Complementative Sunset
Kapitel 1:
CONTEMPLATIVE SUNSET
»Ich möchte dich nicht mehr länger anlügen.«
Es war ein schöner Sommernachmittag. Obwohl die Sonne bereits dabei war, unterzugehen, war es draußen immer noch strahlend hell. Auf den Straßen war es nach wie vor sehr belebt. Viele fuhren in den Feierabend oder gingen von einem schönen Städtetrip wieder nach Hause. Einige, größtenteils Pärchen, gingen auch erst jetzt allmählich in die Stadt, um gemeinsam essen oder ins Kino zu gehen.
Wie gerne würde er nun auch ausgelassen mit Ran einen schönen Abend verbringen? Und zwar als ein richtiges Liebespaar, nicht als vermeintliches Geschwisterpärchen. Aber selbst dieser kleine Wunsch würde unerfüllt bleiben. Für unbestimmte Zeit zumindest.
»Es wird immer schwerer, ihr immer weiter etwas vormachen zu müssen, hab ich Recht?«, ertönte Heijis Stimme direkt hinter ihm. Er hatte sich inzwischen zu ihm gesellt und blickte ebenfalls dem Sonnenuntergang entgegen.
Nachdenklich schloss der kleine Junge mit der großen Brille seine Augen. »›Schwer‹ ist noch leicht untertrieben«, gestand er und seufzte tief.
Dies war eine der wenigen Momente, wo sie tatsächlich offen über ›Gefühle‹ sprachen. Sie kamen selten genug vor, doch wenn sie da waren, dann umso intensiver. Inzwischen waren sie nun auch reifer geworden. Reif und erwachsen genug, um ihre wahren Gefühle nicht mehr vehement abzustreiten. Schließlich waren sie in der Zwischenzeit zu besten Freunden geworden, vertrauten sich blind und konnten über alles reden. Und wahrscheinlich sahen sie sich gegenseitig jeweils als einzigen Ansprechpartner an, was ihre Gefühlswelt anbelangte.
Niedergeschlagen dachte Conan an die vielen Male, wo er sie beim Weinen ertappt hatte, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte. Vor ihm hatte sie immer die Starke gemimt, doch in unbeobachteten Augenblicken überfiel sie doch die Trauer und Sehnsucht nach seinem wahren Ich. Und das konnte er mehr als nur gut nachempfinden, weil er in gewisser Weise das Gleiche durchmachte. Ihre Tränen zu ertragen und einsehen zu müssen, dass er der Grund war, warum sie flossen …
Dieser Gedanke wurde für ihn von Tag zu Tag bitterer.
»Manchmal frage ich mich wirklich, ob das richtig ist, was ich tue«, fuhr der scheinbar Siebenjährige fort. Seine Haltung war beinahe starr. Immer noch stand er gelassen vor dem Fenster; seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben. »Ob es nicht einfacher wäre, ihr endlich die Wahrheit zu gestehen. Andererseits wäre es das Egoistischste, was ich tun könnte. Sie in diese ganze Sache mit hineinziehen und mit diesem Wissen zu belasten, nur um mein Gewissen zu erleichtern.«
Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine schmalen Lippen.
Sie wäre ja nicht die erste Person, die dann Bescheid wüsste über seine wahre Identität. Dieses Wissen teilte er bereits mit mehreren Leuten, und ausgerechnet sie, der wichtigste Mensch in seinem Leben, kannte die Wahrheit nicht. Allerdings hatte das auch einen guten Grund: Sie war jemand, dem die Sicherheit anderer wichtiger war als ihre eigene. Wenn sie von der Schwarzen Organisation erfuhr, würde sie zweifelsohne ihr Leben auf’s Spiel setzen, um ihn zu retten. Und er durfte nicht zulassen, dass sie sich wegen ihm in Gefahr brachte.
Ihre Sicherheit hatte bei ihm oberste Priorität. Sie war ihm so wichtig, dass er so weit ging, die Wahrheit ihr gegenüber zu verschweigen. Und nicht nur das: Er gaukelte ihr immer wieder Lügen vor. Er, der es sich eigentlich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, stets die Wahrheit zu finden. Nicht zu vertuschen.
