfiel, als ich merkte, dass sie mit mir schlafen wollte. Bisher hatte es mich nie gestört Sex mit Mädchen zu haben, zu denen ich keine weiteren Gefühle hatte, doch bei Annalina war es anders. Daran war nicht sie Schuld, sondern die enormen Gefühle, die ich noch immer für Lukas empfand. Solange ich so sehr in ihn verliebt war, konnte ich niemand anderen an mich heran lassen, doch, wenn ich Annalina davon erzählte, würde ich sie verlieren. Sie war eine der Wenigen, die sich regelmäßig mit mir trafen und mir aus dieser nicht aushaltbaren Einsamkeit halfen.
 

Unser Vorhaben Marc und Larissa zusammen zu bringen, begann so langsam Wurzeln zu schlagen, was jedoch, wie ich zu meinem Bedauern feststellen musste, zur Folge hatte, dass die Beiden mehr Zeit miteinander und weniger Zeit mit uns verbrachten. Eher gesagt mit mir. Dass ich so dachte, verschlimmerte meine Situation nur noch, da ich mir wie ein selbstsüchtiges Arschloch vorkam. Zu allem Überfluss waren dann auch noch meine Eltern Zuhause und bereits nach wenigen Tagen gingen sie mir auf die Säcke. Unser Weihnachten war der totale Reinfall. Und als ich schon dachte, schlimmer könnte es nicht mehr kommen, entschied sich Annalina dazu mich am zweiten Weihnachtsfeiertag abzuholen. Unsere Session mit Marc und Larissa hielten wir bei Letzteren Zuhause ab und ich hätte es auch alleine dort hin geschafft, doch Annalina bestand darauf mich abzuholen. Wenn sie unbedingt wollte, ließ ich sie das also machen, unwissend darüber, dass sie es unter dem Vorwand tat, mit meiner Mutter reden zu können und sich bei ihr als meine feste Freundin vorzustellen.
 

„Hast du nicht gesagt, du hättest keine Freundin?“, fragte Mum und steckte empört die Hände in die Hüften. Entgeistert stand ich auf der Türschwelle zwischen Annalina – die draußen im Schnee stand und Mum – die drinnen in dicken Klamotten gehüllt stand, ihre braunen Haare zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden. Mein Mund war leicht aufgeklappt und ich suchte Luft ringend nach Worten. Nein, ich konnte Annalina nicht hier und jetzt sagen, dass wir nicht zusammen waren, das würde ich nicht überleben. Dann wollte sie eine Erklärung hören und mir fiel keine Lüge ein, die gut genug war, um mein Verhalten zu erklären.
 

„Ehm“, brachte ich heraus. Mehr nicht.

„Ist nicht so schlimm“, winkte Annalina ab. „Ich weiß, er will es nicht an die große Glocke hängen.“

Das hatte ich nie behauptet. Überhaupt hatte ich ihr niemals zugesagt, dass wir zusammen waren. Wie war sie überhaupt darauf gekommen, dass wir ein Paar waren?

„Na, aber ich bin doch seine Mutter... naja, egal. Auf jeden Fall hättest du sie mir nicht verleugnen brauchen, das Mädchen ist ganz anders als deine anderen Freunde. Sie ist sehr passend.“

Dass meine Mutter sie für passend hielt, war ein Grund mehr Annalina endlich einen Korb zu geben. Es wurde sogar noch unheimlicher als ich feststellte, wie gut die Beiden sich miteinander vertrugen. Es hätte niemals soweit kommen dürfen...
 

„Nun denn, Marc und Larissa warten schon“, sagte Annalina schließlich und schüttelte meiner Mutter zum Abschied die Hand. Danach ergriff sie meine und zog mich hinter sich nach draußen. Einige Minuten lang gingen wir den Weg in Richtung von Larissas Wohnung, dann sagte Annalina etwas, was noch nie jemand zu mir gesagt hatte: „Deine Mutter ist doch voll nett.“

„Was“, war alles, was ich dazu sagen konnte.

„Was was?“, fragte Annalina. „Ich weiß, du hast erzählt, sie wäre nur total selten da, doch an sich scheint sie eine echt nette Person zu sein.“

„Hast du die indirekte Beleidigung gegenüber meiner Freunde nicht gehört?“, murmelte ich.

„Damit meinte sie wahrscheinlich Kaito“, sagte Annalina und rümpfte die Nase. „Und dahingegen muss ich ihr wohl recht geben. Es ist schade um eure Freundschaft, aber jemand wie er sollte auch nicht mit jemandem wie dir etwas zu tun haben.“
 

Jemand wie er? Jemand wie ich? Seit wann waren Kaito und ich so unterschiedlich, dass man uns in verschiedene Schubladen stecken konnte? Obwohl wir uns beim letzten Mal gegenseitig heftige Beleidigungen entgegen geschleudert hatten, fand ich es nicht gut, wie Annalina über ihn sprach. Um einen Streit mit ihr zu vermeiden, musste ich stark an mich halten und die Lippen aufeinander pressen. Zum Glück ging sie nicht weiter darauf ein, sondern begann über das morgige Weihnachtsfest zu plaudern bei dem mein Kinderchor singen würde. Natürlich würde sie mich dorthin begleiten, so als meine ganz 'offizielle' feste Freundin...
 

Bei der Aussicht auf das Weihnachtsfest drehte sich mein Magen noch einmal mehr um. Bereits drei der Kinder hatten mir abgesagt, obwohl ich das Lied so arrangiert hatte, dass ich jeden Sänger dabei brauchte. Die kurzfristigen Änderungen taten der Gruppe überhaupt nicht gut und wir hatten bisher nicht eine einzige Probe fertig gebracht bekommen, ohne, dass es in einem riesigen Zickenkrieg geendet war. Ich hatte davon sogar schon Alpträume! Diese Kinder schafften mich. Vielleicht würde ich mit ihnen besser klar kommen, wenn ich nicht schon privat solchen Ärger hätte... heute konnte ich das alles mal vergessen, einfach abschalten und das Hirn wegblasen. Das war mein heutiges Ziel. Und dieses Ziel erreichte ich auch.
 

Lange war ich nicht mehr so high gewesen. Annalina erzählte mir eine Stunde lang irgendetwas, doch ich vergaß im fünf Sekunden Takt, was sie zuvor gesagt hatte. Kein Problem. Ich schaute auf ihre schmalen Lippen und stellte mir vor, dass es Lukas' volle Lippen waren, die ich immer so gerne geküsst hatte. Diesmal hatte die Erinnerung nicht schmerzhaftes an sich, sondern beinahe etwas glückseliges. Unentwegt war ich am Grinsen. Auch, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, die schönen Erinnerungen konnte er mir nicht mehr nehmen. Wir waren mal so etwas wie ein Paar gewesen und wir hatten uns häufig geküsst und unglaublich guten Sex gehabt. Während ich so daran dachte, fiel mir gar nicht auf, dass ich irgendwann begann über ihn zu plaudern...
 

Erst spät am Abend als ich etwas klarer wurde, konnte mich Annalina darauf ansprechen und eine ernsthafte Antwort erwarten. Seit zwei Stunden war Marc schon damit beschäftigt uns etwas im Mäcces kaufen zu gehen. Obwohl er sich nicht einmal auf Anrufe meldete, machte sich keiner von uns Sorgen. Im Gegenteil. Larissa war sogar sauer, dass er sich so viel Zeit ließ, weil sie eine solche Lust auf einen Burger hatte.

„Wenn er nicht gleich zurück kommt, gehe ich selbst los und töte ihn“, verkündete sie, machte sich zur gleichen Zeit ihre Haare zum wiederholtesten Male neu. Schon den ganzen Tag lang war die Wohnung komplett abgedichtet, alle Rollläden unten, alle Fenster geschlossen und noch immer stand der Rauch des Marihuanas in der Luft, hinterließ einen süßlichen Duft, den ich nur zu sehr liebte. Larissa war so mit Fluchen beschäftigt – und nebenbei bemerkt immer noch etwas high – dass sie uns gar nicht zuhörte.
 

„Das habe ich gesagt?“, wunderte ich mich. Überraschenderweise stieg mir nicht die Hitze in den Kopf, ich wurde nicht einmal ansatzweise nervös, sondern rauchte lässig meine Zigarette fertig, während ich die alte Lavalampe beobachtete, die Larissa als Kind mal geschenkt bekommen hatte. Ich konnte mich stundenlang damit beschäftigen zuzuschauen wie die Klumpen auf und abstiegen und dann noch dieses Licht, das so extrem farbig war. Die Helligkeit brannte ein wenig in meinen Augen.. ja, das Marihuana wirkte noch ziemlich gut.
 

„Ja, du hast gesagt, du würdest ihn lieben“, sagte Annalina, die die Situation nicht ganz so locker zu nehmen schien. „Das ist doch Schwachsinn, du bist doch nicht schwul.“

„Hmm, das stimmt“, nickte ich.

„Du solltest aufhören so viel zu kiffen, da redest du immer den totalen Blödsinn.“ Sie begann zu lachen. Vielleicht hätte ich ihr erklären sollen, dass ich nicht schwul sondern bisexuell war, dass alles, was ich über Lukas gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, doch ich entschied mich an diesem Abend die Klappe zu halten und die Lavaklumpen zu beobachten, die, egal wie oft sie zu Boden fielen, immer wieder neu aufstiegen...
 

Irgendwann einmal kam Marc wieder zurück. Auf die Frage hin, wo er solange geblieben war, antwortete er vollkommen verwirrt 'Ich weiß es nicht', hatte aber die Tüten von McDonalds mit dabei in denen sich unsere fast kalten Burger befanden. Danach waren wir nicht mehr lange wach. Nach und nach schliefen wir ein. Marc und Larissa lagen gemeinsam auf der Couch, er hatte seine Arme um sich geschlungen. Ich hatte mir ein provisorisches Bett aus Kissen auf dem Boden gebastelt und Annalina hatte sich gleich neben mich gelegt, ihren Kopf auf meiner Brust. Das bemerkte ich jedoch erst, als ich am nächsten Tag aufwachte. Stöhnend versuchte ich aufzustehen, dabei rutschte ihr Kopf herunter und sie wurde ebenfalls wach.
 

„Oh Mann“, keuchte ich, hielt mir mit einer Hand den dröhnenden Kopf. So mies erging es mir noch nie nach einer Session. „Ich hatte zu viel gestern...“

„Ich auch“, kam die dumpfe Stimme von Larissa, die bäuchlings auf der Couch lag, das Gesicht in ein Kissen gepresst. Marc war bereits wach und damit beschäftigt die Fenster zu öffnen.

„Wie viel Uhr haben wir?“, fragte Annalina, kramte in der Tasche ihrer Jacke nach ihrem Handy. Sie nahm es heraus, blickte für einen Moment resigniert auf den Display, dann schaute sie zu mir auf, schaute wieder zurück und ihre braunen Augen weiteten. „Warte, WAS?!“

„Sei doch nicht so laut“, beschwerte ich mich grummelnd.

„Scheiße, Gaara, die Generalprobe ist in zehn Minuten!“

„...“

Es dauerte ein wenig bis ich ihre Worte verstand.

„Zehn...Minuten...?“

„Ja!“

„Fuck.“
 

Mit einem Mal war ich auf den Beinen, schnappte mir meine Jacke und Schuhe. Auch Annalina beeilte sich sich anzuziehen.

„Das schafft ihr niemals“, sagte Marc, hilfreich wie immer. „Ihr braucht ja schon alleine zehn Minuten mit der Straßenbahn...“

„Und was jetzt, soll ich die Probe etwa absagen?“, fauchte ich, hatte in meinen Kontakten bereits die Nummer von Maya herausgesucht, die ich solchen Fällen vorübergehend die Führung übernehmen sollte.

„Chill, Mann.“

„Wir müssen los, Gaara!“ Annalina riss die Tür auf, verabschiedete sich hektisch. „Tut mir Leid, dass wir so schnell abhauen müssen. Danke für deine Gastfreundschaft, Larissa. Danke für die Burger, Marc.“

„Immer wieder gerne“, sagte Marc, während Larissa nur schlaff eine Hand hob und nicht einmal von ihrem Kissen aufblickte, sondern weiterhin das Gesicht hinein presste.
 

So schnell wir konnten verließen wir das Haus. Noch während wir zur Straßenbahn rannten, klingelte ich Maya an, die nur noch wenigen Sekunden abhob.

„Ja?“, ertönte ihre Stimme.

„Ich komme zu spät!“, sagte ich. Meine Lunge brannten wegen gestern ohnehin schon genug, verbunden mit dieser Rennerei wurde es nur noch schlimmer. Ich bekam kaum Luft und Annalina erging es nicht unbedingt anders, sie hielt sich noch ein wenig besser als ich. „Ich habe verschlafen!“

„Verschlafen?!“, wiederholte Maya ungläubig. „Gaara, wir haben gleich schon 16 Uhr...“

„Ich weiß!“, keuchte ich. „Ändert nichts an der Tatsache... egal...“ Ich konnte nicht gleichzeitig rennen, atmen und reden. „Fangt ohne mich an!“

Damit legte ich auf, versuchte mich nur noch aufs laufen und atmen zu konzentrieren.
 

Gerade noch rechtzeitig bekamen wir die Straßenbahn, stiegen in diese ein und ließen schwer atmend auf zwei Sitzen nieder. Während der zehn Minuten Fahrt konnten sich unsere Lungen etwas beruhigen, außerdem stellte sich der Hunger ein. Mein Magen schmerzte richtig, doch ich hatte jetzt keine Zeit mehr etwas zu Essen. Kurz bevor wir ausstiegen, bekam ich einen Anruf... von Herr Kemp. Und ich entschied mich dazu ihn zu ignorieren. Gleich war ich ohnehin in der Stadthalle angekommen und, dann würde ich den Ärger persönlich abkassieren. Mich verließ die Lust dort überhaupt aufzutauchen, doch ich wollte ihn auch nicht ein zweites Mal im Stich lassen. Beziehungsweise, wollte ich die Kinder nicht im Stich lassen, egal wie sehr sie mir auch manchmal auf die Nerven gingen.
 

Vollkommen fertig kamen wir in der Stadthalle an, in welcher noch nichts los war. Das Fest an sich würde erst um 18 Uhr beginnen, gerade war eine andere Gruppe mit proben beschäftigt. Abgehetzt gingen wir in den Backstage Bereich, trafen dort in einer alten Umkleidekabine auf meinen Chor und auf Herr Kemp, dem jeden Augenblick eine Pulsader auf der Stirn zu explodieren schien.

„Verschlafen?!“, spuckte er aus, kaum, da ich den Raum betreten hatte.

„Ich brauch ne Pause“, keuchte ich, ließ mich schwer atmend auf einer der Bänke fallen.

„Es ist später Nachmittag, wie kannst du da verschlafen? Hast du etwa gedacht du säufst dir einen am zweiten Weihnachtsfeiertag, einen Tag vor dem Fest?! Besitzt du eigentlich auch nur einen Funken Verantwortungsbewusstsein?“

„Alter, ich hab gesagt, ich brauch ne Pause“, zischte ich.

„Du kannst froh sein, dass Maya intelligent genug war die Generalprobe mit einer anderen Gruppe zu tauschen!“
 

Mein Blick fiel auf das Mädchen, das mit einem etwas nervösen Ausdruck daneben stand und sich durch die kurzen Haare fuhr. Auch der Rest des Chors war anwesend, drückte sich jedoch schweigend im Hintergrund herum. Auf einigen Gesichtern konnte ich eine Art schiefes Lächeln erkennen, Andere schienen ein wenig Angst vor Herr Kemps Wutausbruch zu haben.

„Deswegen habe ich auch sie angerufen“, sagte ich und blickte ihn herausfordernd an. „Und nicht dich, ich brauche deine Hilfe nicht.“

„Das sehe ich“, spöttelte der Alte. „Reiß dich zusammen oder du fliegst schneller raus als du bis zehn zählen kannst.“

Mit den Worten verließ er die Umkleidekabine und ließ uns in einer peinlichen Stille zurück. Für einige Sekunden musste ich noch nach Luft ringen. Als meine Lungen sich etwas beruhigt hatten und nicht mehr ganz so heftig schmerzten, blickte ich auf in die Gesichter meines Chors. Doch bevor ich mich entschuldigen konnte, fragte Maxi: „Hast du echt gesoffen?“
 

Er stellte diese Frage mit einem belustigten Unterton.

„Nein“, antwortete Annalina für mich wahrheitsgemäß. „Er betrinkt sich doch nicht einen Tag vor eurem Fest.“

„Nein, ich kiffe lieber.“

„Echt?!“ Maxi war begeistert, die restlichen Reaktionen fielen ganz anders aus. Maya war empört, Andere überrascht, die Meisten fanden es absolut cool und Annalina verpasste mir mit dem Ellenbogen einen Schlag in die Seite.

„Du kannst doch nicht einfach -“ Weiter kam sie nicht, denn Maxi und einige andere wollten wissen, ob ich einen Joint dabei hätte. Schließlich hatten sie noch nie gekifft und wollten das unbedingt mal ausprobieren.

„Ihr seid noch zu jung“, entschied ich, obwohl ich selbst in ihrem Alter damit angefangen hatte. „Wenn ihr lange genug in der Musikschule bleibt, schenke ich jedem von euch einen Joint zum 18. Geburtstag.“

„Deal?“, wollte Maxi grinsend wissen.

„Deal.“
 

Ich musste mit jedem von ihnen einschlagen. Selbst Maya ließ sich dazu überreden auf diesen Deal einzugehen. Wenn es soweit war, musste ich eine Menge Geld ausgeben, die waren nämlich alle ungefähr gleich alt... doch darüber konnte ich nachdenken, wenn es soweit war. Nun mussten wir es erst einmal auf die Reihe bekommen unseren Song ordentlich vorzutragen.

Gaara... - ...Hat die Schnauze voll! Pt. 2

Während der Aufführung saß ich mit Annalina in der ersten Reihe des Publikums, bis es endlich soweit war und meine Chaotentruppe auftrat. Da sie bis heute nicht gelernt hatten auf meine Handzeichen zu achten, zog ich es vor weiterhin bei Annalina zu bleiben und mich darauf vorzubereiten fluchtartig die Stadthalle zu verlassen, falls sie das Lied total versauen würden. Nachdem der Applaus abgeklungen war, begannen Joe und Raffi mit einem etwas ruhigeren Beatboxen einzuleiten. Sie und die anderen Hauptsänger hatten Mikrofone, der Rest sang ohne. Zu meiner Überraschung bekamen sie den Anfang unglaublich gut hin. Alle Stimmen harmonisierten miteinander, die Hauptsänger trafen jeden Ton. Ich richtete mich schon ein wenig in meinem Stuhl auf, in den ich zuvor versunken war, da passierte, was ich schon befürchtet hatte: Vicky hatte einen Texthänger. Sie sah extrem nervös aus, schon von Anfang an, hatte nun den Mund leicht geöffnet, die Augen panisch ins Publikum gerichtet. Normalerweise sollte Pia Vickys Part im Falle eines Aussetzers übernehmen, doch das dreizehnjährige Mädchen mit strähnigen Haaren schritt nicht ein.
 

Die Hauptsänger sangen immer abwechselnd jeweils nur einen Satz, weshalb Vickys erster Part schnell vorbei war. Doch sie war wie erstarrt auf der Bühne und würde sicherlich auch nicht ihren zweiten Part übernehmen können. Erneut entschied sich Pia dazu nicht zu helfen. Überfordert blickte ich zur Bühne hoch. Was sollte ich machen? Ich hatte keine Ahnung! In solch einer Situation war ich noch nie gewesen. Und ehe ich eine Lösung finden konnte, ließ Vicky das Mikrofon fallen, welches mit einem lauten Schlag auf dem Boden landete, und verließ überstürzt die Bühne. Direkt an der Seite gab es einen Notausgang zu dem sie hinaus lief. Ich wollte schon aufspringen und ihr hinterher, da hielt mich Annalina mit einer Hand fest.
 

„Ich mach das“, sagte sie leise. „Vielleicht brauchen sie dich.“

Damit eilte sie Vicky hinterher, ich ließ mich zurück in meinen Stuhl fallen und blickte wieder zur Bühne hinauf. Als der dritte Part von Vicky kam, übernahm Pia ihn mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Auch die Anderen aus ihrer Clique, allen voran Amber, sahen äußerst zufrieden mit sich aus. Im Publikum hatte es kurzes Gemurmel und Keuchen gegeben, doch nun hatten sich die Unruhen gelegt. Alle hörten dem Lied zu, als wäre nichts weiter passiert. Ich spürte wie die Wut meinen Hals zum Schwellen brachte. Dass sie es tatsächlich fertig brachten Vicky so im Stich zu lassen, nur die wenigstens in der Gruppe sahen aus, als würden sie sich Sorgen machen. Sie sangen das Lied zu Ende, ernteten eine Menge Applaus und verließen die Bühne in den Backstagebereich. Sogleich folgte ich ihnen zurück in unsere Umkleidekabine.
 

Bevor ich durch die Tür trat, hörte ich für ein paar Momente ihren Stimmen zu.

„Du warst der Hammer, Pia“, ertönte Ambers Stimme. „Wer hätte gedacht, dass sie tatsächlich einen Aussetzer hat?“

„Ob sie jetzt aussteigt?“, fragte Max hoffnungsvoll.

„Bestimmt, nach so einer Demütigung. Langsam sollte sie doch merken, dass sie keiner hier haben will“, meinte Pia.

„Ihr seid einfach nur gemein“, beschwerte sich Maya. Auch andere begannen Vicky zu verteidigen, was beinahe in einem Streit geendet hätte, hätte ich nicht die Tür donnernd aufgeschlagen. Mit meinem besten Todesblick schaute ich in die Runde, welche augenblicklich verstummte. Auf den Gesichtern der Verantwortlichen – sprich Amber und ihre Clique, allen voran Pia – sah ich etwas, was man beinahe als Scham bezeichnen konnte. Vielleicht hatten sie sogar ein wenig Angst vor mir, denn ich war mir sicher, selten in meinem Leben so wütend gewesen zu sein.
 

„Ich war noch nicht bei Vicky“, sagte ich, versuchte dabei ruhig zu klingen, doch man konnte die Wut in meiner Stimme zittern hören. „Wenn ich jetzt zu ihr gehe, komme ich nicht mehr hierher zurück. Und es wäre das Beste, wenn ich mir alle ab sofort aus dem Weg geht, denn ich bin wirklich, wirklich sauer und enttäuscht.“

„Wir haben damit nichts zu tun!“, entfuhr es Maya keuchend. „Das waren Pia, Amber und die anderen Mädels. Der Rest von uns wollte das gar nicht. Außer vielleicht Maxi und Julius!“

„Ich will mir von niemandem von euch Ausreden oder Entschuldigungen anhören“, fauchte ich und Maya zuckte ein wenig zusammen. „Wenn Vicky gemobbt wurde, hat noch keiner von euch versucht sie zu verteidigen. Dasselbe gilt bei den Anderen, die ständig geärgert werden. Was meint ihr, warum Emil abgesagt hat? Weil er krank ist? Ganz sicher nicht, er hatte zu viel Angst mit euch aufzutreten. Dasselbe gilt auch für Frieda und Zoé. Wegen euch verliere ich ein paar der besten Sänger aus der Gruppe.“

„Du hast immer noch mich und Liah“, kam es von Amber, was meinen Geduldsfaden zum reißen brachte. Trotzdem konnte ich noch irgendwie an mich halten, um sie nicht in Grund und Boden zu Brüllen. Meine Stimme war jedoch sehr viel lauter als sie es hätte sein müssen.

„Ihr schafft mich, ernsthaft! Als hätte ich nicht schon genug eigene Probleme, muss ich mich auch noch mit eurem Scheiß herum schlagen! Ihr wart so gut auf der Bühne und wir könnten so viele tolle Lieder zusammen einstudieren, aber ihr verbringt eure Zeit lieber damit euch gegenseitig aus der Musikschule zu ekeln! Habt ihr denn nichts Besseres zu tun? Besitzt ihr nicht ein wenig Einfühlungsvermögen, um zu wissen, wie sich Vicky gerade fühlen muss? Als hätte sie nicht schon genug Probleme mit ihrem Selbstvertrauen, müsst ihr auch noch das letzte bisschen davon wegnehmen. Das widert mich an, Amber! Ich weiß, dass diese Idee von dir stammt, aber das macht es für dich, Pia, nicht besser, dass du es auch noch getan hast. Hast du keinen eigenen Willen, dass du immer alles tust, was dir Amber sagt?! Mir reicht's!“

„Was jetzt? Schmeißt du uns raus?“, fragte Amber auffordernd.

„Nein“, sagte ich und wurde mit der Stimme etwas ruhiger. „Was ihr macht, ist mir egal. Ich gehe.“

„Wie, du gehst?“
 

Das schien die Kinder nun doch etwas zu schockieren. Ein paar wollten Einwände erheben, doch ich war mir meiner Entscheidung ganz sicher. Diesen Mist wollte ich mir nicht länger geben.

„Nein, ich habe kein Bock mehr darauf mich mit euch herum zu schlagen. Wenn ihr es nicht mal auf die Reihe bekommt miteinander auszukommen. Soll sich doch der alte Sack damit beschäftigen, ich habe keine Nerven mehr dafür.“

Herr Kemp wird mich töten, wenn er davon erfuhr. Ein weiteres Mal würde er mich nicht wieder aufnehmen, doch ich konnte es mit diesem Kinderchor keinen Tag länger mehr aushalten. Dieses Mobbing hatte ich mir lange genug in der Schule mit ansehen müssen. Wie Noah in der Mittelstufe immer fertig gemacht wurden war, weil er schon damals eindeutig homosexuell war... die Erinnerung daran machte mich nur noch wütender und ich entschied mich schnell die Stadthalle zu verlassen, bevor ich doch noch anfing herum zu schreien.
 

Draußen fand ich Annalina und Vicky gemeinsam auf einer Bank sitzen. Das junge Mädchen war am Weinen, während Annalina tröstend einen Arm um ihre zarten Schultern liegen hatte und mit besorgtem Gesichtsausdruck aufblickte, als sie mich kommen hörte. Seufzend setzte ich mich auf die andere Seite neben Vicky. Für einige Momente herrschte zwischen uns Stille, nur ihr Schluchzen war zu hören. Sanft rieselte der Schnee auf uns nieder, selbst durch meine Hose konnte ich die Kälte der Bank spüren.

„Es tut mir Leid, dass dir das passiert ist“, sagte ich schließlich. „Ich hätte dich und die Anderen gegen diese Typen besser verteidigen sollen... und ich hätte dich nicht dazu zwingen sollen einen Part zu singen. Ich dachte, das würde dir helfen etwas mehr Selbstvertrauen zu finden, aber... das ging wohl ziemlich nach hinten los. Ich kann es verstehen, wenn du jetzt sauer auf mich bist.“

„Ich will nicht mehr in diesem Chor sein“, schluchzte Vicky.

„Ich auch nicht“, gab ich zu. Nun blickte sie überrascht auf, auch von Annalina bekam ich einen verwirrten Gesichtsausdruck geschenkt.

„Ich werde kündigen“, erklärte ich mich.

„Wegen mir?“, keuchte Vicky entsetzt.

„Nein, wegen denen. Ich hab nicht die Nerven mich mit ihnen auseinander zu setzen.“

„Gaara, das finde ich nicht gut“, meinte Annalina ernst.

„Ich hab mich eh gefragt, wie du das aushältst“, sagte Vicky. „Wenn ich du wäre, hätte ich schon zehn Mal gekündigt.“

Das brachte mich zum Lachen und überraschenderweise konnte sogar Vicky ein wenig lächeln.
 

Noch bevor der Rest des Chors das Gebäude verließ, gingen wir zu Dritt zur Straßenbahn. Glücklicherweise waren wir fort, bevor Herr Kemp mich finden konnte. Während der Fahrt nach Hause rief er mich an, wir stritten uns lauthals an unseren Handys, ich kündigte säuerlich und er warf mir vor ihn schon wieder im Stich zu lassen. Im Grunde stimmte dies auch, doch es war mir gerade mal egal. Annalina und ich brachten Vicky noch nach Hause, munterten sie ein wenig auf, wünschten ihr, dass sie einen besseren Chor fand, in dem sie singen konnte und gingen danach zu mir nach Hause. Erst als wir schon beinahe vor meiner Tür standen, fiel mir ein, dass meine Eltern momentan Zuhause waren.
 

„Kacke, wir können nicht zu mir, meine Eltern“, stöhnte ich genervt.

„Schade, ich dachte, wir könnten mal etwas essen...“ Annalina hielt sich mit einer Hand ihren grummelnden Bauch. Auch mein Magen beschwerte sich über Hunger. „Aber deine Mutter ist doch gar nicht so schlimm wie du behauptet hast. Bestimmt macht es ihr nichts aus, wenn wir bei euch etwas essen.“

„Mir ist das aber etwas unangenehm...“

„Aber warum denn?“

„Es ist halt normal, dass niemand zu mir kommt, wenn einer meiner Eltern da ist. Wenn beide zusammen da sind, herrscht totales Hausverbot.“ Das war ein ungeschriebenes Gesetz in unserer Clique, daran konnte auch Annalina nichts ändern. Dachte ich zumindest. Mittlerweile standen wir vor meiner Haustür und das Mädchen klingelte mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Aber das ergibt doch keinen Sinn“, behauptete sie. „Deine Eltern scheinen echt nette Menschen zu sein.“
 

Jeglicher Widerstand war zwecklos. Mein Vater öffnete uns die Tür. Im ersten Moment schien er genervt zu sein. Als er Annalina sah, änderte sich seine Miene jedoch und er grüßte sie freundlich und neugierig. Natürlich hatte Mum ihm sofort erzählt, dass ich eine Freundin hatte. An diesem Abend aßen wir zu Viert am Esstisch und es hätte für mich nicht seltsamer sein können. Annalina verstand sich mit meinen Eltern einfach blendend. Natürlich war Mum hin und weg als sie erfuhr, dass Annalina eine Ausbildung zur Kostümdesignerin machte. Sie bot ihr sogar an sie nach München auf die Modekonferenz zu begleiten, doch Annalina musste passen, da sie wichtige Dinge auf der Arbeit zu erledigen hatte.
 

„Das ist echt schade.“ Annalina schien dies wirklich zu bedauern. „Ich wäre zu gerne mitgekommen.“

Sie wollte freiwillig mehrere Tage am Stück mit meiner Mutter verbringen? Hier lief eindeutig etwas verkehrt.

„Vielleicht ein andermal, Liebes“, sagte Mum und ich verschluckte mich beinahe an einem Stück Kartoffel. Liebes?! „Es ist schön, dass sich mal jemand für meine Mode interessiert. Von hier den Beiden kann man das ja nicht erwarten.“

„Naja, sie sind Männer“, meinte Annalina entschuldigend. „Nur die Wenigstens interessieren sich da für Mode.“

„Da hast du natürlich Recht.“
 

Sie unterhielten sich wie die besten Freundinnen und ich wechselte genervte Blicke mit Dad. Dass wir Beide mal bei etwas auf einer Wellenlänge waren, war ebenfalls merkwürdig. Alles an diesem Abendessen war seltsam. Und die nächsten Tage sollten nicht anders verlaufen, bis dann DAS passierte.

Gaara... - ...Hat die Schnauze voll! Pt. 3

Am letzten Tag des Jahres reisten meine Eltern wieder ab, sodass ich abends eine große Silvesterparty im Haus schmeißen konnte. Diesmal lud ich nur Leute ein, mit denen ich gut befreundet war und bat sie darum von der Party nichts rum zu erzählen. Normalerweise waren auch immer viele Gäste in meinem Haus, die ich überhaupt nicht kannte und dann in der Schule prahlten, wie geil meine Hauspartys wären. Früher ging mir das total auf die Nerven, mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, nur heute wollte ich ausschließlich Leute bei mir haben, die ich auch tatsächlich kannte und mochte. Obwohl wir dadurch erheblich weniger waren, war es noch immer ein schönes Chaos. Im Grunde waren alle da – außer Lukas und Kaito. Dass sie fehlten, war deutlich zu spüren. Sie hatten ein großes Loch in unsere Clique gerissen und ich konnte nicht umhin mich dafür schuldig zu fühlen. Zu gerne hätte ich sie an meiner Seite. Je mehr ich trank und kiffte, desto größer wurde dieses Verlangen, desto weniger erträglicher war es. Als dann Mitternacht kam, konnte ich mich nicht davon abhalten Beiden eine SMS zu schreiben, in der ich ein Frohes Neues Jahr wünschte. Wie zu erwarten war, kam von Kaito nichts zurück, doch von Lukas kam eine Antwort. Er wünschte es mir zurück mit einem Smiley dahinter.
 

