Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Ira blickte in die Runde. Sieben. Wie immer. Es war doch so typisch. Sein Blick wanderte zur riesigen, goldenen Tür, die mit ihrem massiven Umfang sehr viel Platz einnahm – und genauso viel Platz für Schmuck und Details aller Art bot. Jemand hatte diese Tür sehr kreativ gestaltet. Welch Verschwendung. Außerdem stach sie schwer hervor. Der Rest des Raumes, in dem sich der Tisch mit Platz für acht Personen befand, war in klares, reines Weiß getaucht. Vermutlich war diese Tür schon seit Ewigkeiten auf diese Weise zugerichtet. In den letzten vierhundertachtundzwanzig Jahren hatte sich zumindest nichts daran geändert – immerhin tagte er seither hier. Die Räumlichkeit hatte eine runde Auskerbung gegenüber der Tür und bildete demnach einen gelungenen Halbkreis. Der Tisch, der in einem ähnlichen Gold wie die Tür gehalten war, jedoch weniger Verzierungen aufwies, drückte mit seiner eckigen Kante an seine Brust, da er sich mit den Ellbogen gelangweilt auf die Tischplatte stützte - in der wagen Hoffnung, die Tür möge sich endlich öffnen. Dabei brauchte er aber nicht darauf zu achten, wie weit nach links oder rechts er sich bewegte – zwischen den Stühlen war genug Platz für mindestens zwei weitere dieser Sitze. Immerhin mussten ihre mit Federn behafteten Flügel auch unterkommen. Der Stuhl, der ebenfalls in Gold gehalten, aber rot ausgepolstert war, erwies sich als relativ bequem. Aber nach zwei Stunden des sinnlosen Herumsitzens verwandelte sich auch eine Bequemlichkeit in ein Ärgernis. „Ira!“, ertönte sein Name von der Seite. Er begutachtete die Sprecherin schweigend. Luxuria hatte ihr blondes, lockiges Haar mit einem blauen Haarband zusammengehalten, auf dem eine Schleife thronte. Ihre kristallklaren, blauen Augen strahlten eine finstere Aura aus, welche durch ihre Verdrossenheit über das unsäglich lange Warten eine Berechtigung erhielt. Allerdings war das Licht, das jeden Winkel ihres Körpers umgab, ein ziemlicher Kontrast dazu. Dieses Licht, das jedem der Sieben Todsünden angehörte. Durch die Stärke des Lichts war die Stärke der Engel zu messen. Und damit wurden sie ausgewählt. So auch er. Er widmete einen schnellen Seitenblick Superbia – er war der älteste unter ihnen. Zumindest unter den Todsünden. Und er erlaubte sich, trotz seiner achthundert Jahre als Superbia, kein Zuspätkommen – im Gegensatz zur Faulheit persönlich, welche allerdings erst seit vierhundertachtundzwanzig Jahren im Dienst war. „Hallooo?“, rief Luxuria ungeduldig aus, als er sie ignorierte, „Du bist hier der Zorn! Eigentlich solltest du ausrasten und dieses faule Ding an den Ohren herbeiziehen!“ Ihr Blick fügte ein unhörbares "Vergiss die alten Zeiten einfach und sei unbarmherzig, wie du es in diesem Moment zu jedem anderen wärst!" hinzu. ... Glaubte er zumindest ... Vielleicht waren es auch seine eigenen Gedanken. Er wusste es nicht. „Ein paar Leute sind dazu wohl zu … bequem“, erklang der spöttelnde Klang von Superbias Stimme, welcher ein keckes Grinsen aufgesetzt hatte. Sein Verhalten und sein Aussehen ließen nicht auf sein wahres Alter schließen. Er musste allerdings schon älter als der Durchschnitt der Engel sein – immerhin war er schon allein mehr als achthundert Jahre auf diesen Posten … Sein Haar gleißte allerdings noch immer in einem durchschnittlichen Hellbraun und seine violetten Augen hatten ein neugieriges Funkeln in sich, welches Ira noch immer verblüffte, denn … trotz seiner Haltung, trotz seiner Worte war er längst der Weiseste und Erfahrendste unter den Todsünden. „War das Kritik?“, murrte die blonde Frau ungehalten, was einigen der anderen ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Allerdings nicht ihm. Acedia provozierte nur ... „Noch zehn Minuten“, beharrte er, „Dann werde ich deinen Worten wohl wirklich Folge leisten", gab er sich ihr gegenüber geschlagen. Er musste durchgreifen. Luxuria lächelte triumphierend. Sie konnte und wollte Acedia einfach nicht leiden. Nicht mehr, seit ... „Ich würde auch gerne immer zu spät kommen wollen, ohne dass ich bestraft werde!