Ironie des Schicksals?
»Du siehst das mal wieder viel zu dramatisch, Kudo«, versuchte der Detektiv des Westens seinen besten Freund etwas aufzuheitern. »Leider … kann ich dir aber auch nicht sagen, was das Richtige ist. Aber egal, wie du dich auch entscheiden wirst: Ich werde hinter dir stehen. Ich bin mir sicher, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst.«
Ein kurzes Schweigen folgte, bevor der geschrumpfte Detektiv Heiji mit lehrender Stimme etwas mitgab. »Ich beneide dich, Hattori. Du hast nach wie vor deinen eigenen Körper und kannst jeden Tag mit deiner Sandkastenfreundin und heimlichen Liebe verbringen. Du löst deine Fälle und sie bewundert dich insgeheim dafür; ist immer an deiner Seite. So wie du immer an ihrer Seite bist. Gegenseitig stützt ihr euch, ohne es überhaupt zu merken. Ihr liebt euch, aber auf der anderen Seite wisst ihr noch nicht so wirklich zu schätzen, was ihr an dem anderen habt. Da ihr euch ebenfalls so lange kennt, ist die Anwesenheit des anderen für euch zur Selbstverständlichkeit geworden. Ihr kennt es gar nicht anders.
Genauso war es bei Ran und mir. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag.
Weißt du: Ich an deiner Stelle würde nun sofort zu Kazuha rennen, sobald ich wieder in Osaka angekommen bin und ihr meine Liebe gestehen.
Denn du weißt nie, ob nicht irgendetwas dazwischenkommt, was alles von heute auf morgen komplett auf den Kopf stellen könnte. Und ob du es dann nicht furchtbar bereust, ihr deine Gefühle nicht offenbart zu haben, als du noch die Chance dazu hattest.«
Aufmerksam hatte Heiji seinem Freund zugehört und sah fasziniert zu ihm herab. »Kudo …« Mehr brachte er nicht zu Stande, und jedes weitere Wort war in diesen Sekunden auch überflüssig. Nur eine sichere Gewissheit lag in der Luft: Conan hatte recht. In allen Punkten.
Sie schreckten hoch, als sie ein Geräusch aus dem Flur vernahmen. Kurz darauf erschien Ran am Türrahmen.
Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Conan sie nur entgeistert anstarren. Wie lange war sie schon hier? Hatte sie etwa alles mitgehört?
Auch Heiji wurde leichenblass, was durch seine dunkle Hautfarbe nur noch mehr auffiel. Conan fand sich zuerst wieder und begrüßte Ran fröhlich, als wäre nichts gewesen. Und wieder tat er es. Wieder machte er gute Miene zum bösen Spiel. Als hätte er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan.
Dafür hätte er sich im gleichen Moment selbst ohrfeigen können.
Auch bei der Oberschülerin bildete sich ein freundliches Lächeln. »Hallo Conan! Hallo Heiji! Das ist ja eine angenehme Überraschung, dass du uns mal wieder spontan besuchen kommst. Kazuha hast du nicht mitgebracht?«
Heiji befreite sich ebenfalls aus seiner Starre und stand ihr Rede und Antwort. »Nein, ich bin hier wegen eines Falls, der sich bis nach Tokyo erstreckt hat und wollte Kazuha da nicht unbedingt mitnehmen. Ja, und da habe ich mir gedacht, dass ich euch mal einen kurzen Besuch abstatte.«
»Du hast sicher Hunger, oder? Ich koche uns gleich mal etwas.« Gut gelaunt verschwand Ran in die Küche.
Die beiden Detektive tauschten einen erleichterten Blick aus. Zum Glück schien sie nichts von ihrem vorherigen Gespräch mitbekommen zu haben.
Das hätte gewaltig ins Auge gehen können. Da waren sie gerade noch einmal glimpflich davongekommen und hatten wohl mehr Glück als Verstand.