Wie so eine dumme SMS die Laune verbessern konnte. Für den Rest der Feier fühlte ich mich wie ein verliebtes Mädchen, das davon schwärmte, dass ihr Schwarm sie auf dem Schulgang angeschaut hatte. Doch das störte mich nicht sehr, denn dieses Kribbeln im Bauch fühlte sich einfach wunderbar an. Vielleicht würde sich das mit Lukas doch noch bessern... vielleicht sollte ich noch mal versuchen mit ihm zu reden. Mir eine gute Entschuldigung zurecht legen und hoffen, dass er mir vergeben könnte. Vielleicht sollte ich es sogar wagen ihm zu sagen, dass ich mich in ihn verliebt hatte... doch vorher... sollte ich wirklich versuchen Annalina los zu werden. Natürlich gab sie mir um Mitternacht einen Kuss, klammerte die ganze Party über an mir und wollte mich wieder in einen Zungenkuss verwickeln, doch ich meinte, dass ich in der Öffentlichkeit nicht mit ihr rummachen wollte. Das wäre meinen anderen Gästen gegenüber unhöflich. Die Ausrede bedachte sie mit einem schiefen Blick. Eigentlich war sie ein intelligentes Mädchen, doch meine Ablehnung ihr gegenüber schien sie wirklich nicht zu bemerken.
 

Ich wollte nicht in der Silvesternacht mir ihr Schluss machen, obwohl man von Schluss machen eigentlich nicht reden konnte, da wir von mir aus nie zusammen gewesen waren. Daher nahm ich mir vor es in den nächsten Tagen zu tun, bevor diese Beziehung noch in die falsche Richtung eskalierte. Lukas' SMS hatte mich ein wenig aus meinem Delirium geweckt und mir neuen Optimismus geschenkt. Als ich den Tag darauf Samantha und Larissa davon berichtete, stimmten sie mir zu, wobei mir auch beide einen Faustschlag gegen den Kopf verpassten.

„Dass du solange gebraucht hast, um dich aufzuraffen“, meckerte Sam.

„Aber klär das mit Annalina vorher. Ansonsten wirkt es so, als würdest du sie dir bereit halten falls das mit Lukas nicht klappt“, sagte Larissa und es klang wie eine Drohung. Natürlich hatte sie damit vollkommen Recht. Als nach der Party alle heim gingen, bat ich Annalina darum, am nächsten Tag noch mal wieder zu kommen, weil ich mit ihr reden wollte. Vielleicht ahnte sie schon, worauf dieses Gespräch hinaus laufen würde, denn sie sah etwas unglücklich aus, als ich so ernst mit ihr sprach.
 

Den ersten Tag des neuen Jahres verbrachte ich hauptsächlich mit schlafen und aufräumen. Noch den Tag darauf war ich damit beschäftigt die Überreste der Party zu beseitigen und musste niedergeschlagen feststellen, dass jemand in den Korb mit der frischen Wäsche gekotzt hatte. Entweder war das Schifti oder Marc gewesen. Wahrscheinlich Schifti, der Sack hatte mir auch an meinem 18. Geburtstag auf den Schlüssel im Blumentopf gekotzt. Auch, wenn er dies bis heute standhaft bestritt. Angewidert musste ich meine Wäsche also noch mal waschen, nahm mir dann Putzwasser und Lappen und wischte das komplette Wohnzimmer von oben bis unten. Wer hätte gedacht, dass ich das neue Jahr mit einem Großputz starte... doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dies mal sein musste. Ich drehte mir laut Rockmusik auf und beseitigte zum aggressiven Klang von Limp Bizkit Staub und Schmutz.
 

Als zwischen zwei Liedern eine kurze Pause eintrat, ertönte die Türklingel. Das musste dann wahrscheinlich Annalina sein. Mittlerweile war es schon Abend, ich dachte schon sie würde gar nicht mehr kommen. Ich drehte die Musik um Einiges leiser, ging zur Tür und öffnete diese. Über einer Schulter hatte ich den nassen Lappen gelegt und ich wollte mich schon entschuldigen, dass es gerade sehr chaotisch im Haus aussah, da stellte ich stutzig fest, dass vor mir fünf junge Männer standen, die ich nicht kannte.

„Hallo?“, grüßte ich verwirrt.

„Hi.“ Derjenige, der geklingelt hatte, stand mit einem Arm gelehnt gegen den Türrahmen und hatte ein gespielt freundliches Grinsen aufsitzen. Seine Pupillen waren extrem klein, obwohl es draußen schon dunkel wurde und die Straßenlaternen ansprangen. Er konnte nicht älter als 25 sein, hatte jedoch ein raues, alt wirkendes Gesicht. Die anderen Vier waren vom gleichen Schlag. Was mich am meisten an ihnen beunruhigte, war nicht die Tatsache, dass sie offensichtlich unter Drogen standen, sondern, dass in ihren Augen Aggression und Wut glänzte. Vorsichtshalber ging ich einen Schritt zurück, schob die Tür etwas vor meinen Körper, sodass ich sie im Notfall direkt zuschlagen konnte.
 

„Wer seid ihr?“, wollte ich wissen. „Ich glaube nicht, dass ich euch kenne.“

„Das tust du tatsächlich nicht. Ich heiße Rick“, stellte sich der Typ vor, der am Türrahmen gelehnt stand. „Die Namen der anderen Vier brauchst du gar nicht zu wissen. Wir sind nur hier, weil wir eine Botschaft an jemanden entsenden wollen.“

„Ich bin nicht die Post“, rutschte es mir heraus. Über Ricks Lippen zuckte ein freudloses Grinsen.

„Du bist ja ganz schön frech“, stellte er fest. Ja, und mit solchen Kommentaren hatte ich mich schon früher das ein oder andere Mal in Schwierigkeiten gebracht. Am Besten hielt ich ab sofort einfach die Klappe.

„Du bist Gaara Sperling“, sagte Rick. „Also sind wir hier genau richtig. Du brauchst auch gar nicht zu wissen, an wen die Botschaft ist.“

Er machte einen Schritt in mein Haus und ich schlug die Tür zu. Zumindest versuchte ich das, doch wie ich schnell feststellen musste, hatte Rick durchaus mehr körperliche Kraft zu bieten als ich. Einige Sekunden lang warf ich mich von innen mit allem, was ich hatte, gegen die Tür und er drückte von außen. Ich spürte, wie ich über den Boden weiter nach hinten rutschte, dann verlor ich den Halt und die Tür krachte auf.
 

Schmerzhaft wurde ich nach hinten geworfen, konnte mich noch gerade so auf den Beinen halten. Der Lappen fiel von meiner Schulter herunter und die fünf Männer traten ungebeten ein. Der Letzte machte die Tür hinter sich zu. Ich spürte wie mir das Herz schneller in der Brust schlug, die Panik ergriff mich und machte es mir schwer klar zu denken. Gerade war es egal, woher die Typen kamen und, was sie wollten. Am Wichtigsten war, dass ich ihnen irgendwie entkam. Die Tür zum Hinterhof war zwar geschlossen, doch, wenn ich mich beeilte, könnte ich dort entlang fliehen. Rückwärts näherte ich mich dem Hinterhof mit langsamen Schritten. Die Fünf schlenderten durch das Wohnzimmer und die Küche, als würden die Räume ihnen gehören. Einer von ihnen ging zu meinem Handy, das an den Boxen angeschlossen war und drehte das Lied immer lauter. So laut, dass ich mir sicher, dass meine Nachbarn nichts außer der Musik hören würden.
 

Jetzt oder nie. Schnell wandte ich mich um, rannte zur Hintertür und hatte eine Hand schon am Griff, da packte mich zwei Hände von hinten, versuchten mich zurück zu zerren. Doch ich hing mich mit aller Kraft in die Griffe hinein, krallte mich an die Türklinke. Als mein Angreifer merkte, dass er mich nicht losreißen konnte, packte er mich mit einer Hand am Hinterkopf und schlug meine Stirn heftig gegen die Tür. Ich spürte wie diese unter der Wucht erzitterte, für einen Augenblick war mir schwarz vor Augen. Nun konnten mich die Angreifer problemlos nach hinten zerren. Schreiend und mit aller Gewalt wehrte ich mich gegen sie, doch sie waren zu fünft und auf Droge und die aggressive Musik einer meiner Lieblingsbands verstärkte ihre Wut und ihr Verlangen nach Gewalt nur noch mehr.
 

I just might break your fuckin' face tonight
 

Es dauerte nicht lange, da lag ich flach am Boden und sie traten von allen Seiten gegen meinen Rücken, in meinen Magen, meine Rippen, meine Beine und Arme. Einer von ihnen schaffte es mehrfach auf meine Hand zu treten, mit solcher Gewalt, dass ich deutlich spürte, wie sie unter der Wucht zerbrach. Vor Schmerzen hätte ich gerne geschrien, doch die Tritte in meine Magengrube raubten mir den Atem. Voller Panik schlug mir das Herz bis zum Hals, ich hatte wirklich Angst, was sie mit mir noch vor hatten. Wie weit würden sie gehen? Schließlich traf mich ein Tritt ins Gesicht. Sie zwangen mich dazu mich auf den Rücken zu legen, Rick setzte sich auf mich drauf, sodass er mit seiner Faust mein Gesicht bearbeiten konnte.
 

Just give me something to break

About your fuckin' face !
 

Erst, als ich keinerlei Schmerzen mehr verspürte, mein Gesicht sich wie betäubt anfühlte und ich Rick nur noch als verschwommene Silhouette war nahm, hörte er auf. Im ersten Moment merkte ich gar nicht, dass er gestoppt hat. Schwer atmend saß er über mir, griff mit einer Hand meinen Kragen und zog mich näher zu sich heran.

„Schöne Grüße an Kaito“, zischte er verächtlich und verpasste mir einen finalen Schlag gegen die Schläfe, der mich schlussendlich K.O. gehen ließ.
 

Ich wurde wach, als ich schon längst wach war. Langsam bildete sich der Raum um mich herum, die Kanten verschwommener Menschen wurden deutlicher und helles Licht blendete in meinen Augen. Oder eher gesagt in einem Auge. Das Erste, was ich von meinem Körper wahr nahm, war das zugeschwollene rechte Auge, durch das ich nichts mehr erkennen konnte. Danach stellte ich fest, dass ein schwerer Druck auf meinem gesamten Körper lastete, hervorgerufen durch die Prügelei, die ich über mich hatte ergehen lassen müssen. Besonders meine Rippen und mein Gesicht schmerzten, fühlten sich an wie betäubt und angeschwollen. Ich war nicht mehr Zuhause. Wenn ich nur ein wenig nachgedacht hätte, hätte ich von selbst drauf kommen können, dass dieser weiße Raum ein Krankenzimmer war und das weiche Bett in dem ich lag mein Krankenbett. Doch ich war ziemlich durch den Wind, in meinem Kopf kursierten die Erinnerungen ebenso wie das Gefühl als wäre mein Hirn mit Watte ausgestopft.
 

„Wo bin ich?“, war daher die erste Frage, die über meine Lippen ging. Rechts neben mir stand eine etwas pummelige Frau, die ich nicht kannte und es nicht einmal für nötig hielt von meiner Krankenakte aufzuschauen. Als sie mir keine Antwort gab, fragte ich noch einmal. Diesmal tauchte links von mir ein Gesicht auf, das ich kannte. Es war Marc, der überraschenderweise besorgt aussah. Seine tätowierten Arme waren dank eines Shirts gut zu erkennen, er hatte sich seinen Bart zu einem Drei-Tage-Bart herunter rasiert, was ihn etwas ungewohnt für mich aussehen ließ. Ich war noch nie so froh darüber gewesen ihn zu sehen.

„Im Krankenhaus“, antwortete Marc.

„Es bringt nichts zu antworten“, behauptete die Krankenschwester mies gelaunt. „Gleich hat er es ohnehin wieder vergessen.“

„Hab ich gar nicht“, sagte ich trotzig. Ich merkte, dass ich ein wenig lispelte, woran meine aufgeplatzte Lippe Schuld hatte. Mein Gesicht fühlte sich an, als wäre die Haut fest darüber gespannt. Es zog und drückte, doch schmerzte nicht sehr. Anscheinend hatte ich gute Schmerzmittel verabreicht bekommen.
 

„Er redet jetzt viel klarer als vorher“, sagte Marc. „Vielleicht ist er endlich wieder richtig beisammen.“ Er blickte mich an und erklärte: „Die haben dir ein Haufen Schmerzmittel gegeben, deswegen warst du die ganze Zeit total neben der Spur und hast immer wieder dieselben Fragen gestellt und sie im nächsten Moment wieder vergessen.“

„Ah.“

„Also, um die Fragen zu beantworten: Du bist im Krankenhaus, deine Werte sind stabil, Annalina hat dich gefunden und den Krankenwagen gerufen, die Polizei kommt morgen, damit du eine Aussage machen kannst und wir haben keine Ahnung, wo Kaito steckt.“

Das waren tatsächlich die wichtigsten Fragen, die mir im Kopf herum geschwirrt waren. Doch, eine Andere fiel mir ebenfalls noch ein.
 

„Haben die Idioten irgendetwas gestohlen?“

„Soweit wir wissen, nicht“, schüttelte Marc den Kopf.

„Wie viel Uhr haben wir eigentlich?“

„Es ist mitten in der Nacht.“ Marc deutete mit einem Kopfnicken zum Fenster und ich erkannte, dass es draußen stockfinster war. „Die Besuchszeit ist schon längst vorbei, doch ich habe mich als Angehörigen eingetragen, sodass ich auch die Nacht bei dir bleiben kann.“

„Oh.“
 

Dass Marc dazu bereit war, so etwas für mich zu tun, hatte ich nicht erwartet. Irgendwie rührte es mich und ich wollte schmunzeln, doch mein Gesicht war nicht dazu bereit diesen Akt durchzuführen. Ich versuchte mich ein wenig zu bewegen, doch mein Körper war wie platt getreten, meine Augenlider fühlten sich schwer an, in meinem Kopf war nur Taubheit. Keuchend gab ich den Versuch auf mich aufzusetzen. Ich schloss die Augen und war keine paar Sekunden später wieder eingeschlafen.

Gaara... - ...Hat die Schnauze voll! Pt. 4

Wenn mich jemand gefragt hätte, ob es eine Möglichkeit gab, meine aktuelle Situation noch weiter zu verschlimmern, hätte ich in diesem Moment vermutlich mit einem klaren 'Nein' geantwortet. So saß ich doch mit zwei gebrochenen Rippen, einem gebrochenen Handgelenk, einem gebrochenen Wangenknochen, unzähligen Prellungen, blauen Flecken und den Nachwirkungen einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus, bekam weitere Schmerzmittel verweigert, nachdem ich dazu gezwungen war dem Arzt von meinem Drogenkonsum zu erzählen – man debattierte noch darüber, ob ich die Schmerzmittel wirklich bräuchte oder nur mein Verlangen nach Drogen stillen wollte – und hatte gleichzeitig Besuch von Larissa, Annalina, Samantha und Marc. Was, wie sich schnell herausstellte, eine Kombination war, die alles andere als gut ging. Für nur wenige Minuten waren Sam und Annalina gemeinsam in der Kantine, da kamen die Beiden heftig streitend zurück. Warum, erfuhr ich auch sogleich.
 

„Gaara, kannst du ihr bitte mal sagen, dass du nicht schwul bist“, stemmte Annalina die Hände in die Hüften, als sie wieder neben meinem Bett stand. Empörungen war ihr anzusehen, während Sam sich nicht entscheiden konnte, ob sie sie oder mich wütend an funkeln sollte. Schließlich war ich es, der ihren Todesblick zu spüren bekam und ich schwöre bei Gott, der hat meinen körperlichen Zustand sogar noch verschlimmert!

„Was ist los?“, fragte ich überfordert, dessen größte Sorge momentan eigentlich war, eine Position zu finden, in der meine Rippen nicht mehr so heftig schmerzten. Die Lehne meines Bettes war etwas aufrecht, sodass ich nicht komplett flach lag. Mein Hintern tat vom Liegen weh, doch sobald ich mich ein wenig bewegte, zog ein scharfes Brennen durch meine Seite, weshalb ich es lieber vorzog ein schmerzendes Hinterteil zu haben. Trotzdem war ich damit äußerst unglücklich. Hoffentlich einigten sich die Ärzte schnell darauf mir doch noch mal ein stärkeres Schmerzmittel zu verabreichen. Natürlich war mein immenser Konsum von Marihuana Schuld daran, dass die Mittel nicht so anschlugen, wie sie es eigentlich sollten. Meine Toleranz war enorm gestiegen. Hätte ich nicht jeden Tag gekifft und noch immer das THC im Körper, würde ich vermutlich gerade gar keine Schmerzen empfinden. So bereute man also früher oder später jede seiner Taten.
 

„Du hattest mir am zweiten Weihnachtstag irgendwas von einem Lukas erzählt“, meinte Annalina, ihre Wangen waren vor Aufregung knallrot. Marc und Larissa machten im Hintergrund Anstalten die Flucht zu ergreifen. Wenn ich könnte, würde ich mitkommen. Einen Streit mit Sam und Annalina wollte ich mir nun wirklich nicht antun.

„Ich bin verletzt“, jammerte ich, doch die Mädchen nahmen keine Rücksicht auf mein Leid.

„Jedenfalls hat sie ihn angerufen und ich hab sie gefragt, wieso, weil du ja offensichtlich nichts mit diesem Typen zu tun hast. Und jetzt meint sie, du wärst in ihn verliebt? Du bist doch nicht mal schwul!“

„Ich verstehe gar nichts...“ Tatsächlich brauchte mein noch geschädigtes Hirn ein paar Sekunden, bis es verstand, was Annalina mir gerade mitgeteilt hatte. „Moment Mal, Sam hat Lukas angerufen...?“
 

Entsetzt blickte ich Sam an.

„Warum ist das so schlimm? Du willst ihn bestimmt sehen und er will dich sehen, er kommt vorbei sobald er in Berlin ist“, sagte sie und verschränkte mit einem triumphalen Ausdruck in den Augen die Arme unter ihrem Busen.

„Das ist doch toll!“, schaltete sich Larissa erfreut ein, wich jedoch einen weiteren Schritt zurück, als Annalina ihr einen säuerlichen Blick zuwarf.

„Wie, das ist toll? Ich weiß nicht mal, wer das ist“, sagte Annalina.

„Es ist doch auch vollkommen egal, dass du keine Ahnung hast!“, fauchte Sam und schon stritten sie sich wieder. Das gab mir ein paar Sekunden Zeit darüber nachzudenken. Und, da ich dies tat, fiel mir auf, dass ich Lukas wirklich sehen wollte. Beinahe so sehr, wie ich mit Kaito sprechen wollte, den jedoch niemand erreichen konnte. Er reagierte auf keine Anrufe und auch auf keine SMS, weshalb Noah und Hannah Schifti eingesammelt hatten und mit ihm gemeinsam losgezogen waren, um Kaito zu finden und ins Krankenhaus zu schleppen.
 

Mir ging es nicht darum Kaito die 'Nachricht' zu zeigen, die diese Typen auf meinem Körper hinterlassen hatten und ich hatte auch kein Interesse daran ihm vorzuhalten, dass es auf indirektem Wege seine Schuld war. Ich machte mir Sorgen um ihn. Wenn diese Leute dazu bereit waren einen, ihnen vollkommen Fremden zu verprügeln, dann wollte ich nicht wissen, was sie mit Kaito anstellten, wenn sie ihn in die Finger bekamen. In letzter Zeit musste viel bei ihm geschehen sein und ich wollte ihn bloß in Sicherheit wissen. Weder der Polizei noch meinen Freunden hatte ich erzählt, dass diese Leute mich wegen Kaito verprügelt hatten. Ich hatte grobe Aussehensbeschreibungen abgegeben und die Polizei hatte die Suche eröffnet, doch vermutlich würden sie es irgendwann unter den Tisch fallen lassen und niemanden gefangen nehmen. Zwar war mir sehr unwohl zumute bei dem Gedanken, dass sie weiterhin frei in der Gegend herumlaufen würden, doch ich hatte einfach zu viel Angst davor, dass die Polizei einen Grund finden würde, um Kaito ebenfalls einzusperren. Eine Vorstrafe würde sein Leben völlig zerstören, dann gäbe es gar nichts mehr zu retten.
 

Nun jedoch zurück zu der Tatsache, dass Lukas mich besuchen kommen wollte und das scheinbar noch heute. Es war beinahe seltsam, dass ich ein warmes Kribbeln in meinem Bauch spürte, ich war aufgeregt wie ein kleines Kind an Weihnachten und irgendwie machte es mich auch glücklich, obwohl ich momentan wirklich keinen Grund hatte glücklich zu sein. Als ich schmunzelte, wandten sich Sam und Annalina wieder mir zu.

„Du solltest diese Sache endlich klären“, verlangte Sam. Manchmal konnte sie wirklich penetrant sein und einem auf die Nerven gehen, doch andersherum hatte sie Recht. Wenn Lukas kam, wollte ich mich mit meinen Gefühlen nicht länger zurück halten und, dann wäre es unvorteilhaft eine Fast-Freundin neben dem Bett stehen zu haben.
 

„Na gut, aber lass mich das alleine mit Annalina klären“, bat ich. Sam nickte anerkennend, wandte sich zu Marc und Larissa um und wies sie an mit ihr hinaus zu kommen. Das ließen sich die Beiden nicht zwei Mal sagen. Sie verließen das Krankenzimmer, welches zwar drei Betten hatten, von denen jedoch nur meines besetzt war. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, wurde es unangenehm still im Raum. Annalina schaute mich mit einem wütenden und verletzten Gesichtsausdruck an, wie ein Hund, den man geschlagen hatte. Ich konnte auch etwas wie Eifersucht in ihren Augen blitzen sehen und mir wurde ausgerechnet jetzt bewusst, dass ich noch nie mit jemandem Schluss gemacht hatte. Bisher hatte ich immer nur One-Night-Stands und Affären gehabt, nichts Ernst zunehmendes und die Sache mit Lukas hatte sich beinahe von selbst erledigt. Noch nie musste ich tatsächlich einen Schlussstrich ziehen. Es war äußerst unangenehm.
 

„Ok... also... erst mal... muss ich mich bei dir entschuldigen“, begann ich langsam. Ich suchte mir meine Worte mit Bedacht aus, denn ich wollte Annalina nicht verletzen. Vermutlich würde sie so oder so verletzt sein, doch vielleicht konnte ich es ein wenig eindämmen. Schließlich hatten wir einige schöne und lustige Dinge miteinander erlebt und ich konnte mir durchaus vorstellen weiterhin gut mit ihr befreundet zu sein. Die Frage war nur, ob sie dasselbe wollte... „Ich muss mich bei dir entschuldigen für die Art, wie ich dich behandelt habe. Du wirst selbst gemerkt haben, dass ich bei bestimmten Dingen dir gegenüber abweisend war, was daran liegt, dass ich nicht... naja... nicht dazu in der Lage gewesen war dir zu sagen, dass ich nichts weiter als Freundschaft für dich empfinde.“

„Mir war schon klar, dass du dich nicht in mich verknallst hast“, sagte Annalina und lächelte freudlos. Die Art wie sie sprach, zeigte mir, dass sie versuchte zu verbergen, wie verletzt sie war. Gerade fühlte ich mich wie der größte Arsch der Welt... „Und ich weiß auch, dass ich mich dir eher aufgezwungen habe, was diese Beziehung oder, was auch immer das war, angeht, aber ich hatte gehofft, dass du mit der Zeit vielleicht doch etwas für mich empfindest. Falsch gedacht, anscheinend.“

„Ich mag dich“, sagte ich schnell. „Nur um das klar zu stellen, ich habe gerne Zeit mit dir verbracht, aber ich habe dich nicht so behandelt wie du es verdient hast. Ich hätte dich nicht küssen sollen, mit dir kuscheln sollen, dir irgendwelche Hoffnungen machen sollen. Das war falsch, weil ich doch eigentlich ganz genau wusste, dass ich nichts mehr als Freundschaft für dich empfinde.“
 

Ausgerechnet jetzt kam mir die Lyrik zu einem Song in den Sinn, der auf die Situation ganz gut passte... Und es tut mir so leid

Du bist nur der Trostpreis

Und immer, wenn der Mond scheint

Denk' ich an die, die mir damals entflohen

Nur, dass es sich nicht um eine entflohene Sie, sondern einen entflohenen Ihn handelte, der vielleicht zurück kehren würde. Wenn ich ganz viel Glück hatte, würde er mir all meine dummen Fehler vergeben, auch, wenn ich das vermutlich gar nicht verdient hatte.
 

„Und jetzt?“, fragte Annalina. „Willst du es auf keinen Fall mit mir versuchen? Du kannst mir nicht sagen, dass du es nicht gemocht hast, wenn wir uns geküsst haben, dafür haben wir es viel zu oft getan. Gibt es gar keine Chance für mich?“

Ich wollte mit einem 'Nein' antworten, da sprang die Tür auf und ein Arzt kam mit einer Krankenschwester herein. Ohne im Blick zu haben, dass sie gerade äußerst ungewollt waren, sprach der Arzt mich mit seiner lauten Stimme an. Ich mochte ihn nicht, denn manchmal redete er mit mir, als wäre ich ein kleines Kind.
 

„So, tut es noch weh?“ Er drückte in meine Seite und mir entfuhr ein schmerzhaftes Keuchen, gleichzeitig drückte ich seine Hand weg.

„Ja!“

„Na gut, wir wollen mal nicht so sein und erhöhen deine Dosis. Aber, dass es nicht richtig wirkt, daran bist du wohl selbst Schuld.“

Wenn er mir noch einmal sagte, dass ich selbst Schuld daran war, weil ich so viel kiffte, würde ich irgendetwas kaputt schlagen. Vorzugsweise die halbrunde Brille, die er auf seiner dicke Nase sitzen hatte. Die Krankenschwester verpasste mir eine Spritze, die Kanüle dafür war bereits in meinem Unterarm angebracht. Mit verschränkten Armen stand Annalina daneben und beobachtete das Szenario, darauf wartend, dass wir unsere Unterhaltung zu Ende führen konnten.
 

„Wir haben übrigens auch endlich mal deine Eltern erreicht“, teilte mir der Arzt beiläufig mit. Ich ließ den Kopf in die Kissen fallen und schloss gequält die Augen. „Dein Vater ist anscheinend im Ausland und kann nicht herkommen, doch deine Mutter wird noch heute Abend hier sein.“

„Heute Abend?“, fragte ich und riss die Augen auf.

„Sie setzt sich in einen Flieger in München und sollte nicht lange bis hierher brauchen.“ Er sagte das, als wäre es etwas wunderbares. Für mich bedeutete es nur, dass das Chaos perfekt war. Am besten fanden Noah, Hannah und Schifti Kaito noch und brachten ihn auch heute Abend her, dann waren alle Menschen um mich herum versammelt, die mir momentan das Leben schwer machten. Fehlte eigentlich nur noch Herr Kemp und der gesamte Kinderchor. Das war so bescheuert, dass ich freudlos lachen musste.
 

„Ja, ich glaube das reicht jetzt mit den Schmerzmitteln“, meinte der Arzt daraufhin und ich war mir nicht sicher, ob das nur ein Scherz oder sein Ernst war. „Wir müssen dann noch ein paar Röntgenaufnahmen von deinem Gesicht und deiner Hand machen.“

„Die haben sie doch schon heute Mittag gemacht“, erinnerte ich genervt. Ich wollte mir diese Prozedur nicht noch einmal über mich ergehen lassen, es hatte solange gedauert. Doch ich kam nicht drum herum. Niedergeschlagen blieb Annalina im Zimmer zurück. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie solange auf mich warten bis ich fertig war, damit sie mit mir darüber diskutieren konnte, ob wir es noch mal gemeinsam versuchten oder nicht. Gefühlte Ewigkeiten verbrachte ich damit geröntgt zu werden. Es dauerte schon alleine deswegen lange, weil ich mich dank meiner gebrochenen Rippen nur sehr langsam und bedacht bewegen konnte. Als wir endlich fertig waren, begann auch das Schmerzmittel richtig zu wirken und ich spürte die schmerzenden Stellen nur noch wie eine Betäubung. Auch nicht sonderlich angenehm, aber sehr viel besser als dieses scharfe Brennen.
 

Zurück im Zimmer, stellte ich sogleich fest, dass nebst Annalina auch Hannah, Noah und Schifti anwesend waren. Letzterer brach in Lachen aus, als er mich sah, was mich genervt die Augen rollen ließ.

„Bist du nur hergekommen, um mich auszulachen?“, murmelte ich. Arzt und Krankenschwester verließen das Zimmer und ließen uns Fünf alleine. Vorher merkte die junge Frau jedoch noch an, dass die Besucherzeit in einer halben Stunde vorbei sein würde.

„Tut mir Leid, aber dein Gesicht sieht einfach zu witzig aus“, grinste Schifti. „Du siehst aus wie ein Luftballon, der schon seit Tagen aufgeblasen ist und in der Hitze zusammen schrumpft. Überall sind Beulen und straffe Haut, sauwitzig!“

„Total“, fauchte ich sarkastisch, doch was hatte ich von Schifti anderes erwartet. Mitgefühl? Bei ihm vollkommen fehl am Platz. Dafür sah Hannah besorgt genug aus, auch Noah hatte die Augenbrauen nachdenklich zusammen gezogen.
 

„Habt ihr Kaito gefunden?“, erkundigte ich mich. Bei ihren Gesichtsausdrücken hatte ich ein ungutes Gefühl, hoffentlich war ihm nichts passiert...

„Ja“, seufzte Hannah. „Aber...“ Noah und sie wechselten stumme Blicke, als würden sie bei sich gegenseitig nach den richtigen Worten suchen. Jedoch brauchten sie dies nicht lange zu tun, denn Schifti ergriff das Wort und erzählte so beiläufig, als würde er über das Wetter plaudern.

„Er war total high“, sagte er frei heraus. „Ich meine so richtig mies high und wir glauben, dass er Heroin geraucht hat. Zumindest hat alles darauf hingewiesen, Sky war ebenfalls durch, nicht so krass, aber auch nicht so, dass man ordentlich mit ihr hätte reden können. Die Zwei sind ganz schön am Arsch, ich sag's dir.“

„Heroin“, wiederholte ich dumpf.

„Er war nicht ansprechbar“, sagte Noah traurig. „Er war nicht richtig wach und auch nicht richtig am Schlafen... wir konnten ihm die Situation einfach nicht erklären.“

„Mit Sky konnten wir reden, aber sie meinte von sich selbst, sie würde das morgen nicht mehr wissen, deswegen hat sie sich eine Notiz auf ihrem Handy gemacht“, erzählte Hannah. „Mal sehen, ob das überhaupt etwas bringt...“

„Vermutlich nicht“, sagte Annalina, die immer noch trotzig und verletzt aussah. Bevor die Besucherzeit zu Ende war, musste ich dieses Gespräch mit ihr klären, doch gerade machte ich mir viel mehr Gedanken um Kaito. Heroin... so weit war er also schon. Ob es da überhaupt noch einen Ausweg gab? Ich spürte wie Schuldgefühle in mir aufkochten, die Reue darüber, dass ich keinen Kontakt mehr zu ihm gehalten hatte, ich hätte für ihn da sein sollen, auch wenn er es nicht wollte. Ich hätte einfach da sein sollen.
 

„Tut mir so Leid, Gaara...“ Hannah mit ihren herausragenden Menschenkenntnissen schien mir ansehen zu können, wie ich mich fühlte. Sie ging an mein Bett heran und strich mir mit einer Hand tröstend über die Schulter.

„Schon okay“, sagte ich, auch wenn es alles andere als okay war. „Ich hoffe einfach, dass er mich besuchen kommt und ich noch einmal mit ihm reden kann. Wenn ich schon im Krankenhaus liege, wird er das wohl kaum ignorieren, oder?“

Bei einem Drogenopfer konnte man sich nie sicher ein, wie er reagieren würde, doch ich hoffte einfach darauf, dass noch etwas von meinem besten Freund in ihm übrig geblieben war. Das war doch echt zum Heulen...
 

„Ich bräuchte übrigens noch ein paar Minuten alleine mit Annalina... sind Marc und Larissa eigentlich noch da?“

„Nein, die sind schon gegangen“, antwortete Annalina.

„Dann gehen wir jetzt auch...“, sagte Noah. „Wir sehen uns.“

Aufmunternd klopfte mir jeder von ihnen auf die Schulter, dann entschwanden sie aus dem Krankenzimmer. Zurück blieb ich in einer bedrückenden Stille mit Annalina.
 

