BCT - Auf der anderen Seite von Dornentanz ================================================================================ Kapitel 6: Gerechte Nachspeise ------------------------------ Folge: nach 62 (Der Meister unter den Zauberern III), aber vor 63 Samtene Dunkelheit lag über der Stadt, ausgesperrt von den Lichtern der Straßenlaternen und der Apartments, die die Menschen in eine Illusion des immerfort währenden Tages lullte. Aus der Ferne war das leise Rauschen des Straßenverkehrs zu hören, aber in der Innenstadt herrschte noch immer Verkehrsverbot, sodass die Menschen den Asphalt von den Maschinen zurückerobert hatten. Sie unternahmen Nachtspaziergänge und sahen sich die Auslagen in den Geschäften trotz der späten Stunde an, als müssten sie am morgigen Tag nicht zur Arbeit gehen, als ginge morgen die Welt unter. Bakura erinnerte sich daran, als er zum ersten Mal nach dreitausend Jahren die Augen geöffnet hatte und umgeben war von Lichtern, Geräuschen und tausenden von Menschen. In seinem früheren Leben hatte er geglaubt, dass so viele Menschen auf der ganzen Welt nicht genug Platz haben würden. Hier waren sie zusammengepfercht auf engstem Raum in Häusern, die wie göttliche Fingerzeige in den Himmel ragten, die von allen anderen mit erstaunlicher Ignoranz übersehen wurden. Oft stelle er sich vor, wie all das brannte. Wie die Lichter erloschen und nur noch der heiße Feuerschein den Nachthimmel fernhielt. Im Moment jedoch war er einer unter vielen, die den natürlichen Tagesrhythmus vergessen hatten, und die zu so später Stunde noch der Hunger quälte. Ein großes, gelbes M verhieß schnelle Abhilfe, das hatte er früh gelernt. Er öffnete die Flügeltür. Der Geruch von Frittierfett und Fleisch schlug ihm obszön verheißungsvoll entgegen, und fasziniert schaute er zu dem Überangebot von Burgern, Pommes Frites und Getränken empor, die über der Theke zu einem unanständig niedrigen Preis angepriesen wurden. „Herzlich Willkommen bei McDonalds, was darf es für Sie sein?“, spulte die Frau hinter der Theke routiniert und mit einem eingeübten, aber matten Lächeln ihren Text ab. „Sechs Doppelcheeseburger, zwei BigMacs und einen Hamburger Royal TS“, erwiderte er mittlerweile ebenso routiniert. Ein Eis. Eins mit Schokosoße. Die Frau hinter der Theke bedankte sich, und nannte ihm den Preis. Ob er wollte oder, nicht; hier kam Bakura nicht umhin zu zahlen, wollte er nicht unnötig viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Komm schon, ein Kleines reicht mir. Es kostet doch fast nichts. Die Verkäuferin stapelte Bakuras Burger auf dem Tablett. „Darf es sonst noch etwas sein? Ein Nachtisch vielleicht?“ Wortlos nahm Bakura das Tablett, überlegte es sich dann aber doch anders. Mit einem ebenso falschen Lächeln, wie dem ihrigen, antwortete er: „Nein, vielen Dank. Keine Süßigkeiten.“ Ryou stöhnte. Warum? Wäre es so viel verlangt gewesen? Bakura ging zu einem Platz in der hinteren Ecke des Schnellrestaurants, in dem es etwas stiller war und an dem nicht ständig Leute vorbeikamen. Langsam, beinahe zärtlich packte er seinen ersten Burger aus. Dann endlich antwortete er Ryou. 'Eis. Was ist das, Eis? Macht Eis dich satt? Reicht das ganze Essen nicht?' Ihn ergriff Ryous quengelige Stimmung. Ich mag Süßigkeiten. Das hat nichts mit satt zu tun, manchmal ist einem einfach danach, weißt du?, schnappte er. Bakura verschlang seinen ersten Doppelcheesburger mit zwei großen Bissen. 'Manchmal ist einem einfach danach, weißt du?' äffte er ihn in Gedanken nach. 