Sternenseelen von Verath ================================================================================ Kapitel 5: Licht im Dunkel -------------------------- Raduskray N'emess blickte in die dunkle Nacht. Die drückenden Wolken besiedelten den Himmel und schienen die Sterne verstecken zu wollen. Als müssten sie verhindern, dass sie von jemandem gestohlen wurden. Man sah die Hand vor Augen kaum, was ihr Vorhaben erschweren, doch zur selben Zeit erleichtern würde. Leise huschten sie über den nassen Waldboden; das vereinzelte Laub raschelte unter ihren Füßen. Durch die Baumwipfel fanden die schweren Regentropfen einen Weg hinab. Das Wasser war warm, welches Raduskray in den Nacken tropfte. Er wischte es mit einer nebensächlichen Handbewegung weg. Es rauschte über ihren Köpfen und unter ihren Füßen schmatzte die aufgeweichte Erde und verschmutzte ihr Schuhwerk, als sie darüber schlichen. Raduskray machte eine Geste, die seine Gefährten der Dunkelheit wegen wohl nur erahnen konnten, doch sie stoppten wenige Schritte hinter ihm. Gerade rechtzeitig, wie sich herausstellen sollte. In völlige Stille getaucht warteten sie. Auf was, war bis zu dem Moment, in dem Fußstapfen zu vernehmen waren, unklar. Der warme, helle Schein einer Laterne blitzte durch die Blätter um sie herum und kam stetig näher. Raduskray legte seine Hände vor dem Mund ineinander und formte zwischen den Handflächen eine Kuhle. Erst als der Schein der Laterne nahe genug an sie herandrang, dass Raduskray die kräftige Gestalt, die davon erhellt wurde, ausmachen konnte, agierte er. Zwischen seinen beiden Daumen blies er hinein und ahmte durch das Bewegen der Finger den Ruf einer Eule nach. Die Gestalt drehte sich sogleich zu dem Ruf um, allem Anschein nach verwirrt, doch zu einer weiteren Reaktion oder gar einem Warnsignal kam sie nicht mehr. Denn ein Surren im Wind war zu vernehmen und ein gurgelndes Geräusch drang aus ihrer durchtrennten Kehle. Der Pfeil steckte dabei noch im Fleisch. Der Mann verdrehte im Licht der Laterne die Augen und spuckte Blut, bevor seine Knie nachgaben und er dumpf auf dem nassen Boden aufschlug. Der gläserne Windschutz landete neben dem Sterbenden und einer von Raduskrays Gefährten schnellte nach vorne, um Laub auf die Lichtquelle zu werfen. Erst dann streckte er vorsichtig seine Finger darunter, um das heiße Metalltürchen zu öffnen, wobei ihn die Hitze nicht zu stören schien. Er blies die Kerze im Inneren aus und brachte so das verräterische Licht zum Erlöschen. Dabei flirrte die Luft, die aus seinem Mund entfloh. Dann stand er auf, behielt aber eine gebückte Haltung bei, bis die anderen beiden zu ihm aufgeschlossen hatten. Zu dem Geruch von frischem Regen und nasser Erde mischten sich der metallene von Blut und der penetrante von den letzten Ausscheidungen eines Toten. Mit gerümpfter Nase schritt Raduskray über den kleinen Trampelpfad, der durch die Runden der Wachen entstanden war. Er wartete im gegenüberliegenden Dickicht auf ihren letzten Gefährten, der bei der Leiche Halt gemacht hatte und über sie gebeugt ihre Taschen durchsuchte. Dann rollte er sie ins hohe Gras, damit ihr Tod lange genug unentdeckt blieb. Ein gehauchtes »Nichts« machte Raduskrays Hoffnungen zunichte, als auch sein letzter Gefährte zu ihnen gestoßen war. »Dann müssen wir sie alle töten.« Ein klarer Befehl, der nur mit einem kaum erkennbaren Nicken aufgefasst wurde. Ihr Weg trennte sich nun. Raduskray schlich weiter im gebeugten Gang durch das Dickicht des Waldes, den Geruch von Erde in der Nase. Diesen zog er dem von Blut und Kot eindeutig vor. Erst ein erneuter Lichtstrahl ließ ihn stoppen. Er vernahm Stimmen und auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich nicht nur um eine Laterne handelte. »Warum wurde die Bewachung der Wasserkristalle verstärkt? Niemand würde so etwas Kostbares beschädigen oder stehlen wollen. Hier ist der einzige Ort, an dem sie ihren Sinn für jeden erfüllen.