Who do you think you are, huh? von AtriaClara (Die Reise der Aeria Crinis) ================================================================================ Kapitel 5: 4 ------------ 4 Es war kein normales Haus, es war noch nicht einmal mehr ein Mehrfamilienhaus. Das Monstrum von einem Gebäude, vor dem sie standen, ließ sich vielleicht am ehesten noch mit dem Wort Villa beschreiben. „Mund zu, sonst fliegt dir noch was rein“, kicherte Mira. Aeria gehorchte sprachlos. Die hellblau gestrichene Villa war an sich schon so riesig, dass sie einem zwischen den ganzen normalen Häusern direkt ins Auge sprang, aber sie besaß auch noch einen geradezu übertrieben großen Vorgarten. Der sauber geschnittene Rasen stand im Kontrast zu den vielen bunten und exotischen Blumen, die in sorgfältig angelegten Beeten wuchsen. Hinter der Villa ließen sich ein paar Früchte tragende Bäume sowie ein Swimmingpool erkennen. Das ganze Grundstück wurde von einem etwa hüfthohen Holzzaun eingeschlossen. „Da wollen wir hin?“, hauchte Aeria ungläubig. „Du hast gedacht, ich bringe dich jetzt in eine heruntergekommene Hütte oder sonst irgendetwas Geheimnisvolles, hm? Tja, nicht mit mir. Immerhin habe ich Stil.“ Mira packte den Holzzaun und schwang sich mit überraschender Eleganz hinüber, ungeachtet des Zauntors nur einen halben Meter weiter. Aeria trat ebenfalls ein und schloss das Tor wieder hinter sich. Zwischen ein paar Beeten hindurch verlief ein gewundener Weg aus Steinplatten. Er führte zur Haustür (oder Villatür?) und wurde von einigen Bäumen gesäumt, die kühlen Schatten spendeten. Aeria ging immer noch staunend und sich umsehend den Weg entlang, während Mira von einer Platte zur anderen hüpfte und sich Mühe gab, bloß nicht auf die Rillen zwischen ihnen zu treten. Sie kamen der Villa immer näher und Aeria musste feststellen, dass diese doch nicht so perfekt war wie gedacht. Der Rasen war an einigen Stellen überhaupt nicht gemäht, in den Beeten wucherte heimlich Unkraut vor sich hin, die hellblaue Farbe der Villa war an einigen Stellen ausgeblichen und es zeigten sich kleine Risse in den Wänden. „Perfektion ist nur eine Fassade“, sagte Mira, als hätte sie Aerias Gedanken gelesen. „Wer wohnt denn hier?“, wollte Aeria wissen. Mira deutete auf ein großes weißes Schild über der Haus(Villa?)tür. „Ich kann nicht lesen“, sagte Aeria ungeduldig. „Ach so, stimmt ja.“ Mira räusperte sich. „Da steht: Capra Ibex, Privatdetektei.“ „Capra Ibex? Ist das ihr Name? Und sie hat eine Detektei hier drin?“ „Jep.“ Mira hüpfte weiter. „Wir gehen in eine Detektei?“, fragte Aeria sich leise selbst. Detektive hatten sie schon immer fasziniert, als Kind war sie nie ohne Lupe und Fingerabdruckpulver aus dem Haus gegangen. Sogar einige Fälle hatte sie gelöst, wie zum Beispiel den der verlorene Mütze von Carolin oder des aufgegessenen Kekses. Aeria grinste. Einmal hatte sie einen Detektivgeburtstag gefeiert, mit all ihren Freunden, die sie später… alle irgendwie aus den Augen verloren hatte. Irgendwann war Aeria dann älter geworden und hatte ihre alten Detektivutensilien im Regal verstauben lassen, aber die Faszination für Detektive hatte sie bis heute behalten. Sie war noch nie zuvor in einer echten Detektei gewesen und spürte eine kindliche Vorfreude in sich aufsteigen. Erst, als sie nur noch wenige Meter von der Villa entfernt waren, sah Aeria, dass unter dem großen Detektei-Schild noch ein weiteres, kleineres Schild angebracht worden war. Sie blieb stehen und versuchte, die Druckbuchstaben zu entziffern. „Ge… gesch-geschlo… geschlossen… Geschlossen?