'Nein, weiß ich nicht. Und du weißt offensichtlich nicht, wozu Essen da ist. Nämlich nicht, um irgendjemandes Laune aufzubessern, sondern um dich am Leben zu erhalten.' Moralapostel Bakura, vielen Dank auch! Es ist ja nicht so, dass nicht genug davon da wäre. Bakuras Faust sauste auf den Tisch, und seine Sitznachbarn schauten sich erschrocken nach ihm um, ohne dass es ihn kümmerte. 'Ja, richtig. Es ist nicht genug da, Ryou.' Jetzt komm mir nicht schon wieder mit diesem in-Afrika-verhungern-die-Kinder-Scheiß. Ob ich ein Eis esse, oder nicht, was macht das schon? Bakura nahm sich seinen zweiten Burger vor, und schlang ihn beinahe noch schneller herunter, als den ersten. 'Es geht ums Prinzip. Offensichtlich weißt du den Wert von Essen nicht zu schätzen. Hattest du jemals Hunger? Diese Art Hunger, die zuerst dafür sorgt, dass sich dein Magen so anfühlt, als würde er sich selbst auffressen. Und wenn das vorbei bist, glaubst du, dass du besessen wärst, weil du an nichts anderes denken kannst. Als nächstes beginnst du zu hoffen, dass der Nachbarsjunge stirbt, weil vielleicht, wenn niemand hinsehen würde... Und wenn das auch vorbei ist, willst du nur noch sterben. Es gibt nichts mehr, dass dir nicht wehtut, aber schlimmer ist dein Verstand, der nach und nach mit verhungert. Kennst du das, Ryou?' Die Stimme in seinem Inneren schwieg betroffen, und gab ihm ausreichend Gelegenheit, sich die nächsten zwei Burger vorzunehmen. Woher kennst du es, Bakura? Eigentlich wollte Bakura nicht antworten, aber der Junge, der in ihm wohnte, dessen einzige Sorge es war, ob seine Freunde ihn mochten oder nicht, sollte wissen, wo seine Probleme einzuordnen waren. 'Ich bin in einem kleinen Dorf in der Wüste aufgewachsen', erwiderte Bakura emotionslos, ohne verhindern zu können, dass Bilder von kleinen, geduckten Lehmhäusern vor seinem inneren Auge auftauchten. Kinder in Lumpen spielten mit Stöcken und Tonscherben, und einer von ihnen war er selbst. 'Die Leute nannten es Kur Elna. Es war kein gewöhnliches Dorf. Es lag weit entfernt vom Nil, so weit, dass Ackerbau unmöglich war, denn Ra's unbarmherzige Strahlen entzogen auch noch das letzte bisschen Leben aus allem, was dort hätte wachsen können. Ich wusste nicht einmal, was Regen ist. Die anderen Dörfer, die in der Wüste lagen, waren nicht weit entfernt von Handelsrouten, sodass sie die Hand- und Tonarbeiten der Frauen verkaufen und Essen dafür bekommen konnten. Aber nicht Kur Elna. Es war der Ort, an den die Verbrecher verbannt wurden, deren Straftaten weder den Tod, noch die Sklaverei rechtfertigten. Kleine Betrüger, die selbst nicht viel hatten. Ich war keiner von ihnen, aber ich hatte das Unglück, dass meine Eltern welche waren. Zwar waren die Verbannten von Kur Elna nicht offiziell zum Tode verurteilt, aber von Leben konnte man in diesem Dorf kaum sprechen. Keine Arbeit, kein Essen; nichts außer Sand und Steinen. Bakuras Blick sank wieder auf das Tablett, und er erinnerte sich daran, dass er das Essen nicht verschwenden durfte, das vor ihm lag, und aß weiter, während seine Gedanken von selbst fortfuhren, Ryou die Geschichte seiner Kindheit zu erzählen. 'Heute wie damals werden Grabräuber wie Abschaum behandelt, weil sie angeblich die Ruhe der Toten stören. Damals war es noch schlimmer, denn die Menschen in Ägypten glaubten, dass die Besitztümer, die man ihnen ins Grab legte, ihnen im Nachleben erhalten blieben. Wenn du mich fragst, sind dass alles Drecksmärchen, die ein paar Priester erfunden haben, damit die Menschen die Klappe halten und ihnen Opfergaben bringen. Ich wusste es damals schon, und ich bin mir heute immer noch sicher. Wer tot ist, hört auf zu existieren, auch wenn die Menschen