“, beschwerte sich daraufhin Invidia, deren silbernes Haar sich kaum von der Farbe des Raumes abhob – allerdings hatte sie sich eine liebliche, rote Blume ins Haar gesteckt. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verdeutlichte, dass ihre Worte lediglich gespielt waren. Neid war leicht zu spielen. Alle Todsünden waren einfach zu spielen. Immerhin waren diese Gefühle real ... Nur sie mussten über ihnen stehen. Als Vorbilder. Als Inbegriff. In der Ferne ertönten leise Geräusche von Schritten. Und kurz darauf wurde die massive Tür einen Spalt breit geöffnet, gerade genug, dass ein Engel mit seinen Flügeln hindurchpasste. Eine gut gelaunte Acedia steckte den Kopf hinein und lächelte jedem freundlich zu. „Guten Morgen!“, rief sie munter aus, „Habe ich etwas verpasst?“ Sie grinste überlegen und setzte sich gemächlich auf den für sie vorgesehenen Stuhl, „Ich habe nämlich wirklich gut geschlafen!“ Ihr dunkles, rotes Haar war kunstvoll hochgesteckt und wurde durch golden wirkende Federn geschmückt. Eine davon war ihre eigene erste Feder, die sie verloren hatte. Und die andere seine. Ihre Kleidung war hauptsächlich in Weiß, Schwarz und Gold gehalten. Der Blick aus ihren eisblauen Augen traf den seinen und sie nickte ihm höflich zu. Ihr Platz lag in etwa gegenüber dem seinen. „Lasst uns anfangen“, knurrte Gula, welcher seit zwei Stunden Schweigen bewahrt hatte und lediglich böse vor sich hin geschaut hatte. Er war nicht sehr gesprächig. Meistens. „Möchte sie jetzt niemand zusammen schreien, weil sie uns zwei Stunden lang hat warten lassen?“, beschwerte sich Luxuria erneut – sie wirkte ziemlich empört. „Das darfst du im Nachhinein übernehmen“, bot Ira ihr emotionslos an. Acedia kicherte vergnügt. Scheinbar hatte sie den Gesichtsausdruck Luxurias bemerkt. Es war eine Mischung aus tiefster Abneigung und größter Freude … Und es wirkte insgesamt … ungewohnt. Vor allem auf ihrem ansonsten schönen Gesicht. Aber das sollte nicht seine Sorge sein. Als Acedia noch ein anderes Gesprächsthema anschnitt, welches nichts mit der Verhandlung an sich zu tun hatte, schweifte er ab, wobei er sich demjenigen widmete, der die ganze Zeit über noch weniger gesagt hatte als Gula – also überhaupt nichts. Der Mann, der die meiste Autorität am ganzen Tisch ausstrahlte, der Mann dessen goldgelbe Augen jeden zu durchbohren schienen, und auf dessen gar jungen Zügen mehr Weisheit abzulesen war, als auf den Gesichtern der restlichen sieben Anwesenden. Sin. Er verdeutlichte die Sünde an sich und stand somit sogar über den Todsünden. Kein normaler Engel gelangte je in die Situation, mit ihm zu kommunizieren. Dies war allein den Todsünden vorbehalten. Zwar übernahm Sin die Entscheidungen, doch niemals verkündete er sie persönlich. Und doch gab es niemand, der an Sin zweifelte. Jeder wusste, welche Rolle er im Kampf Gottes einnahm – und jedem war bekannt, was für eine Schlüsselrolle er dabei spielte. Doch in den letzten hundert Jahren war sein Schweigen seltsam geworden. Seit hundert Jahren hatte er kein Wort mehr gesprochen. Ira erinnerte sich noch gut an die Stimme des Engels - doch sie war nie wieder ertönt. Vielleicht gab es einfach keine wichtigen Entscheidungen mehr zu treffen. Vielleicht war er mit den Entschlüssen der Todsünden zufrieden. Oder war zu beschäftigt mit Gott. Er hoffte aufrichtig, dass Gott den Kampf gegen das Böse gewinnen konnte. „Okay – zurück zum Thema“, gab Avaritia streng bekannt, „Wir müssen in der Zeit sparen! Wir haben schon genug davon verschwendet!“ Ihre Worte lösten bei Luxuria und Invidia ein Kichern aus. Wie geizig sie manchmal mit der Zeit war … „Um was geht es?“, fragte Acedia erneut. „Um dich“, antwortete Superbia grinsend, „Schon vergessen? Deine zwanzig Jahre der Einsamkeit sind um.“ Die Rothaarige wirkte ehrlich überrascht. „… Das alles ist schon zwanzig Jahre her?“ Plötzlich grinste sie erfreut. „Da muss ich meinen Assistenten wohl wieder an meine Seite nehmen!“ … Assistenten … Wie lange war es her, dass er selbst als Assistent auf der Erde gewesen war? Bereits über fünfhundert Jahre. Damals befanden sich unter den Todsünden noch einige andere Mitglieder. Wie die Zeit verflog … „Heute Abend?