Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Ihr könnt fliehen!“ Ray schaute zurück, als er Kyrie die Treppen herunterzog und inständig hoffte, dass sie nicht fallen würden. Der Engel stand vor der Tür. Er sah nur seine Silhouette, kein Gesicht. Hörte nur ihre durchdringende Stimme. „25 Jahre hält diese gottverlassene Welt sowieso nicht mehr aus.“ Er lief schneller. Sie blieb scheinbar oben – aber er wollte Abstand zwischen sie bringen! Von dort oben könnte sie sie überall hin verfolgen! Die Frau hatte Flügel! Er ließ Treppen aus, sprang weiter. Adrenalin verteilte sich in seinem Körper. Weg! „Und versuche gar nicht erst, den Himmel noch einmal zu betreten.“ Nur ein Hall im Treppenhaus. Eine Stimme, kalt wie Eis. „Die Pforten sind deinetwegen verschlossen.“ Immer leiser, und dennoch noch viel zu nah. „Bis du stirbst.“ Sie entkamen aus dem Haus. Die Todsünden erschienen vor der Haustüre des Ehepaars und klopften an. Sie wurden hinein gelassen. Der Vater starrte sie mit großen Augen an – sieben verhüllte Gestalten. Als Luxuria die Tür schloss, warfen sie ihre Umhänge ab – und zeigten ihre Flügel. „Was … was sind das?!“, kreischte die Mutter aufgeregt. „Euer Kind hat das Potenzial eines Engels“; erklärte Superbia freundlich, „Und hat die Chance, in zwanzig Jahren zu einem zu werden.“ „Der Himmel hat heilende Kräfte“; fügte Acedia genauso nett hinzu, „Er spendet Licht und Wärme. Durch die Flügel wird es weiter fliegen können, als ihr es je für möglich halten würdet.“ „Was … was redet ihr da!?“, fragte sie aufgeregt, „Haltet euch von meinem Kind fern!“ „Bitte überlegt es euch gut“, bat Ira sie, „Es ist nur zum Besten eures Kindes …“ Er dachte an seinen eigenen Halbengel. … Wenn der nächste Assistent dafür losgeschickt werden würde, dann könnte er es besser machen. „Nein!“, rief der Vater dazwischen, „Haut ab! Oder ich rufe die Polizei!“ „Das Kind wurde von Gott auserwählt, um Größeres zu schaffen“, meinte Invidia, „Wenn ihr jetzt ablehnt, dann nehmt ihr dem Kind die Chance zu wachsen und zu gedeihen. Wollt ihr euch wirklich dafür verantworten?“ Es war das erste Mal, dass er dabei war. Es war das erste Mal, dass er es wirklich erleben würde. … Er wollte das nicht. Hoffentlich besannen sich die Eltern! Warum waren sie nur so gegen Gott eingestellt? Warum beeindruckte das himmlische Licht sie nicht?! Eigentlich sollte es doch ihre Nerven beruhigen, ihnen Wärme schenken und sie logisch denken und handeln lassen! „Ich will nichts mehr davon hören!“, meinte die Mutter, „Es gibt keinen Gott!“ „Und was auch immer ihr hier abspielt – raus mit euch!“, setzte der Vater überzeugt nach. … Das war die Entscheidung. Er schaute Superbia in die Augen. Der nickte. „Euer Wunsch ist uns Befehl“, meinte er ruhig, „Wenn ihr keinen Engel zum Kind haben wollt, so soll er euch genommen werden.“ Erkenntnis trat in die Augen der Mutter. „Moment – was soll das heißen!?“ „Wer kein Engel ist, ist ein Dämon“, fuhr er fort, „Und einem Dämonen dürfen wir kein Leben gewähren.“ „Was?!“, kreischte sie. Sofort wandte sie sich um und lief in einen anderen Raum. Da drüben würde das Kind liegen. Sie hatten ihm Instruktionen gegeben – was er tun musste, um die Macht an den weiterzugeben, der das Kind mit sich nahm … Der Vater sah gehetzt hin und her. „Das kann doch nicht euer Ernst sein!“ „Wir sind Engel“, erklärte Superbia, „Natürlich ist das unser Ernst.“ „Ihr bleibt dabei?