Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Du musst dich mehr konzentrieren!“, schalt er sie, als der Lichtstrahl erneut versagte. Entnervt seufzend, trat Nathan ein paar Schritte zurück und verschränkte die Arme. Er erschien sehr nachdenklich und darauf bedacht, irgendeinen Fehler zu finden, gegen den er einen Verbesserungsvorschlag aufzuweisen hatte. Kyrie hingegen hatte kaum mehr die Kraft, aufrecht zu stehen. Sie fühlte sich regelrecht ausgezehrt – und das im Himmel! Ihr war nur zu sehr bewusst, dass sie sehr gekrümmt dastand, sich zwischen ihren Augenbrauen eine Sorgenfalte gebildet hatte und ihre Augen kurz davor standen zu tränen. „Es tut mir leid“, brachte sie daraufhin niedergeschlagen hervor, „Ich kann mich einfach nicht mehr konzentrieren …“ „Das gibt es nicht!“, entgegnete er barsch, „Du bist einfach zu abgelenkt!“ Sie schwieg für einen Moment – und nickte daraufhin. „Ja, das kann sein …“ Es gab so viele Dinge, die in ihrem Kopf nisteten und die unbedingt bearbeitet werden wollten … Wie sollte sie all jene Dinge nur verdrängen? Es erschien ihr kaum möglich, nicht über die Schöpfung nachzudenken, während sie sich um Rays Vergangenheit sorgte und dann noch um die Beziehung zwischen Nathan und Joshua! Dazu kam noch, dass sie Magie in ihrem Körper hatte und dass … dass sie Welt von Dämonen befallen war und die Antigöttin – diese verdammte Antigöttin! Schockiert über den unabsichtlich gedachten Fluch, schlug sich Kyrie die Hände vor den Mund. „Ist dir schlecht?“, fragte Nathan – plötzlich besorgt. Sie ließ sich auf die Wolken sinken. „Ich glaube nicht, dass ich heute noch etwas zustande bringe …“, murmelte Kyrie, während sie sich mit den Händen auf die Wolken stützte. Nathan schritt langsam auf sie zu und ließ sich dann neben ihr fallen. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich, „Ich hätte dich nicht so antreiben sollen.“ Er lag einfach am Boden. Kyrie schaute nach unten auf Nathans gealtertes Gesicht. Aber es waren noch immer dieselben Augen, die sie von dort aus beobachteten. Nur starrte er sie jetzt auf eine andere Weise an. Nicht mehr so … herrisch. Sondern mehr … freundschaftlich … Ja, das war es … Sie waren wieder Freunde. Wie früher. Sie lächelte ihm zu. „Ich finde es gut – ansonsten hätte ich schon vor zwei Stunden aufgegeben! Und dann hätte ich die Lichtpyramide nicht hinbekommen.“ Er setzte sein übliches, schiefes Grinsen wieder auf. „Die war wirklich beeindruckend!“ „Findest du?“, hakte Kyrie nach, wobei sie ihr Lächeln nicht absetzte. War das ein Kompliment? Erst sagte er, dass er stolz auf sie wäre und jetzt fand er eines ihrer Werke ‚beeindruckend’? Das war … wunderbar! Auch wenn er vermutlich leicht übertrieb ... Aber sie freute sich. Er nickte. „Selbstverständlich! So eine Pyramide schafft nicht jeder gleich am ersten Trainingstag. Es ist zwar bloß eine Übung – aber eine gemeisterte Übung ist eben eine gemeisterte Übung! Wenn wir die nächste Woche noch fleißig durchgehen und üben, was du alles schaffen kannst, dann sind wir bald fertig!“ Er wirkte aufmunternd, seine Worte klangen motivierend und insgesamt strahlte er eine fröhliche Stimmung aus. Und Kyrie fühlte sich bereits besser. Sie fragte sich, ob der Himmel sie aufgeladen hatte oder ob Nathans Glück ansteckend war. Vermutlich eine Mischung aus beidem. „Was bedeutet es, wenn wir fertig sind?“, wollte Kyrie von ihm wissen. Mit der Schöpfungsgeschichte würde sie später nachrücken. „Dass ich dich dir selbst überlassen kann – du darfst dann unbeaufsichtigt im Himmel herumspazieren und eigene Erfahrungen machen!