Du gehst ohne mich.
Kapitel 2
Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir - für immer.
Konfuzius
Die Zeit schlief, dann rannte sie, stolperte, setzte sich auf und schritt, dann rannte sie wieder.
Die Wochen, bevor er ging, waren sehr durchwachsen. Wie immer also. Ich ignorierte die entfernte Zukunft (und hatte deren Definition jeweils immer so angepasst, dass sein Abflug in die >entfernte Zukunft< fiel). Wie immer also.
Wir stritten uns („Du idiotischer Kotzbrocken! Idiot! Geldsack! Du hast mich hier zwei Stunden warten lassen! Das Essen ist kalt!“ – „Heul doch, Flohschleuder! Ich hatte zu tun…“).
Wir gifteten („…Außerdem hab ich dir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.“ Stille. „… hast du?!“ Genervt verdrehte Augen seitens Seto. „Ich hab dir ausrichten lassen, dass du nicht auf mich warten sollst.“ – „Wow. Klar, du persönlich hast ja keine Zeit. Schon klar.“).
Wir versöhnten uns („Joey?“ – „Mh?“ – „Komm her.“ – „Wasis? Isschon 6. Du musslos.“ – „Ich hab mir freigenommen.“ – „Was? Wirklich?“ Ich sah ihn verstört an – „… ich geh später.“ – „Ich dachte schon, du bist todkrank …“ – „Hör auf so dämlich zu kichern! Komm her!“ „Wa… Mmmmmhm.“).
Noch sieben Tage.
~*~*~*~
Nach der Uni war ich nur kurz in der Studentenbude gewesen, hatte mein Zeugs in die Ecke geworfen und war wie gewohnt weitergefahren. Jetzt ließ ich mich auf das Setos Sofa im Wohnzimmer plumpsen. Der war natürlich noch nicht da, aber er würde in wenigen Momenten zu Hause ankommen. Er hatte es mir versprochen. Nachdenklich starrte ich nach draußen.
Es war so alltäglich wie natürlich hier zu sein und mir wurde schmerzhaft bewusst, dass es alles andere als natürlich oder alltäglich sein sollte.
Ich wollte nicht melancholisch werden, rappelte mich nach einigen zähen Momenten auf und schlurfte zum Kühlschrank, sah hinein und stand davor, dann schloss ich ihn wieder und ließ mich wieder aufs Sofa plumpsen. Natürlich ohne etwas aus dem Kühlschrank.
Seto sagte immer, das war eine meiner schlechten Angewohnheiten (dabei betonte er immer sehr gerne >eine<). Entweder man hat Hunger oder eben nicht. Entweder man isst etwas oder eben nicht. Aber dieses >nur mal in den Kühlschrank gucken< nervte ihn. Mich nervte seine >Schwarz-weiß-seherei<. Entweder du bist mein Freund oder mein Feind. Entweder es ist so oder so. Aber nichts dazwischen.
Ich seufzte.
Noch sechs Tage.
Im Türschloss klirrten die Schlüssel, wurden umgedreht und die Tür öffnete sich. Sein Mantel raschelte, als er ihn in die Garderobe hing, seine Schritte waren ruhig, regelmäßig.
„Da bist du ja endlich“, sagte ich und zog das letzte Wort extra lang, um ihn zu ärgern.
Sein Blick war müde, aber seine Lippen umspielte ein schiefes Lächeln.
„Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?“, fragte er trocken und ließ sich elegant neben mir auf dem Sofa nieder.
Ich murrte.
„Ich bin nicht mehr auf der Schule, Idiot.“
„Ja, das wundert mich auch immer wieder“, erwiderte er und in seinen Augen glitzerte dieser provokante Funken.
„Pfff.“ Ich stieß die Luft langsam durch meine Lippen und zog meine Augen zu Schlitzen.
„Mich wundert auch immer wieder, wie idiotisch du sein kannst“, antwortete ich beleidigt.
Er legte seine linke Hand an meine Wange, seine rechte ließ er langsam, beinahe zärtlich durch mein Haar streichen.