“, fragte Ira. Hoffentlich entschieden sie sich um. Bitte. Er wollte kein Kind töten – ob Dämon oder nicht! Diese Leute liebten es bestimmt so sehr, wie er seine besten Freunde geliebt hatte … „Ich gebe es bestimmt nicht in eure Obhut und …“, knurrte der Vater. Doch Superbia wandte sich ab und Ira richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn. Und dann gab er ihm sein Licht. Superbia ging – umhüllt mit dem Licht der Sieben Todsünden – zum Kind. Die Mutter hielt es fest an sich gedrückt und wich immer weiter zurück. „Bitte, bitte nehmt es mir nicht weg!“, bat sie. Ira folgte ihnen. Wollte er das wirklich mit ansehen? Superbia schickte den ersten Strahl los. Plötzlich wurde die Mutter ganz ruhig. Schaute ganz perplex zu ihnen. Er nahm ihr das Kind geschickt aus den Armen. Dann kehrte er zum Vater zurück – der plötzlich mit einem Messer bewaffnet hinter den Todsünden stand. Doch auch er konnte dem Licht nicht entkommen. Und wirkte im nächsten Moment völlig ausgewechselt. Ruhig und freundlich. Superbia hielt das Kind weiterhin in der Hand. Und dann traf ein dritter Strahl das Kind, welchem plötzlich Flügel sprossen. Er wirkte glücklich. „Bevor dich die Dämonen bekommen …“, murmelte Superbia, „Tut mir echt leid, Kleiner. Aber wir ersparen dir damit etwas.“ Als sie in den Himmel zurückkehrten, fühlte Ira sich miserabel – ja. Ja, er wusste, weshalb sie es taten: Halbengel waren zu empfänglich für dämonische Energie. Lebten sie in einer Umgebung mit zweifelnden Eltern, so würden sich die Dämonen viel einfacher in ihnen festsetzen können – einfacher, als ein Assistent ihnen helfen können würde. Es hatte keinen Zweck. Und so blieben dem Kind vierundzwanzig Stunden im Himmel. Luxuria kam zu ihm. „Ich kann es nicht einfach alleine lassen“, erklärte sie, „Es ist noch so klein und …“ Ira nickte. Und so spielten sie 24 Stunden mit dem Kind. Und sie ignorierten die Rufe, die eingingen. Es war wohl noch ein Unterschied zwischen Engel und Menschen: Ein Engel war von Geburt an alleine, hatte außer Gott keine Eltern. Menschen hingegen konnten nicht alleine sein … Er würde auf es aufpassen. Und er würde es nicht vergessen. Nach einigen Tagen, das Kind war zu Gott eingegangen, ging er wieder auf die Erde und suchte die Eltern auf. Er wollte wissen, wie es ihnen ginge – sie wussten ja nicht, dass das Kleine jetzt an einem sicheren Ort war, der von Glück erfüllt war. Er stand am Fenster und schaute unauffällig hinein. Und da sah er, dass die Mutter ein anderes Kind im Arm trug. Nein … kein anderes – dasselbe?! Wie … wie war das möglich?! Er wandte sich um – und da stand plötzlich Superbia. „Dass es tatsächlich Engel gibt, die Mitleid mit ihnen haben“, bemerkte er mit einem amüsierten Lächeln, „Bemerkenswert, Ira.“ „… Wo kommt das Kind her?!“, fragte er aufgeregt, „Wir haben ihm dabei zugesehen, wie es …“ „Gott ist nicht grausam zu ihnen“, meinte Superbia sanft, „Er liebt die Menschen. Und darum gibt er sie ihnen zurück.“ „Aber … warum löschen wir dann ihre Erinnerungen?“, fragte er aufgeregt, „Wieso sagen wir das nicht weiter!? Das ist doch ein Hauptargument gegen uns!“ „Weil wir egoistisch werden würden“, erklärte er ruhig, „Weil wir selbst alles, was wir verloren haben, zurückhaben wollten. Er entzieht ihnen die Kraft, die sie zu Engeln oder Dämonen machen würde, und lässt sie als gewöhnliche Menschen wiedergeboren werden. Darum ist es auch wichtig, dass sie noch so klein sind, während wir sie aufsuchen.“ „Aber … warum lassen wir ihnen dann überhaupt die Wahl?“, fragte Ira, „Warum quälen wir sie so mit dieser Entscheidung?“ „Es waren deine ersten“, entgegnete Superbia, „Nicht alle reagieren so wie sie. Und je mehr wir in Erscheinung treten, desto mehr Licht lassen wir in ihren Herzen zurück. Sie sind jetzt für längere Zeit gute Menschen, die Dämonen fern halten. Vielleicht fangen sie auch an zu glauben. Denn Hoffnung, Glaube und Liebe sind es, was wir Engel bedeuten. Und das musst du immer in dir bewahren. Es ist unsere Aufgabe, den Menschen genau das bewusst zu machen.