Sternenseelen von Verath ================================================================================ Kapitel 6: Schrecken im Bälde -----------------------------   Er donnerte ihren flinken Körper unbarmherzig gegen die harte  Hauswand. Dieses Mal entkam sie ihm nicht! »Verdammt, lass mich los! Du tust mir weh!« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden wie ein Aal, doch er gab nicht nach und hielt sie an Ort und Stelle, bis sie einsah, dass sie sich aus dieser Situation nicht einfach befreien konnte. »Hab ich dich endlich, du kleines Miststück«, raunte er ihr von hinten entgegen. »Attur, was willst du?« »Was ich will?«, höhnte er mit kalter Wut in der Stimme. »Weißt du eigentlich, in welche Situation du mich gebracht hast? Und das alles nur wegen deinem Dasein als diebische Elster.« Nikyla lachte. »Was soll schon passiert sein? Attur, willst du mir etwa sagen, dass du zimperlich geworden bist?«, spöttelte sie. Doch er zeigte ihr schnell, dass sie sich gerade wirklich nicht in der Situation befand, sich dumme Witze zu erlauben. Schmerzlich stöhnte sie, als er sie fester gegen die Steinwand drückte. »Soll ich dir zeigen, was meine Herren mit mir gemacht haben, als sie erfuhren, dass das Säckchen mit den Sternsteinen weg ist, ohne dass ich den Schneider bezahlt habe?« Er war wirklich wütend. Obwohl diese Angelegenheit bereits viele Wochen zurücklag, war die Wut in seinem Inneren nicht verflogen seit dem Moment, in dem er ihr durch die Marktstände hinterhergejagt war. Sie wusste, dass seine Herren streng waren und doch hatte sie ihn in eine so missliche Lage gebracht - ganz bewusst. Lange hatte es gedauert, bis er sie endlich zu fassen bekam, aber nun war es soweit. Er schob ihren Arm auf ihrem Rücken weiter nach oben, bis sie gequält aufschrie. »Nein, nein, ich will es nicht wissen, bitte!« Er stoppte. Denn egal wie wütend er auf Nikyla war, wirklich weh tun wollte er ihr eigentlich nicht. Ihre feinen Gesichtszüge waren schmerzverzogen, ihre gerade Nase gekräuselt. Sie hatte eine schlanke, schmale Figur, die sich im Augenblick krümmte; passend für eine Diebin. »Es tut mir leid. Mein Herr hat mich beim Stehlen erwischt und mir drei Tage nur Wasser zu essen gegeben.« Attur stieß einen abschätzigen Laut aus. »Du wirst erwischt und bestraft und das Erste, was du daraufhin tust, ist erneut zu stehlen? Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen.« Er ließ ihre Hand wieder nach unten sinken, hielt sie aber weiterhin fest genug, damit sie sich nicht aus seinem Griff winden konnte. »Du hättest dir Essen stehlen können, anstatt mir Sternsteine.« Dann ließ er sie los. »Satyrana sieht mich seitdem nicht mehr an. Sie ist enttäuscht von mir, obwohl ich nichts Falsches getan habe.« Nikyla drehte sich zu ihm um und strich mit einer Hand sanft über seine Wange. »Du hättest ihr die Wahrheit sagen können«, flüsterte sie. Er schlug ihre Hand weg und lachte bitter. »Als ob sie meinen Worten Glauben schenken würde. Den Worten eines Sklaven, gewogen gegen die ihres ehrenhaften Bruders.« Sie zuckte mit den Schultern und legte den Kopf ein wenig schief. »Soll ich dir dabei helfen, sie und den Kummer, den sie erschaffen hat, zu vergessen?« Mit einer Hand raffte sie ihr zerschlissenes Kleid am Bein nach oben. Sie drängte sich an Atturs drahtigen Körper und küsste seinen Hals. Der gequälte Ausdruck in ihren dunkelgrauen Augen war einem verspielten gewichen. »Lass mich«, grollte er und schob sie von sich. »Ich will, dass du mir aus den Augen gehst. Überall, wo du auch bist, bringst du nichts als Ärger. Ich kann mich in deinen Armen nicht mehr fallen lassen.