Berliner Nächte von Jeschi ================================================================================ Kapitel 17: Außerirdische ------------------------- Ich habe keine Ahnung, ob Jonas meinen letzten Satz verstanden hat. Er macht auch keinerlei Anstalten, irgendetwas zu sagen. Stattdessen schaut er mich nur prüfend an und ich werde wieder unruhig unter seinem Blick. Nervös rutsche ich vor auf die Stuhlkante, jederzeit bereit aufzuspringen und die Flucht zu ergreifen. „Du und Dominik also,“ meint er irgendwann und ich nicke. Ich habe Angst, dass er es nicht gut findet, weil er mir wirklich wichtig ist. Auf Leon könnte ich vielleicht noch verzichten, aber Jonas war mir immer ein guter Freund und ich möchte ihn ungern verlieren. Andererseits weiß ich, dass ich auf Freunde verzichten kann, die eine Beziehung mit Dominik nicht tolerieren können. „Na endlich,“ schnaubt er in diesem Moment und ich blinzle. Fragend sehe ich zu ihm, aber der nickt nur und dann wendet er sich einfach von mir ab, schnappt sich seinen Taschenrechner und beginnt mit der nächsten Aufgabe. „Jonas?“ Er reagiert nicht gleich, sondern nuschelt wieder irgendwelche Zahlen vor sich her, ehe er sich mir wieder zuwendet. „Was?“ „Ist es… okay für dich?“ Unsicher beiße ich mir auf die Lippe, aber er zuckt nur mit den Schultern. „Warum denn nicht?“ Darauf habe ich keine Antwort, also sage ich einfach gar nichts mehr dazu. So wirklich realisiert habe ich noch nicht, dass Jonas es jetzt weiß und kein Problem damit hat. Eigentlich sollte ich mich freuen, aber stattdessen schaue ich ihn einfach nur an, als wäre er ein Außerirdischer. Wirklich dumm von mir, aber nach all den Horrorvisionen, die ich mir ausgemalt habe, ist seine Reaktion einfach kaum zu glauben. Er rechnet weiter und ich fühle mich ein wenig fehl am Platz. Gerade kommt mir die aberwitzige Idee, einfach ein wenig Mathe mit ihm zu machen – man hat ja sonst nichts zu tun –, als Leon wieder auf den Plan tritt. Er schleicht in die Küche wie ein Gespenst, blass und mit zusammengekniffenen Augen, weil ihn wohl das grelle Sonnenlicht blendet. „Wie war die Party gestern?“, fragt er mich, als sähe er mich das erste Mal. Dabei hat er mir ja die Türe aufgemacht. „Gut,“ antworte ich, aber mehr sage ich ihm nicht. Ich habe ein wenig Angst, ihm die Neuigkeit zu erzählen. Bei Jonas war es schon gruselig, aber noch ziemlich wahrscheinlich, dass er es okay findet. Bei Leon weiß ich das nicht. Manchmal scheint er ein wirklich netter Kerl zu sein, aber ich kann ihn trotzdem nicht einschätzen. Alles, was Dominik und ihn betrifft, ist eh ein großes Mysterium für mich. „Okay,“ meint er und streckt sich kurz. Jonas wirft mir einen Blick zu, den ich nicht so richtig deuten kann. Ob er es besser finden würde, ich würde Leon von Domi und mir erzählen? Oder denkt er, ich solle es lassen? Vielleicht ist es auch einfach ein ganz normaler Blick und ich interpretiere schon wieder viel zu viel in die Sache hinein. Dennoch beginne ich schon wieder, unruhig auf dem Stuhl herum zu rutschen. So langsam sollte ich mir das mal abgewöhnen. Ich bin hier immerhin bei Freunden zu besuch und nicht bei einer Gerichtsverhandlung. Aber genau so fühlt es sich momentan an. Als würde ich auf mein Todesurteil warten. Tu ich vielleicht auch, falls Leon sehr übel reagieren sollte. „War eine aufregende Nacht für ihn,“ meint in dem Moment