“ Er breitete seine Flügel einfach so aus, ohne sich vorher umzusehen. „Du meinst damit, dass das Löschen der Erinnerungen gut für sie ist?“, fragte Ira skeptisch. „Es wird gut werden“, entgegnete Superbia, „Darum sehe ich auch kein Problem darin.“ Und dann verschwand er. Ira benutzte den Fußweg. Das hatte er sich als Assistent angewöhnt – damals, als er selbst ein „Mensch“ gewesen war … Sie hatten dasselbe Prinzip ja eigentlich auch bei der Ablehnung. Nur dass der Engel dann nicht wiedergeboren wurde, sondern dass man ihm einfach die Kräfte nahm. … Wobei man diese ja eigentlich aufschloss. Und das Licht der Todsünden simulierte dabei den Himmel, sodass sie fünfundzwanzig Jahre leben konnten, ohne ihre Kraft zu benutzen. Und in der Zeit, in der der Assistent bei ihnen war, bildeten sie Charakter. Und der Assistent half ihnen dabei gut zu werden. Und wenn man die Hälfte seines Lebens gut war, würde man es auch die andere Hälfte lang sein. Dann hatten Dämonen keine Chance. … Aber sie hatten dafür auch keine Chance, in den Himmel zu kommen. Es war ein Dilemma. Aber Superbia hatte ja Recht – man durfte sie nicht zu ihrem Glück zwingen, solange sie keine andere Person außer sich selbst schadeten. Immerhin schadete ihr Unglaube auch Gott … … Anfangs prüfte er immer wieder nach, ob das mit dem „neuen“ Kind auch wirklich eintraf. Doch irgendwann hatte er damit aufgehört. Und es einfach vergessen. Und so wurde sein Herz mit der Zeit von Gleichgültigkeit erfüllt. Und irgendwann waren ihm seine früheren Gefühle so fern, dass der Schmerz aus seinem Herzen verschwunden war, wenn er Acedia ansah. Dass er nichts mehr fühlte, wenn er ein Kind in den Himmel schickte. Dass es ihm egal war, welche Erinnerungen er von welchem Engel löschte. … Alles war ihm im Grunde seines Herzens so egal. Ray verstand noch immer nicht, was sich da wirklich abgespielt hatte. Dort oben auf der Dachterrasse. Er wollte nicht einsehen, dass da eine geflügelte Frau gestanden hatte, deren Schwert auf Kyrie gerichtet war. Die versucht hatte, Kyrie umzubringen. Er fühlte nur noch die Erleichterung. Die Erleichterung darüber, dass sie die halbe Stadt durchquert hatten, sich dann in eine überdachte Gasse abgesetzt hatten und dort jetzt endlich nach Luft schnappten. Sein ganzer Körper beschwerte sich über die Anstrengung. Und sein ganzer Geist dankte ihm im Gegenzug dafür. Er hatte … er hatte sich tatsächlich vor ein Schwert geworfen … Für Kyrie. Und er bereute es keine Sekunde. Vor ein Schwert. Von einer geflügelten Frau. Unfassbar. Unbegreiflich. Kyrie lehnte genauso atemlos wie er an einer Mauer. Sie wirkte noch immer gehetzt, schaute ständig wie im Verfolgungswahn zum Licht, das von der Straße her hereinfiel und dafür sorgte, dass sie hier irgendetwas sehen konnten. Sie hatte noch kein Wort gesagt. Und ihre Augen verrieten ihm, dass sie sich auch noch nicht beruhigt hatte. … Verdammt. Sie war gerade dabei, umgebracht zu werden! Wenn … wenn er ihr nicht gefolgt wäre, wäre sie tot. Ein Schauer durchzuckte sein ganzes Dasein. Tot. Nicht mehr da. Sofort verdrängte er den Gedanken wieder. Sie war noch da … sie lebte … Er hatte ihr helfen können … Sofort schloss er den Abstand zu ihr und umarmte sie. Er fühlte, dass sie wirklich noch da war. Dass er sie nicht im Stich gelassen hatte … sie nicht verloren hatte. Sie atmete kurz überrascht auf, erwiderte die Umarmung dann aber. Sie lebte. Sie war nicht gestorben. Sie konnte sich noch vollends bewegen … Er hatte sie … beschützen können … Er drückte sie noch fester an sich. Dreimal setzte er an, ehe wirklich Worte seinen Mund verließen: „Kyrie …“, brachte er hervor, „Was … was war das?