“ Er lächelte. „Aber natürlich bleiben wir in Kontakt. Ich muss mich bloß nicht mehr um drei Uhr nachmittags aus den Federn zwingen.“ Sein Ton ließ auf einen Scherz schließen. Engel schliefen immerhin nicht zwingend. Sie lachte kurz. „Soll ich mich darauf freuen?“ Diese Frage war ihr ernst. Sollte sie sich wirklich darauf freuen? Immerhin gab es da draußen diese Hasser … und Nathan war eine so angenehme Gesellschaft! Außerdem traf sie sich mit seinen Freunden doch nur mittwochs und … Sie hatte keine Ahnung, wie andere Engel auf sie reagieren würden ... „Natürlich!“ Er grinste. „So etwas ist dann wahre Freiheit, Kyrie! Über sein Leben selbst entscheiden zu können. So etwas möchte man doch, oder? Wenn du möchtest, können wir natürlich auch weiter üben. Ich habe wirklich nichts dagegen.“ Er lächelte. „Da trainiere ich mich selbst auch mal wieder. Ich bin ja fast eingerostet!“ „Das wäre sehr nett …“, sagte Kyrie daraufhin, „Aber diese Woche führen wir schon noch durch, oder?“ Sie war sich bewusst, dass ihre Stimme besorgt klang. Sie war auch besorgt. Es wirkte alles so sehr wie ein Abschied! Nathan richtete sich ein wenig auf, indem er sich auf seine Unterarme stützte. Er schaute sie nachdenklich an. „Selbstverständlich.“ „Und … ähm …“ Kyrie stockte kurz. Erst als er eine Augenbraue fragend in die Höhe schob, fuhr sie fort: „Kann es sein, dass du mir noch nichts über den Rest der Schöpfung erzählt hast?“ Er riss die Augen weit auf – so geschockt hatte Kyrie ihn noch nie erlebt. „Oh", rief er aus, "Oh! Tut mir leid! Das habe ich total vergessen! Wirklich - ehrlich!" Kyrie hob beschwichtigend die Hände. „Keine Panik, Nathan …“, beruhigte sie ihn leicht amüsiert, „Ich habe es verkraftet. Und wenn du es nachholst, sehe ich kein Problem darin.“ Sofort war er auf beiden Beinen und streckte ihr eine Hand hin. „Komm, wir gehen zur Essstation, sodass du dein Licht aufladen kannst. Und dort erzähle ich dir dann weiter. Dafür wirst du Nerven brauchen.“ Er lachte kurz verlegen. "Mann ...", murmelte er dann noch, "Wie konnte ich das bloß vergessen?!" Sie lächelte und nahm seine Hilfe entgegen. Er richtete sie auf und sie strich ihren Rock glatt. „Danke sehr“, sagte sie freundlich, „Aber … wieso brauche ich jetzt Licht? Der Himmel heilt mich, oder?“ Ein Nicken war die Antwort – doch er fügte noch schnell hinzu: „Es ist immer besser, aufgeladen zu sein. Und außerdem … so ausgezehrt wie du warst, bräuchte der Himmel Tage, um dich zu regenerieren!“ Er grinste sie an. Aber das Grinsen erstarb sofort wieder, als er hinzufügte: "Und die Tage hast du bekanntlich ja nicht." Nach einem kurzen Nicken erhob sie sich in die Lüfte. „Ich hätte aber wirklich nichts gegen Essen", stimmte sie ihm zu, ohne auf das andere Thema einzugehen. Vierundzwanzig Stunden im Himmel, fünfundzwanzig Jahre auf der Erde. Und dann sprach er von Freiheit ... Sie durfte sich nicht einmal selbst entscheiden, wo sie ewig bleiben wollte! Er fand sein übliches Lachen wieder. „Natürlich! Natürlich!“ Auch er schwang sich in die Höhe und flog langsam los – Kyrie folgte ihm. „Also – erinnerst du dich noch an den ersten Teil der Geschichte oder muss ich ihn wiederholen?“, wollte er von ihr wissen. „Nun ja“, begann sie und ging das Geschehen kurz noch einmal im Kopf durch, „Ich denke schon.“ „Gut, dann kannst du es mir bestimmt zusammenfassen“, provozierte Nathan sie frech grinsend. Kyrie seufzte. „Na schön“, fing sie an, „Also … Nachdem Gott und die Antigöttin lange Zeit das Universum und das Kräftegleichgewicht gebildet hatten, haben sie sich zu Wesen entwickelt, die einander sehr nahe gestanden haben. Doch ihre Ungleichheit machte ihnen zu schaffen, weshalb sie sich Untertanen erschufen: Engel auf der einen und Dämonen auf der anderen Seite. Parallel dazu sind Himmel und Schwarze Löcher entstanden, in denen die jeweiligen Geschöpfe hausen.