es nicht wahrhaben wollen, weil der Gedanke so unbequem ist. Vertrocknete Mumien schmücken auch die schönsten Armreife nicht mehr. Und was hättest du gemacht, wenn eine einzelne Statue aus dem Grab eines seit hunderten Jahren toten Mannes deinem Kind ein Leben ohne Hunger garantieren kann? Welches geringere Verbrechen gibt es, als es von denen zu nehmen, die ohnehin keine Verwendung mehr dafür haben?' Bakuras Gedankenfluss stockte, weil ihn ein Paar Augen vom Tisch gegenüber beobachteten. Ohnehin war er schon viel zu weit gegangen; hatte Dinge von sich preisgegeben, die er nicht hatte preisgeben wollen. Wenn sein Wirt zu viel von ihm und seinen Beweggründen wusste, machte ihn das nur angreifbar. Bitte, erzähl weiter. Wenn ich dich besser verstehen würde, fiele es mir viel leichter, mit dir zusammenzuarbeiten. Und das willst du doch, oder? Bakura verschlang den letzten Burger auf dem Tablett. Nicht einen hatte er Ryou überlassen; es genügte, wenn Bakura seinen Körper nährte. Aber der andere Teil des Essens, der, der die Seele zusammenhielt, würde ihm auf diese Art verwehrt bleiben. Ryous Worte waren bitter. Stattdessen willst du mich also wieder quälen, ja? Ich will dich doch nur verstehen. Noch immer wurde Bakura angestarrt, und nun erwiderte er diesen Blick ungeniert. Natürlich, was sonst – ein junges Mädchen, das etwas in ihm zu sehen glaubte, das er nicht war. 'Ich quäle dich nicht. Ich will auch, dass du es verstehst. Wie soll das denn besser gehen, als wenn du es mir nachfühlst?' Das Mädchen lächelte ihn schüchtern an, und auch auf Bakuras Gesicht schlich sich ein Lächeln, das man allerdings mit Sicherheit nicht schüchtern nennen konnte. Bakura!, Ryous Stimme war ungewohnt scharf. Wir haben eine Vereinbarung. Ich werde dir das Leben zur Hölle machst, wenn du noch einem einzigen Unschuldigen etwas antust, glaub mir. Seine Worte waren erschütternd konsequent, sodass Bakura aufhorchte. Bring mich nicht in die Situation, in der ich nichts mehr zu verlieren habe. Bakura verzog missmutig das Gesicht, denn in den Worten seines Wirtes lag eine Wahrheit, der er sich nicht widersetzen konnte. Wenn es irgendwann nichts mehr geben sollte, mit dem Bakura ihn unter Druck setzen konnte, könnte seine restliche Zeit in diesem Körper ungemütlich werden. Das Mädchen erhob sich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er stand auf, ging an ihr vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, und begab sich auf den Heimweg. Er spürte Ryous Triumph, ein Gefühl, das ihn ungemein störte, und das ihm gefährlich werden konnte. Ebenso gefährlich, wie ihn mit nichts zurückzulassen, für das es sich zu kämpfen lohnte, sodass er am Ende noch auf die Idee kam, dass es nur noch etwas gab, gegen das es sich zu kämpfen lohnte. Zugleich durfte er nicht zulassen, dass Ryou sich stark fühlte, und vor allem durfte er sich von ihm nich dazu verführen lassen, über all das nachdenken. War es der Pharao?, fragte Ryou unvermittelt. Hat er euch nach Kur Elna verbannt? Bakura überlegte. Was durfte er Ryou sagen, was nicht? 