« Ein Lachen erklang. »Niemand aus Perron vielleicht.« »Was erzählst du da? Die anderen Länder sind viel zu weit entfernt von diesem Ort. Sie müssten Tage und Wochen durch Perron wandern, um zurück in ihr Land zu kehren. Niemand wäre so dumm und würde davon ausgehen, dass er schneller ist, als sich eine solche Nachricht verbreiten würde«, wies die erste Stimme hin. Ein weiteres kehliges Lachen. »Na wenn du meinst. Du solltest deine Runde weiter drehen, nicht, dass du noch Ärger bekommst.« »Du würdest mich doch nicht verraten, oder alter Freund?« Raduskray war nahe genug herangeschlichen, um die beiden Männer erahnen zu können. Einer davon lehnte an einer fest montierten Laterne, der andere hielt die seinige in der Hand. »Ich nicht, aber der befehlshabende Wachmann wird vielleicht stutzig, wenn du so lange brauchst, um wieder bei ihm anzukommen.« Der andere machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der ist eher mit Saufen beschäftigt. Jedes Mal, wenn er denkt, dass es niemand sieht, nimmt er einen Schluck.« Er lehnte sich zu seinem Kameraden hinüber. »Ich denke, ich werde mir gleich auch einen genehmigen. Wenn er fragt, war das Sauwetter daran schuld. Also, bis zur nächsten Runde!« »Pass auf, dass die Waldbiester dich nicht beißen!«, rief der Mann an der montierten Laterne dem Gehenden noch hinterher, erhielt aber nur noch ein raues Lachen. Wie viele Männer wohl noch auf sie warteten, wenn die Bewachung verstärkt wurde? Wusste man etwa, dass sie kamen? Doch selbst wenn, gab es nun kein Zurück mehr, weder für Raduskray, noch für seine Gefährten und das wussten sie alle. Er beobachtete den Mann einen Augenblick aus dem hohen Gras heraus. Seine Kleidung war bereits völlig durchnässt und klebte ihm am Körper, ebenso wie die des Wachmannes. Er hörte einen Eulenruf in der Nähe und kurz darauf einen weiteren. Ihr Schütze war also erstmal beschäftigt. Leider hatte nicht nur Raduskray diese Laute vernommen. Der Mann an der fest montierten Laterne horchte auf. Bevor dieser auf dumme Gedanken käme und ihren listigen Plan damit zunichtemachte, zückte Raduskray einen Dolch, mit dem er sich nun besonders leise zu seinem Gegner schlich. Ihm waren hinterhältige Manöver gänzlich zuwider, doch was blieb ihm anderes übrig, wenn ihre Mission im Geheimen vollendet werden musste? Er tat es für sein Land, für sein Volk, seine Brüder und Schwestern und dafür konnte er einen so unehrenhaften Kampf hinnehmen. Der Mann vor ihm zuckte zusammen, hatte wohl seinen letzten Schritt gehört, und er erkannte, wie sich in ihm jeder Muskel anspannte, die Hand auf den Griff der Waffe legte. Doch Raduskray war schneller und die Klinge des Dolches steckte bis zum Anschlag im Rücken des anderen. Hindurch zwischen den Rippen hatte er nach oben gestochen, um das Herz zu treffen. Er drückte seine andere Hand fest auf den Mund des Wächters, um mögliche Laute zu unterbinden, bevor der Mann vor ihm ein letztes Mal aufbegehrte und dann die Spannung im Körper nachgab. Als er den Leichnam auffing, trat ein Schwall Blut aus der Wunde. »Weißt du, ich habe es mir anders überlegt. Ich teile mit dir.