“ Nathan nickte zustimmend. „Und weiter?“ Er hatte einen richtigen Lehrerblick aufgesetzt – den, den sie immer bei einer Prüfung hatten und der Schüler zum Schwitzen brachte. Aber Kyrie ließ sich nicht einschüchtern, sondern fuhr unbehelligt fort: „Sie haben sich getrennt, um Zeit bei ihren Schöpfungen zu verbringen. Doch als sie sich nach einander sehnten, vereinten sie die Rassen und ließen sie zusammen auf den Sternen leben – nicht jedoch auf der Sonne.“ Sie pausierte für einen Moment, um ihre Gedanken in Worte zu fassen. „Durch die Einführung von Tag und Nacht hatte Gott die Macht über die Sterne bei Nacht verloren – und zu dieser Zeit hatten die Dämonen ein Attentat auf die Engel durchgeführt. Gott musste zusehen, wie die Seelen seiner Engel auf den Sternen haften blieben." Kyrie schaute Nathan fragend an. Sie wollte erfahren, ob es ihm auch so passte, wie die Geschichte nacherzählte. Er nickte anerkennend. "Und weiter im Geschehen!", wies er sie an. „Es hat einen Krieg gegeben – Schwerter waren auf Krallen geprallt -, doch Gott hat seine Streitmächte zurückgezogen und ihnen einen neuen Himmel geschenkt, den nur noch Engel betreten konnten. Er selbst ist einer Depression verfallen, weshalb er zum Nachdenken seine Kinder verlassen hat – und dabei hat er die Ränge geschaffen, wobei Sin für die Sünde steht, die Gott begangen hat. Und weil er die Last jener trägt, darf er mit ihm kommunizieren. Ist das richtig?“ Kyrie sah ihn leicht unsicher und auch fragend an. War das so gewesen? Ja, wenn ihre Erinnerungen ihr keinen Streich spielten … Nathan klatschte während des Flugs. „Goldrichtig, meine Liebe!“ Er grinste wieder. „Wirklich gut zusammengefasst. Das merke ich mir.“ „Aber wie geht es weiter, Nathan?“, wollte sie von ihm wissen – sichtlich angespannt und furchtbar neugierig. „Zuerst noch eine Zwischenfrage: Welche Arten der Magie beherrschen Engel? Was unterscheidet uns von Menschen?“ Er sah sie scharf an. Etwas perplex blinzelte Kyrie obgleich dieser irritierenden Frage. Was hatte das jetzt damit zu tun? „Nun“, begann sie, wobei sie sich sammelte – erst beichtete sie ihm, dass sie sich nicht mehr konzentrieren konnte, und dann forderte er all ihr Wissen auf einmal! Wie gemein. „Das Licht und die Flügel sind die Hauptunterschiede, da von denen alles ausgeht. Das Licht ist die Verbindung zur Seele und die Flügel sind die Verbindung zum Körper – eigentlich das Herz, um es … auf Mensch’ zu sagen.“ Nathan nickte. „Und? Was kann man damit machen?“ „Die Flügel sind für das Körperliche verantwortlich. Sie leiten die drei Zyklen des Engelslebens und sie geben einem die Fähigkeit, den Himmel zu betreten. Außerdem sind sie die Verbindung zur Waffe, da die Waffe nicht aus Licht geschaffen wird, sondern aus dem Körper heraus“, gab Kyrie seine Worte der letzten zwei Wochen kurz wieder, dann aber kam sie auf eine lange geklärte Frage zurück: „Lehrst du mich also wirklich nicht den Umgang mit der Waffe?“ Nathan antwortete ausnahmsweise auf die Frage, ohne dass sie zuerst seine Prüfung vollends bestand. „Nein. Du wirst sie nicht benötigen", versicherte er ihr. Kyrie unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. So sehr sie auch lernen wollte, ein Engel zu sein - genauso abschreckend fand sie den Gedanken an Waffengewalt. Sie war froh, dass er sie von der Schuld bewahrte, handgreiflich zu werden. "Du bist … ein Halbengel", führte er dann weiter aus, "Und in den nächsten hundert Jahren wird hier kein Dämonenheer einmarschieren – da bin ich mir ziemlich sicher. Also … wäre es Zeitverschwendung. Vor allem, da ich die Waffe selbst ungern trage.