„Mich wundert es auch immer wieder, wie schön du bist, wenn du sauer bist.“
„Ich bin nicht sauer!“, keifte ich.
Er schmunzelte ein wenig herablassend.
Ich fühlte, wie mein Widerstand schwand, mein Trotz wurde zu Sehnsucht. Seine Augen funkelten schelmisch.
„Ach, verdammt“, murrte ich, „küss mich endlich!“
~*~*~*~
Während ich quer über dem Sofa lag, redete Seto auf sein Handy ein. Schon seit fünfundzwanzig Minuten. Ich verdrehte die Augen. Das Gespräch wollte kein Ende nehmen. Dabei wollte ich ihn doch für mich. Ungeteilte Aufmerksamkeit. Aber ich wartete, die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass es manchmal einfach lohnte.
„Mit dem Flug ist alles klar, die Dokumente kommen die Tage, das Hotel ist gebucht. Gut“ schloss er irgendwann doch, „ich höre dann die Tage von Ihnen. Auf Wiederhören.“
Er wandte sich an mich, fuhr sich genervt durch die Haare.
„Alles okay?“, fragte ich und beobachtete ihn.
„Jaja.“
Er sah mich genervt an.
Noch fünf Tage.
„Komm mit“, sagte er nur, „nimm deine Jacke und komm mit.“
~*~*~*~
Der frühe Abend war mild und ich genoss die vertraute Zweisamkeit. Doch da war auch das, was in meinem Magen rumorte. Etwas, das mich schlucken ließ. Etwas, das ich versuchte zu ignorieren. Bedenken?
Wenn Seto privat unterwegs war, fuhr er einen schicken BMW in silber. Hybrid. Als er mich zum ersten Mal zu diesem Auto geführt hatte, hatte er trocken gemeint:
„Ich hätte ja viel lieber ein blaues Cabrio, aber einer meiner jüngeren Geschäftspartner hat die ungünstige Erfahrung gemacht, dass Fangirls gerne miteinsteigen. Auch während der Fahrt.“
Bis heute bin ich mir unsicher, ob er es als Scherz gemeint hatte. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das Ganze einen unangenehmen, wahren Kern hatte.
Jedenfalls fuhren wir nicht mit einem blauen Cabrio, sondern eben jenem silbernen BMW. Wir kamen aus der Stadt raus, in eine kleinere Ortschaft, die an Felder schloss und die Felder dann von Wäldern umgeben waren.
Als Seto und ich zum ersten Mal diese Straße entlang gefahren waren, hatte er wahrscheinlich meine absolut verblüffte Mimik gesehen, jedenfalls hatte er gemeint:
„Wenn du deine Zeit genießen willst, solltest du nicht bei Leuten sein, die dich nur respektvoll behandeln, weil du Geld hast.“
Ich nickte, obwohl ich noch nicht verstand, was das mit dieser Straße zu tun hatte.
„Ich glaub auch. Wobei ich eher die umgekehrte Erfahrung gemacht hab: man sollte bei Leuten sein, die respektvoll zu dir sind, obwohl du kein Geld hast …“, antwortete ich leise.
Die Landschaft flog an uns vorbei. Ich mochte es sehr, mit Seto im Auto zu fahren. Er hatte die Gewohnheit, dann sein Handy auszuschalten. Ja, trotz der Lautsprechanlage. Wir unterhielten uns, er machte ironische Kommentare und ich musste lachen, obwohl ich zu ihm „Depp“ sagte.
Seine Augen funkelten und ich machte die Erfahrung, dass gemeinsame Autofahrten sonderbare Gelegenheiten waren zu tiefgehenden Gesprächen. Es schien, als hätte die Welt da draußen dann eine Pause.
Während der Fahrt über die Landstraße, legte Seto hin und wieder seine rechte Hand auf meinen Schoß, wie nebenbei. Mich durchfuhren dabei kleine, wohltuende Schauer. Ich schaute nach draußen und ließ mir nichts anmerken, genauso wie er es tat.