'Sein Vater, und vor ihm dessen Vater. Und auch er selbst hätte es getan.' Was heißt: Hätte? Bakura schwieg. Er war vor dem gläsernen Turm angelangt, in dem Ryou wohnte. Die Tür schob sich wie von Geisterhand auf; nein, elektronisch, korrigierte er sich. Der Nachtwächter begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln, und Bakura warf ihm einen kalten Blick zu. Gab es eine sinnlosere Tätigkeit, als am Eingang eines Wohnhauses zu sitzen und den Leuten zuzusehen, die ein- und ausgingen? Warum redest du nicht mit mir? Bakura konzentrierte sich darauf, in den Fahrstuhl einzusteigen, der ihn geräuschlos ins oberste Stockwerk brachte, und anschließend die Tür zu ihrer Wohnung aufzuschließen. All diese Annehmlichkeiten; es war wie eine Versuchung, die ihn daran hindern wollte, zu tun, wofür er gekommen war. Und wofür ist das, Bakura? Was wirst du tun, wenn du alle Millenumsgegenstände beisammen hast? Bakura ließ sich auf das Sofa fallen, das weicher war als alles, was er früher gekannt hatte. Nicht einmal im Palast des Pharaos hatte es einen Ort gegeben, der so weich und behaglich war, und das, obwohl er nur ein einfacher Junge war, dessen Vater im Sand herumgrub. Seine Finger griffen nach der Fernbedienung, und der Flachbildfernseher zeigte eine Spielshow. Bakura zappte sich durch die Programme, bis er schließlich bei einem Werbeblock ankam. Kaum etwas faszinierte ihn so sehr wie die vielen, lauten, quietschbunten Kurzfilme, die zeigten, was so einfach zu haben war, und ohne das die Menschen heute nicht mehr glaubten leben zu können. Kleine Snacks und mondäne Lautsprecheranlagen. So viel hatte sich seit Kur Elna verändert, und doch war das Wesentliche gleich geblieben. Die Privilegierten schwelgten im Luxus und vergaßen, nach links oder rechts zu sehen, wo noch immer kleine Kinder hungerten, so wie er es getan hatte. Nicht anders als die Priester und Adeligen seiner eigenen Zeit. Sie hatten vergessen, was es hieß, Angst zu haben; richtige Angst. Nicht die vor einer Scheidung oder dem Verlust ihrer Arbeit, oder welche kleinen oder größeren Psychosen diese Dekadenzler sich noch einreden mochten. Denn es gab nichts, was die Menschen Dankbarkeit so leicht lehrte, wie die Angst. Sein Blick verlor sich in der Warenflut auf dem Bildschirm, und er merkte kaum, dass seine Augen immer schwerer wurden. Ryou starrte aus den Tiefen seiner Seele hindurch mit Bakura gemeinsam auf den Bildschirm, der immer mehr verschwamm. Bakuras Gedanken flossen träge vor sich hin, ohne an einem Ort länger zu verweilen, und ohne dass er selbst ihnen nennenswerte Beachtung schenkte. Konnte es sein, dass er einschlafen würde? Noch nie hatte er zugelassen, dass Ryou seine Träume sah. Dessen Herz machte einen nervösen, kleinen Hüpfer bei der Vorstellung, dass ihm die Gedanken und Gefühle des Geistes genauso ungeschützt offenstehen konnten, wie es sonst umgekehrt der Fall war. Ryou löste seinen Blick von der flimmernden Reklame, als ihm ein Schatten in der Zimmerecke auffiel. Die strahlend weiße Tapete schien dort etwas dunkler zu sein, als im Rest des Raumes; auch dunkler, als die Schatten, die sich sonst in Zimmerecken verkrochen. Er schüttelte den Kopf. Bakuras Gedanken wurden immer diffuser und unzusammenhängender; er selbst hingegen war hellwach. Leise, als könne das Geräusch seiner Schritte Bakura alarmieren, stand Ryou auf. Die Spiegelscherben, die noch immer auf dem Boden lagen, knirschten unter seinen Füßen, und eine von ihnen bohrte sich in seine Fußsohle. Scharf sog er Luft ein, schaffte es aber, das tückische Ding aus seinem Fuß zu ziehen, ohne ein verräterisches Geräusch zu machen. Mit jedem seiner Schritte blieb nun ein winziger roter Fleck auf dem Boden zurück. Behutsam öffnete er die Tür, die ihn in den Flur führte, und starrte auf die gegenüberliegende Wand, die sonst hinter Dunkelheit verborgen lag. Aber Bakura war müde, und er war unaufmerksam. Die Finsternis war gewichen und gab sein Geheimnis preis. Die Wand war keine Wand, wie Ryou sie je gesehen hatte, sondern bestand aus purem Gold. Schmerzverzerrte, erstarrte Gesichter drückten sich von der Innenseite