“ Aeria verzog enttäuscht das Gesicht. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Sie blickte hinüber zu Mira, die offensichtlich viel Spaß daran hatte, über die Steinplatten zu springen. Wahrscheinlich hatte sie das Schild wegen ihrer Kurzsichtigkeit noch nicht gesehen. „Hey, Mira“, rief Aeria. „Es ist geschlossen!“ „Ich weiß“, erwiderte Mira- und hüpfte weiter. Aeria blieb nichts anderes übrig, als hinterher zu laufen. Schließlich standen sie beide vor der großen, zweiflügligen Haustür aus dunklem Holz. „Es ist geschlos-sen!“, wiederholte Aeria. „Ich we-heiß!“, sagte Mira in demselben Tonfall. Dann nahm sie den Ring des Türklopfers, der die Form eines Ziegenkopfes hatte, und schlug damit dreimal gegen die Tür. Die danach folgende Stille war so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm, das wusste Aeria aus diversen Filmen. Wenn der Held oder die Heldin mit einem solchen Ding an eine Tür klopfte, passierte bald darauf garantiert etwas Dramatisches. Eine gruselige Stimme erklang von drinnen, etwas explodierte oder der Held begegnete seiner großen Liebe. Aeria knabberte angespannt an ihrer Unterlippe, ihr Magen verkrampfte sich, sie war auf beinahe alles gefasst. Nun ja… bis auf… „Capra Ibex, Privatdetektei“, meldete sich eine mürrische, aber eindeutig weibliche Stimme aus einer unsichtbaren Gegensprechanlage. Aeria blieb der Mund offen stehen. „Meine Güte, hör doch mal auf, alles so zu dramatisieren. Türklopfer sind hier etwas ganz Normales“, grinste Mira. Aeria entspannte sich wieder etwas. „Wer ist da?“, die Stimme klang beinahe aggressiv. „Könnt ihr nicht lesen, ich habe geschlossen, verdammt nochmal!“ „So macht sie sich aber nicht gerade viele Kunden“, raunte Aeria Mira zu. „Genau das ist ja ihr Problem. Was glaubst du, warum sie seit zwei Wochen geschlossen hat? Sie hat hier einfach keinen guten Ruf.“ „Und wir sollen ihr jetzt zu ein paar Kunden verhelfen?“ „Bitte?“ „Na, das machen die Helden in den Filmen doch immer. Den Bewohnern der fremden Welt zu Erfolg verhelfen.“ Aeria war ein wenig verunsichert. „Tja, das hier ist aber kein Film, und deshalb sind wir auch aus einem ganz anderen Grund hier.“ Mira räusperte sich und sprach in die unsichtbare Gegensprechanlage. „Hey Capra, ich bin´s, Mira. Ich habe die KM dabei. Pferde fressen keinen Gurkensalat.“ Erst dachte Aeria, dass Mira nun völlig durchgedreht war, aber das Ganze schien so eine Art Passwort gewesen zu sein, denn in der Gegensprechanlage knackte es und die Türflügel schwangen mit leichtem Quietschen nach innen auf. Ohne zu zögern, ging Mira hinein. „Komm endlich! Das hier ist kein weiterer dramatischer Moment aus einem deiner Filme!“ Aeria gab sich einen Ruck und betrat die Villa. Wieder blieb ihr die Luft weg. Sie standen in einer gigantischen Eingangshalle. Weiße Steinsäulen stützten die verglaste Decke, durch die helles Tageslicht hineinfiel und die Halle beinahe strahlen ließ. Ja, nahezu die ganze Halle schien aus reinem, weiß glänzendem Stein zu bestehen. Zwischen den Säulen standen hier und da einige exotisch wirkende Pflanzen und in der Mitte der Halle stand ein Springbrunnen in der Gestalt einer Ziege mit Fischschwanz, die unablässig Wasser in die Höhe spuckte. Am gegenüberliegenden Ende der Halle führte eine mindestens straßenbreite Treppe nach oben. Was die Schönheit der Halle jedoch etwas minderte, war die Staubschicht, die auf allem zu liegen schien und die bedenklich hohen Bücherstapel, die in jedem freien Winkel der Halle standen und sogar die halbe Treppe in Beschlag nahmen. „Okay, eins noch, bevor wir zu dieser Capra gehen“, sagte Aeria. „Ich habe drei Fragen an dich.