Jonas. Es klingt sehr nebensächlich, als würde er gerade einwerfen, dass die Milch leer sei. Aber ich weiß genau, warum er das gemacht hat und ich kann mir einen wütenden Blick in seine Richtung nicht verkneifen. Immerhin ist es ja wohl meine Entscheidung, wann ich es Leon sage. Und ob ich es ihm sage. Jonas lässt mein Blick kalt. Er sieht mich nur eindringlich an und wendet sich dann wieder seinen Zahlen zu. Am liebsten würde ich jetzt auch einfach hier sitzen und rechnen. Mathematik klingt gerade sehr verlockend. „Warum?“, hakt Leon nach, der natürlich mitbekommen hat, was Jonas da angedeutet hat. Ich mag nicht antworten. Eigentlich sollte Jonas antworten, wenn er schon das Gespräch beginnt. Es ist ziemlich rücksichtslos von ihm, mich ins kalte Wasser zu werfen und mir dann nicht mal beizustehen. Ich werfe ihm noch einen wütenden Blick zu, den er nicht mal mitbekommt, weil seine Nase fast das Papier berührt. „Davon bekommt man schlechte Augen,“ gifte ich in seine Richtung und ignoriere Leon einfach. Tatsächlich richtet sich Jonas ein wenig auf und strafft seinen Rücken. Nun sieht er mich wieder an und diesmal ist sein Blick noch drängender. Unweigerlich schüttle ich mit dem Kopf. Auf keinen Fall werde ich ihm irgendetwas erzählen! Ich will gerade lautlos protestieren, als Leon anfängt, mir ebenfalls von Maria zu berichten. Na super. Aber wenigstens scheint ihn nicht zu stören, dass ich ihm nicht geantwortet habe. Ich höre mir also an, was er zu sagen hat und bekomme eine reichlich ausgeschmückte Version des Geschehens zu hören, bei der ich mich wirklich frage, ob er die gleiche Maria meint wie ich. Aber wahrscheinlich ist Leon einfach so. Immerhin hat er ja schon über Domi getratscht, wenn auch auf Ann-Kathrins Wunsch hin. Ich seufze, als er seinen Bericht abgeschlossen hat und er sieht mich mitleidig an. „Stehst du immer noch auf sie?“, will er wissen und ich höre Jonas auflachen und trete unter dem Tisch nach ihm. „Nein,“ meine ich lang gezogen und wünsche mir, ich wäre einfach gegangen, als ich noch die Chance dazu hat. Stattdessen musste ich ja überlegen, ob ich nun mit Jonas Mathe machen soll oder nicht. Wäre ich einfach nach Hause gegangen, würde ich jetzt schon mit Domi auf der Couch liegen und wer weiß was tun. „Sag es ihm schon endlich,“ unterbricht Jonas meine schmutzigen Fantasien und ich reiße erschrocken die Augen auf. „Was?“, will Leon in diesem Moment auch schon wissen und ich könnte Amok laufen in dieser bösen, bösen WG, in der sich gute Freunde einfach so gegen mich richten. Ich ziehe eine Schnute und weigere mich, auch nur einen Ton zu sagen. „Maria hat ihm gestern ein wenig die Augen geöffnet,“ übernimmt Jonas meine Rolle und erläutert ihm – zu meinem Entsetzen – ausführlichste, was Maria zu mir gesagt hat. Leon nickt immer wieder mal und guckt äußerst angestrengt. Ich frage mich, wie viel er in seinem alkoholisierten Zustand überhaupt aufnehmen kann. Als Jonas geendet hat, bin ich immer noch nicht geoutet und ich fürchte, das wird Jonas auch nicht für immer übernehmen. Tatsächlich scheint nicht mal Leon das zu erwarten, denn er wendet sich wieder an mich: „Und jetzt?