« Noch immer war er wütend, aber er wusste, dass jedes weitere Gespräch mit Nikyla daran auch nichts ändern würde. Eher schürte es seine Wut nur wieder. Ihre Augen verengten sich, bevor sie ihn grob zur Seite stieß, um an ihm vorbei gehen zu können. »Ich habe dich nicht für so dumm gehalten«, erboste sie sich, »aber du wirst schon sehen, was du davon hast.« »Nikyla!« Ein gesetzter Herr mit soldatischer, aufrechter Haltung rief von der Hauptstraße aus ihren Namen. Er schien aufgewühlt. Sobald sie ihn vernahm, lief sie los, schenkte Attur aber noch einen bedrohlichen Blick. Was sollte sie schon groß anrichten können? Vielleicht hielt er sich trotzdem vorerst von den Gassen und dem Marktplatz fern, soweit es möglich war. Erneuten Ärger konnte er nicht gebrauchen. Gerade hatte er eine ruhige Phase, denn nach dem Vorfall auf der Baustelle und der unerwartet erträglichen Strafe seiner Herren dafür, war nichts mehr passiert, was ihm erneut Schmerzen gebracht hätte.   Er blieb nur einen Augenblick länger in der Gasse stehen, dann ging auch er zurück zum Marktplatz, den viele Leute beinahe fluchtartig verließen. Verwirrt suchte er in dem Trubel nach seiner Mutter, die mit bleichem Gesicht einen Mann anstarrte, der auf einigen leeren Holzkisten stand, als wären sie ein Podest. Seine Arme waren ausgebreitet. »Lauft zu den Flüssen und schöpft so viel Wasser, wie ihr nur lagern könnt! Schnell! Bald werdet ihr aus den Flüssen nicht mehr trinken können, denn die Wasserkristalle sind uns geraubt worden!« Attur starrte den Mann ebenso an, ungläubig, entsetzt. Was? Das konnte nicht wahr sein! Niemand würde ihre Lebensgrundlage stehlen. Sein Blick wanderte zu Adina, fragend, kaum dass er sich durch die letzten Leute zwischen ihm und ihr durchgezwängt hatte und neben ihr stand. Nun war klar, was der Grund war, dass bereits am frühen Morgen die schwarzen Glocken über das ganze Land gehallt hatten. Sie drehte sich langsam zu ihm, als er ihr eine Hand auf die schmale Schulter legte; Unruhe und Sorge zeichneten sich in ihren sonst so sanftmütigen Augen ab. Es dauerte einen Moment, bis sie zum Sprechen ansetzte: »Wir müssen zurück zum Anwesen. Die Herren wissen sicherlich bereits Bescheid und wollen uns Anweisungen geben. Bestimmt sollen wir Wasser holen.« Sie umgriff den Weidenkorb in ihren Händen fester. Normalerweise hätte Attur ihn ihr abgenommen, damit sie nicht so schwer tragen musste. Doch dieses Mal ließ er ihn ihr, denn er war der Strohhalm, an den sie sich festklammerte, um den Halt nicht zu verlieren. Attur nickte und sie setzten sich in Bewegung, drängten sich durch die aufgescheuchte Menge. Er lief voraus, versuchte einen kleinen Gang für seine Mutter zu machen. Viele Männer und Frauen schubsten ihn achtlos hin und her. Ein Schrei veranlasste ihn dazu, sich umzudrehen. Seine Mutter lag auf dem Boden, vor ihr der Korb. Die Lebensmittel, die sich darin befunden hatten, lagen verstreut um sie herum. Ein Apfel wurde von einem Fuß zerquetscht, bevor Attur nach ihm greifen konnte. Schnell richteten sie den Weidenkorb wieder auf und sammelten die Nahrung zusammen, bevor noch mehr davon zertrampelt wurde. Gerade als Attur nach dem letzten Teil griff, trat ein Mann eben dort hin und genau auf seine Hand. Er schrie auf und zog sie zurück an seinen Körper. Adina zog ihn hoch und lief weiter. Attur stolperte neben ihr her, sein Blick abwechselnd zwischen dem staubigen Weg unter seinen Füßen und seiner schmerzenden Hand, bevor er sich wieder fasste und schneller ging.   Kaum waren sie zurückgekehrt, ließ Lord Haver nach ihm schicken und er folgte der Dienerin, die ihm den Ruf seines Herrn ausgerichtet hatte, in dessen Arbeitszimmer. Seine Hand pochte leicht. Lord Haver besaß eine Habichtnase, sodass er noch mehr einem Raubvogel glich. Dazu noch seine kühlen, starren Augen, die auch nun wieder durchbohrend auf Attur lagen. Er musste ein Schaudern unterdrücken. »In Kürze brechen Rick und ich auf, um zum Anwesen des Statthalters zu fahren. Du wirst uns begleiten, um dich für die Dauer der Abstimmung um unser Wohl zu kümmern. Hilf beim Einladen unserer Koffer in die Kutsche.