“ „Pssst, leise!“, flüsterte Mira eindringlich. „Sie hat hier überall Überwachungskameras und Wanzen installiert.“ „Okay, dann sind es jetzt vier. Erstens: Warum ist eine derart schöne Villa so heruntergekommen und unordentlich? Zweitens: Warum bringt Capra das nicht in Ordnung? Drittens: Was soll die Figur auf dem Brunnen darstellen? Und viertens: Warum zur Hölle sind hier Überwachungskameras?“ Mira seufzte. „Na schön. Ich beantworte die Fragen. Aber sei gefälligst leise! Viertens: Capra Ibex ist extrem paranoid und vermutet hinter jedem Besucher einen Spion oder Mörder. Drittens: Das ist ein Hippocaprus, ähnlich wie bei euch Menschen eine Meerjungfrau. Erstens sowie zweitens: Capra Ibex entstammt einer sehr reichen und einflussreichen Familie. Früher waren sie hier überall hoch angesehen und beliebt. Aber bei einem Attentat auf ihr Leben starb ihre Mutter und ihr Vater verschwand spurlos. Traumatisiert und schwerverletzt schickte man sie zu ihren Großeltern, ihren nächsten Verwandten, die sie liebevoll aufzogen. Die Großeltern wohnten in eben dieser Villa. Doch vor etwa drei Jahren wurde ihr Großvater auf dem Weg nach Hause brutal zusammengeschlagen und starb wenig später an den Folgen. Capra bekam allmählich den Ruf, jedem, der ihr nahesteht, Unglück zu bringen. Das verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Capricorni sind leider ziemlich abergläubisch, musst du wissen. Jedenfalls starb vor fünf Monaten auch ihre Großmutter, jedoch in hohem Alter und ganz natürlich. Seitdem hat Capra das Haus ganz für sich alleine, aber sie verdient nicht gut und kümmert sich nicht um ihr Erbe. Warum, kann ich dir nicht sagen. Ob sie keine Zeit hat, kein Geld oder ob es ihr einfach egal ist… Am besten fragst du sie selbst. Oder warte, nein, tu das auf gar keinen Fall. Sie hasst es, darauf angesprochen zu werden.“ „Na dann, lass uns weitergehen…“ Aeria dachte noch einmal über Capras Geschichte nach. Sie hatte also auch ihre Familie verloren… vielleicht teilte sie ja ihren Schmerz. Oder was genau erhofften sie sich jetzt eigentlich von Capra? In Gedanken versunken durchquerte Aeria die Halle, als sie plötzlich von einem lauten Poltern aus ihren Gedanken gerissen wurde. Erschrocken drehte sie sich um. „Verdammte Schei… benkleistertapetenrolle!“ Wutentbrannt stand Mira mitten in einem Haufen blauer, eingebundener Bücher. Mit einer Hand hielt sie sich ihre rechte Schläfe. Aeria sah sie an- und konnte nicht anders, als loszukichern. „Das ist nicht witzig! Das war der Stapel ihrer Lieblings-Lexika! Den habe ich schon ein paar Mal umgeworfen, noch einmal und sie bringt mich um!“ „Aber das hat ja schon das Buch versucht, das dir gegen den Kopf geknallt ist“, prustete Aeria. „Ja, total lustig.“ Mira sah wirklich wütend aus. „Okay.“ Aeria riss sich zusammen und ging hinüber zu Mira. „Tut es sehr weh? Brauchst du medizinische Betreuung?“ „Nein, danke.“ Mira schob Aeria von sich weg und stieg vorsichtig aus dem Bücherhaufen. „Wir gehen jetzt schnellstens Capra besuchen. Sie hasst Verspätungen.