Irgendwann bog er rechts ab. Die kleine Ortschaft verströmte eine gemütliche Atmosphäre, ohne gelangweilt oder verschlafen zu wirken. Die Hauptstraße entlang drängten sich kleine Geschäfte. Menschen standen davor und unterhielten sich mit ausschweifenden Gesten. Ein Hund bellte. Eine Frau schwätze mit ihrer Freundin in einem Café, genoss einen Cappuccino und die ersten wirklich wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres.
Es wirkte so anders als Domino-City. Ich mochte die Stadt. Wirklich. Es wurde einem nie langweilig. Die Lichter in der Nacht verzauberten mich immer wieder. Aber da war auch diese Hektik und Geschäftigkeit. Dass vor lauter Angebot und Möglichkeit nie die Chance bestand, es tatsächlich zu genießen. Denn das nächste stand bereits an. Nichts durfte verpasst werden. Immer up-to-date.
Dieses Dorf versprach genau das, was Domino in diesem Sinne fehlte. Gemütlichkeit.
Seto bog in eine Seitengasse, die wohl nicht genau gewusst hatte, ob sie nur Fußweg hatte bleiben wollen. Jedenfalls war sie verdammt eng. Hinter der Häuserfront, die sich der Hauptstraße zeigte, lag ein Hof, wo es enge, kleine Parkplätze gab. Seto benutzte zwei davon.
„Manchmal glaub ich echt, dass die denken, man kommt auf einem Pferd hier angeritten. Was anderes passt da doch nicht in die Lücke“, murrte er leise und schloss das Auto ab. Ich verkniff mir den Kommentar, dass >die< wohl eher mit Pferden als mit Autos der Luxusklasse hier rechneten.
„Was ist?“, fragte er plötzlich, ich musste meinen Kopf schütteln und grinsen. Ohne ein weiteres Wort – aber nicht ohne ein weiteres leises Grummeln seitens Seto – betraten wir das kleine, gemütliche Restaurant.
Noch vier Tage.
Doch ich wischte dieses mulmige Gefühl beiseite. Und als ich meine Pizza vor mir sah, und Seto mich amüsiert anfunkelte, seine Finger wie nebenbei über die meinen strichen, überschwamm mich eine angenehm warme, nein, fast heiße Welle von Zuneigung, Vertrauen, Liebe.
~*~*~*~
Noch drei Tage.
„Geht’s dir gut, Joey?“, fragte Tristan und klopfte auf meine Schulter.
Yugi sah mich mit seinen großen Augen an. Ich rührte lustlos in meinem Cappuccino herum und nickte. Mein Blick schweifte umher, als suchte ich etwas. Doch eigentlich tat ich das nicht.
„Ja, klar. Warum nicht?“
„Naja. Weil sich deine große Liebe bald aus dem Staub macht?“, meinte Tristan nachsichtig. Seine Stimme sollte spielerisch klingen, nach einem Witz, doch das tat es nicht.
Meine Augen verengten sich.
„Sehr lustig“, raunte ich.
Tristan hob entschuldigend seine Hände.
„Ja, okay. Aber mal ehrlich, kommt es dir nicht auch ein bisschen seltsam vor?“, sagte er vorsichtig.
„Es wird langsam richtig schön. Fast Sommer“, warf Yugi ein. Seine Ablenkung war so offensichtlich, dass ich sie schlichtweg überging.
„Was?“ Ich ließ Tristan nicht aus meinem Blick und er wandte sich darunter.
„Naja“, erwiderte er gedehnt.
„Vielleicht können wir sogar bald schwimmen gehen“, fuhr Yugi angestrengt fort.
„Was meinst du, Tristan?“, fragte ich leise, doch scharf. Yugi erstarrte und schaute von einem zum anderen. Tristan stammelte, ehe er sich sammelte und klar antwortete:
„Kaiba hat Geld. Kaiba kann sich locker ne Wohnung wo auch immer leisten. Auch und gerade eine größere.“
„Ja, und?“, fragte ich lauernd.
„Er nimmt Mokuba mit, oder?“, fragte er schließlich ohne dass es sich anhörte wie eine Frage.
„Natürlich“, antwortete ich dennoch, „na, und weiter?“
Tristan schwieg einen Moment und Yugi starrte angestrengt in seine Cola.