« Raduskray erschrak, als er die Stimme des Mannes hörte, der bis eben noch mit dem Toten gesprochen hatte. War dieser nicht weiter seiner Runde gefolgt? Sein Herz raste in seiner Brust, als er die Leiche mit sich ins Dickicht zerrte, schnell, bevor der Mann in Sichtweite kam. Gerade als er den Toten abgelegt hatte, erschien der andere Wächter und blickte verwirrt auf die leere Stelle, an der bis eben noch sein Kamerad gelehnt hatte. Langsam ging er auf die Laterne zu. Raduskrays Blick fiel auf das Blut, welches auf dem nassen Boden schimmerte. Er formte schnell die Hände vor dem Mund. Auch der Wächter hatte das Blut entdeckt und ging darauf zu. Im Schein der Laternen erkannte man den misstrauischen Ausdruck in dessen Gesicht. »Edwin? Ed-« Das Surren eines Pfeils unterbrach den Ruf und ließ das Spiel von vorne beginnen. Ein Gurgeln, das die Geräuschkulisse der regnerischen Nacht erweiterte, eine Leiche, die vom Trampelpfad entfernt wurde, und eine Laterne, die erlosch. Auch den Windschutz der feststehenden Laterne öffnete Raduskray, ohne der Hitze an seinen Fingern überhaupt Beachtung zu schenken, und blies die darin stehende Kerze aus, sodass er sich wieder in völliger Dunkelheit befand. Er musste mehrmals blinzeln, um in der nun wieder vorherrschenden Finsternis auch nur ansatzweise etwas zu erkennen. Dann führte sein Weg ihn weiter. Näher an sein Ziel.   Das Schimmern war von Anfang an ganz anders. Es war nicht warm, nicht gelblich, nicht flackernd wie das einer Kerze. Es war kalt und stetig. Keine Regung war darin zu erkennen. Beinahe, als wäre es totes Licht. Nicht fähig, sich zu bewegen. Gleichzeitig ruhig und harmonisch, unaufdringlich erfüllte es seine Umgebung mit schwachem Licht. Raduskray schluckte, als er ein letztes Mal stehen blieb und horchte. Der Wind pfiff ihn in den Ohren und schleuderte die Regentropfen gegen seine Haut. Er konnte keine Schritte ausmachen, keine Stimmen, keinen Lärm, der nicht von der Natur selbst käme. Langsam setzte er seinen Weg fort, die Augen auf das gerichtet, was nur Wenige in ihrem Leben tatsächlich zu sehen bekamen. Der Grund, warum ein jeder leben konnte. Der Grund für sauberes Wasser in jedem Land. Das Rauschen des Regens wurde zunehmend übertönt von einem Brausen, das Raduskrays Ohren erfüllte. Das Wasser wurde in tiefem Azur erleuchtet. Es schien blauer, als jeder Strom, den er zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Selbst das Gras der Lichtung am Ufer des Flusses war überdeckt von einem blauen Schimmer. Und dort, genau am Übergang zwischen Fluss und Ufer, standen sie im Wasser wie treue Soldaten. Sie waren es, die alles in dieses kalte Licht tauchten. In dieses unendlich tiefe Blau. Wasserkristalle. Die stärksten ihrer Art. Ihre sechseckigen Spitzen ragten aus dem Fluss wie Speere. Sie waren klar und leicht durchsichtig. Das Rauschen des Wassers dröhnte in Raduskrays Ohren, als er sich diesem Anblick hingab. Noch nie war er von solcher Schönheit eingenommen worden. »Radus!« Er riss sich aus dem Bann der Wasserkristalle und nahm eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Reflexartig sprang er zur Seite, was ihn in diesem Fall vor dem sicheren Tod durch die Klinge bewahrte, die sich statt in sein Fleisch in den Boden fraß. Ein Koloss von Mann stand vor Raduskray, als dieser sich wieder auf seine Beine schwang. Sofort holte er das schwere Langschwert von seinem Rücken und schloss beide Hände darum. »Kein Mann hat es je bis hierher gewagt! Fühlt ihr keine Ehre vor ihnen?« Die wütenden Augen des Wächters bohrten sich in Raduskrays Blick. »Nicht weniger als ihr.« Brüllend kam der Wächter auf ihn zugeprescht, das Schwert fest umklammert und zum Schlag erhoben. Raduskray suchte nach einem festen Stand im feuchten Boden der Lichtung und parierte den gewaltigen Hieb. Trotz des guten Standes rutschten seine Füße nach hinten. Mit so viel Kraft hatte er nicht gerechnet. Er hatte Schwierigkeiten, das fremde Schwert mit seinem zu stoppen, merkte ein schmerzliches Ziehen in den Armen. Dabei war er dem anderen Mann so nahe, dass er dessen übelriechenden Atem, getränkt von Wein, wahrnahm. Er sprang zurück, rutschte dabei erneut, kam dann zum Stehen. Leicht schüttelte er seine Hand, bevor er beide wieder fest um den Griff des Schwertes legte. Der Boden war ihm nicht freundlich gesonnen, also musste Raduskray selbst dafür sorgen, dass er für ihn arbeitete. Der andere Mann brüllte wütend und erhob erneut das große Schwert. »Heluskray! Kümmere dich nicht darum. Denke an das Ziel!