“ Schnellen Schrittes lief Mira auf die Treppe zu und Aeria folgte ihr. Aeria hatte eigentlich die ganze Zeit über gedacht, sie würden die Treppe hinaufgehen, aber kurz vorher bog Mira urplötzlich ab und steuerte auf eine kleine, eher unscheinbare Tür zwischen zwei Säulen zu. "Tarnung", grinste sie und klopfte an die Tür. Ohne auf eine Antwort zu warten, trat sie ein und Aeria folgte ihr. Hinter der unscheinbaren Tür verbarg sich ein geradezu riesiger Raum mit einer extrem hohen Decke, von der ein Kronleuchter herabhing. An den Wänden, die volle Höhe des Raumes ausnutzend, standen meterhohe Bücherregale. Eine Leiter führte hinauf zu den höheren Fächern. Auch hier standen überall Bücherstapel herum. Das alles stand im Kontrast zu dem nagelneu wirkenden Holzboden und dem modern geformten Schreibtisch. Auf diesem stand ein derart hoher Papierstapel, dass Aeria die Person dahinter zuerst gar nicht erkannte und fast zu Tode erschrak, als plötzlich hinter dem Schreibtisch ein Räuspern ertönte. Der Papierstapel wurde beseitegeschoben- und dahinter saß sie, Capra Ibex. Sie war ein Capricornus, natürlich- was hatte sie auch anderes erwartet? Sie hatte hellblaue, etwas fleckig wirkende Haut, über der sie wie die meisten Capricorni eine Art Top aus braunem Leder trug, ihre untere Körperhälfte wurde von dem Schreibtisch verdeckt. Aus durchdringenden hellgrünen Augen sah sie die beiden Eindringlinge an. Die Nase war gerade und war im rechten Nasenflügel von einem Piercing in Form eines ebenfalls hellgrünen Edelsteins durchstochen. Um ihre Lippen lag eine gewisse Traurigkeit, was ihr Starren irgendwie melancholisch erscheinen ließ. Ihr markantes Kinn hatte sie in die Hände gestützt, die von fingerlosen Lederhandschuhen umhüllt waren. Die Haare, die Capra bis auf die Schultern reichten, waren lila mit schwarzen Strähnen sowie etwas zerzaust. Diese eher ungewöhnliche Haarfarbe sah aber merkwürdigerweise nicht gefärbt, sondern ziemlich natürlich aus... Und während Aeria noch darüber rätselte, ob diese Haare nun gefärbt waren oder nicht, öffnete Capra Ibex ihren Mund -wobei sie die beiden immer noch anstarrte- und fragte: "Der Code?" "Ach, meine Güte, Capra." Mira verdrehte die Augen. "Ich bin kein wahsinniger Massenmörder, der dich umbringen will." "Woher soll ich wissen, dass du nicht lügst? Der von dir erwähnte Massenmörder würde das auch tun. Also? Ich warte." Langsam wurde dieses Starren unheimlich. Aeria fragte sich, ob diese Frau eigentlich jemals blinzeln musste. "Pfff...", machte Mira und dachte angestrengt nach. "Ich glaube, es war so etwas wie... 1203... 799...0?" "12037998", korrigierte Capra. "Bist du denn wirklich außerstande, dir auch nur die einfachste Zahlenkombination zu merken? Aber na gut, ich lasse deine Version auch gelten." Das erste Mal in diesem Gespräch wandte sie den Blick ab und drückte einen Knopf unter ihrem Schreibtisch. "So, die Gewehre sind jetzt nicht mehr auf euch gerichtet, ihr könnt euch wieder bewegen." Aerias Augen weiteten sich vor Entsetzen. G-gewehre? Bitte was? "Gewehre?", flüsterte sie fassungslos zu Mira hinüber. "Ich habe dir gesagt, dass sie paranoid ist", gab Mira trotzig zurück. "Was gibt es da zu flüstern?" Capras Stimme klang laut, aggressiv, wie vorhin an der Gegensprechanlage. Sie fegte ein paar Papiere von ihrem Schreibtisch und legte ihre Lederstiefel auf das Holz, während sie sich nach hinten lehnte. Auf einmal schien sie eine ganz andere Person zu sein als die melancholisch vor sich hinstarrende Capra, die sie eben noch gewesen war. "Nichts", antwortete Mira scheinheilig lächelnd, während Aeria die Papiere betrachtete, die Capra von ihrem Schreibtisch geworfen hatte und die nun zu den anderen Blättern hinuntersegelten. Da schoss plötzlich ein riesiger, rotgetigerter Kater hinter Capras Schreibtisch hervor und riss die Blätter