“ Ich beschließe, es ihm einfach zu sagen und darauf zu hoffen, dass er noch so viel Alkohol intus hat, dass er es heute Abend schon wieder vergessen hat. „Jetzt sind wir zusammen,“ erwidere ich und versuche, möglichst lässig dabei zu klingen. Ob mir das gelungen ist, kann ich nur schwer sagen, aber zumindest hat Leon genau verstanden, was ich ihm da gesagt habe, denn ihm klappt die Kinnlade herunter. Na danke, genau die Reaktion, die ich mir erhofft habe. „Ist ja krass!“, staunt er und schaut mich dabei an, als wäre ich ein Tier im Zoo. Ein wenig fühle ich mich auch so. Schaut ihn, das ist ein schwuler Junge. Vielleicht ist er auch bi, das kann man bei dieser seltenen Art nie so genau sagen… Als wäre damit alles geklärt, wendet sich Leon wieder ab und schenkt sich endlich seinen Kaffee ein. Ich glaube, der Kaffee war der Grund, warum er überhaupt in die Küche kam, auch wenn er bisher keine Anstalten dazu gemacht hat, sich welchen einzuschenken. Damit wäre das Thema wohl durch, habe ich das Gefühl. Und erstaunlicherweise habe ich auch von Leon keine ablehnende Reaktion erhalten. Auch nicht wirklich eine positive, aber vielleicht sollte ich in der Hinsicht nicht zu viel erwarten. „Hm,“ mache ich lahm, um die Stille zu durchbrechen, die wieder aufgekommen ist. Aber so wirklich Beachtung schenkt mir keiner mehr. „Ich geh dann mal wieder,“ verkünde ich also und bin froh, endlich fliehen zu können. Jonas nickt nur und murmelt ein „Bis Morgen.“, wohingegen Leon mir mit einem versauten Grinsen viel Spaß wünscht. Keine Ahnung, ob das jetzt vielleicht doch eine positive Reaktion ist, aber ich fasse es mal so auf. Hastig verabschiede ich mich und dann stürme ich nach Hause. Was für eine komische Situation! Ein wenig unsicher trete ich in den Flur und lausche. Von nirgendwo ertönt ein Geräusch, weshalb ich vermute, dass sich Dominik irgendwie in seinem Zimmer selbst beschäftigt. In meiner Vorstellung sehe ich ihn schon nackt auf dem Bett liegen und böse Dinge mit seinen hübschen Händen tun, aber ich werfe diese Idee gleich wieder. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das sicher nicht tut. Leider. Automatisiert lege ich den Schlüssel beiseite, ziehe Jacke und Schuhe aus und laufe dann zielstrebig in sein kleines Reich. Auch wenn er sich sicher nicht selbstbefriedigt, bin ich dennoch neugierig, was er wirklich treibt. Tatsächlich liegt er auf dem Bett und liest. Als ich hereinkomme, hebt er den Kopf, lächelt und legt das Buch weg. „Und? Wie war’s?“, will er wissen und bedeutet mir mit einem Klaps auf das Bett, mich neben ihm niederzulassen. Ich setze mich auf die Bettkante und er richtet sich auf. „Ich hab es ihnen gesagt,“ beginne ich zu erzählen und berichte dann kurz von den Reaktionen der Beiden. „Das ist doch gut!“, freut sich Dominik und ruckt näher an mich heran. Er schlingt von hinten die Arme um mich und bettet seinen Kopf auf meiner Schulter. Fast schon automatisch finden meine Hände seine und ich halte ihn fest. „Ja, schon,“ erwidere ich bedächtig, weil ich erst mal meine Gedanken ordnen muss. „Aber…“, versuche ich mich zu erklären, „Ich weiß auch nicht. Es war so einfach und so komplett ohne Katastrophe.“ Ich höre, wie er leise hinter mir lacht und spüre, wie er mir einen Kuss in den Nacken haucht. Ich erschaudere. „Nicht alle Menschen sind Idioten und die Beiden sind zum einen deine Freunde und zum anderen haben sie sich das alles wahrscheinlich schon viel früher gedacht.“ Das klingt logisch. So logisch, dass ich nur noch nicken kann und mich an ihn kuschle. Er zieht mich mit nach hinten auf das Bett und bettet seinen Kopf auf meiner Brust. „Glaubst du, sie werden in nächster Zeit trotzdem ein wenig komisch zu mir sein?