“ Kyrie nickte. Das hatte er ihr einmal gesagt. Den Grund hatte er ihr aber nicht genannt … Auch das hatte er mit Ray gemeinsam. Die beiden waren sich alles in allem sehr ähnlich. Wenn sie mehr Zeit miteinander verbracht hätten, wären sie bestimmt sehr gute Freunde geworden … „Ach so“, tat sie das Gesagte ab, ohne weiter nachzuhaken, da Nathan dieses Thema wohl unangenehm war, und fuhr mit ihrem angeeigneten Wissen fort: „Das Licht ist im Inneren eines Engels. Je stärker man ist, desto mehr Licht besitzt man. Man strahlt es aus und blendet andere damit. Man kann es allerdings auch zurückdrängen und nur den eigenen Körper damit erfüllen. Je besser man ist, desto besser kann man es zurückhalten und beherrschen … Die Todsünden würden einen glatt blenden, aber sie lassen immer nur einen kleinen Lichtschein um sich herum bestehen, sodass sich jeder ihrer bewusst ist.“ Ein zufriedenes Nicken unterstütze sie beim Weiterreden. „Das Licht ist die Magie der Engel. Sie können dadurch Dinge schaffen – die siebten Ränge sind für Güter des Alltags zuständig, die sechsten Ränge können kleineren Anforderungen gerecht werden und die Todsünden werden mit wirklich schwierigen Dingen belangt, wie zum Beispiel das Umdrehen des Zyklus’ oder das Sperren eines Engels und Nehmen von Erinnerungen. Die normalen, ranglosen Engel können kurze Lichtbilder erschaffen – aber sie sind vergänglich. Wenn man jemandem etwas bildlich veranschaulichen möchte, ist es sehr nützlich, aber ansonsten … eher nicht.“ Sie hielt kurz inne. „Ich glaube, Thi hat erwähnt, dass er während der Vereinskämpfe immer Bälle herstellt, die dann in Tore fliegen. Und durch Anzeigetafeln werden die Punkte festbehalten. Die Ergebnisse werden dann in Büchern aufbewahrt. All diese Gegenstände werden von den Siebten Rängen hergestellt. Bis auf die Bälle ... Die sollen vergänglich sein, um eine Zeitbegrenzung darzustellen.“ Kyrie lächelte. „Ich würde gerne einmal ein Spiel von Thi sehen. Er hat gesagt, er sei sehr gut darin.“ "Das ist nur bei ein paar Sportarten so", wies er sie hin, "Es gibt ja zahlreiche verschiedene." Plötzlich schaute er drein, als hätte man ihm vor den Kopf gestoßen. Nathan stemmte, gespielt empört, die Hände in die Hüften. "Lenk nicht vom Thema ab!“, befahl er ungehalten. Kyrie kicherte amüsiert. „Na ja … das passiert, wenn man nicht weiter weiß …“ „Hmpf“, entfuhr es Nathan, doch er lächelte daraufhin. „Wenn man stark genug ist, kann man durch das Licht auch dem Himmel bei Heilung unterstützen … oder Verbindungen zu anderen Engeln aufbauen. Bin ich jemals auf Geburten zurückgekommen?“ Kyrie blinzelte verwirrt. Stimmt! Das hatte er ihr auch versprochen! Verfolgte er überhaupt einen Lehrplan? „Nein, eigentlich nicht“, gab sie zu. Er schlug sich mit einer Hand ins Gesicht. „Hoppla.“ Sie kicherte. „Kein Problem – ich habe es immerhin auch vergessen!“ „Nein, nein! Ich kann dich doch nicht in die Welt hinaus schicken, ohne dass du weißt, wo der Nachwuchs überhaupt herkommt!“ Kyrie lachte. „Dann erzähl es einfach!“ „Stopp!“ Abrupt blieb Nathan in der Luft hängen. Sobald sie reagieren konnte, blieb sie auch stehen. Sie schaute sich gehetzt um. „Was? Ist etwas passiert?“ „Nein – keine Bange!“ Er grinste. „Aber das wird jetzt eine Übungseinheit!“ „Schon wieder?“, fragte sie bestürzt, „Sollte ich nicht zuerst etwas essen?“ „Auch in geschwächter Form muss ein Engel immer in guter Form sein!