“, grollte Gula. Es war kein Vorschlag. Es war ein Befehl. Und niemand missachtete Gulas Befehle. Das lag vermutlich daran, dass dieser Engel sie alle um mindestens drei Köpfe überragte. Sein langes, schwarzes Haar verlief in einen strengen Pferdeschwanz und seine roten Augen wirkten einschüchternd genug dafür. Aber wahrscheinlicher war es wohl, dass er einfach immer Recht hatte mit dem, was er vorschlug. Trotz seiner Schweigsamkeit war er ein kluger Mann. Vielleicht gehörte dieses Schweigen sogar seiner Taktik an. Zustimmendes Nicken folgte. Ira wandte sich Sin zu. Der Engel nickte. Und im selben Moment verschwand er. Konferenz beendet. Nein … Sie … Sie durfte … Sie durfte nicht weinen. Die Tränen flossen unentwegt. Sie … Sie wusste es doch, oder? Ihr war es doch von Anfang an klar! Aber warum tat es dann so weh? Die Bestätigung … Einsamkeit … Verlorenheit … Ihr Herz verknotete sich. Sie glaubte, es würde sich zusammenziehen, bis es nicht mehr vorhanden war. Es schmerzte … Oh, wie dieser Schmerz an ihr zerrte … Kyrie saß auf einer hüfthohen Steinmauer, welche die Trennung von einem Garten, der höher gelegen war, zur prall gefüllten Straße darstellte. Die Straße grenzte an einen riesigen Parkplatz, der mit Autos voll gestellt war. Die Mauer befand sich am Vorplatz der Universitätsgebäude, unter denen das für Theologie war, welches Kyrie besuchte. Die Studenten schlurften über diese Gehstraße, Arbeiter hasteten vorbei, jeder ging seinen eigenen Weg. Niemand achtete auf Fremde. Die Blumen, die auf der grünen Grasfläche thronten, spendeten ihr gerade auch keinen Trost. Wie jeden Tag saß sie hier – allein. Melinda wohnte in der anderen Richtung. Sie ging nicht mit ihr mit. Sie wartete nicht, bis ihre Eltern kamen, um sie mit dem Wagen nach Hause zu bringen. Sie musste immer alleine warten. Der Tränenfluss stoppte nicht. Doch von nun an würde sie nicht einmal mehr in der Universität auf sie warten. Nicht voller Freude – nicht voller Freundschaft … Vielleicht mit einem gemeinen Lachen im Gesicht. Vielleicht rieb sie ihr unter die Nase, wie verdammt dumm sie war. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper, als sie ein lautes Schluchzen unterdrückte. Und sie … sie hatte sich wirklich eingeredet, sie wären Freunde gewesen … Hatte sich wirklich gesagt, Melinda würde es ernst meinen … und doch wusste sie es besser. Tief in ihrem Inneren … Wie dämlich sie war. Töricht. Naiv. Und traurig … Ihr hüftlanges schwarzes Haar fiel ihr ungeordnet über die Schultern. Sie war gerannt. Weggerannt vor ihrer Trauer. Weggerannt vor ihrem Schicksal. Und doch hatte es sie eingeholt. „Melinda …“, jammerte sie kaum hörbar, „Wieso auch du …?“ Das Schluchzen entfuhr ihr. Eigentlich war doch alles auf Nathan zurückzuschieben … Nathan, der ihr immer alles zur Hölle machte, Nathan, der sie immer beobachtete … Nathan … „Hübsche Mädchen sollen nicht weinen.“ Erschrocken sah Kyrie auf. Sie fühlte einen Blick auf sich ruhen. Vor ihr stand ein Junge, vermutlich ebenfalls ein Student. Seine längeren, braunen Haare standen ein wenig chaotisch ab. Die grünen Augen waren auf sie gerichtet. Er schenkte ihr ein kurzes, aufmunterndes Lächeln, wandte sich wieder ab und ging weiter seines Weges, die Tasche lässig über den Rücken geschwungen. … Hübsche Mädchen sollten nicht weinen …? Und wo befand sich hier ein hübsches Mädchen? Das einzige Mädchen, das sie sehen konnte, war ein verdammt dummes, naives Mädchen, das einer niemals begonnenen Freundschaft nachweinte. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über das Gesicht, um die Tränen zu trocknen. Dann ertappte sie sich dabei, wie sie in der Menschenmasse diesen seltsamen Jungen suchte. Doch er war verschwunden … Und mit ihm die Tränen und ihre unsägliche Trauer … Sie erhob sich, als sie bemerkte, dass der Wagen ihres Vaters vorfuhr. Ihre Eltern saßen wie gewohnt darin und winkten ihr glücklich und aufmunternd zu. … Und Melinda hatte wirklich die Frechheit, sie an ihrem zwanzigsten Geburtstag zu verraten … So wenig hatte sie ihr also bedeutet. Schön zu wissen … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)