« Der alte Statthalter hatte vor wenigen Tagen tatsächlich seinen letzten Atemzug getan und nun trafen sich viele wichtige Männer und die Kandidaten auf dessen Anwesen, um den Nachfolger zu wählen. Wahrscheinlich würden sich die hohen Herren auch über das drohende Unheil beraten. »Wie lange werden wir dort sein?«, wagte Attur sich zu fragen. Lord Havers Aufmerksamkeit, die ihn bereits entlassen hatte, kehrte auf ihn zurück, doch er sah den Sklaven nur aus dem Augenwinkel abschätzig an. »So lange, bis der einberufene Rat zu einer Entscheidung gekommen ist.« Eine genauere Antwort würde er nicht erhalten. Jedenfalls nicht von Augustus Haver. Möglicherweise konnte jedoch sogar dieser nicht einmal schätzen, wie lange das Zusammentreffen des Rates dauern würde. Waren die Konkurrenten sich so ebenbürtig? »Habt ihr bereits von dem Vorfall mit den Wasserkristall-Dieben gehört?«, richtete er noch einmal das Wort an seinen Herrn. Dieser wedelte mit dem Handrücken. »Selbstredend. Gerade deshalb ist es nötig, sich nun um die Wahl eines Nachfolgers für die Stadt zu kümmern.« Unterwürfig deutete Attur eine Verneigung an, bevor er den Raum verließ. Ihm war mulmig zu Mute, wenn er daran dachte, dass ihr Wasser nicht mehr gereinigt werden konnte. Wer war so grausam, dass er die Kristalle stehlen würde? Und warum?   In seinem karg eingerichteten Zimmer, das er sich mit Haal teilte, packte er einige einfache Kleidungsstücke, die er sein Eigen nannte, in einen kleinen schäbigen Koffer. Vor dem Haus waren zwei Dienerinnen bereits damit beschäftigt, die Kutsche zu beladen. Mit wenigen Schritten war Attur bei ihnen angekommen und half ihnen, was die beiden zum Lächeln brachte. Kaum dass sie fertig damit waren, tauchte bereits der Kutscher bei ihnen auf. »Attur, ich habe gehört, du kommst mit zur Abstimmung?« Er grinste ihn fröhlich und aufgeweckt an, wobei man deutlich die Zahnlücke in der oberen Reihe bemerkte und seine Lachfältchen zur Geltung kamen. »Ich werde als Diener eingesetzt. Wobei ich nicht verstehe, warum sie dafür keine der Damen mitnehmen«, antwortete er und deutete auf die Dienerinnen, die sich zurück ins Haus begaben. Der Kutscher schüttelte wild Kopf wie Zeigefinger. »Du solltest wissen, dass bei Ratsversammlungen keine Frauen geduldet werden.« »Auch nicht als Bedienstete?« Attur legte den Kopf etwas schief und zog die Augenbrauen zusammen. Er wusste nur, dass noch nie eine Frau mit an Abstimmungen teil genommen hatte. Haal und Adina gingen mit großen leeren Fässern über den Hof. Wahrscheinlich mussten sie Wasser aus dem Fluss holen. Gerne würde Attur ihnen dabei helfen, aber Haal würde sich für ihn darum kümmern, dass seine Mutter nicht zu schwer tragen musste. »Im ganzen Flügel haben sich während Abstimmungen und anderen Zusammenkünften des Rats keine Frauen aufzuhalten«, belehrte der Mann ihn, bevor sein Blick den Herrschaften galt, die aus dem Haus kamen. »Spring doch schon mal auf den Kutschbock«, schlug er Attur vor, der sogleich nickte und sich umdrehte, um nach den Halterungen zu greifen und seinen Fuß auf die dafür vorgesehene Aufsteigehilfe zu stellen. Gerade als er sich hochschwingen wollte, erklang Ricks durchdringende, süßliche Stimme. »Warte!« Attur erstarrte in seiner Position. Er hatte ja bereits gewusst, dass dieser Aufenthalt kein Zuckerschlecken sein würde, wenn Rick dabei war, aber er hatte gehofft, wenigstens noch bis zum Haus des Statthalters Ruhe vor ihm zu haben. Zögerlich ließ er los und drehte sich zu seinen Herren. Der Kutscher hatte indes bereits die Tür geöffnet, um den Herrschaften hineinzuhelfen. »Ich möchte, dass du in der Kutsche mitfährst.