dagegen und blickten aus leeren Augenhöhlen ins Nichts. Der Türgriff glich einer ausgestreckten Skeletthand. Angst, Übelkeit und Faszination hielten den Jungen in ihrem Bann. Wer waren diese Menschen, die die Seele des Grabräubers bewachten? Seine Opfer? Seine Hand bebte, als er sie nach dem abartigen Türgriff ausstreckte, aber nichts und niemand hinderte ihn daran, sie herunterzudrücken und die Tür zu öffnen. Ryous Atem ging schwer. Immerhin glaubte er nun zu wissen, wie es sich für Bakura angefühlt haben musste, das erste Mal zu stehlen. Kälte umfing ihn, und Atemwolken bildeten sich vor seinem Gesicht. Die Tür, durch die er eintrat, stand in grauem Nichts von dichtem Aschenebel, das sich vor ihm erstreckte, so weit das Auge reichte. Der Boden unter ihm fühlte sich fremdartig an, er versank darin immer wieder wie in Wüstensand. Ein Blick unter ihn offenbarte ihm, dass es kein Sand war. Dafür war es zu grau, und grobe Stücke brachen hier und dort hervor wie Knochensplitter. Ryous Herz schlug schmerzhaft langsam, dafür aber umso schwerer. Mit zaghaften Schritten tastete er sich vorwärts in den Nebel hinein und wäre beinahe gestürzt. Vor ihm lag ein kreisrunder Abgrund, den er erst auf den zweiten Blick als Brunnen erkannte. In den Tiefen schimmerte kein Wasser, sondern der Fernseher. Wahrscheinlich war dies der Ort, von dem aus Bakura ihm zuschaute, wenn er denn einmal die Chance bekam, seinen Körper selbst zu steuern. Ryou lief weiter, ohne zu wissen, ob es überhaupt etwas gab, das es sich zu finden lohnte. Die Kälte fraß sich bis hin zu seinen Knochen, und er bezweifelte, dass sie es nicht getan hätte, selbst wenn er mehr als ein T-Shirt getragen hätte. Das Geräusch seiner Schritte änderte sich. Etwas klirrte unter ihm, und wieder sah Ryou zu seinen Füßen herab. Goldmünzen, unregelmäßig geformt, voller fremdartiger Symbole. Daneben Edelsteine, Schmuck und Stoffe. Wie hypnotisiert streckte er die Hände danach aus. Kälter als Trockeneis brannte sich das Metall in seine Haut. Ein leiser Schrei entfuhr ihm, und er biss sich hastig auf die Lippen. Er atmete tief ein und warf einen Blick nach vorne. Der Aschenebel hatte sich gelichtet. Vor ihm türmte sich ein Berg an Kostbarkeiten, wahrscheinlich ebenso giftig, wie die, die er gerade berührt hatte. Und oben, auf diesem Berg, hockten geisterhafte, schwarze Gestalten mit merkwürdig verzerrten Proportionen. Ausgetrocknete, verdorrte Mumien, mit Lederhaut bespannte Skelette, drapiert zu einem Kreis, Schulter an Schulter sitzend. Manche hatten die Arme in die ihrer Sitznachbarn verschränkt, und eine Gruppe besonders kleiner Leichen ließ Ryou schwindeln. Sie alle trugen Kronen, Ketten, Ringe, jeden Schmuck, den ein Mensch überhaupt tragen konnte. Bakuras Worte kamen ihm in den Sinn, dass auch der schönste Armreif der Welt eine Mumie nicht schmücken konnte. Er spürte ihn, bevor er ihn hörte, und insgeheim hatte er schon von Anfang an gewusst, dass er damit nicht davon kommen würde. Ryou sackte ein Stück in sich zusammen und drehte sich zu Bakura um, dessen Miene sich nicht regte. Die scheinbare Stille auf seinem Gesicht machte Ryou Angst. Er hatte mit Wut gerechnet, damit, dass er ihn anschreien würde; so aber wusste er nicht, was Bakura tun würde; nicht einmal, was er tun konnte. Er nahm seinen Mut zusammen und sah ihm direkt in die Augen. „Hast du alles gesehen, was du sehen wolltest?“, fragte Bakura ruhig. „Wer ist das?“, entgegnete Ryou mit zittriger Stimme. Bakura trat näher an ihn heran, ohne ihn aus den Augen zu lassen; ein stummes Duell wurde mit Blicken ausgefochten. „Die, die ich getötet habe. Bei denen hatte ich besonders viel Spaß, darum bewahre ich mir die Erinnerung an sie hier.