“, frage ich ihn, weil ich immer noch unsicher bin, ob das jetzt echt schon alles gewesen ist. Irgendwie habe ich mir mein Coming-Out ja ein wenig dramatischer vorgestellt. Ist das zu fassen? Andere wären froh, wäre ihres so reibungslos abgelaufen und ich wünsche mir mehr Dramatik! Andererseits fehlt da ja noch die Uni und ich schätze, dort wird es weniger gut ausgehen. Dann bekomme ich meine Dramatik vielleicht doch noch, denke ich ironisch und runzle über mich selbst die Stirn. Andererseits weiß ich schon, was mich stört. Es ist zu einfach! „Nein, glaube ich nicht,“ antwortet Dominik auf meine Frage und ich spüre seinen Atem an meinem Hals. „Und selbst wenn, dann wird es sicher nichts von Dauer sein.“ Ich nicke und höre erneut ein belustigtes Schnauben von ihm: „Was ist wirklich los?“, will er wissen und ein wenig fühle ich mich durchschaut. Ich seufze. „Keine Ahnung. Ich hab mir das alles viel theatralischer vorgestellt… Ich habe das Gefühl, dass irgendwo ja ein Haken sein muss und wenn der nicht bei Jonas und Leon liegt, wo dann?“ Ich drehe mich zu ihm, was ihn zwingt, sich von meiner Brust zu lösen. Fragend sehe ich ihn an, aber eine wirkliche Antwort kann er mir auf meine Ängste wohl auch nicht geben. „Es wird immer Idioten geben, die es nicht verstehen,“ antwortet er mir und klingt dabei fast wie ich selbst. Nur diesmal sind unsere Rollen vertauscht. Auf einmal muss er mich wegen Dingen beruhigen, die ich vor ein paar Wochen alle noch total einfach fand. „Aber seit wann interessiert dich die Meinung anderer?“, fragt er dann und ich muss lächeln. Tatsächlich geht es mir aber nicht nur um mich, sondern auch um ihn. Er musste so viel Gerede über sich ergehen lassen, da möchte ich ihm das an der Uni ersparen. Natürlich habe ich auch selbst ein wenig Angst, aber hauptsächlich geht es mir um ihn. Das sage ich ihm aber nicht. Wahrscheinlich wäre es ihm unangenehm, wenn ich so denke. Den meisten Leuten ist es ja unangenehm, wenn irgendwer anders versucht, sie zu beschützen. Tatsächlich kann ich mein Vorhaben, es an der Uni geheim zu halten, weitestgehend durchziehen. Wir benehmen uns einfach wie immer. Wenn wir uns zufällig irgendwo begegnen, denn beachten wir uns kaum und auch sonst laufen wir nicht Händchen haltend und knutschend durch die Gegend. Ein wenig befremdlich scheint es für ihn schon gewesen zu sein, dass ich weiterhin auf getrennte Wege beharrt habe, aber wahrscheinlich denkt er, ich brauche einfach noch Zeit, ehe ich es öffentlich machen will. Das stimmt natürlich zum einen Teil, zum anderen ist es natürlich immer noch, um ihn ein wenig vor missbilligenden Blicken zu bewahren. Trotzdem ist es manchmal komisch, an ihm vorbei zu gehen, ohne ihn groß eines Blickes zu würdigen. Manchmal lächeln wir uns an, aber das ist auch schon da Äußerste der Gefühle. „Vermisst du ihn denn gar nicht?“, will Jonas wissen, als wir an Dominik vorbeikommen, ohne ihn groß zu beachten. „Was meinst du?