« Überrascht sah er Rick an. Er sollte mit in die Kutsche? Aber er war ein Sklave! Dass so ein Vorschlag von Rick kam, verwunderte ihn schon, da es ihn in einer gewissen Weise mit den Herren gleichstellte. Doch noch im selben Moment wusste er, dass Rick nichts Gutes im Schilde führte. »Das ziemt sich nicht, Herr.« Dabei senkte Attur unterwürfig den Kopf. Er sah aus dem Augenwinkel den abwartenden und gleichzeitig unzufriedenen Blick von Lord Haver, der mit erstaunlich festem Schritt für sein Alter an ihnen vorbei zur Kutsche ging. Ihm schien Ricks Eigenheit gar nicht recht zu sein, doch gleichsam nicht so sehr zu missfallen, dass er einschritt. »Widersprich mir nicht, kleiner Bastard. Ich möchte, dass du die Fahrt nutzt und mir die Schuhe putzt. Also hol, was du dafür brauchst und beeil dich!« Hastig lief Attur zum Haus, um von dort zwei weiche Putztücher und eine Schmutzbürste sowie Schuhwachs zu holen. Als er nach draußen kam, unterhielten sich der Kutscher und Rick gerade angeregt über die Fahrt. Sie beendeten ihr Gespräch jedoch, als Attur neben dem Kutscher stand, welcher ihm bedeutete, einzusteigen, damit er die Tür schließen konnte. Etwas mulmig war Attur schon. Im Innenraum war es etwas düster, denn außer dem kleinen Fenster hinter ihm, welches noch dazu einen Vorhang hatte, gab es nichts, was ihn erhellte. Links von der Tür saß Rick, rechts Lord Haver. Unsicher, wohin er sich setzen durfte, blieb er einen Augenblick stehen. Der jüngere Herr schien zu verstehen, denn er musterte Attur, bevor er auf den breiten Fußbereich des Kutschinnenraumes deutete. »Knie dich vor mich, sonst fällst du gleich, wenn wir losfahren.« Ein widerliches Lächeln umspielte Ricks Mundwinkel, als er dies sagte. Es hörte sich beinahe so an, als würde er auf Atturs Wohlergehen achten, doch das bösartige Funkeln in seinen Augen machte diesen Eindruck sofort wieder zunichte. Nichtsdestotrotz tat Attur, wie ihm geheißen und fand sich vor Ricks Füßen wieder. Keine Sekunde zu früh, wie sich herausstellte. Das Surren von einer Peitsche erklang und der Kutscher rief ein »Heya!« um die beiden eingespannten Pferde anzutreiben. Die zweiachsige Kutsche setzte sich holpernd in Bewegung und Attur kippte ein Stück nach hinten, bis die gepolsterte Holzbank in seinem Rücken die ungewollte Bewegung stoppte. »Siehst du?«, flötete der Mann vor ihm selbstgefällig, bevor er ihm seinen rechten Fuß entgegenstreckte. »An die Arbeit und schön vorsichtig, ja?« Attur legte die Utensilien neben sich ab und griff als Erstes zur Schmutzbürste, um den feinen Dreck von dem Schuh zu entfernen. »Sobald wir ankommen, unterlässt du solche Undinge.« Rick sah zu seinem Vater und winkte dessen Worte mit der Hand ab. »Ich weiß, ich weiß. Bis ich Statthalter bin, muss ich mich von meiner guten Seite zeigen.« »Nicht nur von deiner guten. Von deiner besten«, verbesserte Augustus Haver ihn. »Auch wenn die Bürger den verkommenen Sohn von Lord Utweier als schlimmstes Ergebnis vor Augen haben, soll doch ganz klar ersichtlich sein, warum du gewinnst. Was du wirst.« Attur griff nach der Kartusche mit Wachs und einem weichen Baumwolltuch, um das Wachs auf den nun sauberen Schuh aufzutragen. Rick hingegen lehnte sich siegessicher zurück. »Ich gewinne die Abstimmung, keine Frage. Denn ich werde die beste Möglichkeit für die Stadt sein, die sich ihr bietet. Sie werden gar keine andere Wahl haben.« Er grinste und packte Atturs Kinn, um ihn etwas nach oben zu ziehen, was dieser nur widerwillig mit sich machen ließ. »Und dich werde ich dann mitnehmen. Als meinen Haussklaven, kleiner Bastard.