„Also“, sagte sie. „Deine Antwort: Noch einmal versuchen, ja oder nein? Könntest du es dir überhaupt auch nur ein wenig vorstellen?“

„Zu erst einmal, möchte ich gesagt haben, dass wir echt lustige Sachen miteinander erlebt haben.“ Ich konnte mich auf meine Worte nicht so gut konzentrieren wie zuvor. Langsam machte mich das Schmerzmittel auch nebelig, die Sorgen um Kaito bereiteten mir Kopfschmerzen, doch dieses Gespräch mit Annalina musste richtig verlaufen. Ich konnte nicht schon wieder einer Person vollkommen falsche Sachen an den Kopf werfen und mich ein halbes Jahr lang mit dieser zerstreiten. „Und ich fände es schade, wenn wir den Kontakt miteinander abbrechen würden, aber, ich denke nicht, dass ich eine Beziehung zu dir führen kann.“

„Kann?“, wiederholte Annalina. „Was habe ich falsch gemacht?“

„Mal abgesehen davon, dass du einfach vor meinen Eltern behauptet hast mit mir zusammen zu sein, obwohl wir das nie besprochen haben?“

Ja, da war's. Genau die Art von Satz, die ich hatte vermeiden wollen. Warum musste ich auch so ein loses Mundwerk besitzen? Annalina schien von diesem Kommentar ehrlich getroffen zu sein, sie erinnerte mich nur noch mehr an einen verletzten Hundewelpen, was meine Laune auf den absoluten Tiefpunkt brachte. Ab hier konnte es nur noch bergauf gehen.
 

DACHTE ich. Doch ehe Annalina zum Konter antreten konnte, sprang die Tür zu meinem Krankenzimmer auf und niemand geringeres als meine Mutter trat mit gestresstem Gesichtsausdruck ein, in einer Hand hielt sie noch ihren Reisekoffer. Anscheinend war sie direkt vom Flughafen aus ins Krankenhaus gekommen, hatte vorher keinen Halt bei uns Zuhause gemacht. Von mir aus hätte sie ruhig erst Morgen kommen können, denn nun musste ich auch noch ihr erklären, warum ich nicht länger mit Annalina zusammen sein wollte.

Lukas - Gemeinsam gegen den Rest der Welt Pt. 1

Endlich war ich am Krankenhaus angekommen. Dunkelheit breitete sich bereits über Berlin aus, die Straßenlaternen gingen an, mein Herz pochte mir bis zum Hals und ich konnte kaum noch atmen, da ich ein gutes Stück gerannt war. Mum hatte mich auf dem Weg raus gelassen, war mit Alex weiter nach Hause gefahren und nun stürmte ich abgehetzt das Krankenhaus und blieb vor der Rezeption stehen, deren Dame bereits damit beschäftigt war, einzupacken. Genervt blickte sie zu mir auf.

„Die Besucherzeit ist in sieben Minuten zu Ende“, sagte sie und kräuselte die Lippen.

„Dann habe ich ja noch sieben Minuten Zeit“, entgegnete ich frech. „Ich muss zu Gaara Sperling.“

Seufzend verdrehte sie die Augen, auch wenn es sie nervte, es blieb ihr nichts anderes übrig als mir die Zimmernummer und das Stockwerk zu sagen. Sogleich machte ich mich auf zur Treppe, rannte die Stufen hoch, bis ich auf dem richtigen Stock heraus kam und suchte dort das Zimmer auf. Vor der Tür blieb ich stehen, atmete einige Male tief durch, richtete meine zerzausten, hellbraunen Haare, die unter einer Kapuze versteckt waren und klopfte mehrmals an.
 

Von drinnen kam sogleich ein lautes 'Herein!' und ich erkannte Gaaras Stimme. Erleichtert atmete ich aus, noch bevor ich die Tür wirklich offen hatte, doch diese Erleichterung wich von meinem Gesicht als ich ihn sah. Er sah schlimm aus. Ein Handgelenk war ein bandagiert, sein Gesicht war an mehreren Stellen geschwollen, seine Lippe genäht wurden und sein Blick sah trüb aus, als wäre er mit den Gedanken nicht ganz beisammen. Dass außer ihm noch zwei weitere Personen anwesend waren, registrierte ich anfangs nicht einmal. Leise schloss ich die Tür hinter mir, wagte mich mit langsamen Schritten an sein Bett heran. Ihn so dort liegen zu sehen, wischte das letzte halbe Jahr der Streits und des Ignorieren einfach fort.
 

„Hey“, brachte ich mit rauer Stimme hervor. „Du... siehst... mies aus.“

„Danke“, kam es von Gaara trocken, dann schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen. Sein verwegenes Lächeln, das ich so sehr vermisst hatte, doch aufgrund der Verletzung etwas verzerrt aussah.

„Ich hab nur sieben Minuten Zeit“, teilte ich ihm mit, verbesserte gleich darauf: „Mittlerweile vermutlich nur noch sechs. Also muss das jetzt schnell gehen.“

„Ja, es tut mir Leid. Ich hab so viel Scheiße gebaut.“

„Ich auch. Ich hätte dich niemals verleugnen sollen, ich hätte niemals die Sachen sagen sollen, die ich damals bei dem Streit gesagt habe.“

„Ich hätte niemals behaupten sollen, dich nicht zu lieben.“

„Das hätte ich auch niemals behaupten sollen.“

„Die Wahrheit ist -“

„Ich weiß, ich auch.“
 

Damit war es geklärt. Und es ging so einfach, dass es schon beinahe lachhaft war, doch vielleicht war gerade das die Essenz einer richtigen Beziehung. Dass, wenn wir mit klaren Gedanken an die Sache heran gingen, nur wenige Worte die Probleme klären konnten und wir nicht einmal aussprechen mussten, was uns auf dem Herzen lag, weil der jeweils andere es auch ohne sie verstand. Dieser Moment war schon fast romantisch, hätten sich die anderen beiden Anwesenden nicht eingeschaltet.
 

„Wer ist denn das nun wieder?!“

Ich schaute auf und erkannte die Besitzerin der schrillen Stimme nicht. Es war eine schlanke, etwas größere Frau mit wallenden, braunen Haaren und einem entsetzten Ausdruck in den Augen. Daneben stand Annalina. Alleine ihr Anblick ließ in mir die Eifersucht wieder aufsteigen und ich ertappte mich dabei, wie ich mich daran erfreute, dass sie extrem niedergeschlagen aussah. Ich musste mir ein 'Pech gehabt – meiner!' unterdrücken.
 

„Das ist Lukas“, antwortete Gaara stumpf. „Lukas, das ist meine Mutter.“

„Oh, hallo Frau Sperling.“ Ich streckte die Hand nach ihr aus, doch sie machte nicht einmal Anstalten sie zu ergreifen.

„Ich habe meiner Mutter und Annalina vor einer halben Minute mitgeteilt, dass ich bisexuell bin und nur mit dir zusammen sein will. Du kamst wie gerufen.“

„Fantastisch.“ Mein Sarkasmus dürfte nicht zu überhören sein. Auf so eine Situation hätte ich wirklich verzichten können, andererseits erlebte ich hautnah mit wie Annalina einen Korb bekam. Obwohl mich die Tatsache, dass sie hier war, doch etwas unwohl fühlen ließ. Ob Gaara bis eben noch mit ihr zusammen gewesen war? Waren sie überhaupt zusammen gewesen? Wie viel war zwischen ihnen gelaufen? All das müsste mir Gaara noch erklären, bevor ich mich dazu entschied wirklich mit ihm zusammen zu sein. Das schien er auf jeden Fall zu wollen und es bereitete mir ein warmes Kribbeln im gesamten Körper.
 

„Bestimmt ist das nur eine Phase, Schatz“, sagte Gaaras Mutter und nahm seine Hand als müsste sie ihn nach dem Tod eines Geliebten trösten.

„Dann hält diese Phase aber schon seit einigen Jahren an“, murrte Gaara, etwas aufgebrachter fragte er: „Warum stört dich das überhaupt? Du arbeitest in der Modebranche, beinahe alle deine Kollegen sind Schwule!“

„Das ist doch was anderes als beim eigenen Kind“, klagte sie. „Dein Vater wird das gar nicht gutheißen. Außerdem musst du dich doch für ein Geschlecht entscheiden, man kann doch nicht Frauen und Männer lieben.“

„Natürlich kann man das!“
 

Ich war baff. Niemals hätte ich gedacht, dass ich tatsächlich mal solche Worte aus dem Mund einer Mutter hören würde. Natürlich, man sagte häufig, dass Eltern es nicht unbedingt gut hießen, wenn das eigene Kind homosexuell oder bisexuell war, doch so wirklich vorstellen konnte ich mir dies bis eben nicht. Meiner Mutter war es total egal, Noahs Vater schien ebenfalls überhaupt keine Probleme mit der Homosexualität seines Sohnes zu haben und nun das. Ausgerechnet sie, die Besitzerin einer Modefirma, war nicht damit einverstanden, dass ihr Sohn bisexuell war. Verständnislos schüttelte ich den Kopf, während die Beiden miteinander diskutierten und schließlich regelrecht stritten. Annalina und ich standen hilflos daneben. Sie hörten erst auf, als die Tür aufging und eine Krankenschwester verkündete, dass die Besuchszeit in einer Minute vorbei sein würde. Wir sollten morgen wieder kommen.
 

„Das Thema ist noch nicht ausdiskutiert!“ Mit diesen Worten 'verabschiedete' sich Gaaras Mutter, packte ihren Koffer und stolzierte hinaus. Zurück blieben Annalina und ich, sie mit niedergeschlagener Miene, ich mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen, das von Nervosität zeugte.

„Habe ich dich in eine miese Lage gebracht?“, fragte ich schuldig.

„Nein, es war meine Entscheidung es ihr zu sagen“, winkte Gaara ab. „Jetzt geht schon, bevor euch die liebste Krankenschwester aus dem Fenster wirft.“

„Bis dann“, verabschiedete sich Annalina knapp und verließ den Raum. Ich wartete ab bis sie nicht mehr zu sehen war, dann beugte ich mich vor und drückte Gaara einen Kuss auf die Stirn. Einen Sanften, in der Hoffnung, dass er sich dadurch etwas besser fühlte. Ohne weitere Worte zu verwenden, ging ich hinaus, wechselte mit Gaara noch ein stummes Schmunzeln. Kaum, da die Tür hinter mir zugefallen war und ich zurück in Richtung Treppe ging, wurde mein Schmunzeln zu einem breiten Grinsen.
 

Gaara lag zusammen geschlagen im Krankenhaus, seine Mutter akzeptierte seine homosexuelle Seite nicht, Annalinas Herz war gebrochen, doch gerade fühlte ich mich wie der glücklichste Mensch auf Erden.
 

Am nächsten Tag stand ich erneut in Gaaras Krankenzimmer, diesmal mit eindeutig mehr Zeit zum Reden. Bevor ich gekommen war, hatte er mir eine SMS geschrieben und mich inständig darum gebeten ihm eine Packung Zigaretten mitzubringen, er würde ansonsten noch durchdrehen. Seiner Bitte ging ich sogleich nach. Nun saßen wir gemeinsam in seinem Bett, Beide im Schneidersitz, er mit seinem Kissen im Rücken am Kopfende, ich etwas unbequemer am Fußende und jeder von uns hatte eine Zigarette zwischen den Lippen. Als Aschenbecher nutzten wir ein leeres Glas. Gaara trug bequeme Klamotten, eine lockere Jogginghose und darüber ein weißes Shirt. In seinem rechten Arm steckte die Kanüle für Spritzen, sein Gesicht hatte mittlerweile gelbe und grüne Farbtupfer angenommen. Je nachdem wie er sich bewegte, zog er zischend die Luft ein, seine gebrochene Rippen waren scheinbar seine größte Schmerzensstelle.
 

Ausführlich erzählte er mir, was ihm wieder fahren war. Von Samantha hatte ich nur eine grobe Zusammenfassung erhalten. Als er zum Ende seiner Erzählung gelangte, wurde er etwas nervöser. Einige Momente kaute er sich auf der Unterlippe herum, dann sagte er: „Es gibt da noch etwas... ich hab bisher niemandem davon erzählt und du musst mir versprechen, dass du es auch niemandem erzählst.“

„Okay“, sagte ich überrascht.

„Bevor der Typ mich K.O. geschlagen hat, hat er gesagt 'Schöne Grüße an Kaito'.“
 

Das musste ich erst einmal schlucken.

„Meinst du, die haben dich wegen ihm zusammen geschlagen?“, fragte ich überflüssigerweise.

„Ja, das ist doch klar. Darum sollst du es auch niemandem erzählen.“

„Hast du der Polizei davon erzählt?“

„Nö“, schüttelte Gaara den Kopf. „Ich weiß nicht, in welcher Verbindung Kaito mit denen steht, doch vermutlich hat es etwas mit Drogen zu tun. Ich will ihnen keinen Grund geben Kaito festnehmen zu können.“

„Aber... wenn Kaito sie kennt, können sie diese Typen finden und festnehmen“, sagte ich mit zusammen gezogenen Augenbrauen. „Das ist ein wichtiger Anhaltspunkt! Momentan haben sie nichts außer deiner Beschreibung, da ist es echt schwierig die Täter zu finden.“

„Ich habe die Beschreibung auch nur sehr grob gemacht“, gab Gaara schulterzuckend zu. „Vermutlich werden sie den Fall in ein bis zwei Wochen fallen lassen, so läuft das meistens in solchen Geschichten ab.“

„Aber das ist nicht richtig!“, protestierte ich. Gaara konnte noch so cool tun, ich wusste, dass ihm nicht wohl war, wenn seine Peiniger weiterhin frei herum liefen. Wer wusste schon, ob sie nun zufrieden waren? Vielleicht kamen sie noch einmal wieder, weil die 'Nachricht' Kaito nicht erreicht hatte! „Sie sollten für das büßen, was sie dir angetan haben. Die können nicht einfach in dein Haus spazieren und dich bewusstlos prügeln und damit so einfach durchkommen!“

„Lass gut sein, Lukas.“
 

Er nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch in kleinen Kringeln aus. Natürlich war das Rauchen in den Krankenzimmern verboten, doch wir hatten keine Lust uns draußen in die Kälte zu stellen. Da niemand außer Gaara das Zimmer bezog, konnte uns auch niemand an die Krankenschwestern verpfeifen. Ich drückte meinen Zigarettenstummel im Glas aus. Mir gefiel Gaaras Einstellung überhaupt nicht, obwohl ich nachvollziehen konnte, dass er Angst davor hatte, Kaito könnte ins Gefängnis gehen. Wenn ich es mir recht überlegte, würde ich wohl auch zurück stecken, um dafür meinen besten Freund beschützen zu können. Trotzdem gefiel mir der Gedanke nicht, dass diese Idioten ungestraft davon kamen. Was war denen überhaupt durch den Kopf gegangen? Denen musste doch jemand ins Gehirn geschissen haben!
 

„Reden wir über etwas anderes“, brach Gaara nach einer Weile unser Schweigen. „Über uns, darüber will ich viel lieber reden.“

„Wir haben gestern doch schon alles geklärt“, sagte ich. „Wir sitzen hier wieder zusammen als wäre dieses halbe Jahr nie gewesen.“

„Stimmt, aber ich weiß, dass du Fragen hast, was Annalina angeht.“

„Ja...“ Und ich hatte Angst vor den Antworten. Ich wusste nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn herauskam, dass er mit ihr geschlafen hatte. Vermutlich würde meine Eifersucht nur noch mehr steigen, dieses Gefühl war einfach nur widerlich.

„Ich beantworte sie dir einfach mal“, sagte Gaara, drückte seine Zigarette ebenfalls aus, während er den Rauch ausblies. „Also... wir haben nie miteinander geschlafen, doch wir waren so etwas wie zusammen. Eines schönen Tages hatte Annalina beschlossen ab sofort meine feste Freundin zu sein, doch ich konnte sie nicht berühren, ohne daran denken zu müssen, wie sehr ich dich an ihrer Stelle haben wollte.“
 

Anhand seines Blickes konnte ich ablesen, dass er dies absolut Ernst meinte. Eine Weile schauten wir uns gegenseitig nur an, dann begann ich zu prusten.

„Was ist daran so lustig?“, empörte sich Gaara.

„Tut mir Leid“, kicherte ich. „Aber das war so kitschig... außerdem ist der Gedanke einfach lustig, dass du mit keinem guten Gewissen an Annalina ran gehen konntest, während ich mit Noah geschlafen habe, ohne ein Problem darin zu sehen.“

Gaara sah mich an, als hätte ich behauptet, dass ich eigentlich der Präsident von Amerika war. Vielleicht würde es ihn wütend oder eifersüchtig machen, doch nachdem er in den Herbstferien so frech mit Annalina herum gemacht hatte und nun – Monate später – behauptete, er hätte nie etwas für sie empfunden, konnte ich ihm auch unter die Nase reiben mit einem anderen Kerl Spaß gehabt zu haben. Er sollte ein wenig etwas von seiner eigenen Medizin schmecken, dann verstand er auch, dass er nicht mit mir spielen konnte wie er wollte.
 

Als ich diesen Gedanken zu Ende geführt hatte, war ich von mir selbst überrascht. Obwohl ich noch mit Hannah und Noah darüber hatte reden wollen, hatte ich eben dies sein gelassen, handelte nun stattdessen so, wie ich es selbst für richtig hielt. Vor einem Jahr hätte ich mich das noch nicht getraut. Es war doch seltsam wie schnell sich ein Mensch ändern konnte, wie und wann hatte ich das Selbstbewusstsein erlangt, meinem Herzkönig so einen Schlag in die Fresse zu verpassen? Ich wusste es nicht so recht und eigentlich war es nun auch nicht weiter wichtig. Langsam kehrten die Züge in Gaaras Gesicht zurück, er klappte seinen Mund wieder zu und schluckte.
 

„Ah, ehm, okay.“

„Wir waren ja nicht mehr zusammen, oder?“, fragte ich neckisch.

„Nein, nicht wirklich. Trotzdem... kommt das gerade etwas... überraschend... habt ihr... richtig miteinander geschlafen?“

„Ja.“

„Wie oft?“

„Einmal“, antwortete ich. „Nach dem wir in der Stadt gefeiert hatten, betrunken, aber ich bereue es nicht.“

„Fynn hat mir mal erzählt, dass Noah ziemlich wild im Bett ist“, sagte Gaara und schien sich im nächsten Moment selbst zu fragen, warum er das gerade erzählt hatte. Zumindest seinem verwirrten Gesichtsausdruck zu Folge. Ich hatte ihn mit dieser Story wohl komplett aus der Bahn geworfen.
 

„Und wann?“, fragte Gaara.

„Vor den Winterferien... aber du, willst du mir vielleicht erzählen wie häufig du mit Annalina rumgemacht hast?“ Ich sagte dies in einem Ton bei dem er genau wusste, dass es sich um eine rhetorische Frage handelte. „Ich schätze, wir sind dann einfach quitt und sollten vergessen, was wir in der Zeit getan haben, in der wir nicht miteinander gesprochen haben.“

„Du bist nicht mehr derselbe Lukas wie vor einem halben Jahr“, stellte Gaara fest.

„Ist das schlimm?“

Jetzt bekam ich doch etwas Panik. Ich hatte nicht geplant ihn zu vergraulen, im Gegenteil. Nachdem ich die ganze Nacht Zeit hatte mir Gedanken zu machen, war ich bei dem Entschluss angelangt, dass ich uns Beiden eine zweite Chance geben wollte. Doch diesmal eine Richtige, keine, bei der wir nicht wussten, ob wir nun zusammen waren oder nicht.
 

„Nein“, antwortete Gaara. „Ich denke nicht... ich bin gerade etwas... durcheinander.“

„Ich merke es.“

Gaara zückte eine weitere Zigarette aus der Schachtel, zündete sie sich an und nahm ein paar Züge, ehe er fortfuhr: „Ok, vergessen wir Noah und Annalina. Ich habe dir gestern gesagt, ich will mit dir zusammen sein... was sagst du dazu?“

Er klang bei dieser Frage ein wenig nervös, was mich schmunzeln ließ. Jetzt war ich mal an der Reihe die Dominanz zu übernehmen, ihn verlegen zu machen, ihm das Gefühl zu geben ich könnte alles mit ihm machen und es würde ihn nicht weiter stören. Alles, was er in unserem ersten Beziehungsanlauf mit mir gemacht hatte. Ich nahm ihm die Zigarette weg, gerade als er einen neuen Zug nehmen wollte, ließ sie ins Glas fallen und stellte es zur Seite auf den Nachttisch. Dann löste ich den Schneidersitz, kniete mich auf das weiche Bett und beugte mich vor, sodass ich Gaara einen Kuss auf die Lippen geben konnte.
 

Ein warmes, wohltuendes Kribbeln durchfuhr meinen gesamten Körper, angefangen bei den Lippen, diesen Lippen, nach denen ich mich so sehr gesehnt hatte. Gaara erwiderte meinen Kuss beinahe sofort, versenkte die Finger seiner rechten Hand in meinen hellbraunen Haaren. Mein Herz schlug schneller, pochte mir bis zum Hals und ich war so glücklich, dass ich es nicht in Worte fassen konnte. Es war schwierig während dem Küssen nicht zu Grinsen, so überwältigt war ich von meinen Glücksgefühlen. Endlich. Ich hatte ihn wieder. Ich hatte Gaara wieder! Gleichzeitig öffneten wir unsere Münder, begannen ein Spiel mit den Zungen. Gaara lehnte sich in seinem Kissen zurück, ich stützte mich mit den Händen links und rechts an dem Geländer ab, das oben und unten an den Krankenbetten befestigt war. Unsere Zungenküsse wurden wilder, ich hätte hier und jetzt mit Gaara schlafen können, vollkommen egal, dass wir in einem Krankenhaus waren...
 

Doch wir wurden unsanft von einem spitzen Alarm unterbrochen. Sogleich lösten wir uns voneinander, ein erschrockener Schrei entfuhr meinen Lippen und ich hielt mir mit beiden Händen die Ohren zu.

„Was ist das?“, rief ich durch den Lärm.

„Feueralarm!“ Gaara deutete zur Decke hinauf und wollte schnell aufstehen, ließ sich jedoch mit einem schmerzlichen Stöhnen zurück ins Kissen fallen, eine Hand vorsichtig auf die gebrochenen Rippen gelegt. Im ersten Moment dachte ich tatsächlich, dass der Feueralarm des Krankenhauses ausgelöst wurde, weil ein Brand entstanden war und erst mit dem zweiten Augenblinzeln erkannte ich an der Decke den piepsenden Rauchmelder.
 

Ich sprang vom Bett auf, zog mir einen Stuhl direkt unter den Melder heran, kletterte drauf und löste ihn von der Decke ab. Mit einer Handbewegung waren die Batterien draußen und der ohrenbetäubende Alarm verstummte endlich. In beinahe dem gleichen Moment sprang die Tür auf und eine der etwas weniger netten Krankenschwestern stand mit gestresstem Gesichtsausdruck im Raum. Sie brauchte nicht lange, um die Situation zu überblicken.

„Rauchen ist auf den Krankenzimmer untersagt!“, plärrte sie los.

„Wusste ich nicht“, log Gaara ohne mit der Wimper zu zucken. Ich konnte nicht anders als zu lachen. Säuerlich stemmte die Krankenschwester die Hände in die Hüfte, bedachte ihn mit einem Samantha-reifen Todesblick.

„Ich bin mit dem Kopf gegen die Tür geschlagen wurden“, suchte Gaara nach einer Ausrede. „Seit dem denke ich nicht mehr richtig.“ Auf seinen Lippen zeigte sich ein freches Grinsen. Lachend stieg ich vom Stuhl herunter und öffnete das Fenster, damit der Zigarettenrauch hinaus ziehen konnte.
 

„Heute noch bin ich dich los“, meckerte die Krankenschwester. „Noch heute Nachmittag wirst du entlassen, dann kannst du wieder nach Hause zu deinen Eltern.“

„In Aussicht darauf, würde ich lieber hier bleiben“, gestand Gaara, doch das interessierte sie reichlich wenig. Sie nahm uns Glas und Zigarettenschachtel weg, entschwand dann wieder aus dem Krankenzimmer und wir brachen gleichzeitig in Gelächter aus. Und es tat so gut wieder mit Gaara vereint zu sein.

Lukas - Gemeinsam gegen den Rest der Welt Pt. 2

An diesem Nachmittag wurde Gaara entlassen, obgleich er immer noch Schmerzen aufgrund der gebrochenen Rippen hatte. Damit es erträglicher für ihn war, bekam er zum Abschied ein leichtes Schmerzmittel verabreicht, bewegte sich trotzdem mit äußerster Vorsicht. Bisher hatte ich mir noch nie eine Rippe gebrochen, doch scheinbar war das eine sehr schmerzhafte und unangenehme Angelegenheit. Ihm wurde Ruhe und so wenig Bewegung wie möglich verschrieben. Abgesehen von seinen Rippen, machte ihm auch noch das gebrochene Handgelenk Probleme, alle anderen Verletzungen schmerzten nicht mehr und waren dabei gut zu verheilen. In der Straßenbahn bekam er einige schiefe Blicke zugeworfen, da sein Gesicht immer noch aussah, als hätte jemand es als Boxsack benutzt – was im Grunde auch der Fall war. Wir waren nur zu Zweit, ich trug die Tasche mit seinen Sachen über meiner Schulter, stand im Gang, während Gaara auf einem Sitz gleich neben mir saß und quälende Geräusche von sich gab.
 

„Ich will nicht nach Hause“, jammerte er. „Da ist meine Mutter... ich will nicht mit ihr über meine Sexualität diskutieren.“

„Vielleicht hat sie sich eingekriegt“, sagte ich hoffnungsvoll. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen wie eine Mutter wütend sein kann, wenn ihr Sohn bisexuell ist.“

„Noahs Mutter redet auch kein Wort mehr mit ihm, weil er schwul ist“, entgegnete Gaara und verzog das Gesicht noch ein wenig gequälter. „Als hätte ich nicht schon genug Familienstress gehabt.“
 

Doch er kam um diese Diskussion nicht drum herum. Ihm zu Liebe kam ich mit, denn er versicherte mir mit todernster Miene, dass er es alleine niemals überleben würde. Als wir bei ihm Zuhause ankamen, fanden wir seine Mutter in der Küche sitzend vor. Auf dem Tisch vor sich hatte sie ein I-Pad aufgestellt und war scheinbar an etwas am Arbeiten. Kaum, da die Eingangstür hinter uns ins Schloss fiel, blickte sie auf. Ihre Miene war missbilligend, hatte beinahe Strenge an sich, doch davon schien sich Gaara nicht beeindrucken zu lassen.
 

„Ich bin mit Lukas auf meinem Zimmer“, sagte er und wir wollten schon in Richtung seines Raumes gehen, das erklang die Stimme seiner Mutter: „Ich habe mit deinem Vater gesprochen.“

Gaara verharrte in der Bewegung, drehte sich widerwillig zu ihr um. Ich ging lieber ein paar Schritte zurück und fühlte mich etwas unwohl in meiner Haut. Sollte ich dieses Gespräch mit hören oder einfach schon einmal vorgehen? Ich war mir nicht sicher, denn Gaara hatte mir nun einmal gesagt, dass er es alleine nicht schaffen würde, andererseits war das gerade eine sehr private Angelegenheit, die die Beiden vielleicht unter sich ausmachen wollten. Doch weder Gaara noch seine Mutter störten sich an meiner Anwesenheit oder sagten auch nur ein Wort dazu, sie waren ganz aufeinander fixiert.
 

„Na klasse und, was hat er gesagt?“, fragte Gaara.

„Er hat gesagt, dass es okay ist“, antwortete seine Mutter. Überrascht hob mein Freund die Augenbrauen. Und ich war ebenfalls überrascht, aber wegen etwas anderem. Offensichtlich war mit 'es' die Sexualität von Gaara gemeint, weshalb ich mich fragte, ob der Vater überhaupt über die Schlägerei Bescheid wusste. Sollte das nicht wichtiger sein?

„Wenn du in der deiner Jugend ein wenig herum probieren möchtest, kann er dir dafür nicht wütend sein“, fuhr seine Mutter fort. „Das ist in Ordnung für ihn. Aber später erwartet er von dir eine normale Ehe einzugehen und normale Kinder zu bekommen.“

„Und, wenn ich aber einen Mann liebe und keine Frau?“, fragte Gaara grummelnd, das Überraschen wich von seiner Miene. Vermutlich konnte man mir mein Entsetzen ansehen. Meinten seine Eltern das gerade tatsächlich Ernst?

„Und, was heißt hier überhaupt normale Kinder?“, sagte Gaara, etwas aufgebrachter, ehe seine Mutter auf die erste Frage antworten konnte. „Und normale Ehe? Homosexuelle können auch eine normale Ehe führen, vielleicht nicht vom Gesetz her, aber vom Gefühl her!“

„Das ist doch nicht dasselbe“, erwiderte seine Mutter. „Es ist... das ist nicht das, was in einem guten Haushalt passieren sollte. Mit einem anderen Mann kannst du keine Kinder bekommen und normal groß ziehen könnt ihr sie auch nicht. Was soll denn aus diesen Kindern werden, wenn sie von einem homosexuellen Paar groß gezogen werden?“

„Ganz normale Kinder“, entfuhr es Gaara noch aufgebrachter. „Abgesehen davon brauchst du dir darüber keine Sorgen zu machen. In Deutschland ist es Homosexuellen verboten Kinder zu adoptieren!“

„Zurecht!“

„Nicht zurecht, das Gesetz ist veraltet und bescheuert“, hielt Gaara dagegen. „Wenn es erlaubt wäre, würden so viel mehr Kinder eine richtige Familie haben, anstatt in Waisenheimen oder Pflegefamilien groß zu werden -“

„Ich will mit dir nicht darüber diskutieren“, ging seine Mutter ebenfalls mit erhobener Stimme dazwischen. Das entwickelte sich hier langsam zu einem wirklich heftigen Streit. Ich stand mit dem Rücken zur Wand, noch immer mit Gaaras Tasche über meiner Schulter und versuchte mich unsichtbar zu machen.
 

„Mir ist es egal, was andere Jungen machen. Dein Lukas da kann von mir aus gerne schwul sein, du kannst auch mit ihm befreundet sein, das ist mir vollkommen egal!“ Sie war aufgestanden und sie sprach nicht mehr in einem normalen Ton, sie schrie auch nicht, sie war einfach nur laut, um ihre Dominanz zu untermalen. Doch so leicht ließ sich Gaara nicht unterkriegen, das sah man ihm im wütenden Gesichtsausdruck an. Er war dazu bereits sich mit seiner Mutter richtig zu fetzen. „Aber du, Gaara, stammst aus einem ordentlichen Haushalt und wirst auch eine ordentliche Familie gründen. Ich lasse es nicht zu, dass du eine ernsthafte Beziehung zu einem anderem Mann führst! Was sollen denn die Leute denken?“

„Du willst mich ja wohl verarschen!“, rief Gaara wütend. „Aus einem ordentlichen Haushalt? Nennst du das einen ordentlichen Haushalt? Ich kenne dich und Dad nicht einmal richtig, weil ihr nie da seid. Ihr lasst mich hier alleine seit ich ein kleines Kind bin! Du hast ständig die Kindermädchen gewechselt, dass ich nicht einmal eine Beziehung zu irgendeiner Autoritätsperson aufbauen konnte -“

„Wir hatten einfach nie ein gutes Kindermädchen gefunden“, unterbrach seine Mutter ihn. „Wir haben ständig Nachrichten davon erhalten, was für einen Ärger du in der Schule machst. Dich konnte nie jemand unter Kontrolle bringen -“

„Ich habe Ärger gemacht, weil ihr mir dann Aufmerksamkeit geschenkt habt“, fuhr Gaara sie an. Ihm war anzusehen und anzuhören, dass er gerade die Belastung einer einsamen Kindheit von seiner Seele redete, Worte sagte, die ihm seit Jahren auf der Zunge lagen, Steine von sich abwarf, die ihn seit jeher hinunter drückten. Und es war ihm anzuhören, dass es ihn verletzte, er bot seiner Mutter so viel Fläche zum Angreifen. Es war genau das, was Gaara immer zu verhindern wusste, wenn es um seine Gefühle ging, doch gerade schien alles hoch zu kochen und er konnte nicht aufhalten, das alles los zu werden. Ich erinnerte mich daran, was Genesis mir gesagt hatte. Dass ich diesmal für ihn da sein müsste. Und das würde ich auch.
 