„Warum nimmt er dich nicht auch mit?“
Ich antwortete nicht, stand einfach auf und bezahlte, dann wandte ich mich noch einmal meinen Freunden zu: „Das geht euch einen Scheiß an.“
Ich hörte, wie Yugi meinen Namen rief, doch ich ging ohne mich nochmals umzudrehen.
Meine Schritte wurden schneller. Irgendwann begann ich zu rennen, ich rannte, als ich rannte ich davor weg.
Die Wahrheit war: Ich wusste es nicht.
Und wie ich nicht vor mir selbst verleugnen konnte: Ich fürchtete mich vor der Antwort.
~*~*~*~
Wenn man etwas hat, dann verliert es irgendwann an Reiz. Es sollte nicht so sein. Wirklich. Aber so ist es.
Ich überlegte unzusammenhängend, was ich letzte Weihnachten bekommen hatte und es fiel mir schwer – bis auf die üblichen Wünsche und Grüße - mich genau zu erinnern. Dabei fieberte ich Weihnachten immer entgegen – daran hatten die Jahre auch nichts gedreht – und freute mich über jedes Geschenk.
Vielleicht schwächelt der Vergleich, aber so ist es irgendwie auch manchmal in Beziehungen: Wenn du es hast, wird es irgendwann gewöhnlich. Anfänglich fieberst du jedem Treffen entgegen und irgendwann ist es einfach Alltag und gehört dazu.
Und dann wird es dir genommen – entweder du merkst es gar nicht oder nur ein bisschen oder dir fehlt ein wirklich wichtiges Stück Alltag.
Ich murmelte etwas vor mich hin.
Seto sah auf, setzte seine Brille ab und rieb sich über seine Augen.
„Hast du was gesagt?“, fragte er müde.
„Ich frage mich“, begann ich langsam.
„Das hat doch etwas für sich“, erwiderte er trocken.
Ich bedachte ihn mit einem düsteren Blick.
„Ich frage mich, warum du mich nicht einfach mitnehmen kannst“, sagte ich dann.
Seto schwieg, runzelte kaum merklich seine Stirn, doch ich sah an, dass er versuchte sich zurückzuhalten. Irgendetwas arbeitete in ihm und dann schnaubte er.
„Joey, das hatten wir schon mal, nicht? Meinst du nicht, das es reicht?“
Ich presste meine Lippen aufeinander. Meine Wut flüsterte mir zu, dass es eben noch nicht reichte. Ganz und gar nicht.
„Mokuba geht mit“, raunte ich zornig und war zornig, dass ich nicht genauso gelassen wie er sprechen konnte.
„Ja, natürlich geht er mit!“ Langsam erhob er sich von seinem Schreibtisch, machte einige Schritte auf das dunkle Sofa zu, auf dem ich bis eben herumgelungert hatte, doch jetzt versteift zu ihm auf blickte.
„Ich kann ihn wohl kaum hier alleine zurücklassen.“
Ich biss meine Zähne aufeinander und funkelte ihn an.
„Ja, danke. Und ich? Mich kannst du hier zurücklassen? Kein Problem?“
Warum konnte er nur so ruhig bleiben?
Er blickte mich an. Seine blauen Augen schienen dunkler, wie immer wenn er sich ärgerte.
Nervte ich ihn so sehr? Konnte er nicht einfach sagen: ‚Dann komm halt mit!‘
„Weißt du was, Joey. Darauf hab ich wirklich keine Lust. Wenn du dich jetzt nicht beruhigen kannst, solltest du vielleicht einen Spaziergang machen. Jedenfalls muss ich jetzt arbeiten.“
Er wandte sich um und ich konnte ihn nur anstarren.
Setzte er mich gerade vor die Tür?
Wann hatte er mich das letzte Mal rausgeschmissen?
„Du kannst mich mal“, zischte ich und ließ die Tür laut hinter mir zuknallen. Es tat gut, doch sobald der Knall verklungen war, fühlte ich mich wie taub. Und leer.
Noch zwei Tage.
Und er ging einfach ohne ihn.