« Ihre Gesichter waren sich bereits recht nahe, sodass Attur sich auf Ricks Knien abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Voller grässlicher Vorfreude blickte Rick ihm in die Augen, bis Attur die seinen niederschlug. Dann erst wandte Rick sich wieder an seinen Vater. »Nicht wahr, du schenkst ihn mir doch, oder?« Er hatte einen richtiggehenden Narren an Attur gefressen, wenn es darum ging, jemanden zu demütigen oder zu quälen. Ein Geschenk für Rick? Attur wollte sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich sein Leben würde, wäre er erst Ricks Sklave. Ohne Draper, der hin und wieder dazwischen ging. Ohne Lord Haver, der seinen Sohn manchmal zurecht wies. Es schüttelte ihn, was Rick nicht entging. »Was denn, was denn? Sag nur, du freust dich nicht darauf«, gab er mit gelüpften Augenbrauen von sich, ehrliche Überraschung - in Ricks Fall wohl eher ehrlich vorgespielte Überraschung - im Gesicht. »Wir werden sehen«, mischte Lord Haver sich nun ein und beendete damit unüberhörbar das Thema. Ricks Gesichtsausdruck wandelte sich in ein boshaftes Grinsen, bevor er Attur wieder nach unten stieß, sodass Attur leise aufstöhne und das Gesicht ob dem harten Holz im Rücken schmerzhaft verzog. »Du bist noch nicht fertig, Faulpelz!« Ihm wurde der teilweise eingewachste Schuh vors Gesicht gehalten, dann drückte Rick ihn gegen seine Wange. Attur wandte den Kopf ab und entkam zur Seite. Auf seiner Haut spürte er das leicht klebrige Wachs und noch immer kam es ihm so vor, als würde er das geschmeidige Leder daran fühlen. Erst als Rick seinen Fuß wieder still hielt, näherte er sich ihm langsam wieder, wobei er überrascht war, dass Rick ihm das Ausweichen nicht übel nahm. Ein flüchtiger Blick nach oben erklärte ihm den Grund. Auf dem Oberschenkel des jungen Herrn lag das untere Ende des Gehstocks und drückte das Bein leicht hinunter. Sicher war dahinter kein großer Kraftaufwand, doch es reichte, um Rick in seine Schranken zu weisen. Attur spähte hinüber zu Lord Haver, der seinen Sohn mit strenger Miene bedachte, bevor dieser einen abschätzigen Laut von sich gab und aus dem Fenster sah. Attur nahm seine Arbeit wieder auf. Was täte er, wenn niemand mehr bei ihm wäre, der Rick zurechtwies? »Von deiner besten Seite«, betonte Augustus Haver noch einmal. Die restliche Fahrt verlief ohne Zwischenfälle und Rick hielt seine Füße still, sodass Attur seiner Arbeit unbehelligt nachgehen konnte. Die Kutsche blieb stehen und das stete Wackeln hörte auf, worüber Attur eindeutig froh war. Er fuhr nicht oft mit dem Wagen, meistens lief er überall zu Fuß hin. Die Tür wurde geöffnet und die beiden Herrschaften erhoben sich, um auszusteigen. Auch Attur tat es ihnen gleich, wobei ihn das gleißende Licht von Sultas in den Augen stach, nachdem er die Fahrt im Halbdunkel verbracht hatte. Sobald er wieder klar sah, erkannte er viele Kutschen. Bestimmt ein Dutzend. Sie waren alle mehr oder weniger pompös und hatten schöne, große Pferde eingespannt. Alleine daran erkannte man bereits, dass alles, was Rang und Namen hatte, hier versammelt war. Manche der Herrschaften waren noch beim Aussteigen, bei anderen waren Diener bereits dabei, das Gepäck auszuladen und eine Kutsche fuhr gerade an ihnen vorbei. Lord Haver und dessen Sohn wandten sich zu dem prunkvollen Gebäude und begannen, die ausladende Treppe zum prachtvollen Tor hinaufzusteigen. Dieses war aus massivem, dunklem Holz. Es besaß glänzend polierte, metallene Beschläge, die sich teilweise als reine Verzierung quer über die Torflügel zogen. Zwei Bedienstete standen an je einem der geöffneten Torflügel, die Hand auf dem Knauf. Ihre Kleidung bestand aus einer weißen Weste, die unter dem Frack hervor schien und ein steifes Revers besaß, welches nach oben aufgestellt war.  