„Dann habt ihr mir mehr als fünf Minuten eurer Aufmerksamkeit geschenkt, wenn ich irgendwelche Scheiße angerichtet habe, die ihr wieder gerade biegen musstest. Auch, wenn ich dann immer von euch geschimpft bekommen habe, wenigstens wart ihr mal da, wenigstens habt ihr mich mal angeschaut und mir zugehört! Machst du dir eigentlich auch nur eine Vorstellung davon, wie einsam ich als Kind gewesen war? Und trotzdem, obwohl ihr mir das Gefühl gegeben habt, dass ihr euch nicht weiter für mich interessiert, wollt ihr mir noch vorschreiben, wie ich mein Leben zu leben habe. Ich werde nicht die Firma von Dad übernehmen und ich werde auch nicht deine bescheuerte Modefirma übernehmen, dafür interessiere ich mich überhaupt nicht. Und ich werde auch nicht eine Frau heiraten und Kinder bekommen, damit ich ihnen genau dasselbe antun kann, was ihr mir angetan habt! Ich lebe mein Leben so wie ich es will und ihr seid die Letzten, die mir dazwischen funken können!“
 

Gaaras Redeschwall wurde unterbrochen. Während er alles von sich gesprochen hatte, war seine Mutter um den Tisch herum gekommen, ein Ausdruck des Entsetzen und Überraschen auf ihren Augen, doch da war auch immer noch Wut zu erkennen. Und als sie nur einen Meter vor ihm stand, hob sie ihre Hand und verpasste Gaara eine klatschende Backpfeife. Erschrocken zuckte ich zusammen. Sofort war Gaara still. Der Schlag an sich schien ihm keine Schmerzen bereitet zu haben, zumal er davon ohnehin schon genug hatte, es zählte die Geste, die ihn in diesem Moment so sehr verletzte. Einige Sekunden der Stille traten ein, dann sagte seine Mutter mit leiser aber bebender Stimme: „Ich will, dass du deine Sachen packst und das Haus verlässt.“
 

Eine Sekunde länger schaute er sie an, dann wandte er sich ab und ging zu seinem Zimmer. Sofort folgte ich ihm, hatte einen Blick auf sein Gesicht werfen können und erkannte, dass er Tränen in den Augen hatte. Da wir in seinem Zimmer waren, schlug er die Tür hinter sich geräuschvoll zu, riss seinen Kleiderschrank auf und nahm sich die Tasche von meiner Schulter. In dieser war nicht allzu viel drin gewesen, schließlich hatte er die meiste Zeit in denselben bequemen Klamotten verbracht. Er warf die gebrauchten Klamotten achtlos in eine Ecke und begann sich Neue in die Tasche zu packen. Nervös stand ich daneben. Ja, ich hatte gesagt, dass ich für ihn da sein würde, doch was sollte ich jetzt machen? Er war schon halb mit packen fertig, bis ich realisierte, was gerade eigentlich geschehen war. Seine Mutter hatte ihn rausgeworfen, er hatte kein Dach mehr über dem Kopf.
 

„Du kannst zu mir“, sagte ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Mum würde ihn niemals vor der Tür stehen lassen und, wenn er ein vollkommen Fremder wäre, würde sie noch genug Mitleid und Besorgnis haben, um ihn vorübergehend bei sich wohnen zu lassen. „Bis deine Mutter sich wieder eingekriegt hat... oder bis sie wieder ins Ausland fährt.“

„Eher bis sie wieder ins Ausland fährt“, ertönte es von Gaara verbittert. Mit dem Handrücken wischte er sich Tränen aus den Augen. Vorsichtig machte ich einen Schritt auf ihn zu, hob die Arme mit einem mitfühlenden „Gaara“ und wollte ihn trösten umarmend, doch er schob mich sanft weg.

„Nein, sonst muss ich echt noch heulen!“ Er versuchte es mit einem Lächeln, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Meine Augenbrauen waren mitleidig zusammen gezogen und er wich meinem Blick aus, der ihm vermutlich das Gefühl gab wie ein verletztes Kind zu sein. Eigentlich war er dies auch gerade. Man konnte ihm die Enttäuschung, die er gegenüber seiner Eltern empfand, deutlich anmerken.
 

„Na gut, dann lass uns einfach abhauen...“

Das ließ sich Gaara nicht zwei Mal sagen. Schnell war seine Tasche gepackt, er nahm auch das letzte bisschen Marihuana mit, welches er in seinem Zimmer versteckte. Um hinaus zu gelangen, mussten wir erneut durch die Küche gehen, wo seine Mutter – ebenfalls mit Tränen in den Augen – am Küchentisch saß und mit ihrem I-Pad weiter arbeitete.

„Tschüss“, verabschiedete sich Gaara von ihr flüchtig, schenkte ihr nicht einmal mehr einen Blick. Erneut musste ich die Tasche tragen, damit Gaara seine Rippen nicht belastete. Wir verließen das Haus und gingen zurück zur Straßenbahn.
 

Wie zu erwarten war, war meine Mutter von Gaaras Geschichte aufgelöst. Sogar so sehr, dass sie ihn in eine kurze Umarmung schloss, welche er äußerst verwirrt über sich ergehen ließ.

„Das ist einfach furchtbar, wie können Eltern nur so zu etwas fähig sein“, sagte sie mit Entsetzen in den Augen. „Natürlich darfst du erst einmal hier bleiben. Du kannst solange hier wohnen bis du weiter weiß. Sein eigenes Kind auf die Straße setzen... und dann aus so einem Grund! Ich glaube es einfach nicht...“

Davon würde sie sich vermutlich den ganzen Tag lang nicht mehr erholen. Ich führte Gaara in mein Zimmer, in welchem er, wenn ich es mir recht überlegte, bisher nur zwei oder drei Mal gewesen war. Dort angelangt schloss ich die Tür, warf seine Tasche neben mein Bett, auf dessen Kante er sich bereits nieder gelassen hatte. Kaum, da er saß, kramte er aus seiner Hosentasche das Tütchen mit dem Marihuana aus, wollte es schon öffnen, verharrte dann jedoch in der Bewegung und blickte mich fragend an.
 

„Ist das überhaupt okay, wenn ich mir in deinem Zimmer einen Joint baue?“

„Ich weiß nicht“, sagte ich zögerlich. „An sich habe ich nichts dagegen, aber... meine Mum weiß nicht, dass ich auch mal kiffe oder überhaupt rauche und bisher hast du bei ihr einen guten Eindruck hinterlassen. Wenn sie das mitbekommt, ist der wieder weg.“

„Auf mich macht sie nen echt lockeren Eindruck“, entgegnete Gaara, verstaute das Tütchen jedoch wieder in seiner Hosentasche.

„Wir können ja ein wenig weiter weg gehen... oder warten bis Mum zur Arbeit geht, sie hat heute Nachtdienst.“

„Dann warten wir lieber. Meine Rippen töten mich, wenn ich mich noch weiter bewege.“ Dabei streckte er seinen Rücken ein wenig durch und zog scharf die Luft ein. „Gott, es könnte momentan nicht mieser laufen.“

„Doch!“, widersprach ich. „Wenn wir immer noch zerstritten wären.“

„Stimmt.“ Ein Lächeln zog sich auf seine Lippen. „Dann wäre wirklich alles scheiße... wenigstens habe ich noch dich.“
 

Er fasste mich an meinem Oberteil, zog mich neben sich aufs Bett und gab mir einen Kuss.

„Willst du nicht lieber darüber reden?“, fragte ich, als wir uns voneinander lösten. Zur Antwort schüttelte er den Kopf.

„Da gibt es nichts zu bereden, sie haben genauso reagiert wie ich es von ihnen erwartet habe.“

„Aber die Sachen, die du gesagt hast...“, sagte ich zögerlich. „All das mit der einsamen Kindheit, das kann sie nicht so einfach ignorieren. Sie hat überreagiert. Spätestens morgen wird sie anrufen und sich entschuldigen.“

Gaara schmunzelte und sein Blick war der, dem man einem Kind schenkte, das etwas simples nicht verstand.

„Nein.“ Er klang traurig als er dieses Wort aussprach. „Sie wird sich nicht entschuldigen.“

Lukas - Gemeinsam gegen den Rest der Welt Pt. 3

Im Laufe des Abends rief Gaaras Mutter nicht an. Ich hoffte inständig, dass Gaara falsch lag und er morgen eine Entschuldigung zu hören bekäme, denn diesmal hatte er wirklich keinen Fehler gemacht. Mit Mum und Alex aßen wir zu Abend und meine Schwester hätte nicht erfreuter darüber sein können, dass wir Beide ab sofort zusammen waren. Sie fragte Gaara ein wenig darüber aus, wann er gemerkt hatte, dass er bisexuell war, irgendwann unterhielten sie sich über Videospiele und Filme und hätten sich nicht besser verstehen können. Nach dem Essen ging Mum zur Arbeit, Alex wurde von einer Freundin abgeholt, womit Gaara und ich alleine zurück blieben. Das Erste, was wir machten, war ein Joint zu bauen und ihn in meinem Zimmer zu rauchen. Da das Marihuana nicht allzu stark war und ich auch nur wenige Züge nahm, wurde ich nicht high, nur ein wenig fröhlicher. Abgesehen davon stieg meine Lust mit Gaara rumzumachen immens.
 

Kaum, da er den Joint in einem Aschenbecher ausgedrückt hatte, schob ich mich auf seinen Schoß und begann ihn zu küssen. Wir saßen auf dem Boden, er mit dem Rücken gegen mein Bett gelehnt und ich auf seinen Beinen sitzend, sodass ich sein hübsches Gesicht zwischen meine Hände nehmen konnte. Unsere Zungen spielten miteinander und mein Verlangen nach mehr stieg mit jeder Sekunde. Stark fuhr Gaara mit der nicht gebrochenen Hand über meinen Oberschenkel, näherte sich dabei meinem Schritt soweit, dass mich schon alleine der Gedanke wie er mich berührte, erregte. Schließlich glitten seine kühlen Finger unter mein Shirt, begann mit Zeigefinger und Daumen eine Brustwarze zu reiben und massieren. Ich keuchte in den Kuss hinein und wollte etwas vorrücken, sodass ich mehr auf seinem Schritt saß, doch da hielt mich Gaara fest. Verwirrt löste ich den Kuss und schaute ihn an. Scharf blies er die Luft aus, die Schmerzen waren ihm anzusehen.
 

„Ich glaub mit meinen gebrochenen Rippen wird das mit dem Sex ein bisschen schwierig“, sagte er, hob dann seine bandagierte Hand und fügte hinzu: „Und damit auch.“

„Hmm“, machte ich enttäuscht. „Na gut, dann machen wir was anderes. Du brauchst dich nicht zu bewegen.“

Ich rutschte wieder etwas weiter herunter, öffnete mit schnellen Fingern seinen Gürtel und seine Hose.

„Lukas“, sagte Gaara überrascht.

„Sag mir nicht, du hast keine Lust drauf.“ Ich schenkte ihm ein freches Grinsen, so wusste ich doch ganz genau, dass er absolut nichts gegen meinen Vorschlag einzuwenden hatte. Bereitwillig ließ er sich Jeans und Unterhose herunter zu ziehen. Ich zog sein Shirt weit hoch, sodass ich erst seine Brust küssen konnte, arbeitete mich immer weiter nach unten und machte mich dann über sein bestes Stück her.
 

Als ich mit Noah geschlafen hatte, hatte er mir ein paar Tricks beigebracht, wie ich einen Mann schnell zu einem gutem Orgasmus treiben konnte und ich stellte zufrieden fest, dass diese Tricks funktionierten. Gaara war zwar nicht laut, doch seine Atmung ging extrem schnell und seine Finger krallten sich fest in meine Haare, damit ich auch ja nicht mit dem aufhörte, was ich tat. Diesmal war es auch gar nicht so schlimm, dass er sich in meinen Mund ergoss und ich das bitter schmeckende Sperma herunter schluckte. Trotzdem trank ich einiges an Wasser nach, um den Geschmack los zu bekommen, während Gaara noch ein wenig brauchte, um sich zu beruhigen. Er sah beinahe überfordert aus wie er sich wieder Unterhose und Jeans überzog und den Schweiß von der Stirn wischte.
 

„Das hab ich nicht von dir erwartet“, sagte er schließlich. „Aber... das gefällt mir.“

„Hab ich mir fast gedacht.“

„Ich meine, du gefällst mir... jetzt mit mehr Selbstbewusstsein, das ist echt toll.“

„Mir hat jemand ziemlich schmerzlich klar gemacht, dass wenig Selbstbewusstsein dazu führen kann, dass ich Leute verliere, die mir wichtig sind.“ Ich konnte nicht sagen, ob das wirklich der Grund war, wieso ich mich mittlerweile so anders verhielt als vor einem Jahr, doch vermutlich steuerte es ebenfalls zu meiner Entwicklung bei. Gaara verstand den Seitenhieb und blickte mich schuldig an.

„Tut mir Leid“, murmelte er. „Ich schätze, ich habe einfach nur viel Scheiße gebaut.“

„Vergessen wir das einfach“, winkte ich ab. „Schau mal nach, ob deine Mutter mittlerweile geschrieben hat...“

„Das glaubst du doch selbst nicht“, seufzte Gaara, nahm jedoch trotzdem sein Handy an sich und zog überrascht die Augenbrauen nach oben als er auf den Display blickte.
 

„Hat sie geschrieben?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Nein, nicht sie...“, murmelte Gaara. Mit schnellen Fingern tippte er eine SMS und schickte sie ab, dann blickte er mich nachdenklich an, die Augenbrauen nun zusammen gezogen. „Wir fahren zusammen wohin.“

„Wohin fahren wir?“, kam es von mir verwirrt.

„Zu einem Spielplatz“, antwortete mein Freund und erhob sich vom Boden. „Wir treffen uns dort mit Kaitos Freundin.“
 

Zeit für Erklärungen blieb scheinbar keine, denn wir brachen sofort auf. Unser Weg führte uns zurück in die Nähe von Gaaras Nachbarschaft, noch ein Stück weiter in die Gebiete von Wohnungen, die sich auf Otto Normalverbraucher leisten konnten und dort in Richtung des besagten Spielplatzes. Bereits von Weitem war er zu erkennen, sah meiner Meinung nach auch ein wenig unheimlich aus, woran wohl das schaurige Licht der Straßenlaternen Schuld hatte. Seit der SMS war Gaara wie ausgewechselt, seine Augenbrauen waren zusammen gezogen, die Stirn nachdenklich gerunzelt. Ich traute mich gar nicht nach zu fragen, warum wir uns mit Kaitos Freundin trafen, irgendwie hatte ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Wieso trafen wir uns nicht einfach direkt mit Kaito? Ob ihm etwas zugestoßen war und er deswegen nicht auftauchte?
 

„Gaara“, sagte ich, während wir uns dem Spielplatz näherten. „Du... ehm... musst dir nicht solche Sorgen machen, denke ich... es wird schon alles in Ordnung sein.“

„Es ist nur gerade alles auf einmal“, sagte Gaara und seufzte schwermütig. „Ich kündige meinen Nebenjob, werde zusammen geschlagen, gebe Annalina einen Korb, komme mit dir zusammen, werde von meiner Mutter rausgeworfen und, wer weiß, was jetzt noch auf uns zukommt. Und das alles innerhalb der Winterferien.“

„Und in ein paar Tagen hast du Geburtstag“, stellte ich fest und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Ja, du bist so ein Glückspilz, dass alles gleichzeitig passiert.“

„Danke für dein Mitgefühl“, murmelte Gaara sarkastisch und wir mussten Beide ein wenig lachen, wenn es auch etwas nervös klang. Unsere Sorge darüber, was uns auf dem Spielplatz erwarten wird, war zu groß.
 

Als wir den Platz betraten, fanden wir Kaitos Freundin Sky auf einer Schaukel sitzend wieder. Sanft schwang diese hin und her, ihre Füße, die ihn halbhohen, schwarzen Stiefel steckten, fuhren Kreise durch den darunter liegenden Sand. Sie trug eine helle Jeans mit kunstvollen Einrissen, darüber einen weichen Pullover und eine Lederjacke. Ihre weißblonden Haare sahen ein wenig zerzaust aus und ihr sonst so hübsches Gesicht wurde von Blässe und Augenringen geziert. Auch ohne vorher zu wissen, dass sie Drogen nahm, hätte ich eben das bei ihrem Anblick voraus sagen können. Mit dumpfen Blick schaute sie zu uns auf. Gaara setzte ich auf die zweite Schaukel neben sie und ich blieb auf ein paar Meter Abstand von den Beiden stehen. Etwas unwohl fühlte ich mich schon, denn ich hatte Sky nie kennen gelernt. Ich sah sie zum ersten Mal live, vorher hatte mir Kaito nur Bilder von ihr in der Schule gezeigt und das war auch schon eine Weile her.
 

„Weiß Kaito mal Bescheid, was passiert ist?“, erkundigte sich Gaara.

„Hm“, machte Sky, ihre Finger um krallten die Eisenketten, die die Schaukel am Gerüst hielten, ihr Blick war in den Sand gerichtet. „Ich hab versucht es ihm zu sagen, aber er ist schon seit Tagen nicht richtig ansprechbar.“

„Seit Tagen?“, wiederholte keuchend. „Aber solange hält doch die Wirkung von Drogen nicht?“

„Natürlich nicht“, sagte Sky, sie klang erschöpft und müde. „Sobald die Wirkung ein wenig nachlässt, spritzt sich Kaito was Neues.“

„Spritzt?“, sagte Gaara langsam. „Du meinst doch nicht etwa Heroin, oder?“

„Doch.“ Sky zuckte mit den Schultern. Ihre braunen Augen wirkten glasig.

„Aber... Heroin ist doch teuer, ihr könnt euch doch nicht so viel davon leisten“, wandte ich zögerlich ein. Ich wollte gerne glauben, dass Sky uns hier einen Bären aufbinden wollte, denn die Vorstellung, dass Kaito von Heroin abhängig war, war viel zu erschreckend und traurig. Doch sie machte nicht den Anschein uns verarschen zu wollen und wenn, wäre es auch ein sehr schlechter Scherz gewesen.
 

„Wir bezahlen auf Zinsen“, sagte Sky. „Wir holen uns Heroin und bezahlen ihnen dann später einen höheren Preis, so haben wir immer etwas auf Vorrat, auch, wenn wir gerade kein Geld haben. Aber... es ist zu viel. Ich habe seit Wochen nichts mehr verdient und Kaito hat auch keinen Job, deswegen...“

„Oh.“ Gaara schien ein Licht aufzugehen und auch mir wurde gerade einiges bewusst.

„Die Typen, die dich zusammen geschlagen haben, waren Drogendealer“, stellte ich an Gaara gewandt fest. „Kaito schuldet ihnen Geld, aber wie kamen sie dann auf dich?“

„Die Typen von denen ihr redet, haben Kaito kurz vor Weihnachten überfallen, weil er ihnen eben das Geld nicht zurück gezahlt hat, dabei haben sie ihm sein Handy gestohlen“, erzählte Sky und schaute mit gläsernem Blick auf. „Vielleicht haben sie eure SMS gelesen und herausgefunden, dass ihr gut befreundet seid...“

„Das erklärt auch, warum sich Kaito nicht mehr gemeldet hat“, erkannte ich. Gaara nickte zustimmend, er wirkte ein wenig wie betäubt und ich konnte es ihm nicht verübeln. Das waren ein Haufen schlechter Nachrichten.
 

„Wo ist er jetzt?“, fragte er. „Ist er bei dir Zuhause? Ich würde gerne mal versuchen mit ihm zu reden.“

„Ich sag dir, man kann nicht mit ihm reden“, sagte Sky, ihre Finger klammerten noch ein wenig mehr an der Eisenkette und ihre Stimme machte einen Bruch, als wäre sie den Tränen nahe. „Es ist alles nicht so, wie es sein sollte. Mal abgesehen davon, dass wir kein Geld für die Dealer haben und sie damit drohen Kaito umzubringen, habe ich auch gar kein Geld mehr um die Wohnung zu bezahlen und ich wurde bei meinem Modelljob gekündigt, weil ich eine miese Arbeit abliefere, seit ich wieder Drogen nehme und ich... ich war doch schon dabei gewesen von dem Scheiß runter zu kommen und Kaito auch und ich dachte, zusammen könnten wir es noch besser schaffen, aber jetzt ist alles schlimmer als es jemals gewesen war!“
 

Sie weinte und es interessierte mich nicht mehr, dass ich mit all diesen Problemen eigentlich nichts zu tun hatte und, dass ich sie heute zum ersten Mal traf, denn alles, was ich sah, war ein gebrochenes Mädchen, das mit ihrem Leben nicht mehr weiter wusste und mein Mitgefühl trieb mir ebenfalls die Tränen in die Augen. Brachte mich dazu die wenigen Schritte zu schließen und mich vorzubeugen, sodass ich sie in eine Umarmung schließen konnte. Und Sky interessierte sich ebenfalls nicht dafür, dass ich ihr vollkommen fremd war und sie vielleicht nicht einmal meinen Namen kannte, denn sie erwiderte die Umarmung, stand sogar von der Schaukel auf, damit ich sie richtig an mich drücken und sie in meine Schulter schluchzen konnte. Gaara saß daneben und schaute uns niedergeschlagen zu, schien selbst nicht zu wissen, wie er mit der Situation umgehen sollte, dass Sky so sehr am Weinen war.
 

„Ich kann das nicht alleine“, schluchzte Sky, ihr Stimme war etwas erstickt, da sie ihr Gesicht in meine Schulter presste. „Ich schaff das nicht alleine.“

„Du musst das jetzt auch nicht mehr alleine schaffen“, sagte ich, gab ihr einen Kuss in die weißblonden Haare. „Ab sofort helfen wir euch. Du musst nichts mehr alleine machen, versprochen.“

„Danke, danke, danke.“ Immer wieder flüsterte sie dieses Wort, bis es in einem Schluchzen erstickte und sie nur noch leise gegen meine Schulter weinte.
 

Es war schon lange nach Mitternacht bis wir vom Spielplatz aufbrachen. Sky hatte sich beruhigt, wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. Da keine Straßenbahnen mehr fuhren, müssten wir zu Fuß nach Hause gehen, was eine ganz schöne Strecke war, jedoch noch nicht solange wie die von Sky. Keiner von uns hatte Lust auf diese lange Fußwege, weshalb wir uns zu Gaara nach Hause machten. Je näher wir dem Haus kamen desto nervöser wurde er, was auch Sky schnell auffiel.

„Ist irgendetwas passiert?“, fragte sie.

„Naja... wie es aussieht... ist meine Mutter mit meiner homosexuellen Beziehung nicht einverstanden, weshalb sie sich dazu entschieden hat, mich auf die Straße zu setzen“, erklärte Gaara mit einem schiefen Gesichtsausdruck. „Das ist erst heute... oder eher gesagt gestern geschehen, deswegen hoffen wir, dass sie sich wieder ein kriegt.“

„Dann ist es wahrscheinlich nicht okay, wenn wir zu dir gehen“, stellte Sky fest. Scheinbar berührte sie Gaaras Geschichte nicht sonderlich, nach näherem Überlegen verwunderte mich dies auch nicht. Sie hatte Drogenprobleme und die kamen nicht von irgendwoher, wahrscheinlich lebte sie in ähnlich schlechten Familienverhältnissen wie ihr Freund, der von seiner Mutter in seiner Kindheit sogar misshandelt wurden war. Der Gedanke daran ließ in mir Mitleid und Wut aufsteigen. Wie konnte man seinem Kind nur so etwas antun...
 

„Ach egal“, winkte Gaara ab, er zückte seinen Schlüssel, steckte ihn ins Schloss. „Sie kann mich nicht davon abhalten hierher zu kommen, schließlich wohne ich hier mehr als sie.“

Und damit betraten wir das Haus. Leise schlichen wir uns in sein Zimmer, zogen dort Schuhe und Jacke aus. Gerade wollte ich behutsam die Tür hinter mir schließen, da legte Gaara eine Hand auf die Türklinke, gleich über meine, sodass sich unsere Haut berührte. Es entfachte eine heiße Gänsehaut. Wie gerne wäre ich jetzt mit ihm alleine... doch wir konnten Sky schlecht rausschmeißen. Die Arme hatte genug durchgemacht.

„Warte noch“, sagte Gaara leise. „Ich brauche dringend ne Schmerztablette, die sind in meinem Badezimmer...“

Er brauchte nicht lange bis er mit der besagten Tablette zurück nahm, schluckte sie sofort, während Sky das Fenster sperrangelweit öffnete und die eiskalte Luft herein ließ.

„Ist es okay, wenn ich eine rauche?“, fragte sie. Sogleich nickte Gaara. Sie hockte sich auf das Fensterbrett, rauchte nachdenklich eine selbst gedrehte Zigarette, während ich es mir auf Gaaras Bett bequem machte.
 

„Ich würde vieles für nen Joint geben“, stöhnte dieser, als er sich neben mir nieder ließ. Dabei bewegte er sich sehr langsam, scheinbar machten ihm die Rippen wieder zu schaffen.

„Ich hab Gras dabei“, sagte Sky. „Wenn ihr wollt, können wir nen Joint rauchen.“

Diese Nacht verbrachten wir mit kiffen und reden, arbeiteten einen genauen Plan aus, wie wir Sky und vor allen Dingen Kaito, der von alle dem noch nichts wusste, aus ihren derzeitigen Problemen retteten.

Gaara - Rettungsfront Pt. 1

„Hiermit eröffne ich unser wöchentliches Treffen der anonymen Alkoholiker. Wer möchte diesmal anfangen? Gaara, wie wäre es mit dir?“ Marc hatte seine Hände zu einem Tipi gefaltet und blickte mich mit einem todernsten Gesichtsausdruck an, während alle anderen um ihn herum hinter hervor gehaltener Hand lachten. Nur Samantha beherrschte sich. Nachdem ein kurzes Schmunzeln über ihre Lippen gezuckt war, verpasste sie dem jungen Mann einen Boxer gegen seine tätowierte Schulter. Theatralisch hielt er sich die getroffene Stelle.

„Auf diese Weise drücken wir unsere Aggressionen nicht aus, Sam. Hast du etwa wieder getrunken? Jedes Mal knickst du aufs Neue ein, ich bin sehr enttäuscht von dir.“

„Jetzt halt doch mal die Klappe“, seufzte Sam genervt, wandte sich dann mit einem ernsteren Gesichtsausdruck der versammelten Mannschaft zu. „Wir haben keine Zeit zum Herumalbern, die Situation ist Ernst.“
 

Sogleich verblassten die Schmunzeln auf den Gesichtern der Anderen und die gedrückte Stimmung, die auch in meinem Herzen herrschte, legte sich wie ein Schleier über den Raum. Versammelt waren wir bei Noah, welcher erst von diesem Treffen erfuhr, als wir bereits alle Mann vor seiner Haustür standen und penetrant klingelten. Geschlafen hatten Lukas, Sky und ich im Grunde gar nicht, da wir uns früh am Morgen aus dem Haus schlichen um eine Konfrontation mit meiner Mutter zu verhindern. Dies war auch erfolgreich gewesen, gemeldet hatte sie sich bisher auch noch nicht. Als es hieß, dass Kaito dringend Hilfe bräuchte, hat niemand zwei Mal überlegt und war sofort hergekommen. Und hier saßen wir also... Lukas und Sky rechts und links neben mir, ich konnte mich nicht entscheiden, wer von den Beiden müder aussah. Sky rauchte ihre fünfte Zigarette seit wir angekommen waren und ihre zierlichen Finger waren am Zittern. Vermutlich bekam sie bereits Entzugserscheinungen.
 

Marc hatte sich in der Mitte des Raumes niedergelassen, nicht unweit von Sam und Hannah entfernt, die nebeneinander gegen die Couch gelehnt saßen. Während Sam sehr ernst und entschlossen wirkte, stand dem anderen Mädchen Besorgnis und Mitleid ins Gesicht geschrieben. Solche Aktionen waren eigentlich nichts für ihre emotionale Ader und ich sah bereits voraus, dass sie irgendwann im Laufe unserer Rettungsaktion anfangen würde zu heulen. Noah saß hinter den beiden Mädchen auf der Couch, gekleidet in bequemen Klamotten und mit noch immer recht verwirrtem Gesichtsausdruck darüber, dass plötzlich all seine Freunde vor der Tür gestanden hatten.
 

Zu guter Letzt hatte es sogar Schifti gepackt sich dem Trupp anzuschließen. Obgleich draußen der Schnee fiel, hatte er eine Sonnenbrille auf der flachen Nase sitzen, eine dicke Wollmütze verdeckte seine rappelkurzen Haare. Wie immer sah er ein wenig aus als wäre er von einem anderen Stern angereist, nur mit dem gravierenden Unterschied, dass ich ihn vermutlich zum ersten Mal in meinem Leben ernst sah. Sonst nahm er alles locker, selbst als ich zusammengeschlagen ins Krankenhaus musste, hatte er noch über mich lachen können. Doch diesmal war selbst ihm der Ernst der Lage bewusst.
 

„Noch mal zusammenfassend: Was genau sind die Probleme?“, fragte er an Sky, Lukas und mich gewandt. Als Sky nicht das Wort ergriff, sondern mit zitternder Unterlippe auf ihre Zigarette starrte, als könnte diese die Antworten enthalten, übernahm ich für sie das Sprechen.

„Zuerst einmal schulden sie ein paar Drogendealern zweihundert Euro.“

Das sorgte schon einmal für ein allgemeines Luft schnappen und genervtes Aufstöhnen.

„Dann müssen sie die Miete von zwei Monaten zusammen kratzen. Beide brauchen einen ernsthaften Entzug und Beide brauchen irgendeinen Job.“

„Wenn sie einen Entzug machen, sind sie ohnehin arbeitsunfähig“, stellte Sam fest.

„Und sie bekommen von der Einrichtung geholfen in ein normales Leben zurück zu finden“, fügte Hannah hinzu. „Am Besten sind bei so etwas private Einrichtungen, aber...“

„...treib dafür mal die Kohle auf“, sagte Sky leise.

„Was ist mit euren Eltern?“, fragte Schifti, wie immer höchst unsensibel. „Ich meine, bei Kaito weiß ich ja, dass seine Mutter selbst ne drogenabhängige Schlampe ist. Aber können deine Eltern nicht irgendwie helfen?“

„Nein“, war alles, was Sky darauf antwortete. Eine nähere Erklärung gab sie nicht und vermutlich wollte die auch niemand hören. Man geriet nicht ohne Grund in solche Probleme. Dahinter lag sehr wahrscheinlich eine traurige Kindheit und ich wusste nicht, ob ich momentan noch mehr von solchen Geschichten aushielt.
 

„Also wird es eine öffentliche Einrichtung“, erkannte Noah. „Ihr müsst ja nicht zwangsläufig in eine richtige Entzugsklinik. Es gibt auch psychologische Einrichtungen, die einen Entzug zusätzlich anbieten. Vielleicht wäre das sogar geeigneter für euch. Ich kenne mich da ganz gut aus. Wenn du willst, suche ich euch was raus.“

„Danke“, sagte Sky leise. Ihre Stimme war kaum vernehmbar, nur ein Hauchen.

„Okay, also die Finanzen“, ergriff Marc das nächste Problem. „Also... ich habe das so ne Idee für ein neues Tattoo, das ich gerne auf mein Schulterblatt haben wollte. Zeichne mir das doch, Sky, dann verdienst du eigenes Geld im Studio.“

„Das ist echt lieb“, sagte das Mädchen und schaute mit trübem Blick auf. „Aber auch, wenn es ein aufwendiges Tattoo ist, werde ich nicht genug Geld bekommen, um alle Schulden zu begleichen.“

„Ich bezahle euch alles.“ Diese Entscheidung hatte ich bereits getroffen als wir Sky gestern Nacht getroffen hatten. Ehe sie den Mund aufmachen und in Proteste verfallen konnte, fügte ich hinzu: „Natürlich will ich das Geld von euch wieder haben. Aber damit könnt ihr euch so viel Zeit lassen, wie ihr braucht. Ich werde euch nicht aus irgendeiner Wohnung raus werfen oder ein paar Typen los schicken, damit sie eure besten Freu–“
 

Der verdammt schmerzhafte Seitenhieb von Lukas in meine noch nicht verheilten Rippen kam eindeutig zu spät. Während ich mich unter einem kurzen Aufschrei zusammen krümmte und sogleich begann sich hundert Mal zu entschuldigen, weil er nicht mehr an meine gebrochenen Knochen gedacht hatte, fegte ein lauter Aufruhr über die Anderen hinweg.

„Was wolltest du gerade sagen?“, entfuhr es Sam und sie richtete sich etwas auf. „Ein paar Typen los schicken, um was mit ihren besten Freunden zu machen?“

„Sie verprügeln?“, stellte Hannah die richtige Theorie auf.