“, hake ich nach, weil ich nicht wüsste, wieso ich Domi vermissen sollte. Es ist ja nicht so, als würden wir uns zu Hause nicht sehen und dort jede freie Minute gemeinsam verbringen. „Ich stelle es mir einfach ziemlich anstrengend vor, ihn zwar zu sehen, aber nicht berühren zu dürfen,“ antwortet er und irgendwie finde ich es ganz süß von ihm, dass er sich solche Gedanken um unsere Beziehung macht. „Es dient ja einem guten Zweck. Immerhin will ich vermeiden, dass das Gerede wieder losgeht,“ antworte ich. Genau genommen nicht nur in unserem, sondern auch in Leons Sinne. Er hat sich so ins Zeug gelegt, die Gerüchte aus der Welt zu schaffen und nun soll ich einfach alles über den Haufen werfen? „Er sieht trotzdem betrübt aus,“ stellt Jonas mit einem Blick auf Domi fest und ich traue mich nicht, mich selbst davon zu überzeugen. „Ihr seid frisch verliebt und dann so was,“ erläutert er mir und ich zucken nur lahm mit den Schultern. Keine Ahnung, was er hören will. Ob er es eine gute Idee findet, es doch öffentlich zu machen? Aber was werden dann alle sagen? „Ach keine Ahnung,“ bricht es deshalb ein wenig hilflos aus mir heraus. „Am Ende ist es so vielleicht besser.“ Wahrscheinlich ist es leider jedoch so, dass es wohl oder übel irgendwann herauskommen wird. Immerhin habe ich nicht vor, unsere Beziehung nur in unseren Vier Wänden zu führen. Mit Sicherheit möchte ich keines dieser Pärchen werden, dass seine Beziehung jahrelang geheim hält – aus Angst vor der Reaktion der Öffentlichkeit. Wir sind nur ein paar dumme Studenten, es wird ein wenig Gerede geben und mehr nicht. Ist ja nicht so, als wären Superstars oder so was. Andererseits kann man schon sagen, dass wir kleine Berühmtheiten an dieser Schule sind. Im negativen Sinne zwar, aber trotzdem. Hier gibt es wohl kaum jemanden, der nicht weiß, wer Dominik ist. Und genau deswegen möchte ich ihn einfach vor der Reaktion der anderen schützen. Und klar will ich gleichzeitig auch mit ihm ausgehen, ganz normale Dates haben und in deren Rahmen mit ihm Händchen halten, ihn küssen, egal, wo wir gerade sind. Darauf werden wir auf Dauer nicht verzichten können und dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis uns jemand von der Universität sieht. Mir ist das klar und Dominik sicher auch. Trotzdem finde ich, ist es noch mal was anderes, ob man damit hausieren geht oder ob es alle so nach und nach mitbekommen. Vielleicht sollten wir es also an der Uni nicht an die große Glocke hängen, aber unser Privatleben deswegen nicht umstellen. Das klingt doch vernünftig, oder? Und ich bin sicher, Dominik sieht das auch so. Als ich an diesem Abend nach Hause komme, ist Dominik bereits dort. Er ist meistens schon da, wenn ich komme, weil ich gerne Abendvorlesungen besuche, wohingegen er die gerne vermeidet. Er meint immer, er kann abends gut lernen und möchte dann lieber alten Stoff wiederholen und festigen, statt sich noch mal neuen anzutun. „Hey!“, begrüße ich ihn und hauche ihm einen zarten Kuss auf die Lippen. „Hey,“ antwortet er ein wenig lahm und ich sehe ihn fragend an, aber er sagt nichts mehr, sondern brütet über einem schrecklich langweilig aussehenden Buch. Er verschlingt ja gerne Bücher aller Art, wenn er auch so seine Vorlieben hat. Im Rahmen des Studiums hat er es sich aber zur Aufgabe gemacht, viele alte Schinken durchzukauen. Gerade liest er „Effi Briest“. Von dem Buch weiß ich nur, dass wir es mal als Klassenlektüre lesen sollten und ich 0 Punkte mündlich eingetragen bekommen habe, weil ich nach den ersten drei Seiten aufgehört habe zu lesen. Er aber liest es mit Begeisterung, als wäre es wirklich ein Meisterwerk, als welches es uns unsere Deutschlehrerin damals verkaufen wollte. Ich