in Sekundenschnelle zu kleinen weißen Papierfetzen. Sowohl Aeria als auch Mira schraken zusammen. "Darf ich vorstellen: Das ist Cesar", verkündete Capra. "Ha-hallo Cesar", sagte Mira. Aeria sagte nichts. Der Kater sprang leichtfüßig auf den Schreibtisch und schmiegte sich schnurrend an Capras Oberarm, während sie ihm sanft über den Rücken strich. "Na, da haben sich ja zwei gefunden", raunte Mira Aeria zu. "Ich habe gesagt, ich sollt damit aufhören!", rief Capra zornig. "Warum seid ihr überhaupt hier? Und Mira, was ist das da?" "Das da?", wiederholte Aeria empört, aber Capra hatte ihr gar nicht zugehört. "Ich habe es dir doch schon an der Tür erzählt, das hier ist die KM.", wiederholte Mira leicht verärgert. "Das weiß ich. Ich meine, was ist sie?" Capra schwang die Beine von ihrem Schreibtisch hinunter, stand auf und kam auf Aeria zu. Die Anspannung in ihrem ausgezehrten Körper machte Aeria irgendwie nervös. Die Capricornus drehte ein paar Runden um sie wie ein Hai um seine Beute, wobei sie die Rothaarige von oben bis unten musterte. Dann machte sie plötzlich einen großen Schritt auf Aeria zu, packte sie am Arm und riss diesen mit erstaunlicher Kraft nach oben. Aerias wütenden Protest schien sie gar nicht zu hören. "Äh", machte Mira verunsichert, während Capra Aerias Arm betrachtete. "Sie heißt Aeria Crinis und ist 20 Jahre alt." "Weiter", nuschelte Capra mit weit aufgerissenen Augen. Sie schlich gebückt um Aeria herum, die Augen etwa auf Taillenhöhe. "Äh... okay. Sie wurde am 28.4.1994 geboren und ist Vollwaise." Capra zuckte kurz mit der linken Augenbraue, doch ansonsten bemerkte Aeria keine Reaktion. Sie hatte allerdings auch keine Lust, ihren Kopf noch weiter nach hinten zu verdrehen, um Capra zu beobachten, die gerade eine Strähne dunkelroter Haare zwischen den Fingern zwirbelte. Mira ratterte Aerias Beschreibung weiter hinunter. "Sie zeigt leichte Anzeichen von Halluzination und Depression, hat das Sternzeichen Stier, ist Single, wohnt in der Sophiastraße 1b in Minité, Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Europa-" "Einen Moment mal", unterbrach Capra Miras Ausführungen, wobei sie weiterhin in Aerias verschiedenfarbige Augen starrte. "Was ist sie?" "Wa- ach so." Mira brauchte einen Moment, um ihre Gedanken zu ordnen. "Sie ist ein Mensch, wenn du das meinst." "Ein Mensch??" Capra zuckte zurück. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie am liebsten angeekelt zurückweichen wollte, auch wenn sie es schnell wieder verbarg. "Ein Mensch also", sagte sie, als wäre nichts passiert. "Schick sie wieder zurück und sag Cyan, dass er sich geirrt hat. Das hier ist nicht die, die wir brauchen." "Natürlich ist sie das!" In Miras Stimme schwang die Entrüstung mit. "Ganz bestimmt nicht. Die Auserwählte ist keine minderbemittelte Legasthenikerin mit Bauchspeck." "Moment mal... was?", fragte Aeria kochend vor Wut. "Reg dich ab, Aeria, das hat sie nicht so gemeint", versuchte Mira, sie zu beschwichtigen. "Doch, habe ich." Capra bückte sich ein wenig, um ein Buch aus ihrem Bücherregal zu nehmen. Das war Aerias Chance. Mit zwei schnellen Schritten stand sie neben ihr, trat zu und- Capra reagierte blitzschnell, sprang auf und fing Aerias Fuß mit ihrer Hand ab. "War das etwa schon alles?", fragte sie höhnisch, während die Rothaarige auf einem Bein hüpfend versuchte, sich zu befreien. Mit einem wütenden Knurren zog Aeria ihr gefangenes Bein an, Capra stolperte hinterher. Eine leichte Drehung des Fußgelenks, und ihr Bein war wieder frei. Aeria