„Warte, die Typen, denen Kaito Geld schuldet?“, fragte Marc.

„Die haben dich zusammen geschlagen?“, kam es von Noah keuchend und Schifti blieb nichts mehr übrig als ein dumpfes: „Oh scheiße.“

„Warum hast du das nicht erzählt?“, wollte Sam säuerlich wissen.
 

Dank Lukas' Seitenhieb konnte ich die ersten paar Sekunden nur nach Luft schnappen, wobei jeder Atemzug in meinem Brustkorb schmerzte. Klagend krümmte ich mich noch ein wenig weiter zusammen. Lukas sah aus als würde er jeden Augenblick anfangen zu heulen.

„Tut mir so Leid, es tut mir so Leid, bitte verzeih mir, ich hab nicht dran gedacht. Geht es dir gut? Brauchst du was? Habe ich dir die Rippen wieder gebrochen?“

„Nein“, brachte ich keuchend hervor. „Lass mich nur – atmen.“

„Ja“, antwortete Sky für mich an die Anderen gewandt. Sie erzählte ihnen alles, was sie uns in der Nacht erzählt hatte, danach herrschte für wenige Augenblicke ein angespanntes Schweigen. Schließlich wollte Sam erneut wissen, warum ich nichts davon erzählt hatte und ich antwortete murmelnd: „Weil ich der Polizei nichts davon erzählt habe und ich wusste, ihr würdet das nicht gut finden.“

„Du hast der Polizei nicht Bescheid gesagt?“, wiederholte Noah.

„Dann werden sie die Typen nicht einsperren. Sky weiß doch anscheinend, wer sie sind, also wieso geht ihr nicht zusammen zur Polizei“, schlug Sam vor.

„Weil die Gefahr besteht, dass Kaito und Sky für den Drogenmissbrauch eingebuchtet werden“, sagte ich grummelnd. „Nein, das Thema ist bereits abgeschlossen. Ich werde auch die Schulden bezahlen, ihr bezahlt mir dann das Geld nach. Unser größtes Problem ist momentan, dass wir Kaito dazu bringen müssen, dass er bei dieser ganzen Aktion mitmacht. Denkst du, er würde -?“
 

Ich brauchte meine Frage nicht auszusprechen, denn Sky war bereits heftig am Nicken. Ihre Augen waren beinahe auf Tellergröße geweitet.

„Ja, würde er. Er braucht Hilfe und das weiß er auch, deswegen lässt er auch nicht zu, dass er nüchtern wird. Weil ihm dann wieder bewusst wird, wie viel Mist er gebaut hat und, dass alles schief läuft.“

„Dann fahren wir am Besten noch heute zu ihm“, sagte Marc und schaute fragend in die Runde. Von allen Seiten ertönte zustimmendes Gemurmel. Deutlich war zu spüren, dass niemand erpicht darauf war, zu sehen, wie Kaito sich verändert hatte. Welche Zeichen der Drogenmissbrauch auf ihm hinterlassen hatte, wie kaputt er sein musste. Alleine Skys Erzählungen reichten, doch, wenn wir ihm helfen wollten, blieb uns nichts anderes übrig, als zu ihm zu fahren.
 

„Gut, ich fahre mit Sky hin, wer kommt mit?“, fragte ich und blickte auf.

„Ich kümmere mich sofort um die psychologische Einrichtung“, sagte Noah. „Abgesehen davon, kann ich das glaube ich nicht... ich kann mir nicht anschauen, wie schlimm es Kaito gehen muss. Dafür bin ich nicht gemacht. Wahrscheinlich würde ich nur daneben stehen und weinen.“

„Geht mir auch so“, meldete sich Hannah piepsend zu Wort. „Nach Möglichkeit würde ich gerne hier bleiben.“

„Ich auch“, murmelte Lukas kaum hörbar neben mir.

„Am Besten fahren Marc und Gaara“, ergriff Schifti das Wort. „Und ich werde mich mal mit den Typen auseinander setzen, denen Kaito Geld schuldet. In der Szene kenne ich mich ja ganz gut aus. Du musst mir ihre Namen nennen, Sky, dann suche ich sie und mache mit ihnen einen Termin aus, wann sie das Geld bekommen. Ich kann ihnen auch das Geld geben...“ Damit blickte er mich an. „Falls dir das lieber ist, sie nicht noch mal zu treffen.“

„Das wäre mir wirklich lieber“, gestand ich.

„Und wir bleiben hier?“, fragte Sam und deutete damit auf Hannah, Noah und Lukas.

„Jup.“

„Was sollen wir überhaupt mit Kaito machen, wenn wir da sind?“, fragte Marc. „Wir können ihn nicht einfach dort lassen...“

„Bringt ihn her“, antwortete Noah. Er wandte sich an Sky und sagte freundlich: „Ihr könnt hier schlafen, wenn ihr wollt. Wenn ich meine Kontakte spielen lasse, könnt ihr schon nächste in der Anstalt sein.“

„Danke...“
 

Mit einem Kuss verabschiedete ich mich von Lukas und kaum, da wir das Haus verlassen hatten, spürte ich den wissenden Blick von Marc in meinem Nacken. Als wir in der Straßenbahn saßen, sah ich dann auch noch seinen Gesichtsausdruck und seufzte genervt.

„Was ist?“

„Nichts, nichts“, winkte er ab. „Nur, dass du und Lukas wieder zusammen seid... hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass Larissa und ich es zusammen versuchen wollen?“

„Ein Paar zu sein?“, fragte ich überrascht, gleich darauf schlich sich ein breites Grinsen des Triumphs auf meine Lippen. „Annalina und ich haben es geschafft.“

„Habt ihr uns etwa miteinander verkuppelt? Davon habe ich nichts gemerkt.“

„Klar, wir haben euch voll miteinander verkuppelt!“

„Was ist eigentlich mit ihr?“

„Frag nicht.“ Damit war meine kurzweilige Freude wieder wie weggeblasen. Mit dem Gedanken an sie, kam auch wieder der Gedanke an mein vollkommen katastrophales Outing, das in einem Rausschmiss geendet hatte. Darüber wussten meine Freunde auch noch nicht Bescheid. Es war wirklich zu viel in zu kurzer Zeit geschehen.
 

Während der Fahrt schwieg Sky bloß, ihre Hände zitterten immer stärker und sie schien mit jeder Minute blasser zu werden. Von allen Drogen, die die Beiden hätten konsumieren können, musste es ausgerechnet Heroin sein. Die Droge, von der man sagte, dass man niemals komplett clean werden konnte, dass man immer das Gefühl haben wird sie in seinem Leben zu brauchen. Vielleicht war es nur ein schwacher Trost, doch manche behaupteten Chrystal Meth wäre schlimmer. Zum Glück war es alles andere als einfach an diese Droge in Deutschland ran zu kommen, mal abgesehen davon, dass das Zeug vermutlich am Teuersten von allen Drogen war. Soweit ich wusste. In der Szene kannte ich mich nur aus, wenn es um Marihuana und Hasch ging.
 

Nach einer etwas längeren Fahrt kamen wir bei der richtigen Haltestelle an, stiegen aus und gingen zu Skys Wohnung. Als wir vor der Tür standen, pochte mein Herz vor Nervosität heftig in meiner Brust und ich zitterte beinahe ebenso schlimm wie Sky, die kaum den Schlüssel ins Schloss stecken konnte. Als sie einige Sekunden lang damit zu kämpfen hatte, die Tür zu öffnen, nahm Marc ihr sanft den Schlüssel ab und machte es selbst. Bisher war ich nur einmal bei Sky gewesen. Als Sam und ich versucht hatten Kaito davon zu überzeugen die Schule nicht abzubrechen. Damals waren wir nicht in die Wohnung hinein gegangen, doch ich konnte mir beinahe sicher sein, dass sie da noch nicht so schlimm ausgesehen hatte wie jetzt. Alle Rollläden waren unten und ein strenger Geruch von Marihuana und Zigaretten hing in der Luft. Mir wurde beinahe sofort schwindelig, woran aber auch der Schlafmangel und die Schmerztabletten Schuld sein könnten, die ich mir ständig einwarf. Meine Rippen taten immer noch weh, eigentlich sollte ich den ganzen Tag lang im Bett liegen und mich ausruhen. Das hatte mir der Arzt verschrieben, doch unter den momentanen Umständen war mir das kaum möglich. Meine Rippen dankten es mir und danken konnte ich noch zusätzlich Lukas. Böse konnte ich ihm dafür jedoch nicht sein, seine Entschuldigungen gleich darauf waren einfach zu niedlich gewesen...
 

„Schatz?“, rief Sky vorsichtig durch die Wohnung. Keine Antwort. Zu uns gewandt sagte sie: „Wahrscheinlich ist er im Schlafzimmer.“

Wie seine Mutter, schoss es mir unweigerlich durch den Kopf. Sie hatte auch immer zugedröhnt im Schlafzimmer gelegen, wenn Kaito sie nicht direkt gefunden hatte. Diese Erkenntnis schnürte meinen Hals noch ein wenig mehr zu. Ich traute mich kaum mir einen Weg durch den zugemüllten Boden zu bahnen. Sky blieb an der Tür stehen, die sie leise hinter sich schloss. Sie sank gegen das Holz gelehnt zu Boden und begann leise zu weinen. Kurz wechselten Marc und ich Blicke, einer dieser Momente in denen wir uns nicht unterhalten mussten, um zu wissen, was der jeweils andere denkt. Etwas verzog Marc den Mund. Er war kein Held darin Leute zu trösten, schon gar nicht Mädchen mit denen man immer etwas sanfter umgehen sollte als mit Kerlen, doch er ging trotzdem zurück, um sich neben Sky nieder zu lassen.
 

Mein Weg führte mich weiter gerade aus zu dem Raum, den ich für das Schlafzimmer hielt. Skys Wohnung war nicht sehr groß, weshalb es trotz der Dunkelheit einfach war sich zurecht zu finden. Vorsichtig schob ich die Tür auf und stellte fest, dass es sich tatsächlich um das Schlafzimmer handelte. Leise war der Fernseher am Laufen, der ein schlechtes Bild zeigte und irgendeine Show, von der ich mir ziemlich sicher war, dass Kaito sie niemals schauen würde. Er lag im Bett, nicht zugedeckt, und war mehr oder weniger am Schlafen. Seine Augenlider zitterten, sein Mund stand leicht offen und er war erschreckend blass und dünn geworden. Um dies zu untermalen, waren auch noch seine Haare bis auf ein Minimum rasiert. Im trüben Licht wirkte sein Gesicht beinahe wie das eines Skeletts.
 

Ein schwerer Stein schien sich auf mein Herz zu legen und es nieder zu pressen, die Luft blieb mir in der Kehle hängen und dieses erdrückende Gefühl wurde nur noch schlimmer als mein Blick auf Kaitos rechten Arm fiel, welchen er von sich ausstreckte. Im Bereich der Armkuhle waren zahlreiche blaue Flecken und Einstiche zu erkennen. Gequält schloss ich meine Augen. In meinem Schädel pochte es ebenso heftig wie in meiner Brust, meine Rippen schienen noch mehr zu schmerzen. Warum hatte ich ihm nicht früher geholfen? Ihn einfach gezwungen einen Entzug zu machen? Hatte ich mich so in Selbstmitleid über die Trennung mit Lukas verloren? Ich fühlte mich wie der mieseste Mensch auf Erden. Langsam öffnete ich die Augen wieder, kniete mich neben Kaito auf das Bett und rüttelte an ihm.
 

„Hey, Kaito, wach auf. Wach auf!“

Heftig schüttelte ich ihn durch, bis er endlich reagierte, doch es war nicht mehr als ein Grummeln. Lahm schob er meine Hände davon, öffnete nicht einmal die Augen, um mich anzuschauen.

„Schau mich an!“

Ich packte ihn an seinem Shirt und zog ihn nach oben. Er war schwer, aber nicht so schwer wie er es früher einmal gewesen war. Angestrengt hielt ich ihn aufrecht, für einen Moment baumelte sein Kopf noch wie das eines Bewusstlosen, dann fasste er sich endlich und seine Augenlider öffneten sich schwerfällig. Erschöpft blickte er mich an.

„Gaara?“, fragte er verwirrt.

„Ja, ich bin es. Sky kam zu mir und hat mich darum gebeten euch zu helfen. Wir wollen euch alle helfen. Marc, Noah, Sam, Hannah, Lukas...“

„Es tut mir Leid.“ Von einem Schlag auf den Anderen liefen Kaito die Tränen über die Wangen. Sein verzerrtes Gesicht machte seinen Anblick nur noch deprimierender und ich spürte wie es mir selbst die Messer ins Herz trieb. „Es tut mir so Leid. Ihr hattet Recht. Du und Sam, ihr hattet so Recht. Ich bin viel zu schwach.“

„Jetzt helfen wir euch, ab jetzt wird es besser. Wir kümmern uns um das Geld und alles den Scheiß -“

„Wegen mir wurdest du verletzt. Es tut mir Leid.“

„Es ist okay, Kaito, du brauchst nicht -“

„Ich hasse mich so sehr.“

„Hör auf so zu reden, bitte -“ Es war vergeblich mit ihm zu reden, er hörte mir nicht einmal zu. In dem Moment in dem er mich erkannt hatte, waren all seine Gefühle hochgekommen und nun ließ er sie heraus, ohne weiter auf mich zu achten. Erneut unterbrach er meinen Versuch mit ihm zu kommunizieren, in dem er schluchzend sagte: „Ich schaff mein Leben nicht ohne dich.“

Damit hatte er mich ebenfalls fertig gemacht. Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte, sondern nahm ihn fest in den Arm, drückte ihn an mich, obwohl das noch mehr Schmerzen in meinen Rippen verursachte und ließ ihn solange nicht mehr los bis das Heroin ihn erneut in die Bewusstlosigkeit riss.

Gaara - Rettungsfront Pt. 2

„Das sieht doch alles schon viel besser aus. Hier bekommst du noch mal ein paar Schmerztabletten verschrieben. Du kannst dir vorne ein Maoam holen, bis dann!“

Ich musste mir auf die Unterlippe beißen, um mir einen Kommentar zu verkneifen. Sah ich aus wie sechs oder warum sprach dieser Bastard von Arzt so mit mir? Zumindest hatte er bisher ordentliche Arbeit geleistet und meine Rippe taten kaum noch weh. Wenn nun auch noch mein Handgelenk komplett verheilte, würde ich wieder normal aussehen. Von den blauen Flecken waren nur noch leichte Gelbschimmer übrig, die Schiftis Meinung nach, sogar noch witziger aussahen. Mit Kaito und Sky sollte es absofort auch wieder bergauf gehen, schließlich würden sie heute in den Entzug gehen. Noah hatte ihnen mit Vitamin B zwei gute Einrichtungen heraus gesucht, die sich am Rande von Berlin befanden. Ein gutes Stück von uns allen entfernt. Bisher konnte noch niemand sagen wie lange sie dort bleiben mussten. Die Idee, dass sie getrennt voneinander einen Entzug machten, kam von Kaito und Sky selbst. Wir waren alle der Meinung, dass es das Beste wäre, sonst würden sie sich nur gegenseitig wieder in die Scheiße reinziehen.
 

Vor ein paar Tagen war Mum wieder abgereist. Wir hatten nur noch einmal am Telefon miteinander gesprochen, sie meinte, dass ich noch zu jung wäre, um zu wissen mit wem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, also duldete sie die Beziehung zwischen Lukas und mir. Sie war sich sicher, dass es nicht ewig halten würde und ich früher oder später 'zur Vernunft käme'. Somit war alles wieder beim Alten. Meine Eltern verstanden und kannten mich nicht, ich wohnte wieder Zuhause und die letzten Tage hatte Kaito bei mir verbracht. Es war bedrückend gewesen, denn er hatte diese Zeit ausgenutzt, um die letzten Reste Heroin zu verbrauchen. Zuzuschauen wie er sich selbst dieses Zeug spritzte, wie er damit umging, als würde er es bereits seit Jahren machen... am liebsten hätte ich ihm alles abgenommen und weggeworfen, doch das hätte ihm in diesem Moment auch nicht geholfen. Ab heute würde sich alles ändern. Ab hier konnte es nur noch besser werden.
 

Im Wartezimmer hatte Kaito seine Zeit damit totgeschlagen ein Blickduell mit einem Fünfjährigen auszuführen, welches nur von diesem gewonnen wurde, weil ich meinem besten Freund einen kräftigen Schlag gegen den Hinterkopf verpasste.

„Au, Mann!“

„HA!“ Ein triumphales Grinsen bildete sich auf dem Gesicht des Kleinkindes.

„Wir können gehen“, sagte ich, während Kaito aufstand. „Wenn wir uns nicht beeilen, kommst du noch zu spät an.“

„Hmm.“
 

Er sah immer noch so fertig aus. Tiefe Augenringe zierten sein Gesicht, seine Pupillen waren geweitet, seine Haut viel zu blass und er selbst hatte extrem abgenommen. Obwohl ich ihn seit mehreren Tagen nun schon so sah, konnte ich mich nicht daran gewöhnen. Es erschreckte mich einfach jedes Mal aufs Neue. Gemeinsam verließen wir das Krankenhaus, fuhren noch einmal zurück zu mir, damit er seine Sachen holen konnte. Abgeholt wurde er von seiner Halbschwester mit welcher er schon seit über einem halben Jahr keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Gestern hatte er sie dann angerufen und ihr erzählt, was alles vorgefallen war und sie hatte ihm angeboten ihn zur Einrichtung zu fahren.
 

„Soll ich noch mitkommen?“, fragte ich, als wir vor meiner Haustür saßen und unseren vielleicht letzten gemeinsamen Joint rauchten.

„Brauchst du nicht... gleich ist 17 Uhr, dann hat Lukas Schule aus und du willst sicher den Abend mit ihm verbringen.“

„Ich kann dich am Wochenende besuchen kommen.“

„Nein“, sagte Kaito entschieden. „Gib mir erst mal Zeit für mich selbst. Ich glaube, das ist etwas, was ich alleine schaffen muss. Wenn ich mich dazu bereit fühle, schreibe ich euch. Irgendwann darf ich dann auch über das Wochenende zu euch fahren, bis dahin dauert es aber noch.“

„Dann schreib mir wenigstens, wie es dir ergeht.“

„Das kann ich machen.“
 

Langsam fuhr das kleine Auto von seiner Schwester vor. Kaito nahm einen letzten Zug, gab mir dann den Joint zurück und genoss den Geschmack und das Gefühl noch einmal ausgiebig. Als er den Rauch ausblies, stand er auf und wir tauschten einen Handschlag.

„Du schaffst das“, gab ich ihm halbwegs motivierend mit auf den Weg.

„Mal sehen.“

Damit stieg er ins Auto ein und keine Minute später waren die Beiden außer Sichtweite. Ich zertrat den Joint auf dem Boden und blieb noch eine Weile sitzen. Kühl riss der Wind an meinen Klamotten, hier und da hatte sich Eis auf dem Boden gebildet, die Kälte kroch mir unter die Haut und ließ mich stark zittern. Ich umschlang mich selbst, ließ meinen Blick in den Himmel schweifen und sang leise: „Happy Birthday to me... happy Birthday to me...“

Ein schweres Seufzen ging über meine Lippen. So hatte ich mir meinen 19. Geburtstag sicherlich nicht vorgestellt. Als I-Tüpfelchen hatten meine Eltern sich noch nicht die Mühe gemacht mich anzurufen oder mir wenigstens eine SMS zu schreiben. Eigentlich sollte es mich nicht wundern. Mit meinem Coming Out hatte ich vermutlich auch das letzte bisschen Hoffnung, das sie für mich hatten, zerstört, nun dürften sie nur noch enttäuscht von mir sein. Ich verlor mich komplett in meinen Gedanken, wurde erst wieder aus ihnen gerissen, als Schifti und Lukas schlagartig vor mir standen. Erschrocken zuckte ich zusammen.
 

„Ups, haben wir dich erschreckt?“, fragte Schifti belustigt.

„Gaara“, seufzte Lukas gestresst. „Sag ihm mal, dass er die Schule nicht abbrechen soll.“

„Du willst die Schule abbrechen?“, wandte ich mich betrübt an Schifti. „Warum das denn?“

„Seien wir ehrlich, ich schaffe das niemals“, sagte er und stemmte die Hände in die Hüften. Ausnahmsweise trug er mal keine Sonnenbrille. „Und, sollte ich es entgegen aller Erwartungen doch schaffen, das Abitur zu bekommen, wird mein Notendurchschnitt absolut unterirdisch sein. Ne, danke. Ich habe andere Pläne. Bis zum September wird erst mal hart gechillt, dann mache ich ein Auslandsjahr und danach bekomme ich ne Lehrstelle bei nem Freund von meinem Vater. Ich habe schon für alles gesorgt.“

„Aber die letzten anderthalb Jahre Schule waren umsonst, wenn du jetzt aufhörst“, wandte Lukas ein. „Du kannst doch auch die zwölfte Klasse noch zu Ende machen, dann machst du ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Ein-Jahres-Praktikum und hast danach dein Fach-Abi. Dann war die Oberstufe nicht ganz umsonst gewesen.“

„Ich hab mich schon entschieden.“

„Aber -“

„Hör auf mir dazwischen zu reden. Gaara, sag deiner Freundin sie soll aufhören mich zu nerven.“

„Freundin?“, empörte sich Lukas, als wenn es eine Beleidigung wäre.

„In eurer Beziehung bist doch definitiv du die Frau!“, sagte Schifti.

„Es gibt keine Frau in unserer Beziehung“, erwiderte Lukas genervt. „Wir sind beide Kerle, Ende.“

„In jeder Schwulenbeziehung gibt es eine Frau.“

„Das stimmt doch gar nicht!“

„Leute...“, stöhnte ich genervt und die Beiden hörten endlich auf miteinander zu diskutieren. „Schifti, warum bist du überhaupt hier?“

„Wegen dem Geld, Bruder.“

„Ach ja...“
 

Ich erhob mich, öffnete die Haustüre und bat die Zwei herein. Sogleich machte es sich Lukas im Wohnzimmer bequem, während Schifti an der Tür wartete, bis ich ihm das Geld brachte. 243 Euro in Bar. Tatsächlich hatten diese Drogendealer die Unverschämtheit gehabt den Preis noch einmal zu erhöhen, sie konnten froh sein, dass ich sie nicht wegen Körperverletzung anzeigte. Alle Scheine steckten in einem Briefumschlag, den ich nun Schifti überreichte. Gerade als er die Tür öffnen und hinausgehen wollte, kam mir ein unguter Gedanke.

„Was, wenn sie uns ab sofort erpressen?“, sprach ich ihn aus. Schifti wandte sich mit gehobenen Augenbrauen um. „Wenn sie ab sofort immer Geld verlangen und drohen irgendwen von uns zu verprügeln, wenn wir es nicht geben.“

„Keine Sorge“, winkte Schifti ab. „Solange man ihnen nichts schuldet, sind die Typen einigermaßen umgänglich. Abgesehen davon kümmere ich mich jetzt darum und mit mir verstehen sie sich gut. Ich habe auch schon früher immer mal wieder Drogen bei ihnen gekauft. Die sollten uns keinen Ärger mehr machen.“

„Wenn du es sagst“, seufzte ich. Hoffentlich hatte er Recht.
 

Damit verabschiedete sich Schifti und verließ das Haus. Ich schloss die Tür hinter ihm und kehrte schlurfend zurück ins Wohnzimmer, ließ mich auf die Couch fallen, sodass mein Kopf in Lukas' Schoß lag und seufzte gestresst auf.

„Dir geht es wohl nicht so gut“, stellte Lukas nuschelnd fest und begann mit einer Hand durch meine braunen Haare zu streicheln. Langsam schloss ich die Augen und genoss die Berührungen. „Was hat der Arzt gesagt?“

„Hm, ich habe noch mal Schmerzmittel bekommen, aber alles ist in Ordnung. Es tut kaum noch weh und sollte bald verheilt sein... ne, mir geht es nicht gut wegen Kaito. Ich hätte... ich hätte viel früher für ihn da sein sollen.“

„Es ist zu spät sich solche Gedanken zu machen“, sagte Lukas. Ich öffnete meine Lider und blickte ihn an, mit dem Daumen fuhr er leichte Kreise über meine Stirn. Mein Blick fixierte seine vollen Lippen, die in mir jedes Mal aufs Neue das Verlangen ihn zu küssen hervorriefen. „Jetzt ist er in einem Entzug. Wir sollten nach vorne schauen und uns keine Gedanken darüber machen, was hätte sein können.“

„Seit wann gibst du denn Ratschläge?“, fragte ich mit einem Lächeln.
 

Zu gut erinnerte ich mich daran wie er in eben diesem Wohnzimmer am ersten Todestag seines Vaters einen Nervenzusammenbruch hatte und ich ihn selbst mit Worten trösten musste. Etwas, was nicht gerade zu meiner Spezialität gehörte, doch überraschenderweise hatte es gut funktioniert. Lukas wurde ein wenig rot auf den Wangen, was mich zum Lachen brachte.

„Ich wollte dir nur helfen“, nuschelte er betroffen.

„Tust du ja auch...“ Ich richtete mich auf, legte eine Hand auf seine Wange und küsste ihn. Schnell verfielen wir in Zungenküsse, ich schob mich auf seinen Schoß, mit dem Gesicht zu ihm gewandt, sodass ich ihn besser küssen und berühren konnte. Nun, da meine Rippen und mein Handgelenk nicht mehr so sehr schmerzten und all die Probleme mit Kaito und Sky vorerst bewältigt waren, hatten wir endlich Zeit richtig miteinander zu schlafen.
 

Bald merkten wir, dass wir auf der Couch nicht genügend Platz hatten, weshalb wir unser Spiel auf dem Boden vor dem Fernseher fortsetzten. Draußen hatte es angefangen zu regnen und die Tropfen prasselten wie aus Eimern herunter. Lukas lag mit dem Rücken auf dem Boden, ich halb auf ihm und halb neben ihm, sodass ich ihn küssen und gleichzeitig mit einer Hand unter sein Oberteil fahren konnte. Ein wenig rieb ich seine Brustwarze, spürte wie sie zwischen meinen Fingern hart wurde, dann glitt ich mit der Hand über seinen Bauch, griff in seinen Schritt. Jeans und Unterhose waren noch dazwischen, doch ich begann trotzdem meine Finger etwas kräftiger zu bewegen, leicht massieren... Lukas keuchte und atmete etwas schneller. Ich gab ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen, dann zog ich sein Shirt ganz hoch und begann mit meiner Zunge seine Brustwarze zu um spielen. Gleichzeitig fuhr ich mit der Hand unter seine Jeans und Unterhose, begann sein Glied zu reiben, konnte spüren wie es hart wurde. Lukas' heißer und schneller Atem brachte mir Erregung. Ich konnte es kaum abwarten mit ihm zu schlafen.
 

Es klingelte.

Um Himmels Willen, welcher Vollspast dachte sich, es wäre ausgerechnet jetzt eine gute Idee bei mir zu klingeln?!

„Ich glaub's nicht“, stöhnte ich genervt.

„Ignorieren“, forderte Lukas, der es scheinbar kaum erwarten konnte. Erneut klingelte es, doch ich entschied mich dazu Lukas' Forderung nachzugehen. Ich hatte wirklich Besseres zu tun als zur Tür zu laufen. Mit flinken Fingern öffnete ich seine Hose, zog sie ein wenig herunter und wollte mich auch über seine Boxershorts hermachen, da begann derjenige welche mit Sturmklingeln.
 

„Ich raste gleich aus!“, entfuhr es mir säuerlich. „Welcher Idiot -?!“

Marc oder Schifti, den Beiden traute ich so etwas Kindisches wie Sturmklingeln zu. Doch Schifti war eben erst hier gewesen und Marc hatte einen Schlüssel für mein Haus, also konnte es keiner der Beiden sein. Obgleich das schrille Geräusch nervte, fuhr ich mit dem Vorspiel fort. Sanft küsste ich Lukas' Bauch, bis ich beim Bund seiner Boxershorts anlangte. Endlich hörte das Klingeln auf. Anscheinend hatte die Person endlich aufgegeben. Gerade wollte ich seine Boxershorts herunter ziehen, da verpasste mir Lukas einen nicht gerade sanften Schlag gegen den Kopf.
 

„Aua!“, rief ich empört und richtete mich auf. „Warum schlägst du mich?!“

Panisch deutete Lukas zur Hintertür, zog sich eilig die Jeans hoch, während ich meinen Blick zum Garten wandte und erbleichte. Dort hinter dem Fenster mit Regenschirmen in der Hand und Kapuzen über dem Kopf standen Annalina und acht meiner ehemaligen Chorkinder. Alle machten den Eindruck als hätten sie entweder gerade das Abartigste der Welt gesehen oder als stünden so sehr unter Schock, dass sie nicht dazu in der Lage waren irgendeine Regung zu zeigen. Nur Annalina hatte die Augen zu Schlitzen verengt und blickte mich beinahe vorwurfsvoll an.
 

„Was zum Teufel machen die hier...“

All die Erregung war mit einem Mal weggeblasen. Beschämt rutschte Lukas bis zur Wand, war wieder komplett angezogen und klemmte die Arme zwischen den Beinen ein, seine Hände lagen auf dem Boden, als wenn er seinen Schritt verstecken wollte. Ich hatte noch keinen Ständer, weshalb es auch kein Problem für mich darstellte, aufzustehen und zur Tür zu gehen. Ruckartig zog ich diese auf und alle begannen gleichzeitig zu reden.
 

„Was wollt ihr hier?!“ - Ich.

„Toll gemacht, die haben den Schock ihres Lebens erlitten!“ - Annalina.

„Ich wusste gar nicht, dass du schwul bist!“ - Maya, vorwurfsvoll.

„Hättest du uns nicht vorwarnen können?!“ - Raffi.

„Das bekomme ich nie wieder aus dem Kopf!“ - Joe.

„Ich finde es ehrlich gesagt süß.“ - Frieda.

„Ihr hättet es wenigstens bis ins Bett schaffen können...“ - Greta.

Nur Zoé, Vicky und Emil schenkten mir ein stummes Lächeln.
 

„Wieso stellt ihr euch einfach an die Hintertür, euer Pech, wenn ihr in die Privatsphäre von jemandem eindringt“, verteidigte ich mich. „Warum seid ihr hier?“

„Weil Herr Kemp den Chor mies leitet“, antwortete Raffi und seufzte genervt. „Er lässt Joe und mich nicht beatboxen. Er meint, das würde nicht ins Programm passen. Voll der Idiot.“

„Ja, er hat einfach das Acapella gestrichen und lässt uns jetzt mit dem Orchester zusammen auftreten“, fügte Joe aufgebracht hinzu.

„Wir haben herausgefunden, dass jeder bei diesem Musikfest mitmachen kann, solange er einigermaßen was zu bieten hat. Also könnte man doch auch eine unabhängige Gruppe anmelden“, sagte Annalina schulterzuckend. „Sie haben mich darum gebeten ihnen zu zeigen, wo du wohnst. Hier die acht wollen dein unabhängiger Chor werden.“
 

Auf den Gesichtern der Kinder bildeten sich breite Grinsen. Ein schweres Seufzen entfuhr mir. Gerade erst bekam ich Zeit mich vom dem Chaos der letzten drei Wochen zu erholen, jetzt kam schon wieder neuer Stress hinzu. Doch der Gedanke mit diesen acht wirklich talentierten Sängern eine Gruppe aufzustellen und Herr Kemp damit ordentlich ins Gesicht zu spucken, gefiel mir so gut, dass ich zusagte.

Lukas - Leben genießen Pt. 1

Hallo Leute. :) Eine Anmerkung: Diesen Kapitel mit eingerechnet wird es nur noch drei Kapitel geben, dass ist diese Story zu Ende!

Viel Spaß beim Lesen!
 

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Ein wohliges Seufzen entfuhr meiner Kehle ehe ich den Kopf in den Nacken legte und mein Gesicht den warmen Sonnenstrahlen entgegen streckte. Endlich hatten wir wieder Ferien. In den letzten Wochen war nicht allzu viel passiert, Gaara und ich hatten die Zeit genutzt, um unsere Beziehung wieder aufzubauen, häufig hatte ich mich zusammen mit Noah und Hannah getroffen, während Gaara fiel mit seinem kleinen Kinderchor geübt hatte. Ansonsten lag unsere Konzentration auch viel auf der Schule, doch nun konnten wir erst einmal wieder entspannen. Zwei Wochen Osterferien. Endlich würde Kaito uns besuchen kommen und endlich würde ich Simon wieder sehen. Sein letztes Geld hatte er zusammen gekratzt, um sich das Zugticket zu kaufen, doch mal wieder – wie eigentlich immer – hatte die Bahn Verspätung, weshalb ich alleine am Bahnsteig stand, die Hände in der Hosentasche verstaut und wartete.
 