«, mahnte Raduskray seinen Gefährten, der ihn vor dem Angriff gewarnt hatte und ihm nun zur Hilfe eilen wollte. Heluskray stoppte in seinen Bewegungen. Anstatt Raduskray zu helfen, drehte er sich dank der Rüge um und lief zu den Wasserkristallen. Er zückte sein Kurzschwert und begann, den Stand des ersten Kristalls zu lockern. Die Erde entließ ihn langsam, der Stein kämpfte darum, den Kristall bei sich zu behalten. Raduskray stürmte währenddessen auf den Wächter zu, sein Langschwert zum Schlag erhoben. Sein Gegner erschien ihm wie ein wildgewordener Löwe und Raduskray war die freche Gazelle, die ihn provozierte. Nur wenige Fuß trennten sie noch, da senkte Raduskray sein Schwert, um dem anderen einen Tiefschlag zu verpassen. Dessen Reaktionen waren zu langsam, um noch anständig reagieren zu können. So stark er auch sein mochte, wenn es dem Wächter an Wendigkeit fehlte, hatte Raduskray eine Chance. Er nutzte die Nässe des Bodens, um sich zur Seite rutschen zu lassen und so frontal die Seite des Wächters zu treffen. Die Klinge durchtrennte die lederne Kleidung und fraß sich in das Fleisch. Blut spritzte und benetzte das Schwert, als Raduskray dieses durchzog. Der Mann kam ins Stolpern, schrie, doch fing sich noch bevor er fiel. Er trug eine tiefe Wunde, allerdings zeugte seine Haltung von eisernem Willen. Er stürzte sich in blinder Wut und Schmerz auf den Eindringling, hielt sein Schwert knapp über dem Gras, um einen Hieb nach oben zu tätigen. Der Kampfeswille überdeckte die Verletzung, sodass nichts an Kraft wich, als er frontal auf Raduskray zielte. Dieser sprang seitlich weg und zog seine Waffe nach, wodurch er den Oberschenkel seines Gegners traf. Ein erneuter, wütender Schrei durchdrang die nächtliche Geräuschkulisse und der Boden wurde rot benetzt. Dieses Mal stolperte der Koloss und Raduskray nutzte diese Gelegenheit, um zurück auf seine Füße zu finden. Er schwang sein Schwert und bohrte es tief in den Rücken des anderen, der gerade wieder aufstehen wollte. Der Mann sank zurück auf den Boden. Schwer atmend stand Raduskray zu dessen Füßen und wischte sich Blut vom Gesicht. Noch lebte der Wächter. Er keuchte und sog wie ein Ertrinkender die Luft ein. Mit letzter Kraft drehte er sich langsam und schwerfällig auf den Rücken; das Leben rann aus seinen Wunden. Er starrte Raduskray aus trüben Augen an. Augen, die wussten, dass es zu Ende war, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten. »Wir werden sie uns zurückholen. Wir überlassen sie euch nicht«, drang es leise und röchelnd aus seiner Kehle. Raduskray legte die Spitze seines Langschwertes auf die Brust des Wächters. Auch nun starrte ihm noch eiserne Entschlossenheit entgegen. Er drängte seine Klinge durch Kleidung und Fleisch, durch Rippen und das Herz, auf dass dieses seinen letzten Schlag tat. Für einen Augenblick erhellte rotes Licht den Himmel. Raduskray sah auf und erkannte im hohen Wald Flammen auflodern. Kurz darauf hörte man Schreie aus der Ferne zu ihnen dringen. Die grausamen Schreie von Verbrennenden. »Taalakyre, was wohl geschehen ist?