“, wies Nathan sie grinsend hin, „Ich werde es dir erzählen und du wirst es mir mit Hilfe der Lichtmagie bildlich veranschaulichen!“ Kyries Mund sinkte merklich weit nach unten. „Na gut …“, gab sie nach und setzte sich auf den Boden, „Dann fang an.“ Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Sie musste die Quelle des Lichts in sich finden. Ihr ganzer Körper war von Licht durchleuchtet und umgeben. Es schwamm umher – dieser gleißende, edle Glanz, der ihren Körper durchtränkte. Vor allem in ihren Flügeln befand sich eine große Ansammlung. Aber wenn das ihre war … wie sah dann das Licht in den Todsünden, die so viel mächtiger waren, aus? Erstaunlich … Immens … Sie berührte das Licht und sonderte einen Teil davon aus ihrem Körper ab. Nathan hatte gesagt, dass starke Engel es damit leichter hatten, da ihr Licht die körperlichen Grenzen unterbrach. Kyrie war aber sogar so schwach, dass ihr Licht nicht aus dem Körper heraustrat. Sogar wenn sie etwas Licht gegessen hatte, durchtrat es kaum ihre Haut. Wenn man nur das Licht einer Person sehen würde, wäre sie wohl unsichtbar. Das Licht, das sie aufsog, wehrte sich. Es schwappte immer wieder zurück zu der Quelle. Sie konzentrierte sich fester, presste die Augen zusammen. „Komm schon“, murmelte sie kaum hörbar, „Komm schon!“ Unvorbereitet trat ein ganzer Brocken von Licht nach draußen. Es wirkte, als habe sich in ihrer Brust ein Loch gebildet und als würde Wasser aus einem Glas durch eben jenen Spalt heraustreten. „Licht! Oh, Licht! Bleib drinnen!“, rief sie panisch aus und fasste sich schockiert an die Stelle, an der das „Loch“ war – und ihre Konzentration war vorüber. Nichts hatte sich geändert – nichts außer Nathans Gesichtsausdruck, der ihr verdeutlichte, dass sie sich wohl im Moment wie eine Verrückte benahm. „Ich habe ja noch nicht einmal angefangen“, wunderte er sich. Er war stehen geblieben und sah sie von oben herab an. „Ich denke, es ist wirklich keine gute Idee.“ „Hast du nicht gesehen, dass mein Licht gerade heraus geflossen ist?“, wollte sie verschreckt von ihm wissen, „So … so als wäre ich aufgeplatzt?“ Er zuckte mit den Schultern. „Nein, es ist so unsichtbar wie immer.“ Er ging in die Knie und beugte sich nahe zu ihr. „Hey“, machte er dann, als er nicht einmal mehr eine Handbreite vor ihr angelangt war, „Kann das sein?“ Er wirkte sehr überrascht – aber glücklicherweise weder besorgt, noch schockiert. „Was … was denn?“, wollte Kyrie unsicher wissen. Was war jetzt schon wieder falsch mit ihr? „Es ist mir ja schon vorhin sehr seltsam vorgekommen, dass du nur so wenig Licht haben sollst, dass es in deinem Körper Platz hat, aber … kann es sein, dass du es einfach unterdrückst?“ Sie widmete ihm einen verdutzten Blick. „Was soll das schon wieder heißen?“, fragte sie ungehalten. „Das, worüber wir vorhin gesprochen haben – die Todsünden würden uns blenden, wenn sie sich nicht zurückhalten würden. Kann es sein, dass du das bereits automatisch tust?“, wollte er von ihr wissen. „Woher soll ich das wissen?“, beschwerte sie sich – verzweifelt gestikulierend, „Ich bin bloß eine Schülerin!“ Er grinste. „Keine Panik! Vorhin hast du es ja auch geschafft, mir die Pyramide zu zeigen! Wie hast du das gemacht?“ Er hatte Recht. Gut – sie war also nicht völlig kaputt. Schön zu wissen … bloß … Wie? „Ich wollte sie dir unbedingt zeigen …“, erkannte sie, „Deshalb vielleicht?“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Dann versuche es!“, ermutigte er sie lächelnd. Und als sie es erneut versuchte, floss das Licht gleichmäßig aus ihr heraus und bildete ein Abbild Nathans. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)