Majin
Unter ihrer Bettdecke war es ganz warm und kuschelig, aber Setsuka war dennoch nicht müde, als sie ihre Großmutter auffordernd ansah.
„Oma, erzähl mir noch einmal die Geschichte von den Anma und den Meishin!“, bat sie energisch; diese Geschichte war ihre Lieblingsgeschichte, egal, wie oft sie sie noch hören würde. „Danach schlafe ich sicher auch ganz fest ein!“
Setsukas Großmutter lachte leise auf, doch ihre Enkelin bemühte sich weiterhin ein flehendes und ernstes Gesicht zugleich zu machen, um ihrer Bitte noch einmal Nachdrücklichkeit zu verleihen. Schließlich legte ihre Großmutter Setsuka eine ihrer großen Hände auf den Kopf. Setsuka war immer der Meinung, dass ihre Oma die wohl größten Hände überhaupt haben musste; sie umfassten beinahe ihren gesamten Kopf. Naja, die zweitgrößten Die größten hatte ja ihr Vater.
„Und danach willst du auch wirklich schlafen?“, fragte ihre Großmutter mit einem ernsten Ausdruck auf dem Gesicht, doch ihre Mundwinkel zuckten immer so, wie wenn sie kurz davor war zu lächeln.
Setsuka nickte energisch. „Ja! Ganz bestimmt!“
Ihre Großmutter musterte sie. „Ganz bestimmt?“
Setsuka nickte noch einmal nicht minder energisch.
„Nun gut“, gab ihre Großmutter nach und ihre Enkelin strahlte geradezu, als sie sich zu Setsuka auf das Bett setzte und dieses ein leises ‚woof!‘ von sich gab. Sobald sie konnte, schmiegte sich Setsuka an ihre Großmutter und diese legte einen Arm um sie.
„Vor langer, langer Zeit“, begann sie und ihre kräftige, klare Stimme sang durch Setsukas Körper hindurch, „erschufen die Majin erst die Youkai und dann die Menschen und sie lebten alle gemeinsam auf dieser Erde. Alles war friedlich und das Leben gedieh in den verschiedensten Formen unter demselben Himmel, den wir auch heute noch sehen. Auf den Wiesen graste das Vieh und die Bäume trugen reiche, saftige Früchte; die Flüsse waren kristallklar und die Berggötter lebten friedlich im Gestein.
Alles war gut für eine sehr lange Zeit.
Doch irgendwann reichte dies einigen Majin nicht mehr. Diese Gruppe war der Ansicht, dass, da sie die Youkai und die Menschen geschaffen hatten, sie über sie herrschen sollten. Die Majin waren sich uneinig und sie spalteten sich auf; in die Meishin, die hellen Götter, und die Anma, die düsteren Dämonen.
Der Streit zwischen den Anma und den Meishin würde so groß, dass daraus ein großer Krieg erwuchs, der Jahrhunderte anhielt, bis die Meishin schließlich einen Weg fanden, um sich gegen die Anma zu behaupten.
Aber dieser Weg hatte einen Preis. Doch als die Meishin sahen, wie die Erde, die Flüsse, der Himmel, die Menschen und die Youkai unter dem Krieg zwischen ihnen und den Anma zu leiden hatten, waren sie nur allzubereit, diesen Preis zu zahlen. Sie überlisteten die Anma und versiegelten sich gemeinsam mit ihnen in einer Welt fernab dieser. Bevor sie jedoch vollends verschwanden, erwählten sie einige Youkai und Menschen zu den Wächtern ihres Siegels, auf dass es nie wieder zu einem so großen Krieg kommen sollte.“
„Und seitdem ist Frieden…“, murmelte Setsuka schläfrig und driftete nur Augenblicke daraufhin ins Land der Träume, während sie weiterhin fest das Amulett umklammert hielt, das sie an diesem Tag von ihrer Großmutter bekommen hatte.
Ihre Großmutter strich ihr erneut über das Haar.
„Ja… Frieden…“, bestätigte sie leise mit einem Blick auf das Amulett.
Frieden, von dem sie inständig hoffte, dass er noch lange anhalten würde, denn er war teuer erkauft worden.