« Er sah zu Heluskray, dessen Blick ebenfalls auf den Flammen lag, die langsam durch den Regen erloschen. Er konnte dessen Frage nicht beantworten, doch egal wie viele Gegner dort oben auch kämpften, sie konnten ihren Posten nicht mehr verlassen. Jedoch war Taalakyre stark. Sie würde siegen. Er zog sein Schwert aus dem Toten und schritt auf Heluskray zu. »Wie geht es voran? Wir sollten uns beeilen« Der erste Wasserkristall lag bereits am Ufer, während der zweite schon gelockert war. Der Regen prasselte weiterhin auf sie nieder und schlug im Fluss kreisförmige Wellen. Raduskray legte sein Langschwert neben sich ab und nahm eine kürzere Waffe, um den Wasserkristall gänzlich aus seiner Verankerung zu lösen.   Ein Rascheln ließ sie beide aufsehen und ihre Waffen fester umschließen. Aus dem Wald kam ein gebückt laufender Mann mit gelben, stechenden Augen und schlitzförmigen, senkrechten Pupillen. Seine Haut war von grünlich schimmernden, feinen Schuppen bedeckt und blutbespritzt. Seine Ohren hatten eine spitzzulaufende Form und sie zuckten unentwegt. In seiner Hand hielt er einen Beidhänder. »Wo warst du so lange?«, fuhr Raduskray ihn an, bevor Heluskray überhaupt reagieren konnte. »Er eilte mir zu Hilfe.« Passend zu der weiblichen, aber starken Stimme trat hinter Jotuskray eine Frau aus dem Dickicht. Auch sie war blutverschmiert und von ähnlicher Gestalt wie Jotuskray; nur mit dem Unterschied, dass ihre schuppenbedeckte Haut rötlich schimmerte. Auf ihrem Rücken trug sie einen Köcher mit Pfeilen und in der Hand einen Bogen. Ihr rechtes Auge war von einem Fernglas verdeckt, das mit einem Lederriemen um ihren Kopf befestigt war. »Taalakyre!«, rief Heluskray aus, »Du bist wohlauf!« Die beiden Neuankömmlinge näherten sich ebenfalls dem Ufer und halfen mit, die Wasserkristalle zu lockern und zu bergen. »Drei Wächter fanden mich, griffen mich an und ich fiel vom Baum«, erklärte Taalakyre, bevor auch Jotuskray sich in das Gespräch mit einklinkte. »Ich hörte ihren Kampf und dachte, dass sie Schwierigkeiten haben würde, also lief ich zu ihr. Grundlos, wie sich herausstellte.« Die beiden und ihre hochempfindlichen Ohren. Raduskray hatte natürlich bis zu dem kleinen Feuersturm nichts von einem Kampf mitbekommen. Er zog mithilfe seines Kameraden einen weiteren Wasserkristall aus dem Gestein. »Du hast die Aufmerksamkeit aller auf dich gelenkt, als du Feuer benutztest«, rügte er sie. Taalakyre senkte den Kopf. »Verzeih. Doch ich glaube, wir haben alle getötet, deren Aufmerksamkeit ich erregen hätte können.«   Nachdem sie alle zwölf Wasserkristalle aus dem Fluss geborgen hatten, blickte Raduskray in den Himmel hinauf. Seine Gefährten banden ihre kostbare Beute sorgfältig mithilfe von Seilen zu drei Paketen zusammen, während er in den Himmel schrie. Es war ein Ruf, der sich mit dem Wind verband und verschmolz. So hallte er über das ganze Land und die Ohren, für die er bestimmt war, hörten ihn. »Ist alles bereit?« Heluskray stand auf und nickte. »Denkst du, bei den anderen ist es ebenso gut gelaufen?« »Wir können es nur hoffen.« Sie warteten nicht lange, da ließ sie das Geräusch von mächtigen Flügelschlägen aufsehen. Ein weißes, gigantisches Wesen senkte sich zu ihnen herab, wobei der dadurch verursachte Wind die Baumkronen zur Seite bog. Es landete auf seinen zwei kräftigen Hinterbeinen, die in riesigen Klauen endeten. Der Boden erzitterte unter dem Gewicht und die Wasserkristalle klirrten aneinander. Die weißen Flügel waren so lang, dass die Lichtung sie im ausgebreiteten Zustand nicht zu fassen vermochte und einige Bäume abbrachen, als der Drache seine Flügel einzog. Raduskray schritt auf ihn zu und legte seine Hand auf dessen schuppige, spitzzulaufende Schnauze, die dieser zu ihm herabgesenkt hatte. Der Regen perlte an den blütenweißen Schuppen achtlos ab. Die goldgelben Augen starrten ihn an, die Pupillen schlitzförmig und senkrecht. Sie