Gerne hätte ich mir eine Zigarette gegönnt, um mir die Zeit zu vertreiben, doch seit ich mit Gaara zusammen war, wollte ich wieder weniger rauchen. Auch er versuchte seinen Konsum ein wenig zu dämmen besonders in Bezug auf Marihuana. Wenn Kaito und Sky zu Besuch kamen, wollten wir auf Alkohol und Drogen komplett verzichten, damit sie merkten, dass wir sie unterstützten. Abgesehen davon, konnte es auch nur für uns gesund sein.
 

Als das Warten bereits nervig wurde, fuhr endlich der Zug ein. Wie immer herrschte ein wilder Trubel als alle Passanten ausstiegen, ich war nicht der Einzige, der gekommen war, um jemanden abzuholen. Überall sah man, wie sich Leute gegenseitig in die Arme fielen, Andere waren am Telefonieren, einige liefen hektisch über den Bahnsteig, um ihren Anschlusszug zu erreichen. Einige Sekunden lang suchte ich in der Menge nach Simon, dann spürte ich, wie mir von hinten jemand auf den Rücken sprang. Durch das plötzlich Gewicht ging ich zu Boden. Ein gellender Schrei entfuhr mir, ebenso wie meinem besten Freund und in der Sekunde lagen wir nebeneinander auf dem Steig.
 

Noch immer geschockt schaute ich zur Seite und erkannte Simon, der herzhaft am Lachen war.

„Was war das denn?“, fragte er. Meine Gesichtszüge lockerten sich, ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen, leicht boxte ich ihm gegen die Schulter.

„Das sollte ich dich fragen, du hast mir den Schreck meines Lebens eingejagt!“

„Tut mir Leid, ich wollte dich nur überraschen.“ Langsam standen wir auf. Simon hatte dabei etwas Schwierigkeiten, da er seine Reisetasche über die Schulter geschlungen hatte und diese scheinbar ziemlich schwer war. Vorsichtig legte ich die Hände unter die Tasche und hob sie ein wenig hoch.
 

„Was machst du da?“, fragte Simon.

„Ich überprüfe nur, ob du dabei hast, was ich denke, was du dabei hast... wenn du verstehst, was ich meine?“ Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich mich gerade selbst verstanden habe, doch Simon schien genau zu wissen, was ich meinte.

„Ja.“

„Ja?“

„Ja, ich hab die PS3 dabei! Das wolltest du doch wissen?“

„Dann weiß ich ja schon, was wir heute Abend machen werden. Übrigens habe ich für morgen bereits eine Planung...“
 

Wir gingen los in Richtung der Straßenbahnen und ich erzählte ihm, dass Kaito und Sky zu Besuch kamen und wir uns am morgigen Tag in der großen Clique gemeinsam treffen wollten, um weiter raus zu fahren. In die Nähe von Felix und seiner Familie, wo es einen Badesee gab und viel Grünfläche. Dort wollten wir den nahenden Sommer mit einer Grillparty einläuten. Jedoch ohne Alkohol und Drogen. Bei der Aussicht darauf verzog Simon ein wenig das Gesicht, doch er konnte auch verstehen, warum wir das machten, weshalb er es akzeptierte.

„Vielleicht könnte das sogar ganz lustig werden“, gestand er, als die Straßenbahn einfuhr. Glücklicherweise fuhren alle paar Minuten eine Bahn, weshalb man nie lange warten musste. Diesmal hatte Simon auch daran gedacht sich ein Ticket zu ziehen und es stempeln zu lassen, damit ich ihn nicht noch einmal auf einem Bahnsteig alleine zurück lassen musste. Bei der Erinnerung überkam mir ein Schmunzeln.
 

„Es wird bestimmt lustig“, sagte ich. „Aber heute wirst erst mal gezockt!“

Eine Weile dauerte es noch bis wir bei mir Zuhause ankamen. Unser Timing war perfekt, denn Mum wurde gerade mit dem Essen fertig und Alex war damit beschäftigt den Tisch zu decken. Als sie uns erblickte, ging ihr ein genervtes Seufzen über die Lippen.

„Ihr habt euch mal wieder davor gedrückt zu helfen“, murmelte sie.

„Davor gedrückt?“, fragte ich empört. „Die Bahn ist Schuld!“

„Genau, der Zug kam zu spät“, stimmte Simon zu, doch Alex streckte den Finger nach uns aus und behauptete gespielt trotzig: „Faule Ausreden!“

„Jetzt sei mal nicht so frech.“ Ich drückte ihren Arm fort und begann ihren Bauch zu kitzeln. Auf so etwas war Alex extrem anfällig, weshalb sie sogleich kicherte und sich unter den Berührungen krümmte. „Willst du Simon eigentlich erzählen, wer dein neuer Freund ist? Er wird das bestimmt genauso wenig gutheißen wie ich.“

„Niemand wird ihn so wenig gutheißen wie du“, entgegnete Alex und drückte mich erfolgreich von sich fort.

„Erzähl gleich beim Essen“, sagte Simon zu ihr. „Ich bring erst mal mein Zeug in Lukas' Zimmer.“
 

Keine zwei Minuten später saßen wir gemeinsam beim Essen und Alex erzählte munter von ihrem neuen Freund, den sie seit zwei Wochen hatte. Dabei handelte es sich um einen Jungen, der zwei Jahre älter war als sie, den sie jedoch schon kannte seit wir nach Berlin gezogen waren.

„Ich habe ihn erst mal kennen gelernt und dann entschieden mit ihm zusammen zu sein“, endete Alex ihre Erzählung. „Bei meinem ersten Freund habe ich das nicht gemacht und das ging ziemlich nach hinten los.“ Sie schenkte mir einen kurzen Blick.

Wir hatten allen erzählt, dass er sie betrogen hätte, weil Alex nicht dazu bereit gewesen war mit ihm zu schlafen. In Wirklichkeit hatte er erst versucht sie zu vergewaltigen, es dann jedoch aufgegeben und ihr gesagt, dass sie gehen sollte, wenn sie nicht mit ihm schlafen möchte. Als sie Zuhause war, hatte sie eine halbe Ewigkeit in meinen Armen geheult. Niemand wusste darüber Bescheid, nicht einmal Mum. Noch heute kochte die Wut in mir hoch, wenn ich nur daran dachte. Sollte mir der Kerl irgendwann einmal über den Weg laufen, würde er nicht ungeschoren davon kommen.
 

„Klingt doch gut“, sagte Simon und lächelte. „Lukas ist nur ein Spießer.“

„Ich bin ein Spießer?“, fragte ich und lachte. „Sind Spießer schwul? Ich dachte, damit sind so typische, konservative Leute gemeint.“

„Langweile Leute“, sagte Alex und schaute meinen besten Freund ebenfalls verständnislos an. „Mein Bruder ist kein Spießer.“

„Er ist einfach nur dein Bruder“, meinte Mum mit einem Lächeln. „Als großer Bruder ist es doch normal, dass er Angst hast, dass du verletzt werden könntest.“

„Oder Sex haben könntest“, fügte Simon hinzu.

„Davor habe ich auch Angst!“, sagte Mum. „Bevor es soweit ist, sag mir Bescheid, dann gehen wir zum Frauenarzt und du lässt dir die Pille verschreiben.“

„Muuuuum!“
 

Nach dem Abendessen war es Simons und meine Aufgabe den Tisch aufzuräumen und die Teller in die Spülmaschine zu bringen, danach verschanzten wir uns mit Chips und Cola in meinem Zimmer und zockten die halbe Nacht lang neue Spiele durch. Wie immer gingen wir erst morgens zwischen vier und fünf Uhr ins Bett, schliefen dafür bis zwei Uhr mittags und wachten zu einem wunderschönen Sonnenschein auf. Das Licht blendete mich als ich die Rollläden hochzog und Simon riss sich mit einem Stöhnen die Decke über den Kopf.

„Viel zu hell!“

„Ist doch super“, sagte ich, obwohl ich kaum etwas sehen konnte. „Das ist das perfekte Wetter zum Grillen. Übrigens muss sich jeder selbst Fleisch mitbringen, wir sollten also gleich noch einkaufen gehen. Vielleicht machen wir auch einen Salat... meine Mutter hat da so ein Rezept, das echt gut ist.“

„Wir machen Salat?“, fragte Simon verwirrt.

„So schwer ist das nicht. Ich mag es nicht mit leeren Händen aufzukreuzen, während sich die Anderen Mühe machen. Jeder bringt noch irgendetwas mit, von dem dann alle was haben können. Also sollten wir das auch machen.“

„Jaja, schon gut.“
 

Eine weitere Stunde dauerte es bis wir dazu fähig waren richtig aufzustehen, uns zu duschen, zu „frühstücken“ und umzuziehen. Am frühen Nachmittag gingen in den Supermarkt, der in direkter Nähe zu unserer Wohnung war, kauften dort ein paar Steaks zum Grillen und alles, was wir für den Salat benötigten. Dabei handelte es sich um einen italienischen Nudelsalat, den ich absolut vergötterte. Wie sich schnell herausstellte, war das jedoch sehr viel mehr Arbeit als gedacht. Um das Ganze spaßiger zu gestalten, schmissen wir uns laute Musik an, tanzten durch die Küche, während wir Nudeln abkochten, Mozzarella, getrocknete Tomaten, Rucola und rohen Schinken in kleine Stücke schnitten. Pinienkerne gehörten ebenfalls in den Salat, doch wir ließen sie zulange in der Pfanne, weshalb sie schwarz verbrannten.
 

Auch das Dressing machten wir selbst und als alles endlich fertig war, klingelte es auch schon an unserer Tür. Schnell lief ich hin, öffnete sie und stand meinem Freund gegenüber, der mir ein schiefes Lächeln schenkte.

„Du bist hier?“, wunderte ich mich. „Ich dachte, du würdest bereits dort sein...“

Verwirrt schaute ich hinter ihn und erkannte am Straßenrand Marcs Schrottkarre stehen. Außer ihm war auch noch Kaito anwesend, der gerade vom Beifahrersitz ausstieg. Er sah gesund aus, viel gesünder als das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte. Seine Haare waren ein wenig nachgewachsen. Da er ein T-Shirt trug, konnte ich außerdem eine neue Tattöwierung erkennen, gleich unter seiner Ersten. Erfreut darüber ihn in einer so guten Verfassung zu sehen, ignorierte ich meinen Freund, der sich zu einem Kuss vorbeugte und rannte an ihm vorbei zu Kaito. Er ließ die Umarmung mit einem Lächeln über sich ergehen, während Marc aus dem Auto heraus hörbar Gaara auslachte.
 

„Wie geht es dir? Sag schon? Ist die Therapie gut? Hast du Freunde gefunden? Hast du noch Sehnsucht nach Drogen? Bist du irgendwann rückfällig geworden?“

„Fühlt es sich so an eine Mutter zu haben?“, fragte Kaito und schaute durch das offene Fenster zu Marc, der noch immer am lachen war, jedoch die Frage mit einem Kopfnicken bejahte. Ein Rotschimmer legte sich auf meine Wangen. Ich hatte wirklich wie eine Mutter geklungen, doch die Fragen waren nur so aus mir heraus gesprudelt. Ich machte mir doch nur Sorgen...
 

„Schon okay, ich erzähle dir alles, wenn wir da sind und mehr Zeit haben“, sagte Kaito und wuschelte mir durch die Haare. „Aber jetzt solltest du deinem schmollenden Freund ein wenig Aufmerksamkeit schenken.“

„Ich bin nicht am Schmollen!“, ertönte es von Gaara. Wir wandten uns zu ihm und erkannten, dass er einen Arm um Simons Schulter gelegt hatte und ihn fest an sich drückte. „Ich habe jetzt Simon. Du kannst ja gerne was mit meinem besten Freund anfangen, dafür nehme ich dann deinen.“

„Nein“, rief ich erschrocken aus, als könnte Gaara dies tatsächlich Ernst meinen.

„Und er ist voll am Schmollen“, hörte Marc murmeln. Schnell rannte ich zu Gaara hin, der von Simon ab lies, um meinen Entschuldigungskuss entgegen zu nehmen.
 

„Ich war nur so froh darüber, dass es Kaito gut geht“, sagte ich.

„Ich weiß.“

„Aber warum seid ihr hergekommen? Ich dachte Chris wollte uns holen...?“

„Ja, wir haben das Ganze ein wenig umgestellt.“ Gaara seufzte hörbar. „Du kennst das doch. Auf den letzten Drücker wird alles noch mal auf den Kopf gestellt. Zumindest kommt jeder irgendwie hin. Holt ihr eure Sachen?“

„Sofort!“
 

Keine zwei Minuten später saßen wir auf der Rückbank geklemmt. Simon mit der Salatschüssel auf dem Schoß, Gaara und ich nebeneinander, sodass er mit einer Hand über meinen Oberschenkel streicheln konnte. Ich kannte diese Geste. Das war die 'Ich brauche dringend wieder Sex' – Geste, dabei war unser letztes Mal gerade erst vier Tage her. Nun ja, für Gaara war das kein 'gerade erst', sondern ein 'schon'. Solange Simon zu Besuch war, wollte ich meine Zeit aber auch mit ihm verbringen und nicht bei Gaara Zuhause. Zwar hatte er dafür Verständnis gezeigt, aber nun schien er bereits am ersten Tag ein zu knicken. Typisch für ihn. Aber auch das liebte ich an ihm.
 

Die Fahrt dauerte wie immer recht lange und Marc hatte seine Rockmusik viel zu laut aufgedreht, sodass es kaum möglich war sich zu unterhalten. Im Grunde musste man brüllen, damit man einander verstand. Auf die Bitte hin die Musik leiser zu machen, drehte Marc die Lautsprecher noch ein wenig lauter. Als wir endlich ankamen, war ich wirklich froh, diesem Lärm entkommen zu können. Während die Anderen alle Sachen aus dem Kofferraum holten, warf ich einen Blick über die Landschaft. Hier draußen war es wirklich schön. Ein klarer, sauberer Badesee, wie man ihn in Berlin niemals finden könnte, grüne Wiesenflächen. Nun, wenn man auf den Horizont schaute, sah man in der Ferne leider den schwarzen Rauch vom Industrieviertel, doch es der einzige Makel. Allem Anschein nach waren wir die Letzten, der Rest hatte sich bereits auf Picknickdecken ausgebreitet, kam auf uns zugelaufen, um uns glücklich zu begrüßen. Manchmal konnte das Leben schön sein.

Lukas - Leben genießen Pt. 2

Samantha und ich saßen nebeneinander auf einer Picknickdecke und bewiesen, dass wir Multitaskingfähig waren: Während wir Brot aufschnitten und alle Salate fertig vorbereiteten, warfen wir Annalina, die etwas weiter entfernt mit Larissa und Sky saß, unsere besten Todesblicke zu.

„Ich hasse sie“, zischte Sam.

„Ich auch“, murmelte ich. „Warum ist sie hier?“

„Weil sie mit Gaara, Larissa und Sky gut befreundet ist“, antwortete Sam und verdrehte genervt die Augen.

„Tz.“
 

Vermutlich war es unfair so über sie zu sprechen, da ich sie nie wirklich kennen gelernt hatte, doch genau dies wollte ich auch gar nicht. Mir reichte es zu wissen, dass sie etwas mit meinem Freund hatte. Abgesehen davon hatte sie abgeneigt reagiert als sie erfahren hatte, dass Gaara bisexuell war. Vielleicht verhielt ich mich gerade etwas oberflächlich, aber auch das sollte mir mal gegönnt sein. Man konnte ja nicht jeden mögen, oder?
 

„Was macht ihr für düstere Gesichter?“

Aus Gedanken gerissen blickte ich zu Chris auf, der sich mit einem freundlichen Lächeln neben seiner Freundin nieder ließ. Eine Hand schlang er um ihre Hüfte, gab ihr einen sanften Kuss in die Haare.

„Finster zu schauen, steht dir nicht. Du solltest lieber so schauen wie Costa.“ Mit einem Kopfnicken deutete er zu seinem Hund, der fröhlich mit Gaara und Kaito Stöckchen Fangen spielte. Er war von der Rasse Saarlooswolfhund, hatte dementsprechend starke Ähnlichkeiten mit einem Wolf und war auch viel größer als normale Hunde. Als Gaara mit dem Stock ein wenig herum wirbelte, sprang Costa ihn glücklich an und warf ihn damit rücklings zu Boden. Wir hörten Kaito bis hierher lachen.
 

„So schauen wie Costa?“, wiederholte Sam mit hochgezogenen Augenbrauen. „Soll ich auch in der Gegend rum rennen und Leute umwerfen?“

„Du kannst es versuchen, aber ich bezweifle, dass du mich umwerfen kannst.“

„Ist das eine Herausforderung?“ Ihr Herumalbern war beinahe niedlich. Irgendwie hatte Chris es geschafft Sam zu zähmen und sie zu einer festen Freundin zu machen mit der man als Kerl auch umgehen konnte, ohne das Gefühl zu haben keine Eier mehr zu besitzen. Sie passten perfekt zusammen. Die Beiden küssten sich und verfielen in diese typischen Liebesspielereien. Da ich mit den Vorbereitungen fertig wurde, hielt es für besser die Zwei alleine zu lassen. Doch kaum, da ich aufgestanden war, hielt mich Chris' Stimme auf.
 

„Ich soll dir liebe Grüße von Felix und der ganzen Bande ausrichten“, sagte er. „Ella hat gefordert, dass du in den Ferien zu Besuch kommst. Sie sagt, sie wird mich leiden lassen, wenn du nicht kommst.“

„Dich?“, wiederholte ich und lachte.

„Ja, mich. Mein Leben liegt in deinen Händen!“

„Na gut, dann komme ich demnächst vorbei. Denkst du ich kann Simon noch mal mitholen? Wenn ich mich recht entsinne, wollte Felix ohnehin noch mal mit ihm reden.“

„Ja, unbedingt“, nickte Chris zustimmend.
 

Ich entschied mich Simon sofort Bescheid zu sagen. Meinen besten Freund fand ich bei Schifti und Marc, die gemeinsam versuchten den Grill anzumachen. Alle Drei hatten jeweils eine kleine Flasche Cola in der Hand und Marc sah damit äußerst unglücklich aus. Kaum, da ich bei ihnen ankam, begann er sich zu beschweren.

„Siehst du das? Der Grillmeister hat eine Cola in der Hand! Wo gibt es denn so etwas? Ich sollte ein Bier in der Hand haben!“

Ein genervtes Seufzen ging über meine Lippen.

„Wir hätten von diesem Alkoholverbot verschont bleiben sollen“, stimmte Schifti zu.

„Ich dachte, ihr macht das aus Solidarität gegenüber Kaito und Sky“, sagte Simon. „Bedeutet euch die Freundschaft so wenig, dass ihr nicht einmal auf Alkohol verzichten könnt?“

Für einen Moment blickten die Beiden ihn blinzelnd an, dann wandte sich Marc mir zu.

„Hol deinen besten Freund hier weg, der redet uns ein schlechtes Gewissen ein!“

„Ignoriere die Beiden“, sagte ich, fasste Simon am Handgelenk und zog ihn mit mir fort. „Die reden nur, eigentlich stehen sie voll hinter Kaito und Sky.“

„Okay...“
 

Auf den Decken, auf denen wir später alle gemeinsam essen wollten, hatten sich Noah, Hannah, Tami, Kiaro und Florian breit gemacht. Mittlerweile sahen Kiaros hellbraune Dreads richtig gut aus, auch wenn sie immer noch einen zerzausten Eindruck machten. Sein Klamottenstil war so individuell wie eh und je, mit einer lockeren Hose aus ungefärbtem Leinen und einem Shirt von irgendeiner Reggae-Band. Im Schneidersitz saß er am Rand, eine Gitarre in seinen Händen und klimperte eine schöne Melodie vor sich her. Hannah hatte sich flach auf den Rücken gelegt, eine Sonnenbrille zierte ihre Nase und ihr Top hatte sie bis zum BH hoch gezogen, um ihren blassen Bauch in der Sonne zu bräunen. Noah und Tami hockten neben ihr und unterhielten sich, das Mädchen rauchte eine Zigarette – die einzige Droge, die heute erlaubt war. Florian tippte gerade eine SMS zu Ende und schaute mit einem Lächeln zu uns auf, als wir uns bei ihnen nieder ließen. Wie immer trug er eine Kappe auf dem Kopf und dunkle Augenringe zierten sein Gesicht. Es war eine halbe Ewigkeit her, dass Kiaro und Florian mit auf ein Treffen gekommen waren, umso erfreuter war ich darüber sie heute hier zu sehen.
 

„Was ist mir Larissa und Sky?“, fragte Hannah und richtete sich ein wenig auf. „Die sitzen schon die ganze Zeit da hinten und reden miteinander.“

„Da sitzt auch Annalina“, merkte Noah an. „Wahrscheinlich erzählt Sky ihnen von der Therapie. Sie sind doch so etwas wie beste Freundinnen, richtig?“

„Ja. Mit Annalina“, betonte ich ein wenig verächtlich.

„Oh, bist du immer noch sauer auf sie?“, fragte Noah.

„Warum ist er sauer auf sie?“, wollte Florian wissen.

„Ehm... also...“ Noah zögerte ein wenig und schaute mich fragend an. Lahm nickte ich als Zeichen, dass er ruhig darüber erzählen durfte. „Sie hatte was mit Gaara.“

„Uuuuh“, machten alle Anwesenden im Chor, fingen gleich darauf an zu lachen, während ich versuchte möglichst genervt auszusehen, doch ein Grinsen konnte ich mir ebenfalls nicht verkneifen.
 

Sich mit sechzehn Leuten zum Grillen zu treffen, war ein hübsches Chaos, wie sich im Laufe des abends schnell herausstellte, doch vor allen Dingen war es lustig. Niemand misste den Alkohol oder die Drogen, selbst Marc und Schifti bekamen sich mit der Zeit ein und taten sich mit ihren Colaflaschen zufrieden. Als ich Simon den Vorschlag machte im Laufe der Ferien noch einmal Felix zu besuchen, war er von der Idee sogleich begeistert. Chris dankte uns dafür und meinte mit einem Augenzwinkern, dass er seinen Kopf wohl noch ein wenig länger behalten dürfte.
 

Da wir nur einen Grill hatten, konnten wir unmöglich gleichzeitig essen, was jedoch niemanden weiter störte. Hannah bediente sich nur am Salat und teilte uns mit, dass sie momentan eine Diät machen wollte. Kaum, da sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, verschluckte sich Simon an seinem Red Bull und hustete ein paar Sekunden, ehe er sie ungläubig anstarrte.

„Und wo genau hast du geplant abzunehmen?“, fragte er verwirrt.

„Na hier.“ Sie hob ihr Top hoch und fasste sich an den Bauch. Vielleicht hatte sich dort minimal Fett angesetzt, nichts was hässlich ausgesehen oder nicht dorthin gepasst hätte. Außerdem erkannte man es auch nur, wenn sie an ihrem Bauch zog. Verständnislos schüttelte Simon den Kopf.

„Und an den Oberschenkeln“, fügte Hannah hinzu.

„Nein, mach das nicht“, sagte er. „Willst du aussehen wie eines von diesen Magermodels? So wie dein Körper jetzt ist, ist er doch gut, da braucht man als Kerl keine Angst zu haben, dass du zerbrichst und es gibt auch was zum Anfassen. Und wehe du fasst das als Beleidigungen auf.“

Simon schenkte mir einen düsteren Seitenblick.

„Das macht Lynn nämlich immer.“

„Wenn ein so gut aussehender Mann sagt, dass dein Körper toll ist, muss es stimmen“, meinte Noah und stupste Hannah gegen die Schulter. Daraufhin begannen diejenigen zu lachen, die dem Gespräch gelauscht hatten und Simon wurde sogar ein wenig rot. Vermutlich war es das erste Mal, dass er ein Kompliment von einem Homosexuellen bekommen hatte. Aber Noah hatte Recht, Simon sah wirklich gut aus und Hannah hatte wirklich eine gute Figur.
 

Der Abend verlief weiterhin über solche lockeren Gespräche und nachdem jeder gegessen hatte, spielte Kiaro wieder auf seiner Gitarre, ein paar entschieden sich in den See schwimmen zu gehen und ich setzte mich an den Rand, ließ meine nackten Füße ein wenig im Wasser baumeln und beobachtete, wie die Anderen im Wasser Spaß hatten. Besonders viel Beachtung schenkte ich Gaara, den ich zum ersten Mal in einer Badehose sah. Dabei sah er in dieser nicht sehr viel anders aus als in einer Boxershorts, doch mir gefiel es, wie das Wasser über seinen nackten Oberkörper floss und seine braunen Haare auf seiner Stirn klebten. Ich war schon ganz in Gedanken versunken als mit Kaito aus diesen riss, in dem er sich hörbar neben mich fallen ließ. Auch er hatte auf das Baden gehen verzichtet, steckte sich nun eine Zigarette an und beobachtete mit mir unsere Freunde.
 

„Du wolltest was über meine Therapie hören?“, fragte Kaito.

„Ja, richtig!“, nickte ich. „Wie läuft es?“

„Die ersten paar Tage waren die Hölle“, antwortete Kaito und ein schiefes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Ein Entzug... es war so schlimm... die ersten paar Tage, wenn all die Wirkstoffe langsam aus dem Körper verschwinden, das waren Schmerzen, die kannst du dir nicht vorstellen. Und nicht nur psychische Schmerzen, auch körperlich. Ich konnte nichts essen, ich konnte nicht schlafen, es war furchtbar, ich dachte ich müsste sterben. Als diese Phase aber erst mal vorbei war, ging es bergauf, wenn auch nur sehr langsam.“

„Oh Mann“, war das Einzige, was mir dazu einfiel. „Und jetzt? Hast du das Gefühl du bräuchtest etwas?“

„Nein, nicht, dass ich etwas bräuchte“, schüttelte Kaito den Kopf. „Es ist nicht so wie früher, dass ich wirklich dachte, ich überlebe nicht, wenn ich mir nicht etwas spritze. Es ist auch kein richtiges Wollen, denn ich möchte definitiv nie wieder die Finger an Drogen legen. Das Gefühl ist trotzdem da... ach, es ist kompliziert zu erklären. Jedenfalls hatte ich viel Zeit zum Nachdenken und habe angefangen eine Kunstmappe zu erstellen. Die Therapie wieder mindestens ein halbes Jahr dauern, aber danach kann ich mich dann auf Kunsthochschulen bewerben. Dafür braucht man auch kein Abi, nur Talent.“

„Das ist eine fantastische Idee!“, rief ich begeistert aus. „Wirklich, Kaito! Das würde total gut zu dir passen. Ich kann mir das für dich gut vorstellen.“

„Ja, ich hoffe, dass es funktioniert“, sagte er mit einem Lächeln.

„Bestimmt“, nickte ich aufmunternd. „So gut wie du zeichnen und malen kannst.“
 

Diese erfreuliche Nachricht versüßte den Abend nur noch mehr und es hätte nicht schöner sein können. Gegen Mitternacht saßen wir gemeinsam in einem großen Kreis, Kaito spielte und wir sangen zusammen, obwohl Gaara und Noah die Einzigen waren, die auch wirklich singen konnten. Als wir gegen zwei Uhr nachts schließlich alle wieder Heim fuhren, versprachen wir uns dieses Treffen im Sommer noch einmal zu wiederholen und wir waren uns alle einig, dass es so viel schöner war, als sich zulaufen zu lassen.
 

Nichtsdestotrotz sollte auch das Feiern in diesen Osterferien nicht ausgelassen werden. Meistens ging ich gemeinsam mit Noah und Hannah feiern, diesmal kam natürlich auch Simon mit. Eine Hausparty bei Gaara sollte ebenfalls nicht fehlen. Überraschenderweise kamen sich Simon und Hannah ein wenig näher. Da Hannah ziemlich unschuldig war, versuchte Simon sie jedoch nicht ins Bett zu bekommen. Dahingegen bekam er auch eine äußerst bedrohliche Standpauke von Noah gehalten, der Hannah mittlerweile ansah wie seine Schwester und dementsprechend nicht gut darauf zu sprechen war, sollte Simon es wagen sie zu verletzen. Sie tauschten ihre Handynummern und hielten so auch nach den Ferien den Kontakt. Wie versprochen statteten wir auch Felix und seiner Familie einen Besuch ab, bei welchem er sich bei Simon bedankte. Seine Worte in den Herbstferien hatten den Jungen dazu animiert zu lernen mit seiner Querschnittslähmung besser umzugehen, nun lernte er das Basketballspielen im Rollstuhl und, auch wenn er weit davon entfernt war zu den Besten gehören, machte es ihm unglaublich viel Spaß.
 

Viel zu schnell gingen die Osterferien zu Ende und Simon musste wieder abreisen. Diesmal verabschiedete nicht nur ich ihn. Hannah und mein Freund waren ebenfalls am Bahnhof, um ihn nacheinander in den Arm zu nehmen und ihm klar zu machen, dass er in den Sommerferien wieder zu kommen hatte. Als Letztes umarmten wir uns und hielten uns ein wenig länger fest.

„Ich komme in den Sommerferien wieder... aber dafür kommst du auch ne Woche runter, okay?“, sagte Simon, als wir uns voneinander lösten.

„Auf jeden Fall“, nickte ich. Ausgerechnet heute musste die Bahn pünktlich sein. Ich würde so viel dafür geben, damit mein bester Freund wieder in meiner Nähe wohnte. Obwohl der Zug anderthalb Jahre her war, hatte ich mich noch nicht daran gewöhnt Simon nur so selten sehen zu können. Unser Leben lang hatten wir immer gemeinsam verbracht wie unzertrennliche Zwillinge... eines Tages würden wir wieder zusammen wohnen. Da war ich mir ganz sicher.
 

Gaara hielt meine Hand, während wir dem Zug hinterher schauten. Als er den Bahnhof verlassen hatte, ließ ich ein schweres Seufzen hören.

„Morgen ist wieder Schule“, stellte ich murmelnd fest. „Ich überlege nicht zu kommen.“

„Warum denn?“, fragte Hannah und zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Das passt gar nicht zu dir, dass du einfach ein Unterrichtstag schwänzen würdest.“

Mit einem traurigen Lächeln schaute ich sie an.

„Morgen ist der zweite Todestag meines Vaters.“

Lukas & Gaara - Can't hold us!

*Schweiß von der Stirn wisch*

Ich hab's!

Da ist es!

Das letzte Kapitel von Misfits: Kreuzdame. Ich hoffe, es wird euch gefallen.

Eine Frage hätte ich allerdings noch an euch: Würde euch ein Nachwort interessieren, in welchem ich davon berichte wie die einzelnen Charaktere ihr Leben weiter gelebt haben, ob sie eine Familie gegründet haben, welchen Job sie bekommen haben etc.?

Bitte um Rückmeldung :D
 

__
 

Lukas
 

Dumpf dröhnte Elektromusik aus Alex' Zimmer, vermischte sich mit dem Zwitschern der Vögel und dem Rascheln der Blätter. Die Arme von mir ausgestreckt, lag ich auf meinem Bett und blickte mit stumpfem Blick auf die Fotowand, die mir meine Schwester vor zwei Jahren gebastelt hatte. Darunter waren auch viele Fotos, die ich innerhalb dieser verstrichenen Zeit selbst beigefügt hatte. Auf dem Neuesten gab ich Gaara einen Kuss auf die Wange und er lachte glücklich in die Kamera. Ein Schmunzeln bildete sich auf meinen Lippen als ich dieses Foto ein wenig näher betrachtete. In meiner rechten Hand war ein anderes Bild, welches ich ein wenig zusammen rollte. Seit einer knappen Stunde überlegte ich nun schon, ob ich es aufhängen sollte oder nicht.
 

Was sprach dagegen?

Die Trauer. Das Gefühl, das mein Herz sich zu seinem Knoten zusammen zieht, ein Kloß in meinem Hals bildet, ich hart schlucken muss. Doch andererseits brachte mich das Foto auch zum Lächeln. Es war ein trauriges Lächeln, doch irgendwie war es auch schön. Eine Erinnerung daran, wie es einmal gewesen war. Vielleicht war es Zeit aufzuhören meinem Vater hinterher zu trauern und anzufangen die Erlebnisse, die ich mit ihm hatte, in Erinnerung zu behalten und mich daran zu erfreuen, dass es sie gegeben hatte. Meine Trauer brachte ihn nicht mehr zurück. Das Einzige, was ich noch tun konnte, war, ihn im Guten in Erinnerung zu behalten.
 