beschließe, ihn nicht zu stören und koche uns was zu Essen. Es ist nicht so, dass ich wirklich kochen könnte, aber so ein paar Basics bekomme ich dann doch hin. Deswegen mache ich uns heute auch Spagetti mit Tomatensauce, was mir bisher eigentlich immer ganz gut gelungen ist. Als das Essen fertig ist, legt er sein scheußliches Buch weg und hilft mir, den Tisch zu decken. Dabei ist er verdächtig ruhig, was mich ein wenig irritiert. Fast habe ich das Gefühl, er ist sauer, aber das kann nicht sein. Wir haben uns am Morgen nicht gestritten, sondern ganz normal verabschiedet und seitdem habe ich nicht mehr mit ihm geredet. Und zumindest antwortet er mir gerade auch ganz normal auf meine Fragen. Mehr allerdings nicht. Ich runzle die Stirn, während ich uns beiden Spagetti auftue und sehe ab und an fragend zu ihm. Er aber bekommt von meinem fragenden Blick nichts mit, oder er ignoriert ihn. Fein, dann eben nicht! Wir essen also fast schweigend und die Stille zwischen uns ist wirklich unerträglich. Zweimal frage ich, ob alles okay ist und zweimal antwortet er mir mit einem monoton klingenden: „Klar, warum nicht?“ Warum nicht, dass lässt sich einfach beantworten: Er. Ist. Komisch. Leider kann ich kaum mehr wie nachfragen, und nachdem er nicht mit der Sprache herausrücken will, kann ich ihm dann auch nicht helfen. Wir räumen den Tisch ab und er hilft mir beim Abspülen, ehe er sich wieder dem blöden Buch widmet. Vielleicht hat ihn auch einfach das Buch depressiv gemacht? Ich beschließe, ihn ein wenig in Ruhe zu lassen und später noch einmal nachzufragen. Also sage ich mich in mein Zimmer los, weil ich angeblich noch etwas für die Uni vorbereiten müsste. Natürlich ist das Quatsch, weshalb ich auch ziemlich ratlos einfach nur herumsitze und mich letztlich in ein Buch für angewandte Mathematik vertiefe. Als ich beschließe, dass es genug ist, lege ich das Buch weg und trete in unseren kleinen Flur. Dominik hockt im Wohnzimmer und schaut sich einen komischen Film an, der kitschiger nicht hätte sein können. Ich frage mich echt, wie er einerseits Horrorfilme und andererseits diesen Kitsch gucken kann. Aber vielleicht bin ich auch zu hart mit dem Film. Es ist immerhin nicht dieser Glitzervampirmist sondern eine Liebeskomödie. Ich lasse mich neben ihn sinken und tue eine Weile so, als fände ich den Film ultraspannend, bis sich die Hauptdarsteller küssen und ich frustriert aufstöhne. Unter lautem Protest schalte ich den Fernseher aus und wende mich an Domi: „Was ist los?“ „Was soll los sein?“, fragt er und ich mache eine umschweifende Handbewegung: „Du redest kaum mit mir, verbringst deine Zeit lieber alleine und bist auch sonst komisch!“ „Es ist alles okay,“ entgegnet er und ich hoffe, er gesteht sich selbst ein, dass es sich nach einer großen Lüge anhört. Ich schüttle den Kopf. „Ich hab doch gar nichts gemacht! Wenn dich etwas stört, musst du es mir sagen, aber ich wüsste echt nicht, was! Früh war alles in Ordnung, dann haben wir den ganzen Tag nicht miteinander geredet und auf einmal bist du komisch!“ „Eben!“, bricht es mit einem Mal aus ihm heraus. „Eben was?!“, hake ich verwirrt nach. „Wir haben den ganzen Tag nicht miteinander geredet!“, wiederholt er noch einmal für Doofies wie mich. „Überhaupt reden wir gar nicht in der Uni. Oder beachten uns überhaupt irgendwie.