wirbelte herum und trat Capra mit dem anderen Fuß in die Seite. Und während diese noch damit beschäftigt war, wieder aufzustehen, hatte Aeria sie schon in den Schwitzkasten genommen. "Nein, das war noch lange nicht alles." Capra presste einige Flüche zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und begann dann damit, Aeria erstaunlich kraftvoll ihren Ellbogen in die Rippen zu rammen. "Auseinander!" Ein greller Lichtblitz fuhr zwischen die beiden und warf beide einige Meter zurück. Mira grinste zufrieden, dann wandte sie sich an Capra. "Sie sieht Wale." "Was?" Capra hielt sich ihre schmerzende Seite. "Sie kann die Wale sehen, Capra! War es nicht so? Als Einzige die Tiere gesehen in einer Welt aus Verblendung, die Tiere, die im Wasser leben und doch keine Fische sind... Capra, das müssen Wale sein!" Capra starrte erst Mira, dann Aeria an. Sie ging langsam zu ihrem Schreibtisch zurück und setzte sich, als hätte sie alle Zeit der Welt. "Bild dir ja nicht ein, dass du jetzt intelligenter bist als ich." Finster starrte sie Mira an. "Tu ich nicht. Aber Aeria ist die Richtige. Sie konnte die Wale sehen, als sie in der Menschenwelt war und sie ist richtig gut in Selbstverteidigung- wie du am eigenen Leibe erfahren hast." Capra zuckte die Achseln, dann betrachtete sie Aeria argwöhnisch. Kann die damit bitte mal aufhören? Aeria hatte es langsam satt, die ganze Zeit über angestarrt zu werden. Das hatte sie in ihrer eigenen Welt schon oft genug durchmachen müssen. "Sag mal, sind deine Haare eigentlich gefärbt?", wollte sie wissen. Capra runzelte die Stirn und fuhr sich durch ihre violetten Haare. "Natürlich sind die gefärbt. Oder hast du schonmal jemanden mit naturvioletten Haaren gesehen?", meinte sie spöttisch. Aeria gab sich alle Mühe, dass ihre Wut nicht schon wieder hochkochte. "Ich meinte ja nur. Sieht so echt aus. Steht dir." Capra runzelte abermals die Stirn. "Danke", sagte sie vorsichtig. Hat sie sich etwa aus dem selben Grund wie ich die Haare gefärbt? Sie wirkt nicht gerade wie jemand, der sich große Gedanken um sein Aussehen macht. "Hey ihr zwei, hört mal auf mit eurer Beautybesprechung und spitzt die Ohren", mischte sich Mira ein. "Capra, sag uns doch bitte mal, was du herausgefunden hast." Capra ließ sich Zeit. Erst kramte sie umständlich unter ihrem Schreibtisch herum, dann holte sie zu Aerias Entsetzen einen kleinen, braun gefiederten Vogel hervor, der ganz süß gewesen wäre- wenn er nicht tot gewesen wäre. Sie warf ihn vor sich auf den Tisch, Cesar sprang anmutig auf die Tischplatte und verspeiste den armen Vogel genüsslich. Die Capricornus stützte wieder ihren Kopf in die Hände und starrte die beiden anderen an. Schließlich sagte sie sehr gedehnt: "Cyans Spione sind gut informiert. Ihr werdet tatsächlich verfolgt." "Damit habe ich gerechnet, er irrt sich selten. Aber wer ist es? Wen haben sie auf uns angesetzt?" Capra durchsuchte einen weiteren Papierstapel und förderte ein zerfleddertes Dokument zutage. "Sie nennt sich Tenerae. Eine Gestaltwechslerin." "Verdammt." Mira schien frustriert. "Die sind schwer zu kriegen." "Richtig. Aber ich habe einen Lichtblick für euch: Sie ist noch sehr jung und unerfahren, deswegen kann sie ihre Fähigkeit noch nicht voll ausnutzen. Dazu kommt, dass sie wegen ihrer Unerfahrenheit noch eine Lieblingsgestalt hat, in der sie besonders oft erscheint." "Dann lass eine Zeichnung davon anfertigen." "Das habe ich bereits." Capra zog einen kleinen weißen Zettel hervor und gab ihn Mira. Diese betrachtete ihn eine ganze