Darüber trugen sie einen königsblauen Frack mit goldfarbenen Manschettenknöpfen und spitzen Revers aus glänzendem Seidensatin. Die Frackschöße gingen bis zur Kniebeuge. Eine eng anliegende Baumwollhose hüllte ihre Beine ein, die an den Waden von Seidenstrümpfen bedeckt wurden. An ihren Füßen glänzten schwarze Lackschuhe und auf ihren hoch erhobenen Köpfen trugen sie schwarze Zylinder mit einem königsblauen Satinband. Attur war noch nie tatsächlich im Anwesen des Statthalters gewesen und war überwältigt von der aufwendigen Schönheit der Kleider. Dagegen waren sein schlichtes, aber sauberes Baumwollhemd und seine einfache Bundhose beinahe eine Beleidigung für diese großartigen Hallen mit ihren adeligen und reichen Gästen. »Komm und hilf mir mit dem Gepäck«, bat der Kutscher ihn. Gemeinsam trugen sie die zahllosen Koffer hinauf in die Zimmer, welche für die Familie Haver zur Verfügung gestellt wurden. Sicherlich befanden sich hauptsächlich unzählige Gewänder darin, damit Atturs Herren für die Dauer ihres Besuches bestmöglich ausgestattet waren. Bei all den prachtvollen Kleidern musste man sich wirklich ins Zeug legen. Hoffentlich musste Attur sich nicht um die Zusammenstellung der Kleidung kümmern - er wäre mit einer solchen Aufgabe wirklich heillos verloren, denn mit so etwas kannte er sich nicht aus. Der Kutscher verabschiedete sich von Attur und dieser fand sich alleine in den Räumlichkeiten wieder, die seine Herren für die nächste Zeit bewohnen würden. Er entdeckte auch seinen Schlafplatz: ein angrenzendes, kleines Zimmer mit einem winzigen Fenster, einem schmalen Bett und einem Tisch in der Ecke. Darauf legte er den schäbigen Koffer, aus dem er leben würde, da ihm kein Schrank zur Verfügung stand. Er räumte das Gepäck seiner Herren in die Schränke ihrer Räume, bevor er nichts mehr mit sich anzufangen wusste. Von Lord Haver hatte er keine Anweisungen bekommen, was er tun sollte, sobald sie angekommen waren. Musste er hier bleiben und ihnen jederzeit zur Verfügung stehen? Wäre es da nicht besser, er würde bei ihnen sein? Aber das dürfte er wahrscheinlich nicht, vielleicht könnte er sonst Gespräche hören, die ihn nichts angingen. Nach einer Weile verließ er die Räumlichkeiten dann doch und streunte durch die Gänge des Hauses. Er bestaunte die hohen Decken und das bemalte Stichkappengewölbe, welches von einer blutigen Schlacht am Mutberg erzählte, die wohl das größte Gefecht in ganz Hinderik gewesen war. Nicht wirklich groß, aber in ihrer doch eher friedlichen, inmitten des Landes liegenden Region etwas, womit sich die damaligen Herrscherhäuser geschmückt hatten. Hin und wieder liefen Bedienstete an ihm vorbei - alles Männer. Tatsächlich entdeckte er keine einzige Frau auf seinem ganzen Weg. Als er den Flügel verlassen hatte, in dem alle Gäste untergebracht waren, sah er sogar ein paar Adelige zusammenstehen. Anscheinend war am heutigen Tag noch keine Abstimmung. Er kannte sich damit nicht aus, konnte sich aber vorstellen, dass den Mitgliedern des Rates erst einmal ganz offiziell die Anwärter für den Platz des Statthalters vorgestellt wurden und nun erst einmal alle Gäste in Ruhe ankommen sollten. Bei einem Grüppchen erkannte Attur unter den Leuten auch Rick - das Unangenehme: dieser sah ihn ebenfalls. Sogleich erstarrte Attur und fühlte sich ertappt, obwohl ihm nicht verboten worden war, durch die Gänge zu laufen. Rick entschuldigte sich bei seinen Gesprächspartnern und kam auf ihn zu, auf den Lippen ein mildes Lächeln, das nichts von der sonstigen Widerwärtigkeit oder gespielten Süße beinhaltete. Angstvoll senkte Attur den Kopf. »Attur, was tust du hier?« Erschrocken sah dieser auf. Kein Spott, kein Hohn, kein 'kleiner Bastard'. Nur eine ganz normale Frage in einem natürlichen Ton und sein tatsächlicher Name verließen Ricks Lippen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)