“ Mir kommt das Gespräch mit Jonas in den Sinn, dass wir heute Morgen noch geführt haben und ein wenig komme ich mir vor, als hätten sich schon wieder alle gegen mich verschworen. „Doch nur, damit nicht alle über uns reden!“, entgegne ich ein wenig ungehalten. Ich frage mich, warum alles, was ich aus guten Gründen tue, von anderen als scheiße empfunden wird. Am liebsten würde ich ihn das fragen, aber ich möchte nicht fies zu ihm sein. „Seit wann stört es dich, wenn andere über dich reden? Dir geht es doch nur darum, dass keiner hinter dein kleines Geheimnis kommt. Ich will aber nicht mit einem Jungen zusammen sein, dem ich peinlich bin!“ Mir klappt der Mund auf. Ich frage mich, wie er immer auf solch einen Mist kommt. Als hätte er je einen Anlass gefunden, zu glauben, ich wäre ihm peinlich. Genau das sage ich ihm auch. „Es muss ja einen Grund haben, warum du mich an der Uni ignorierst. Oder willst du mich doch nicht?!“ Ich schüttle fassungslos den Kopf. „Das glaubst du? Nach all der Zeit, die wir nun schon gemeinsam verbracht haben?“ Ich kann einfach nicht glauben, was er sich da schon wieder zusammengereimt hat. Statt dass er mal eher den Mund aufmacht! Trotz des Streits muss ich ein wenig lächeln, weil ich diese verplante, vorschnelle Art an ihm mag. Er sieht mich nur komisch an, weil ich so vor mich hin grinse. Ein wenig so, als wäre ich ein Außerirdischer. Ich muss daran denken, dass ich vor kurzem erst Jonas so angesehen habe. Vielleicht ist das die Lösung. Vielleicht sind wir alle nicht von diesem Planeten und stellen uns deshalb so wahnsinnig bescheuert an. „Ich mach das doch nicht, weil du mir peinlich bist oder ich dich nicht mehr will,“ erkläre ich ihm, „Sondern weil ich nicht möchte, dass schon wieder alle über dich reden. Wir wissen doch Beide, dass dir das unangenehm ist.“ Er blinzelt und seine Wangen färben sich rot. Scheint, als wäre ihm sein Ausbruch nach dieser einfachen Erklärung meinerseits ein wenig peinlich. „Dann… liegt es nicht an mir?“, will er wissen und ich schüttle den Kopf. „Du Dummerchen, ich liebe dich doch. Wenn du willst, dann schreie ich es morgen auch lauthals durch die Uni,“ spaße ich und er reißt überrascht die Augen auf. Erst denke ich, er hätte meinen Witz nicht verstanden, dann aber wird mir klar, was ich da gerade gesagt habe und nun ist es an mir, zu erröten. Mit einem Mal lächelt er ganz zauberhaft und greift nach meiner Hand. Ich blicke auf unsere Finger, die sich miteinander verschränken. Ich bin noch immer ein wenig erstaunt von mir selbst. Hab ich das gerade wirklich gesagt? Ich schüttle ungläubig den Kopf und blicke Dominik an, der meinen Blick wild entschlossen erwidert. „Die an der Uni können es ruhig wissen, für mich ist das okay,“ versichert er mir und ich nicke lahm. Wenn er wüsste, wie scheiß egal mir die an der Uni alle gerade sind… Überhaupt ist er doch das einzige, das mich interessiert. Langsam ziehe ich ihn in meine Arme und er umschlingt mich und haucht mir einen Kuss auf die Lippen. „Jasper?“, fragt er dann leise und ich gebe ein „Hmm“ von mir, weil ich gerade wirklich nicht sprechen möchte. Schon gar nicht übe die Uni. Am liebsten wäre es mir, ihn jetzt einfach die ganze Nacht fest zu halten und nie wieder herzugeben. Ich spüre Dominiks Lippen mein Ohr streifen und schnurre zufrieden auf, während er kurz zögert und dann leise flüstert: „Ich liebe dich auch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)