Weile aufmerksam, bevor sie wieder aufsah. "Nicht gerade unauffällig, oder?" "Nein. Aber unterschätzt sie trotzdem nicht, sie soll ziemlich talentiert sein." "Meine Güte, so viele Naturtalente", seufzte Mira und wollte den Zettel zurückgeben. "Lass mich mal sehen!" Aeria riss Mira den Zettel aus der Hand. Darauf war in groben Strichen ein kleines Mädchen gezeichnet, das lange, dunkle, gewellte Haare sowie unnatürlich große und runde Augen hatte. Eine Art Schal verdeckte ihren Mund. "Also, nur, dass ich dass richtig verstehe... die hier verfolgt uns?" "Ja, stimmt", sagte Mira. Sie wollte den Zettel wieder entgegen nehmen, aber Aeria dachte gar nicht daran, ihn wieder zurückzugeben. "Gut, dann habe ich jetzt nur noch drei Fragen: Was sind Gestaltwechsler, wer ist dieser Cyan, von dem ihr die ganze Zeit sprecht und warum zur Hölle werden wir verfolgt?" Capra seufzte unwillig, während Mira eher schuldbewusst wirkte. "Wir hätten es ihr früher sagen sollen", meinte Mira. "DU hättest es ihr früher sagen sollen", erwiderte Capra unbeeindruckt. Mira sah so aus, als wolle sie etwas entgegnen, aber dann überlegte sie es sich anders und wandte sich stattdessen an Aeria. "Um deine zweite Frage zu beantworten, Cyan ist so etwas wie unser Vorgesetzter. Zu deiner ersten Frage, Gestaltwechsler sind, ebenso wie Capricorni, Wesen aus einer anderen Dimension. Die Dimension der Capricorni, die, in der wir uns gerade befinden, heißt Xenon und ihre Einwohner sind friedliche Societaren. Die Dimension der Gestaltwechsler, Aterii, gehört dagegen zu den Aversen und ihre Bewohner sind nicht gerade für ihre Friedlichkeit bekannt." "Moment mal." Aeria runzelte die Stirn. "Ich dachte, die Aversen würden komplett von den anderen Dimensionen abgeschnitten leben wollen? Wie kann es dann sein, dass wir von so einer... Gestaltwechslerin verfolgt werden? Sollte so etwas nicht verboten sein?" "Es IST verboten. Dimensionen, die zu den Aversen gehören, ist es verboten, Bewohner herauszulassen. Das ist der Preis für die Ungestörtheit. Aber bisher konnte Aterii nichts nachgewiesen werden. Denn wie der Name schon sagt, können Gestaltwechsler ihre Gestalt verändern und jedes beliebige Aussehen annehmen, das sie schon einmal gesehen haben. Darüber hinaus sind sie Meister der Dunkelmagie." "Moment mal." Aeria spürte, wie ihre Knie weich wurden. "M-Magie?" Mira hob eine Augenbraue. "Ja, Magie. Was glaubst du, mit was ich das Portal geöffnet habe? Oder mit was ich Capra und dich eben getrennt habe?" "Kann-kann ich das auch lernen?" Aeria sah Mira aufgeregt an. Mira hob bedauernd die Schultern. "Ich weiß es nicht, aber ich fürchte nicht. Nur etwa zwei bis drei Prozent der gesamten Dimensionsbevölkerung ist es überhaupt vergönnt, Magie zu erlernen und Magier zu werden. Und du kannst die Leute an einer Hand abzählen, die es geschafft haben, die Künste der Magie zu meistern. Selbst wenn du -wie zum Beispiel ich- zu den zwei bis drei Prozent gehörst, ist Magie extrem schwer zu erlernen und noch schwieriger anzuwenden." Aeria ließ den Kopf hängen. Es wäre ja auch wirklich zu schön gewesen. "Aber so unfähig siehst du jetzt auch nicht aus", versuchte Mira, sie wieder aufzumuntern. "Ich bin sicher, du könntest einige einfachere Dinge lernen, wie zum Beispiel Portale öffnen oder so." Es half ein wenig, aber enttäuscht war Aeria immer noch. So enttäuscht, dass sie ihre dritte Frage -warum sie verfolgt wurden- komplett vergaß. Eine ganze Weile schwiegen die drei, bis die blauhäutige Capricornus sich wieder zu