Langsam setzte ich mich auf, nahm eine Pinnnadel, die zuhauf in der Wand steckten und pinnte das Foto mittig in das Gebilde. Darauf zu erkennen waren Dad, Mum, Alex und ich. Das Foto war bereits drei Jahre alt, weshalb Alex und ich noch viel jünger und recht anders aussahen als heute. Mit einem Finger fuhr ich über das Gesicht von meinem Dad, blickte dann das Foto für eine Weile an. Ja, es wurde Zeit mit dem trauern aufzuhören...
 

Ein trauriges Lächeln zog sich auf meine Lippen und für einige Augenblicke schwelgte ich in glücklichen Erinnerungen an meinen Vater, dann wurde ich vom Vibrieren meines Handys unterbrochen. Seufzend ließ ich mich zur Seite fallen, streckte meinen Arm nach dem Gerät aus, welches auf meinem Nachtisch lag und nahm den Anruf entgegen ohne vorher nachzuschauen, wer mich überhaupt anklingelte.

„Hey“, meldete ich mich.

„Lukas!“ Das war Noahs panische Stimme. An der Art wie er sprach, konnte ich heraushören, dass es keine richtige Panik war – es war nur mal wieder Noah, der auf etwas überreagierte. Vermutlich würde er mich wieder dazu bringen ihn als niedlich ab zu stempeln.

„Was ist passiert?“, fragte ich.

„Ich habe es total vergessen! Hannah hat mir gerade gesagt, dass letzte Woche der zweite Todestag deines Vaters war, wieso sagst du mir denn nichts?? Ich hab mir solche Sorgen gemacht, weil du in der Schule so niedergeschlagen warst, aber niemand wollte mir erzählen, was los ist. Und du auch nicht! Das ist so furchtbar, brauchst du etwas? Ist alles okay? Wollen wir uns vielleicht treffen? Wie geht es dir?“
 

Und genau aus diesem Grund hatte ich alle darum gebeten Noah nichts zu sagen. Natürlich hatte ich ihn ins Herz geschlossen, aber er reagierte immer über, sobald es emotional wurde und ich konnte es nicht gebrauchen, dass er vor mir weinte, während ich versuchte genau dies nicht mehr zu tun. Ein hörbares Seufzen ging über meine Lippen, was seinen Redefluss unterbrach.

„Ich komme klar“, sagte ich. „Tut mir Leid, dass ich dir nichts erzählt habe. Ich wollte es nicht zu emotional werden lassen und das ist mit dir immer etwas schwierig. Vergibst du mir?“

„Natürlich, das sollte auch gar kein Vorwurf sein!“

„Ich weiß. Aber du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.“

Wir unterhielten uns noch ein wenig bis ich ihn davon überzeugt hatte, dass es mir den Umständen entsprechend gut ginge, danach besprachen wir noch einmal den heutigen Abend. Das Musikfest und somit der Auftritt von Gaaras chaotischem Kinderchor. Bisher hatte ich nichts von ihren Proben mitbekommen, die von den Kindern als 'streng geheim' erklärt wurden. Da sie bei Gaara probten, wurde ich also jedes Mal rausgeworfen, wenn sie sich bei ihm versammelten. Ich war schon sehr darauf gespannt, was sie singen und wie es sich anhören würde – nicht einmal Gaara wollte mir darüber etwas erzählen!
 

Schließlich legten Noah und ich auf.

Für einen Moment blieb ich noch ohne ersichtlichen Grund im Bett liegen – ich fühlte mich einfach zu faul zum Aufstehen – dann wälzte ich mich mit einem gequälten Stöhnen herunter, stand auf und ging zum Kleiderschrank, um mir ein paar Klamotten heraus zu zerren. Heute war es besonders schön draußen. Sogar so warm, dass man nur im T-Shirt rausgehen konnte. Mir fiel ein graues Oberteil mit V-Ausschnitt in die Hände und ich erinnerte mich daran, dass Gaara einmal gesagt hatte, ich würde ihn durcheinander bringen, wenn ich dieses Shirt trug. Scheinbar fand er es attraktiv, wenn er ein wenig von meinem Schlüsselbeinen sah. Beinahe hämisch grinste ich. Gut, dann war es entschieden, ich würde dieses Shirt tragen. Dazu eine blaue, etwas engere Jeans und lockere Turnschuhe.
 

Bevor ich mich umzog, duschte ich mich. Gaara mochte es, wenn man meine Haare frisch gewaschen waren, seinen Behauptungen nach fühlten sie sich dann schön weich an und rochen zart. Ein Grund mehr also mich zu duschen. Danach zog ich mich an und ging in die Küche, um meiner Mutter beim Abendessen zu helfen. Normalerweise aßen wir immer erst später zu Abend, doch, da ich heute zum Musikfest wollte, kochte meine Mutter früher. Darüber beschwerte sie sich, da sie ja noch gar keinen Hunger hatte. Als ich ihr jedoch vorschlug, dass ich mir auch selbst etwas machen könnte, wollte sie dies auch nicht. Manchmal war meine Mutter echt seltsam...
 

Gemeinsam mit Alex – die ebenfalls eigentlich noch gar keinen Hunger hatte – aßen wir zu Abend und sie erzählte uns davon, dass ihr neuer Freund sie mit seiner Familie in Urlaub nehmen wollte. In den Sommerferien, nach Spanien. Sofort verschluckte ich mich an einer Bohne. Nach einer Weile husten und Wasser trinken, hatte ich mich wieder beruhigt und blickte sie durchdringend an.

„Nein.“

„Ehm, wenn mir das jemand verbieten kann, dann Mum und nicht du“, entgegnete Alex ein wenig eingeschnappt. „Du kannst dich nicht immer gegen die Typen wehren mit denen ich zusammen bin.“

„Leon ist wirklich freundlich“, fiel mir Mum knallhart in den Rücken. „Du solltest ihn kennen lernen, dann würdest du anders von ihm denken.“

„Er ist überhaupt nicht wie Julian“, sagte Alex.

„Aber du kannst doch nicht mit ihm alleine in Urlaub fahren!“

„Wir fahren ja gar nicht alleine, seine Familie kommt mit“, verdrehte Alex die Augen. „Mal ehrlich, du kannst mich doch nicht so sehr beschützen wollen, dass nicht mal das geht.“
 

Bei ihrem letzten Freund war etwas furchtbares passiert. Etwas, was kein Mädchen jemals erleben sollte. Beinahe wäre Alex das Opfer einer Vergewaltigung geworden. Wenn ich es mir recht überlegte, wusste ich gar nicht, ob sie mit Leon bereits geschlafen hatte. Immerhin war er zwei Jahre älter als sie – somit 18 – da war das Bedürfnis nach Sex nicht unbedingt niedrig. Nachdem Essen entschied ich mich dazu Alex auf ihr Zimmer zu folgen und sie dort hinter geschlossenen Türen auszufragen.

„Soll ich jetzt mein Liebesleben mit dir teilen?“, fragte Alex und zog eine Augenbraue hoch. „Ich frag dich doch auch nicht danach, wie oft die mit Gaara vögelst.“

„Das ist etwas anderes!“

„Inwiefern soll das anders sein?“

„Ich wurde nicht beinahe vergewaltigt!“ Den Gedanken direkt auszusprechen war vielleicht eine Spur zu hart gewesen, denn Alex zuckte überrascht zusammen und starrte mich aus großen Augen an.

„Wieso bringst du das jetzt wieder hoch?“, fragte sie und schluckte hart.

„Ich möchte nur wissen, wie du damit umgehst. Hast du Angst mit Leon zu schlafen? Schläfst du mit ihm, obwohl du noch gar nicht dazu bereit bist? Ich mache mir Sorgen, das ist alles“, sagte ich.
 

Für einige Augenblicke blickten wir uns nur schweigend an und Alex hatte die Lippen fest aufeinander gepresst. Schließlich entfuhr ihr ein kurzes Seufzen und sie begann zu erzählen: „Klar, hatte ich anfangs Angst. Aber... ich habe ihm davon erzählt... davon, was mir beinahe passiert ist... er hat ähnlich reagiert wie du und wollte sofort wissen, wer genau das gewesen war, damit er ihn verprügeln gehen kann. Es ist komisch... es ist schon über ein Jahr her, aber erst jetzt beginne ich mich zu fragen, warum ich nicht direkt zur Polizei gegangen bin. Ich glaube, ich hatte zu viel Angst oder so etwas, ich weiß es nicht... warum sind wir damals nicht zur Polizei gegangen, Lukas?“

„Du wolltest, dass ich niemandem davon erzähle“, erinnerte ich mich, auch wenn das keine erklärende Antwort auf die Frage war. Wenn ich genauer darüber nachdachte, wusste ich es selbst nicht. Vielleicht hatten wir nicht realisiert, was für eine Art von Verbrechen vorgefallen war. Das war nichts, was einem eben mal so passiert, bei dem man genau wusste, was zu tun war und wie man sich verhalten sollte. Passierte es jemand anderem, konnte man als Außenstehender gut reden, aber passierte es einem selbst... vielleicht würde Gaara auf die Weise auch erklären, warum er die Polizei angelogen hatte. Am Ende hätten sie gegen Kaito nichts in der Hand gehabt, um ihn verhaften zu können.
 

„Jetzt ist es auch zu spät“, stellte Alex fest. „Jedenfalls hat Leon Verständnis gezeigt und er hat nicht einmal versucht mich zu überreden. Wenn er mich am Hinter berühren wollte, hat er mich immer erst um Erlaubnis gefragt. Ich war es, die es schließlich mit dem Sex versuchen wollte.“

„Heißt das, du bist keine Jungfrau mehr?!“, entfuhr es mir keuchend.

„Ja, das heißt es.“ Alex musste auf meine Reaktion hin lachen. „Was dachtest du denn? Dass ich für ewig deine kleine jungfräuliche Schwester bleiben würde?“

„Du bist noch zu jung!“

„Komm mir nicht damit.“

„Du hättest warten sollen bis du dreißig und verheiratet bist, mindestens schon drei Jahre, damit man sich ganz sicher sein kann!“, behauptete ich scherzhaft. Ich versuchte ernst zu bleiben, doch das Grinsen auf meinen Lippen konnte ich nicht zurück halten, besonders nicht, als Alex herzhaft zu lachen anfing.
 

„Du bist bescheuert“, schüttelte sie den Kopf. „Hör auf diese ernste Sache so ins Alberne zu ziehen.“

„Tut mir Leid.“ Langsam wich das Grinsen und mein Tonfall wurde etwas ernster. „Dann kommst du mit dem, was passiert ist, mittlerweile klar?“

„Ja“, nickte Alex. „Ich glaube, ich habe jetzt mehr Angst davor nachts alleine draußen zu sein, doch ansonsten sind von dem Erlebnis keine Rückstände geblieben. Zum Glück war es nur ein Fast.“

„Ja, zum Glück...“
 

Ich wollte ihr Zimmer verlassen, doch an der Tür blieb ich stehen und wandte mich noch mal zu ihr um: „Was hast du heute Abend vor?“

„Mit Leon treffen“, antwortete Alex. „Wir wollte bei ihm einen gechillten Filmabend machen.“

„Möchtest du mit ihm vielleicht mit zum Musikfest kommen?“

Für einen Moment blickte mich Alex überrascht an, dann bahnte sich ein Lächeln auf ihre Lippen.

„Klar, gerne“, sagte sie. „Ich frage ihn mal eben, aber ich denke, er wird nichts dagegen haben.“
 

Hatte er tatsächlich nicht, im Gegenteil, er freute sich laut Alex sogar darüber mich kennen zu lernen. Bisher hatten wir uns nur ein paar Mal gesehen und da hatte ich mir immer Mühe gegeben ihm einen möglichst tödlichen Blick zuzuwerfen. Als er dann am Abend an der Straßenbahn auf uns wartete, stellte ich mich ihm freundlich vor und er erwiderte die Begrüßung ebenso freundlich. Er machte einen ganz anderen Eindruck als Julian. Leon war recht gutaussehend, trug eine graue Baumwollmütze über seinem braunen Haarschopf und hatte einen schlanken Körper, den er in lockeren Klamotten kleidete. Er trug einen Rucksack, zwischen diesem und seinem Rücken war ein Skateboard eingeklemmt.
 

Auf die Straßenbahn mussten wir nicht lange warten. Das Gelände zum Musikfest war direkt am Brandenburger Tor, weshalb wir bis ins Zentrum mussten. Nach und nach stiegen meine Freunde mit in die Straßenbahn ein. Nur Gaara war mit seinem Chor bereits vor Ort.
 


 

Gaara
 

Bisher hatte ich mich erfolgreich vor Herr Kemp verstecken können, doch dann hatten sich einige meiner Chorkinder dazu entschieden zu ihm und ihren ehemaligen 'Kollegen' zu gehen und ihnen unter die Nase zu reiben, dass sie ebenfalls da waren. Geendet hatte dies darin, dass Herr Kemp bei mir aufgelaufen war und mich wegen nichts und wieder nichts an meckerte.

„Mal abgesehen davon, dass du mich schon wieder im Stich gelassen hast, fällst du mir nun auch noch in den Rücken?!“

„Ich mache das nur für die Kinder“, entgegnete ich aufgebracht, was jedoch nur die halbe Wahrheit war. Ich wollte sein dämlichen Gesicht sehen, wenn der Auftritt von meinem Chor besser war als der von seinem. Zumindest hoffte ich, dass dies der Fall sein würde. Bereits in der ersten Übungsstunde hatten wir uns einen anderen Song ausgesucht. Anfangs war ein Medley geplant gewesen, doch für meine ursprüngliche Idee waren sie zu wenige, weshalb wir uns gemeinsam ein anderes Lied aussuchten.
 

„Für die Kinder“, wiederholte Herr Kemp spöttisch.

„Ja, sie hatten kein Bock auf deine konventionelle Scheiße. Jetzt sind sie ein unabhängiger Chor, das kannst du ihnen nicht verbieten“, sagte ich. Für einige Augenblicke schauten wir uns wütend an und man konnte beinahe die Funken sehen, die zwischen uns hin und her wanderten, dann wandte er sich kopfschüttelnd ab.

„Wir werden sehen, wie gut du ohne meine Hilfe bist!“, sagte er noch, dann war er wieder in der Menschenmenge verschwunden, die sich vor der Bühne angesammelt hatte. Es waren erstaunlich viele Leute zum Musikfest gekommen. Überall konnte man sich etwas zum Essen und zu Trinken kaufen. Ab 19 Uhr würden alle möglichen Chöre und Orchester auftreten, anderthalb Stunden lang, dann gab es eine große Umbaupause und bekanntere Acts würden spielen. Als Letztes traten sogar Seeed auf, worauf ich mich schon extrem freute. Doch zu erst musste ich mich auf den Auftritt meines Chors konzentrieren.
 

Ein lautes Seufzen entfuhr mir, ehe ich wieder unter dem weißen Pavillon verschwinden wollte, welcher als Aufenthaltsbereich für die Künstler diente. Natürlich nur für die, die keiner kannte. Alle, die nach der Umbaupause auftraten, waren woanders untergebracht – wo auch immer, konnte mir auch egal sein. Gerade als ich der Menschenmenge den Rücken zu wandte, hörte ich wie jemand meinen Namen rief. Seine Stimme erkannte ich sofort und ein glückliches Lächeln schlich sich auf meine Lippen, dann wandte ich mich wieder um und erkannte Lukas, der mit einem letzten Satz vor mir zum Stehen kam und mir einen kurzen Kuss auf die Lippen drückte. Hinter ihm folgte unsere engsten Freunde: Noah, Hannah, Samantha, Marc, Larissa, zu meiner Überraschung auch Lukas' kleine Schwester Alexandra mit einem Kerl, den ich nicht kannte und zu guter Letzt sogar Kaito, was mich erfreut die Augenbrauen heben ließ.
 

„Was -?“, brachte ich überrascht hervor.

„Damit hast du nicht gerechnet“, stellte Kaito fest, ein breites Grinsen auf seinen Lippen. Er zog mich in eine kumpelhafte Umarmung, dann erzählte er mir, dass er bereits von Anfang an geplant hatte zum Musikfest zu kommen, um mich zu überraschen.

„Marc hat mich abgeholt“, fügte er am Ende hinzu und deutete zu dem Älteren, der einen Arm um die Schulter seiner Freundin gelegt hatte. Larissa war neben ihm geradezu winzig.

„Sehr geil.“

„Wo ist dein Chor?“, fragte Sam, blickte sich dabei suchend um. „Ich will die endlich mal sehen.“
 

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, ertönte lautes Rufen und meine Chorkinder kamen angerannt, etwas weiter hinter ihnen folgte Annalina im normalen Schritttempo. Als sie Lukas und Sam erkannte, wurde sie etwas langsamer und zögerlich, doch dann winkte ihr Larissa zu und Annalina kam mit einem Lächeln zu uns.

„Ich habe deine Kinder eingesammelt“, sagte sie an mich gewandt.

„Meine Kinder?“, wiederholte ich und seufzte.

„Du wärst super glücklichen, wenn du uns als Kinder hättest“, behauptete Raffi. Anhand seines Tonfalls konnte ich erkennen, dass er dies nur scherzhaft sagte. Die wussten zu gut, dass sie ein anstrengender Haufen waren.
 

„Ich glaube nicht“, schüttelte ich den Kopf. „Aber was anderes: Wir sind direkt nach Herr Kemp an der Reihe. Wir sollten noch einmal üben, ihr solltet euch ordentlich warm singen, damit wir seinen Chor übertreffen.“

Zustimmendes Rufen ertönte von den acht Kindern, dann wollten sie schon los rennen, etwas weiter entfernt, wo wir in Ruhe trainieren konnten. Ein weiteres Mal beugte ich mich zu Lukas vor, um ihm einen Kuss zu geben, dann hob ich zum Gruß die Hand.

„Wir sehen uns später.“

„Sollen wir hier auf dich warten?“, fragte Lukas.

„Ja, wenn das für euch okay ist.“

„Klar!“
 

Bis zum Start des Musikfestes übten wir. Anfangs kamen sie ständig aus dem Konzept, weil sie herum alberten oder sich gegenseitig durcheinander brachten. Erst als ich ein wenig wütend wurde und ein Machtwort sprach, hörten sie damit auf und nahmen die Generalprobe ernster. Die Mädchen hatten unbedingt auch eine Choreografie einstudieren wollen – etwas, worin ich nicht allzu gut war. Trotzdem hatten wir uns alle gemeinsam eine ausgedacht und die musste ebenfalls noch trainiert werden. Zuletzt beides gleichzeitig, was ziemlich gut funktionierte. Hoffentlich würde das auch auf der Bühne so gut klappen.
 

Als wir zurück an den Pavillon kehrten, waren nur noch Lukas und Noah anwesend. Alle anderen schienen spurlos verschwunden. Auf meinen fragenden Blick hin, antwortete Noah: „Die hatten alle Hunger oder Durst.“

„Ach so...“

Plötzlich begann ein Großteil der Menschenmenge zu klatschen und zu jubeln. Ein Blick zur Bühne genügte, um zu erkennen, dass das Programm los ging. Ein breit grinsender Mann in Anzug ging zum Mikrofon und begrüßte alle Anwesenden überschwänglich.

„Wir müssen in den Backstagebereich!!“, rief Maya panisch aus.

„Chill mal, wir sind nicht die Ersten, die auftreten“, sagte Joe schulterzuckend.

„Wir sind auch nicht die Zweiten“, fügte sein bester Freund Raffi hinzu.

„Eigentlich treten wir erst in einer Stunde auf“, meinte Frieda.

„Wir sollten trotzdem schon einmal gehen“, sagte Maya und warf mir einen auffordernden Blick zu.

„Ehm, ja wartet nur kurz.“ Ich drehte mich zu Lukas und Noah, um mit ihnen zu klären, wo wir uns nach der Aufführung trafen, dann ging ich mit meinen Chorkindern in Richtung Backstagebereich.
 

Wie zu erwarten war, befand sich dieser hinter der Bühne, überall standen Tische und Stühle, ein Haufen Leute rannten in der Gegend herum. Der erste Act hatte bereits angefangen zu spielen, doch wir konnten sie kaum hören, da im Backstage alle noch einmal auf ihren Instrumenten übten oder vor sich her sangen. Auch Annalina war anwesend, wünschte gerade noch Herr Kemp und seinem Orchester und Chor viel Erfolg, dann kam sie zu uns herüber, ein etwas schiefes Lächeln auf den Lippen.

„Ich weiß, das ist ein doofer Zeitpunkt, aber wir haben diesen Streit nie geklärt“, sagte sie an mich gewandt, während ein paar meiner Chorkinder zu ihren früheren Kameraden gingen. Etwas überrascht zog ich die Augenbrauen zusammen.

„Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht das Gefühl, dass wir etwas klären müssten“, gestand ich.

„Hm, ich schon. Ich habe überreagiert, dafür wollte ich mich entschuldigen. Es ist nur komisch, wenn man Gefühle für einen Typen entwickelt, der eigentlich auf Männer steht“, sagte sie und lachte freudlos.

„Ich bin bisexuell“, widersprach ich.

„Das ist doch nur eine Orientierungsphase, oder? Man kann nicht wirklich auf Beides stehen“, sagte sie etwas zögerlich. Ein schweres Seufzen ging über meine Lippen. Normalerweise ließ ich mich auf solche Kommentare nicht weiter ein, doch da Annalina an sich kein verkehrtes Mädchen war, ging ich den Versuch ein ihr Bisexualität so einfach wie möglich zu erklären.
 

„Stell dir vor es gibt Leute, die gerne Kuchen essen und es gibt Leute, die gerne Keksen essen. Die meisten Leute mögen nur Kuchen, einige Leute mögen auch nur Kekse. Und dann gibt es Leute, die essen manchmal lieber Kuchen und manchmal lieber Kekse, kommt immer darauf an, worauf sie gerade Lust haben.“

Als ich die Erklärung geendet hatte, merkte ich, dass mich Maya und Vicky schief anschauten, während der sonst so schüchterne und verschwiegene Emil anfing zu lachen.

„Das muss ich mir merken!“

„Mir ist nichts Besseres eingefallen“, verteidigte ich mich. Ein Blick zu Annalina genügte, um zu wissen, dass sie meine Erklärung mehr mit Skepsis als mit Verständnis aufnahm.

„Du bist in ihn verliebt, oder?“, fragte Maya. „In diesen Jungen mit dem wir dich erwischt haben.“

„Erinnere mich nicht daran“, stöhnte ich. „Aber ja, ich liebe ihn.“

„Na, dann ist es doch ganz einfach“, zuckte sie die Schultern und wandte sich nun ihrerseits an Annalina. „Es gibt Menschen, die nicht darauf achten, ob eine Person männlich oder weiblich ist, das ist ihnen vollkommen egal. Mal vom Sexuellen abgesehen, hat sich Gaara in die Person verliebt und wäre der Junge ein Mädchen, wäre Gaara mit ihr jetzt auch zusammen. Darum heißt es auch Liebe.“
 

Für einige Sekunden zog Stille ein. Annalina schien nicht recht zu wissen, wie sie auf ein 15-jähriges Mädchen reagieren sollte, dass sie belehren wollte, während Vicky und Emil stumme Blicke tauschten, dann murmelte Vicky mit ihrer rauen Stimme: „Das mit den Kuchen und Keksen hat mir besser gefallen.“

„Mir auch“, sagte Emil und begann erneut zu lachen.

„Ihr braucht mir das nicht zu erklären“, schüttelte Annalina den Kopf. „Ich akzeptiere die Sexualität von jedem Menschen, das ist eine private Sache, die mich auch nichts angeht. Aber ich kann es nicht verstehen, wenn eine Person beide Geschlechter liebt. Ich kann es auch nicht verstehen, wenn Mädchen lesbisch sind. Aber ich akzeptiere es.“

„Ist auch okay, du brauchst es nicht zu verstehen“, zuckte ich die Schultern.
 

Eine Weile unterhielten wir uns noch darüber und über andere Dinge, dann war der Auftritt von Herr Kemp und den Anderen. Gleich danach wäre mein Chor an der Reihe... Aufregung machte sich in mir breit. Doch nicht so schlimm wie bei den Kindern, die mittlerweile damit beschäftigt waren sich das Lied immer und immer wieder durch den Kopf gehen zu lassen.
 

Überraschenderweise spielten Herr Kemps Leute einen bekannten Popsong, ihr eigenes Cover davon, welches – wie ich gestehen musste – wirklich gut war. Amber aus meiner alten Gruppe sang den Hauptpart und genoss all die Aufmerksamkeit, die ihr geschenkt wurde. Dahingegen hatte Herr Kemp schon einmal den Längeren gezogen, denn ich hatte acht Kinder, die es eher mochten im Unauffälligen zu bleiben. Auf dem Musikfest waren so viel mehr Leute als damals während dem Weihnachtsfest... mir wurde ganz anders zumute bei dem Gedanken daran, dass noch mal jemand einen Aussetzer haben könnte. Und damit war ich nicht der Einzige. Als ich mich zu meinem Chor drehte, bemerkte ich, dass sie mich alle mit einem nervösen Ausdruck in den Augen anblickten. Besonders Vicky, die schwarze Haarsträhnen um ihren Finger zwirbelte und ihre Unterlippe zerkaute.
 

„Okay...“ Ich war kein Meister großer Worte, aber irgendetwas musste ich sagen, um sie aufzubauen. „An der Stelle sollte ich wohl so etwas sagen wie: Ihr schafft das. Oder sonst irgendeinen Satz, den Leute in dieser Situation sagen, aber ich weiß, dass das nicht viel bringt... hört zu, ihr wisst, dass ihr das könnt. Wir haben die letzten Wochen echt hart an dem Song und der Choreografie gearbeitet, doch es hat Spaß gemacht. Und ich weiß, dass es euch Spaß macht zu singen. Es wird Zeit, dass Leute euch sehen und hören. Dass ihr den Applaus für eure Bemühungen bekommt. Und... ich werde vor die Bühne gehen. Dort gibt es einen abgezäunten Bereich, in den nur Leute dürfen, die auch auftreten. Falls einer von euch zu nervös wird, kann er mich anschauen. Ich habe euch schon hundert Mal singen gehört. Wenn ihr nur zu mir singt, sollte die Nervosität kein Problem mehr sein, okay?“

Nacheinander nickten sie.
 

„Gaara, sie werden aufgerufen“, ertönte Annalinas Stimme hinter mir.

„Okay, legt los!“

„Wir machen das!“, rief Raffi lauthals und rannte als Erstes voraus. Vor der Treppe, die von hinten auf die Bühne führte, stand ein Techniker, der die Mikrofone für die Kinder bereit hielt. Raffi und Joe, die Beatboxer, bekamen speziell eingestellte Mikros, von welchem sich Raffi nun eines nahm und es in die Luft streckte. „Gaara hat sich das Cover ausgedacht und Gaara hat es uns beigebracht, also kann nichts schief gehen!“

Die Anderen fielen in sein Geschrei mit ein. Viele wandten sich verwirrt zu ihnen um. Annalina und ich mussten lachen, während die Acht die Bühne erstürmten. Wegen des Komplimentes fühlte ich mich sogar geschmeichelt und wurde ein wenig rot auf den Wangen. Kaum, da die Kinder weg waren, verließen wir den Backstagebereich, um uns in den abgezäunten Bereich zu stellen. Auch Herr Kemp war hier anwesend und stellte sich sogleich zu uns.
 

„Ich bin gespannt“, sagte er mir noch mit gehobenen Augenbrauen, dann verklang langsam der Applaus, den die Menschenmenge meiner Gruppe schenkte. In einer Reihe, immer mit ein wenig Abstand voneinander, standen die Kinder nebeneinander, die Beine etwas auseinander. Gleichzeitig führten sie die Mikrofone an ihre Münder und Maya zählte leise vor. Mein Herz pochte mir bis zum Hals, nervös begann ich meine Finger zu kneten.
 

Gleichzeitig begannen die sechs Sänger eine einfache Melodie zu summen, die nur für den Hintergrund diente. Dabei sangen sie auf unterschiedlichen Oktaven, was den Anschein erweckte, als würden sehr viel mehr Menschen auf der Bühne stehen und singen. Zur selben Zeit sprach Raffi den Satz, den sich die Kinder für das Intro des Liedes* selbst ausgedacht hatten:
 

It's so hard, when people knock you down

And tell you that you're never gonna get a shot at glory

But that's when you rise to the challenge

'Cause it's your time, your moment

And nothing can stop us now.
 

Danach begann der eigentliche Song. Raffi und Joe begannen zu beatboxen. Zoé, Greta, Frieda, Maya und Emil sangen die Hintergrundstimmen und Vicky übernahm den Hauptpart. Ihre Formation löste sich, Vicky ging in die Mitte und begann mit ihrer rauen Stimme zu rappen, wie ich sie noch nicht im Training rappen gehört hatte. Schon da war sie immer grandios gewesen, aber jetzt übertraf sie sich selbst um Längen. Vor Freude und Überraschen klappte mir der Mund auf, dann trat ein breites Lächeln auf meine Lippen. Neben mir begann Annalina zu jubeln. Viele aus dem Publikum taten es ihr gleich, in den vorderen Reihen tanzten sogar einige Leute. Ich konnte nicht anders als vor Erleichterung und Freude zu lachen.
 

Einige Zeilen lang war Vicky am rappen, dann bewegten sie sich wieder und Zoé ging in Mitte um ihren kürzeren Part zu übernehmen.
 

My posse's been on broadway, ha! and we do it, our way.

Grown music, I shed my skin and put my bones into

Everything I record and yep yep yep yep I’m on
 

Danach war wieder Vicky dran und im Refrain sang sie ebenfalls die Hauptstimme. Die Energie und der Spaß, den die Acht auf der Bühne ausstrahlten, übertrug sich wie ein Lauffeuer auf das Publikum und viele sangen mit, da das Lied allgemein sehr bekannt und beliebt war.
 

Here we go back, this is the moment

Tonight is the night, we'll fight till it's over

So we put our hands up

Like the ceiling can’t hold us,

Like the ceiling can’t hold us
 

Die zweite Strophe eröffnete Emil mit seinem Rap-Part, begleitet wurde er dabei nur von Raffi und Joe, die letzte Zeile rappte er ohne jegliche Begleitung und als danach wieder alle Anderen einstiegen, ertönte noch einmal lauter Jubel aus dem Publikum. Schließlich ging es zur zweiten Hälfte des Liedes über, bei welcher jeder von ihnen bewies wie gut sie singen konnten, insbesondere Emil, der allen zeigte wie hoch er mit seiner Stimme kam. Es brachte das Publikum erneut zum jubeln, viel lauter als zuvor und das Grinsen auf meinen Lippen schien wie fest getackert. In der Musikschule und auch in seiner normalen Schule wurde Emil ständig für seine hohe Stimme gemobbt und nun wurde genau dies von allen lauthals gefeiert. Ein drittes Mal ertönte der Refrain, dann war unsere eigene Interpretation von 'Can't hold us' vorbei und der Applaus war laut.
 

Die Kinder waren über beide Gesichtshälften am Grinsen und fielen sich gegenseitig in die Arme. Sie fassten sich an den Händen, verbeugten sich vor dem Publikum. Verteilt forderten die Zuschauer sogar nach einer Zugabe, jedoch mussten die Acht die Bühne wieder verlassen, damit der nächste Act auftreten konnte. Ich wollte sofort zu ihnen laufen, da hielt mich Herr Kemp mit einer Hand auf der Schulter war.

„Du bist immer wieder anstrengend, weißt du das?“, seufzte er. „Als Kind warst du furchtbar. Ich wusste über deine Eltern Bescheid und ich kann mir vorstellen wie einsam du gewesen warst. Du hast mir mehr Sorgen bereitet als irgendjemand sonst aus der Musikschule. Aber egal wie sehr ich dir helfen wollte, noch mehr hast du mich mit deiner frechen und respektlosen Art aufgeregt. Ich weiß, dass ich immer sehr streng zu dir war. Irgendjemand musste es ja sein. Aber ich bin froh, dass du das mit dem Chor durchgezogen hast. Am Ende bist du eben sehr talentiert, auch wenn das deine Eltern nicht erkennen. Mach bitte weiter so.“
 

Überrascht blickte ihn an, mein Mund stand leicht offen und einige Sekunden lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Schließlich brachte ich ein überfordertes „Danke“ hervor und meine Augen weiteten sich noch ein wenig mehr, als mir Herr Kemp ein Lächeln schenkte. In meiner Kindheit war er mehr oder weniger eine Erziehungsperson für mich gewesen. Umso erstaunter war ich darüber von ihm Lob erhalten zu bekommen. Meine Eltern hatten so etwas nie für mich übrig gehabt.