verengten sich noch ein Stück, während Raduskray die scharfkantigen Schuppen vorsichtig streichelte. Die Kreatur war nicht nur riesig, sondern auch angsteinflößend. Aus den Nüstern qualmte weißer Rauch. Der gewaltige Schwanz hatte die Länge von gut fünf ausgewachsenen Männern und senkte sich ruhig auf den Boden. Plötzlich schien die Lichtung winzig, da neben der riesigen Kreatur kaum noch Platz auf ihr war. »Keltia«, murmelte Raduskray, als der Drache die lange Schnauze leicht an seine Hand drängte. Die Schuppen auf der Unterseite des Halses waren bronzefarben und diese Farbe zog sich am Bauch entlang bis zur Unterseite des Schwanzes. Vorderbeine besaßen die Drachen nicht. Ihr Körper war lang und reptilienartig und den Platz an den Schultern hatten ihre Flügel eingenommen. Auf dem Übergang von Hals zu Rücken waren vier Sättel befestigt. Die maximale Anzahl, da sich vor dem ersten und hinter dem letzten der gewaltige Rückenkamm erstreckte und bis zum Kopfanfang und zur Schwanzspitze verlief. »Aufsteigen!«, befahl Raduskray mit  strenger Stimme, woraufhin Keltia sich gänzlich auf den Boden senkte, sodass er und seine Gefährten an ihren Hals herankamen. »Endlich raus aus diesem stinkenden Land«, grunzte Jotuskray als er sich auf den Drachen schwang, »Vier verdammte Wochen Scheiße fressen.« »Das tust du Zuhause doch auch«, zog Taalakyre ihn auf, während sie ihm ein Pack der Wasserkristalle überreichte. Danach stieg sie auf und schnallte ihre Beine im Sattel fest. Heluskray gab ihr einen weiteren Teil der Kristalle und tat es ihr dann gleich. Schlussendlich überreichte Raduskray ihm das letzte Paket und stieg dann ebenso auf, schnallte seine Beine stramm mit den Lederriemen fest. Dann klopfte er Keltia an den Hals und ergriff die vergleichsweise dünnen Zügel, die nur dafür da waren, dass Keltia auch ohne Worte seinen Richtungsweisungen folgen konnte. »Steige empor und bring uns nach Hause.« Sie hob den Kopf und ihren Körper bis sie wieder aufrecht stand, dann breitete sie ihre Flügel aus, was weitere Bäume knarzend umstürzen ließ. Jotuskray saß am nächsten an den Flügelansätzen und sein Sattel bewegte sich etwas, als der Drache die ersten kraftvollen Schwünge vollzog. Er spannte die Muskeln in seinen Beinen an, um dem Gefühl nach mehr Halt zu haben. »Daran werde ich mich nie gewöhnen.« Raduskray und seine Kameraden setzten Schutzbrillen auf, um dem Wind, der sie gleich überkäme, zu trotzen. Diese waren aus abgestreifter Schlangenhaut. Man sah dadurch zwar unscharf, aber dafür konnte man die Augen wenigstens offen halten. Sie erhoben sich in den Himmel, während Keltia laut brüllte, als würde sie die grauen Wolken vom Firmament vertreiben wollen. Die Lichtung unter ihnen wurde immer kleiner. Der Drache nahm Geschwindigkeit auf. Der Wind und Regen donnerte gegen die Reiter und Raduskray versuchte sich davor zu schützen, indem er den Kopf nahe an die Seite des Halses seines Drachens drängte. »Dort!«, schrie Taalakyre nach einer Weile gegen den Wind und deutete in die Schwärze der Nacht. »Einer von den anderen. Vedim, der Silberflügel.« Raduskray lenkte Keltia leicht in die von Taalakyre angedeutete Richtung und bald darauf hörte auch er das fremde Flügelschlagen durch das Sausen des Windes in seinen Ohren. Eine Wolke zog weiter und das erste Mal in dieser Nacht erhellten die Sterne die Erde. Silberfarben schimmernde Flügel waren links von ihnen zu erkennen und kamen ihnen ebenfalls ein wenig näher. Das Leuchten von Wasserkristallen erhellte die Gestalten auf dem anderen Drachen schemenhaft und Raduskray grüßte dessen Reiter mit erhobener Faust, bevor sie sich gemeinsam auf den Rückweg machten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)