Wort meldete. "Wie spät ist es eigentlich?", fragte Capra beiläufig, nachdem sie erfolglos auf ihr leeres Handgelenk geschaut hatte. "Vierzehn Uhr siebenundzwanzig", sagte Aeria wie aus der Pistole geschossen. Die beiden anderen sahen sie erstaunt an. "Äh, was habe ich gerade gesagt? War es irgendetwas Dummes?" "Nein, ganz und gar nicht", murmelte Capra interessiert. "Ein plötzlicher Augenblick der Erkenntnis... sehr interessant." "Du wusstest also doch, wieviel Uhr es ist?", wandte sich Mira lauernd an Capra. "Warum fragst du dann?" "Nur so." Capra stand auf und signalisierte Mira und Aeria, dass ihre Kundenzeit vorbei war. "Du machst nie etwas 'nur so'", murrte Mira. Plötzlich weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. "Warte mal, Aeria, was hast du gesagt? Vierzehn Uhr siebenundzwanzig??" "Hat sie", sagte Capra unbeteiligt, während sie ein Buch aus ihrem riesigen Regal zog. "Verdammt, wir sind schon viel zu spät dran! So schnell kriegen wir das doch nie hin!" Mira raufte sich verzweifelt ihre Haare, die danach in alle Richtungen abstanden. "Zumindest nicht zu Fuß..." Capra las interessiert in ihrem Buch, während ein Grinsen ihr Gesicht zierte. "Ja, zu Fuß dauert es viel zu la- Capra, du kleines Miststück." Miras Gesicht verfinsterte sich. "Vielleicht solltet ihr lieber mit mir fahren, hm?" Capra schlug das Buch zu und brach in schallendes Gelächter aus. "Du hast das von Anfang an geplant, oder? Dich zuerst desinteressiert gegeben, damit wir uns um dich bemühen, dann doch Interesse bekommen, Aeria provoziert, um ihre Fähigkeiten zu testen, damit das Treffen heimlich hinausgezögert, damit wir keine Zeit mehr haben und mit dir fahren müssen? Gib's zu, genau so war es!" "Vielleicht..." Capra hielt sich den Mund zu, um nicht weiterzukichern. "Du kannst es einfach nicht ertragen, bei irgendetwas NICHT dabei zu sein, oder? Na schön, die Klügere gibt nach. Wir fahren mit dir. Wo steht dein Auto?" Capra hielt einen Augenblick inne, dann brach sie erneut in Gelächter aus. "Was?" "Tut mir unheimlich leid, Mira, aber ich habe momentan nur eine Duvita da, dieses solarbetriebene Zweirad, das du so hasst." Zuerst wurde Mira leichenblass, dann zornrot. "Es tut dir garantiert kein bisschen leid!" "Wenn du meinst...", Capra versuchte, sich wieder einzukriegen. "Oh verdammt, oh verdammt..." Mira war wieder zu leichenblass gewechselt und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. "Das werde ich nicht überleben... das werde ich nicht überleben... Zwei Leben, ja klar! Die braucht man auch!" "Ach komm schon, die fahren echt gut", versuchte Capra Mira zu überzeugen. "Und außerdem habe ich seit letztem Mal viel dazugelernt." Wütend funkelte Mira sie an. "Ach ja? Weißt du etwa jetzt, wo die Bremse ist?" "Äh, Entschuldigung, wenn ich störe...", schaltete Aeria sich ein. "'Aber wovon sprecht ihr eigentlich gerade?" "Von dem reinsten Selbstmord!" Mira hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. "Bitte, Aeria, komm mit mir und wir verschwinden schleunigst von hier!" "Ach, hör nicht auf den kleinen Angsthasen hier", meinte Capra verächtlich. "Es ist nur dann Selbstmord, wenn man mit Duvitas nicht umgehen kann." "Und kannst du das?", fragte Aeria und ignorierte Mira, die gerade versuchte, sie am Arm wegzuzerren. "Ich? Natürlich. Aber was ist mit dir?" "Was sollte mit mir sein?" Capra musterte Aeria noch einmal von Kopf bis Fuß. "Hmm... Das könnte klappen. Hast du einen Motorradführerschein?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)