„Gaara!“, ertönten die Stimmen der Chorkinder hinter mir.

„Ich komme!“ Herr Kemp ließ meine Schulter los und ich lief zu den Anderen hinter die Bühne.
 


 

Lukas
 

Leon war kein übler Kerl – im Gegenteil. Er passte sehr gut zu meiner Schwester, auch wenn es mir schwer fiel das zuzugeben. Abgesehen von ihm zeigten sich auch meine Freunde von Alex begeistert. Als sie mit ihrem Freund in der Menge verschwand, weil sie ein paar Bekannte gesehen hatten, sagte Sam an mich gewandt: „Die ist ja ganz schön frech und selbstbewusst.“

„Ja, ist sie“, sagte ich gequält.

„Ganz anders als du“, stellte Noah überrascht fest. „Als wir dich kennen gelernt haben, warst du total verschüchtert und in dich zurück gezogen. Aber deine Schwester geht ja direkt ab, wenn sie jemanden kennen lernt.“

„Ist mir lieber“, sagte ich und verzog ein wenig den Mund. „Schließlich erging es mir wegen meiner verschüchterten Art nicht gerade gut.“

In Gedanken war ich dabei besonders bei den Mobbingattacken von der Idiotengruppe. Zum Glück traf ich die nur noch selten auf dem Schulgelände, doch wenn, konnte ich immer davon ausgehen, dass ein dummer Spruch ertönen würde.
 

Eine Weile lang standen wir zusammen und unterhielten uns, bis Gaara endlich zurück kehrte. Leider auch gemeinsam mit Annalina, die sich sogleich zu Larissa und Marc stellte. Scheinbar gehörte sie jetzt irgendwie zu unserer Clique, damit musste ich klar kommen. Zumindest war ich nicht der Einzige, der ihr Todesblicke zu warf, auch Sam konnte sich noch nicht mit dem Gedanken anfreunden sie häufiger um sich herum zu haben.
 

Trotz Annalina wurde es jedoch ein schöner Abend, den ich noch lange in Erinnerung behalten werde. Als Seeed endlich auftrat, hatte jeder von uns schon ein wenig mehr getrunken und wir begaben uns mittig in die Masse, um mit allen zu tanzen und zu singen. Das Konzert war fantastisch, die Stimmung grandios und als Gaara mich an beiden Händen festhielt, um mir einen Kuss auf die Lippen zu geben, störte es mich nicht einmal. Sollten doch alle sehen, dass ich schwul war. Sollten doch alle sehen, dass ich mit ihm zusammen war. Vollkommen egal, was sie sagten oder, wie sie schauten, niemand konnte mir das Glück nehmen, das ich mit Gaara und den Anderen gefunden hatte. Wenn ich daran zurück dachte, wie deprimiert und verzweifelt ich gewesen war, als Mum sich dazu entschieden hatte, nach Berlin zu sehen, konnte ich nur noch schmunzeln. Am Ende war es die beste Entscheidung gewesen, die sie hätte treffen können. Und diese Einstellung änderte sich nie wieder.
 

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*https://www.youtube.com/watch?v=xHRkHFxD-xY : Original

https://www.youtube.com/watch?v=aHs9ARpKMrc : Cover an welches das Lied der Kinder angelehnt ist.


Nachwort zu diesem Kapitel:
INTERPRETATION

Und das Wohnmobil hat Räder, verdammt - Wir sind uns unserer Mobilität im Leben bewusst, das Wohnmobil als Symbol für das Vorwärtskommen im Leben selbst, wir wissen, dass wir Räder haben und immer weiter können

Doch wir können hier nicht weiter, hier ist Fledermausland. - Doch wir können nicht weiter, denn wir sind im Fledermausland, also abhängig von Drogen

Und so bleib ich in der Wagenburg und lebe hier - Akzeptiere die Abhängigkeit und lebe darin

Kannst du die Berge nicht erreichen, hol den Schnee zu dir... - Kannst du die Höhen im Leben (Berge) nicht erreichen, mach dich durch Drogen glücklich. Schnee ist in diesem Fall eine allgemein bekannte Bezeichnung für Koks.

Lied: https://www.youtube.com/watch?v=9eg4Z7Cfr5w Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein paar Worte im Voraus...

Um nun zu einem Abschluss zu kommen, poste ich schon einmal das Nachwort. Vorne rein möchte ich euch mitteilen, dass ich nur das reingeschrieben habe, was ich mir ohnehin schon ausgedacht habe bzw. was mir so während dem Schreiben der Geschichte in den Kopf gekommen ist. Ich habe mich jetzt nicht hingesetzt und mir für Charaktere für die ich keine Vorstellung der Zukunft hatte, noch etwas zusätzlich ausgedacht, weshalb es hier und da ein paar Lücken geben könnte.
Dafür ist es bei anderen umso ausführlicher :)

Aktuell plane ich an einer weiteren Jugenddrama/Romantik - Geschichte, die ähnlich wie Misfits aufgebaut sein wird.. diesmal jedoch mit einem Heteropaar im Mittelpunkt und alles wird aus der dritten Erzählperspektive geschrieben sein (so habe ich es auch eigentlich lieber!) Und Gott, ich komme nicht drum herum mir zu überlegen die Geschichte in der Zukunft spielen zu lassen und ein paar Kinder von unseren Misfits-Charakteren auftauchen zu lassen... oder die Charaktere selbst... agh agh. Aber darüber muss ich noch mal gründlich nachdenken. Irgendwann muss man ja auch mal mit einer Geschichte/den Charakteren abgeschlossen haben!



Nun zum eigentlichen Nachwort.



Lukas & Gaara
Beide Charaktere sind von mir frei erfunden.

Nach dem Abitur suchen die Beiden nach Studienplätzen. Während Gaara schon Planungen aufstellt mit Lukas zusammen zu ziehen, bewirbt er sich ebenfalls an Universitäten, die in Nordrhein-Westfalen sind – und wird auf derselben angenommen an welcher auch Simon studieren wird. Aus Angst, dass Gaara verletzt und wütend sein wird, verheimlicht er es ihm bis kurz vor dem Umzug – dann findet es Gaara durch Zufall selbst heraus, woraus ein Streit resultiert, der in einer weiteren Trennung endet. Diesmal jedoch nicht nur für ein halbes Jahr, sondern Lukas' gesamte Studienzeit über. In dieser Zeit versuchen Beide ihren Liebeskummer in One Night Stands und Sexbeziehungen zu kompensieren, was jedoch nicht wirklich gelingt. Nach dreieinhalb Jahren ziehen Lukas und Simon gemeinsam nach Berlin. Gaara und Lukas nähern sich wieder aneinander und kommen schließlich zusammen. Diesmal hält ihre Beziehung bis zu ihrem Lebensende.

Schließlich heiraten die Beiden und adoptieren im Laufe ihrer Ehe drei Mädchen (ich hoffe einfach mal, dass in Zukunft die Adoption für homosexuelle Paare erlaubt ist..). Alle drei Kinder adoptieren sie, wenn diese erst wenige Monate oder Wochen alt sind. Zuerst Amelia, die das Patenkind von Lukas' Schwester Alexandra wird. Vier Jahre später folgt Saya, Simons Patenkind. Und weitere fünf Jahre später Chelsea, Kaitos Patenkind. Die Mädchen nennen Gaara 'Dad' und Lukas 'Papa/Paps'. Beide entwickeln sich zu guten Vätern, wobei Lukas immer etwas sanfter und gutmütiger ist, während Gaara auch mal ein Machtwort spricht.

Zu ihren Berufen:
Lukas studiert einen eher langweiligen Studiengang in Richtung Verwaltung, schließt diesen jedoch mit Bestnoten ab, weshalb er in Berlin direkt einen Job in einer Agentur findet. Als Gaara und Lukas bereits ihr erstes Kind haben, wird die Agentur von einer größeren Firma aufgekauft und der Chef wechselt. Der neue Chef tyrannisiert Lukas – anfangs mit Überstunden und unmenschlichen Arbeitszeiten – später mit Worten und anderen kleineren Taten – aufgrund seiner Homosexualität. Schließlich kündigt Lukas und übernimmt vorerst eine Rolle als Hausmann und Vater. Mit der Zeit beginnt er ihren chaotischen, aber glücklichen Haushalt in kleinen Texten festzuhalten. Über Umwege geraten diese an ein Magazin, welches die Texte so amüsant und herzlich findet, dass sie sie in Form einer Kolumne veröffentlichen wollen. Seitdem kann Lukas von Zuhause aus arbeiten und hat immer Zeit für seine Töchter.
Gaara beginnt erst ein Physikstudium in Berlin, bricht dieses jedoch bereits nach dem ersten Semester ab, weil Physikstudiengänge unmenschlich sind (weiß ich aus erster Hand von einem Physikstudenten, der deswegen Burnout gefährdet ist.), danach wechselt er zu Sozialwissenschaften, bricht dieses nach zwei Semestern ab und studiert schließlich Soziologie zu Ende. Wie genau er dort gelandet ist, kann er sich selbst nicht recht erklären. Über Umwege und Kontakte landet er schließlich in einer Einrichtung, die sich mit schwererziehbaren Jugendlichen und Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten Berlins beschäftigen.
Der Musikschule kehrt Gaara letztendlich komplett den Rücken zu. Sein unabhängiger, achtköpfiger Chor macht weiterhin Acapella Musik und wird mit der Zeit weltweit bekannt. Sie bringen Alben raus, komponieren eigene Lieder und gehen sogar auf Tour. Nach jedem Konzert danken sie ihrem 'Mentor'.

Zu ihrem Tod:
Beide sterben in einem hohen Alter im selben Jahr. Ihre Töchter haben bereits eigene Familien gegründet und sich ein eigenes Leben aufgebaut. Einige Jahre lang leidet Lukas an Alzheimer, stirbt schließlich an einem Schlaganfall. Gaara, obwohl er zuvor – für sein Alter – körperlich völlig gesund war, folgt nur zwei Monate später. Bei der Beerdigung sind sich die Töchter einig: Er konnte nicht ohne Lukas leben.




Simon
Dieser Charakter wurde von mir frei erfunden.

Erstaunlicherweise ist Simon der Erste von allen, der sich verlobt. Leider kommt es nie zur Hochzeit, da seine Verlobte ihn kurz vorher verlässt, was ihn in einem tiefen Liebeskummer wirft. Nach dieser gescheiterten Verlobung ziehen Lukas und er gemeinsam nach Berlin. Mit 32 Jahren heiratet Simon eine junge Frau, die er aus ganzem Herzen liebt und die Beiden bekommen einen Sohn, welcher Lukas' Patenkind wird. Als der Sohn noch ein Kleinkind ist, wird seine Mutter in einen Autounfall mit einem Betrunkenen verwickelt, der ihr das Leben kostet. Danach ist Simon alleinerziehender Vater und auch, wenn er es Jahre später mit anderen Frauen versucht, kann er nicht mehr sein Glück in der Liebe finden.

Zu seinem Beruf:
Zuerst studiert Simon Architektur, bricht das Studium jedoch ab, nachdem er die Prüfungen zwei Mal verhauen hat. Danach macht er zur Orientierung und Überbrückung der Zeit ein freiwilliges kulturelles Jahr in einem Club und wird dort u.A. in den technischen Bereich eingearbeitet. Er merkt, dass er in dieser Branche seine übermäßige Energie und seine Kontaktfreude bestens nutzen kann. Aus diesem Grund arbeitet er auch in Berlin wieder in Clubs. Nachdem er seine Arbeitsstelle ein paar Mal gewechselt hat, landet er schließlich in einem Club, in welchem er jeden Arbeitsbereich durch geht und sich zum Personalchef hoch arbeitet. Als einer der leitenden Chefs des Clubs bleibt er dort bis zur Rente (die für ihn nicht allzu hoch ausfällt).

Zu seinem Tod:
Er stirbt in dem Jahr in dem Lukas anfängt Alzheimer zu entwickeln.




Kaito
Dieser Charakter wurde von mir frei erfunden.

Auch wenn Kaito das ein oder andere Mal doch noch zu Marihuana und Ecstasy greift, wird er nie wieder rückfällig. Mit Sky bleibt er ein paar Jahre zusammen, doch schließlich trennen sie sich im Guten voneinander. Er hat immer mal wieder kurze Beziehung, bis er eine von diesen versehentlich schwängert. Auch, wenn die Beiden kein Paar werden, kümmern sie sich zu gleichen Teilen um ihren Sohn, der selbstverständlich das Patenkind von Gaara wird. Er ist ein wenig das Sorgenkind der gesamten Clique, weil er während der Pubertät viel Ärger macht und ständig Beschwerden von der Schule kommen, doch hat er trotzdem ein viel besseres Leben als sein Vater und später einen festen Beruf und eine eigene Familie. Kaito selbst heiratet niemals, trifft jedoch trotzdem die Liebe seines Lebens mit welcher bis zu seinem Tod zusammen bleibt.

Zu seinem Beruf:
Kaito bekommt das Kunststudium und zieht es bis zum Ende durch. Er verkauft einige seiner Gemälde, merkt jedoch, dass es ziemlich schwierig wird als Künstler zu überleben. Über Skys Kontakte lernt er das Tätowieren, leitet später sein eigenes Tattoostudio und verkauft weiterhin Kunstwerke und das nicht für wenig Geld. Er verdient mit dem Geld, was ihm am meisten Spaß macht.

Zu seinem Tod:
Er ist der Erste, der stirbt. Kaito wird nicht einmal 50 Jahre alt, da er an Lungenkrebs erkrankt, der ihm schließlich aus das Leben kostet. Zum Zeitpunkt seines Todes ist sein Sohn zwanzig Jahre alt.




Noah
Die psychischen Probleme dieses Charakters basieren auf einer meiner guten Freundinnen. Ansonsten ist er frei erfunden.

Um ehrlich zu sein, habe ich über Noahs Zukunft nicht allzu viel nachgedacht. Ich habe mir immer vorgestellt, dass er sein Abitur aufgrund seiner Depressionen nicht schafft – im letzten Jahr erleidet er zu viele Panikattacken, die Angst zu versagen nimmt ihn komplett ein, was darin endet, dass er das Abitur abbricht. Sein Vater bezahlt ihm einen Aufenthalt in einer privaten psychiatrischen Einrichtung und es hilft. Ich weiß, dass Depressionen niemals komplett weggehen, doch ich stelle mir, dass Noah sie weitestgehend überwinden kann und glücklich wird. Er findet einen Mann, der ihn so behandelt wie er es verdient hat und mit dem er die halbe Welt bereist. Wenn Noah erst einmal seine psychischen Probleme hinter sich gelassen hat, erkennt er, dass ihm Deutschland zu klein ist. Zwei Jahre lebt er mit seinem Ehepartner in New York, sie besuchen Japan und Neuseeland, Australien und Afrika, arrangieren sich Beide in wohltätigen Bereichen wie z.B. das SOS Kinderdorf und werden dort auch beruflich tätig. Natürlich kommen sie häufig zurück nach Berlin. Jedes Mal bringt Noah Geschenke für alle Kinder und seine Freunde mit. Er wird ein glückliches Leben führen. Über seinen Tod habe ich mir keine Gedanken gemacht.




Samantha
Dieser Charakter wurde von mir frei erfunden.

Auch zu Sam habe ich nicht allzu viel geplant. Sie ist eine Person, die weiß, was sie möchte, Entscheidung schnell trifft und dank ihrer Dickköpfigkeit bis zum Ende durchzieht. Daher glaube ich, dass sie eher eine Ausbildung machen würde, um in einen standhaften Beruf zu gelangen. Etwas, was ihr natürlich auch Spaß macht, aber sie denkt da eher pflichtbewusst. Mit Chris würde sich nicht bis zum Ende ihres Lebens zusammen bleiben. Irgendwann trennen sie sich voneinander. Eines Tages heiratet Sam und ich würde sie drei – vier Kinder bekommen lassen. Auf der einen Seite kann ich mir gut vorstellen, dass sie mit ihrem Ehemann bis zum Ende ihres Lebens zusammen bleibt, auf der anderen Seite kann ich mir jedoch genauso gut vorstellen, dass er irgendwann das Weite sucht. Ob Scheidung oder nicht, könnt ihr ja eurer eigenen Fantasie überlassen :)





Genesis & Lynn
Diese Charaktere wurden von mir frei erfunden.

Erneut zwei Damen zu denen ich mir nur grobe Gedanken gemacht habe. Bei Lynn sähe die Situation ähnlich aus wie bei Samantha. Sie würde ebenfalls ungefähr drei Kinder bekommen, wäre jedoch eine viel sanftmütigere und emotionalere Mutter als Sam. Was den meisten vermutlich nicht gefallen wird, ist die Tatsache, dass zu Lynn mit der Zeit der Kontakt abbricht. Besonders, wenn Menschen anfangen sich ein eigenes Leben aufzubauen, werden Freunde, die man früher einmal hatte, in die Vergessenheit gedrängt. Sowohl Lynn als auch Genesis zählen bei Lukas zu diesen Freundinnen – allen voran deshalb, weil sie in verschiedenen Bundesländern leben.

Genesis ist ein Freigeist. Immer mal wieder würde sie einfach in Berlin vorbei schneien, um mit Lukas einen Trinken zu gehen. Ansonsten hätte ihr Leben ähnliche Züge wie das von Noah, nur mit einer sorgenfreien Leichtigkeit, wie man sie sich nur wünschen kann. Sich über die Zukunft Gedanken machen? Einen festen Beruf mit einem festen Gehalt haben? Heiraten und eine Familie gründen? Nicht mit Genesis. Sie genießt ihr Leben, arbeitet, was sie arbeiten möchte und tut sich keine Zwänge auf.




Hannah & Larissa
Beide Charaktere basieren auf Freundinnen von mir (sogar mit denselben Namen! :D)

Hannah, immer auf der Suche nach der großen Liebe, wird sie diese auch eines Tages finden. Ihre Vorliebe zu Hunden arbeitet sie in ihren Beruf ein: Sie macht Therapien mit Kindern mithilfe von Hunden. Auf diese Weise kann sie Gutes tun und viel Spaß dabei haben, sie kombiniert das, was ihr am Wichtigsten im Leben ist. Sie heiratet und gründet eine Familie. Ich schätze Hannah wäre so altmodisch zwei Kinder zu bekommen – am Besten noch ein Junge und ein Mädchen. Eine Scheidung möchte ich mir für Hannah nicht vorstellen, das wäre zu hart. Sagen wir, sie lebt glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Und natürlich wäre ihr erstes Kind das Patenkind von Noah!

Larissa sieht da schon ganz anders aus. Wie man sich vermutlich schon denken konnte, trennen sich Marc und sie früher oder später wieder voneinander. Nach einigen Beziehungen, die einen Ernster, die einen Lockerer, trifft sie einen Mann mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen möchte – trotzdem heiraten sie niemals. Sie leben mit dem Hintergedanken, dass sie sich eines Tages vielleicht wieder trennen und dann müssen sie den ganzen Papierkram erledigen und sich durch den langwierigen Prozess einer Scheidung kämpfen, daher gehen sie niemals den Bund der Ehe ein. Trotzdem bekommen sie gemeinsam eine Tochter, nur ein Kind wie sie von vorne herein entschieden haben.




Marc
Dieser Charakter basiert auf einem Bekannten von mir

Auch Marc lebt ein eher „normales“ Leben, wenn erst einmal die Phase des Saufen und Feiern hinter sich gebracht hat. Eines Tages heiratet er und bekommt mit seiner Frau Zwillinge. Bei ihm könnte ich mir gut vorstellen, dass er im Alter von Mitte 40 noch einmal einen Sinneswandel bekommt und eine Scheidung eingeht, um sich irgendeine jüngere Frau zu schnappen. Wie ich gehört habe, machen das recht viele Männer in diesem Alter und ich könnte mir einfach gut vorstellen, dass es zu Marc passt.



Zu anderen Charakteren, die im Laufe der Geschichte vorgekommen sind, habe ich mir entweder nichts Näheres überlegt (z.B. zu Alex – sorry!) oder unsere Hauptcharaktere brechen mit der Zeit zu ihnen den Kontakt ab. Dazu zählen Annalina, Schifti, Tami, Florian, Kiaro, Chris, Sky und mehr. Ansonsten könnte es euch sicherlich noch interessieren, dass Felix seine Querschnittslähmung akzeptieren kann und ein glückliches Leben führt. Auch er gründet eine Familie und er macht das Beste aus seinem Leben trotz der Querschnittslähmung.


Übrigens: Am Ende des Abiturs gibt es ja immer eine Abizeitung mit einem Steckbrief zu jedem Schüler. Freunde schicken zu den Machern der Zeitung Texte über die Schüler und sie werden in die Zeitung gedruckt. Normalerweise dürfen natürlich nur die Abiturienten daran beteiligt sein. Aber im Falle von Gaara, Lukas & Co. hat Kaito ebenfalls mitgemischt und kurzerhand unter Lukas' Steckbrief ein kleines PS gesetzt: 'Er hat auf Gaaras 18. in den Blumentopf gekotzt.' Und somit erfuhr auch Gaara davon und das Geheimnis war gelüftet – Gaara war Schifti eine Entschuldigung schuldig und ihr könnt euch vorstellen wie dunkelrot Lukas angelaufen ist ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (79)
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Von:  Remi-cookie
2017-10-28T22:02:18+00:00 29.10.2017 00:02
*-* <3
Von:  Pearce
2014-09-05T19:25:51+00:00 05.09.2014 21:25
Awwww :33
Das Nachwort-Nachwort gefällt mir auch richtig gut :D

Alzheimer muss richtig blöd sein...aber als ich das mit: Er konnte einfach nicht ohne Lukas leben, entkam mir mal ein langes: AWWWWWW xD

Die neue FF werd' ich auf jeden Fall auch verfolgen ... wie schon gesagt xD

LG :D
Von:  Pearce
2014-09-03T20:06:50+00:00 03.09.2014 22:06
Schönes Ende :))
Ehrlich gesagt hab ich ziemlich lange gebraucht, bis ich kapiert hab, welchen Song die Kinder singen xD
Erst, als ich mir den Text durchgelesen hab, hat die Bombe gezündet ^~^
Und dann gab's auch die Erleuchtung, im Zusammenhang mit Kapitelname und...ja...
Tjaja...*dumm wie immer*...

Nja, jedenfalls tut es mit wirklich leid, dass ich so gut wie gar nicht Kapitel kommentiert hab, was daran liegt, dass ich lieber 'stumm' lese bzw. bleibe...
Aber du kannst dir sicher sein, dass ich alle Kapis mit gelesen und mich jedes mal auf ein neues gefreut habe, weil deine Erzählweise und die Handlung selber einfach klasse sind :D (hab ich das schon mal erwähnt? ...naja...falls es so is: hier hörst du's nochmal! xD)

Ich freu' mich voll für Lukas und seinen Gaara *in sich hinein grins* Vorallem, weil es so ein beschwerlicher Weg war, den Beide miteinander und auch alleine durchgestanden haben...
Tatsächlich hab ich mich mit dem kleinen Bambi identifizieren können xD Schüchtern...zurück gezogen, wie Noah hier ja erwähnt,... eben ein Bambi, dass sich im Wald verlaufen hat ;)... aber eben auch richtig gut drauf, wenn man mit seinen (neuen und 'alten') Freunden beisammen ist.
Lukas war mir von Anfang an sympathisch, genauso wie die anderen Charaktere...naja, die meisten jedenfalls *misstrauisch zu Annalina schiel*

Und weil es so schön is, sag' ich es einfach noch mal: dein Schreibstil ist richtig gut, deine Charaktere sind realistisch dargestellt und ihre Handlungen nachvollziehbar.
Alles in allem: 'Misfits: Herzkönig' und 'Misfits: Kreuzdame' sind wirklich wunderschöne FFs, die mir auf jeden Fall mein Leben versüßt haben und für die sich das Upload-Warten richtig auszahlt :D

Freu mich auch schon wahnsinnig, auf deine neue(n) FF(s), die ich hoffentlich auch mal kommentiere, damit du sie auch ja nich abbrichst xD *muhahaha*
Adiós! :D)


Ps: Ein Nachwort wäre echt cool ^~^ Zwar is' die FF so auch schon toll, aber dann will ich doch schon iwie wissen, was aus Bambi und seinen Freunden wurde :3
Antwort von:  Hushpuppy
04.09.2014 12:06
Huhu :)
Danke für den Review!

Und freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat. Ist ja nicht schlimm, wenn du nicht kommentiert hast, dafür machst du es ja jetzt *hehe* außerdem kann man ja niemanden dazu zwingen. :3

Ja, ich hatte das Nachwort als eigenständiges Kapitel hochgeladen, was natürlich nicht an den Mods vorbei gegangen ist >.> War auch etwas dämlich von mir. Als es zurückgestellt wurde, habe ich es noch mal als Epilog hochgeladen, aber ich schätze das wird ebenfalls nicht funktionieren. Eigentlich schade.. schließlich gehört das Nachwort immer noch zur Geschichte. Es ist kein 'Danke für alle Reviews blahblah', sondern weiterhin meine Ideen in Textform. Hm... muss ich mir was anderes überlegen ^^'

LG Suki
Antwort von:  Hushpuppy
05.09.2014 20:38
Soo das Nachwort befindet sich jetzt unter dem letzten Kapitel... als Nachwort. :D
Von:  blaumina
2014-09-01T01:10:00+00:00 01.09.2014 03:10
Ein sehr schönes letztes Kapitel, das muss ich wirklich sagen. Tatsächlich bin ich grad immer noch ziemlich bewegt, weshalb ich auch nicht weiß, ob das, was ich hier schreibe, wirklich so lesbar ist xD
Gerade den Anfang fande ich sehr schön, mit dem Bild seines Vaters, welches nochmal auf den Anfang Bezug nimmt und die veränderte Bedeutung, die es nun für ihn hat, bzw. die veränderten Gefühle. Generell mochte ich es, dass überall in diesem Kapitel auf die gesamte Geschichte eigentlich Bezug genommen wurde. Sehr gefreut hat es mich auch, dass ich das Lied und sogar die Version sofort erkannt hab, die der Chor dort gesungen hat, als du es beschrieben hast, das war wirklich sehr cool ;)
Und der letzte Satz hat mir dann auch noch mal kleine Schauer über den Rücken gejagt, denn ich erinnere mich da doch noch an die Inhaltsangabe zum "ersten Teil" quasi. Stand dort nicht auch etwas von wegen, dass Lukas Mutter eine schlechte Mutter wäre, wäre das nicht die beste Entscheidung gewesen, die sie für ihre Kinder hätte treffen können? Irgendwas in die Richtung und genau deswegen finde ich es richtig super, wie du genau das im allerletzten Satz noch einmal aufnimmst :3 Genau so wie Lukas veränderte Einstellung bezüglich der offenen Darstellung seiner Sexualität, was am Ende des ersten Teiles ja auch noch ganz anders aussah.

Generell war die gesamte Geschichte wunderschön, beide Teile. Ich mag auch deinen Schreibstil sehr, sehr gerne, muss ich zugeben. Auch wenn ich es schade fand, dass die paar letzten Kapitel eher im Zeitraffer geschrieben waren, wobei das hier für das letzte Kapitel natürlich sehr passend ist, aber das ist nur eine persönliche Anmerkung. Es waren zwei wundervolle Teile einer großen Geschichte, wie ich sie selten im Internet finde. Zumindest keine, die mich direkt so berührt und wo mich der Schreibstil so fesselt, dass ich schon von Anfang an nicht aufhören konnte zu lesen und mich immer auf die neuen Kapitel gefreut habe, sie teilweise sogar gar nicht abwarten konnte. Es ging sogar so weit, dass ich mich einen Tag lang nicht getraut habe, dieses letzte Kapitel zu lesen, aus Angst, dass es danach vorbei ist xD Aber ich kann mich nur bedanken, das letzte Kapitel war wunderschön und angenehm passend. Ich mochte es sehr, so wie die gesamte Geschichte und ich hoffe sehr, von dir bald noch andere Geschichten zu lesen :3

(Dazu muss ich mich entschuldigen, dass ich so selten nur kommentiere, dabei hätte die Geschichte es wirklich verdient. Aber dafür gibt's ja dann den Kommentar hier.)

Zum Thema Nachwort ... ich bin mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher. Es würde mich schon interessieren, ja ^^ Genau so gut könntest du die Geschichte aber auch so stehen lassen, wie sie ist. Trotzdem würde ich mich freuen, zu erfahren, was danach aus ihnen allen geworden ist ;)

LG
blaumina
Antwort von:  Hushpuppy
01.09.2014 17:59
Huhu!

Danke für den langen Review!
Freut mich riesig, dass dir die beiden Geschichten so gut gefallen haben. Was die letzten Kapitel angeht.. jaa.. besonders die 'Leben genießen'-Kapitel waren ein wenig inhaltlos, aber das hatte auch seinen Grund - mehr oder weniger. Eine Leserin hat sich gewünscht, dass ich noch mal so ein paar fröhliche Kapitel schreibe bevor die Story zu Ende geht, also habe ich das doch glatt gemacht ;)

Trotzdem hast du Recht. Am Ende ging es doch recht schnell zu Ende... he.
Nun, das Nachwort ist geschrieben und wird bald freigeschaltet. Einige Leute wollten es lesen, also werde ich meine Gedanken und Ideen nicht für mich behalten! :D

Uund: Du kennst also Pentatonix? Da hast du gerade einen fetten Sympathiepunkt gesammelt. Ich liebe diese Gruppe, habe sie schon zwei Mal live gesehen, einfach fantastisch! :D

LG Suki
Antwort von:  Hushpuppy
05.09.2014 20:39
Falls es dich interessiert... das Nachwort befindet sich jetzt unter dem letzten Kapitel :)
Von:  Onlyknow3
2014-08-31T10:01:07+00:00 31.08.2014 12:01
So sollte es immer sein das alles Positiv ausgeht, tut es aber nicht. Nur hier finde ich es schön das Gaara sich gegen seine Eltern stellt, und das Lukas sich auch zu ihm bekannt hat letzt endlich. Was ich schön finde da würde es mich am meisten Interessieren was aus ihm geworden ist. Das ist Kaito, ich wünsche ihm wirklich das er es geschafft hat auf dauer Trocken und Clean zu bleiben. Auch für Noah erhoffe ich mir das er sein Depressionen in den Griff bekommt vielleicht durch ein Therapie in einer Klinik die darauf Spezialisiert ist. Freue mich auf den Epilog, und was aus allen geworden ist, auch wie es Simon geht.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Hushpuppy
05.09.2014 20:39
Huhu :)
Erst mal Danke für den Review!
Zum Thema Nachwort: Es befindet sich jetzt unter dem letzten Kapitel!
Von:  Morphia
2014-08-30T23:01:02+00:00 31.08.2014 01:01
Der letzte Absatz war wirklich ein schöner Abschluss.
Danke für die Story. : ) Ich habe viel mit den Charakteren mit gelitten. Deshalb ist es umso schöner, dass alles gut geendet hat.

PS: Zu einem Nachwort würde ich nicht nein sagen. ^^
Antwort von:  Hushpuppy
05.09.2014 20:39
Hey, danke für den Review!
Nachwort kannst du unter dem letzten Kapitel lesen :D
Von:  tenshi_90
2014-08-30T21:18:00+00:00 30.08.2014 23:18
Das ist ein sehr schöner Abschluss der Story :)

Mich würde schon interessieren, wie es für die Clique und die anderen nach dem Abschluss weitergeht :)
Antwort von:  Hushpuppy
05.09.2014 20:40
Und danke für den Review!!
Das Nachwort kannst du unter dem letzten Kapitel lesen! :)
Von:  tenshi_90
2014-08-23T03:41:21+00:00 23.08.2014 05:41
Das ist ein richtig schönes Kapitel :)
Von:  Onlyknow3
2014-08-22T15:31:05+00:00 22.08.2014 17:31
Schönes Kapitel, mach weiter so, es geht aufwärts. Die Geschichte ist echt super. Freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  JamieLinder
2014-08-17T17:28:21+00:00 17.08.2014 19:28
Oh... Ich bin schon hier angekommen?):
Nur noch wenige Kapitel und dann hat die Story ihr Ende gefunden.):
Schaaaaaaade.
Jetzt habe ich unterwegs gar nichts mehr zu lesen.
Ich freue mich aber dafür schon auf die nächsten Kapitel, auch wenn es bald ein Ende nehmen wird.
Ich danke dir auf jeden Fall schon mal für die bis hierhin total tolle und spannende Story. Sie war sehr realistisch und verständlich aufgebaut. Und ich bin wirklich froh darüber, dass ich zufällig darauf gestoßen bin. :D



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