“ Ryou senkte den Blick, und Bakuras Hand klammerte sich um seinen Arm; die Wärme seiner Haut erschien Ryou in der Eiszeit um ihn herum noch intensiver. Widerstandslos ging er hinter ihm her und wurde grob durch die Tür zurück in den Flur gestoßen. Ryou blickte auf in Bakuras Gesicht und konnte einfach nicht anders, als zu lächeln. „Du lügst. Du hast sie nicht getötet.“ Bakura war zu schnell. Sein Handrücken traf Ryou mit voller Wucht; ein geübter Schlag, der nicht nur schmerzhaft, sondern auch demütigend war. Ryou presste seine Zunge gegen den Gaumen, um keinen Schmerzenslaut von sich zu geben und schmeckte saures Blut; aber er konnte nicht aufhören zu lächeln. „Ich habe also recht, ja?“ Den zweiten Schlag sah er kommen, tat aber dennoch nichts, um sich zu wehren. Er traf ihn umso härter und ließ ihn gegen die Wand taumeln. „Du weißt gar nichts!“, schrie Bakura. „Und ich warne dich, wenn du dich nicht aus meinen Angelegenheiten heraushältst...“ Aus seinen Augen sprach Hass, aber für einen kurzen Augenblick konnte Ryou Angst in ihnen erkennen. „Ich weiß wie man Menschen wehtut, ich kenne alle Tricks, und ich bin sehr, sehr erfinderisch was das angeht.“ Bakura packte Ryous Arm und verdrehte ihn mit einem gekonnten Griff hinter seinem Rücken, aber es war nicht genug. Er schob den Arm so weit in die Höhe, dass er gebrochen wäre, wäre Ryou nicht vor Schmerzen stöhnend in die Knie gegangen. „Wenn du auch nur noch ein einziges Mal ohne meine Erlaubnis dein Zimmer verlässt, zeige ich dir mit Vergnügen jede Facette meiner Kreativität, und glaub mir, dann ist das hier gar nichts!“ Weiter und immer weiter musste sich Ryou hinabbeugen, bis seine Wange den kalten Boden berührte, und doch war der Schmerz immer noch so unerträglich, dass er kaum etwas wahrnahm als die Schreie seiner Muskeln und Knochen. Bakuras Fuß lag in seinem Nacken. „Wenn du mich so weit bringst, wünscht du dir, dass ich dir stattdessen jeden einzelnen Knochen gebrochen hätte.“ Seine Stimme war leise geworden und ein kaum merkliches Zittern schwang darin mit. Dann endlich ließ er den Arm los. Ryou konnte nicht aufstehen. Hilflos blieb er auf den Knien, das Gesicht noch immer auf dem kalten Boden. Heisere Laute drangen aus seiner Kehle. Dann fühlte er sich an den Haaren in die Höhe gezogen, aber seine Beine waren noch immer so wackelig, dass er kaum stehen konnte und sich an der Schulter seines finsteren Zwillings festhalten musste. Bakura zwang seinen Kopf in den Nacken, sodass kaum mehr Distanz zwischen seinen Lippen und Ryous Ohr lag. „Haben wir uns verstanden?“, flüsterte er. „Ja“, hauchte Ryou. Ein Tritt in die Kniekehle ließ Ryou nach vorn stolpern, den Gang hinab, an dessen Ende die Kontrolle über seinen Körper lag. Ryou rang nach Atem, als er auf dem Sofa zu sich kam. Zwar schmerzte hier weder sein Arm, noch füllte der Geschmack von Blut seinen Mund, aber die Erniedrigung machte keinen Unterschied ob sich seine Seele in seinem Körper befand, oder an einem anderen Ort. Das Gefühl drohte ihn zu überwältigen und das Wissen, dass Bakura jede einzelne Sekunde davon mitbekam, schnürte ihm die Kehle zu. Mit zitternden Fingern fand er die Fernbedienung, um den Lärm des Fernsehers abzustellen. Der Lärm in seinem Inneren wurde dadurch allerdings unerträglich. Also stellte er stattdessen wieder lauter, und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf den Bildschirm, und wartete, dass der Schlaf kam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)