“ „Ich …“, quietschte sie, „ich schulde dir wohl eine Erklärung …“ „Ja“, meinte er ernst, „Durchaus.“ „Das war ein Engel“, erklärte sie leise, „Und sie wollte mich … wollte mich …“ Sie stockte. … umbringen. Das war es, was sie wohl nicht sagen konnte. Ein Engel. Etwas, worüber Kyrie so oft in höchsten Tönen gesprochen hatte, etwas, was sie ihm als Grund genannt hatte, an Gott zu glauben, hatte versucht, sie zu töten! Wie grotesk war das?! „Dann war es kein Engel“, beharrte er, „sondern ein Monster.“ Ihre letzten Worte, die, die er gehört hatte, hallten in seinem Kopf wider: … die letzten qualvollen Stunden. Allein diese Worte … wie könnte ein Engel so etwas sagen? Wenn Engel das waren, was Kyrie ihm immerzu beschrieben hatte – gute, lichte Wesen -, wie konnte sie dann so etwas einen Engel nennen, nur weil er Federflügel trug? „Sie ist eine der Sieben Todsünden“, fuhr Kyrie noch zurückhaltender fort, „Sie … sie hatte wohl einen guten Grund dazu, mich ... anzugreifen …“ „Es gibt keine guten Gründe, Menschen zu verletzen“, entgegnete er überzeugt. Er legte seine Hand auf ihren Hinterkopf und umschloss sie noch enger. Wie konnte sie glauben, dass sie das verdient hätte?! Das Ding hatte sie mit einem Schwert attackiert! „Wohl … wohl wahr …“, stimmte sie zögerlich zu. Dann seufzte sie und ließ sich gegen Ray sinken. Er hielt sie fest. „Ich verstehe es selbst nicht …“ „Was hast du dann mit ihr zu tun?“ Kyries Gesicht lehnte an seiner Schulter, vergraben und nicht sichtbar für ihn. Engel … Konnte das etwa der Grund für ihre Verschwiegenheit sein? „Ich habe nicht auf sie gehört …“, erklärte Kyrie kurz angebunden, „… und das war ihre Strafe …“ „… von der ich gesagt habe, du solltest sie annehmen“, beendete er ihren Gedanken, als ihm genau das klar wurde. Sofort schaute sie auf. Ihre dunklen Augen blickten ihn schockiert an. „Nein!“, widersprach sie, „Also – doch, aber nein! Das ist nicht deine Schuld! Ich wäre so oder anders gegangen!“ Plötzlich sprach sie ganz schnell, „Ich … hatte so große Schmerzen – ihretwegen. Ich musste zu ihr … sonst … sonst …“ Sie schüttelte schnell den Kopf. „Danke, Ray“, sagte sie, wobei sie ihn fester umarmte, „Danke … ohne dich … hätte ich es vielleicht nicht geschafft …“ … Große Schmerzen. In seinem Kopf sah er sie vor sich, wie bleich und krank sie heute noch gewesen war … Sie war zersaust, Staub bedeckte Teile ihrer Kleidung – aber sie schaute gesünder aus als noch zuvor … bevor sie mit einem Schwert bedroht wurde. „Ich habe dir gesagt, dass ich auf dich aufpassen werde“, erinnerte er sie, „Und ich hatte vor, mein Versprechen noch etwas länger zu halten.“ Sie kniff ihre Lippen kurz zusammen. „Danke …“ „Kyrie?“, fragte er leise. Es war noch immer schockierend für ihn, dass er diese Frage wirklich stellte: „Warum … war da ein Engel?“ „Sie leben im Himmel“, wisperte sie, „Von dort aus helfen sie Gott bei seinem Kampf gegen Dämonen …“ Plötzliche Trauer beschlich ihr Gesicht. „Und Halbengel stehen an ihrer Seite – oder standen … Ich kann nicht mehr zurück.“ Ihre Worte jagten ihm einen weiteren Schauer durch den Körper. … Sie war ein Engel. Er hatte immer gewusst, dass mit ihr etwas nicht stimmte – aber … aber das … „Warum?“, war alles, was er herausbrachte, „Was …“ „Ich wusste bis vor einem halben Jahr auch nichts davon“, gestand sie ihm, „Aber … ich war von Geburt an ein … ein halber Engel.“ „Heißt das …?“, setzte Ray an – dass John oder Magdalena ebenfalls Engel waren? „Nein“, entgegnete sie, weil sie seinen Gedankengang wohl erriet, „Einfach … dass ich ein Mensch bin, der ein Engel sein könnte. Und der einer war, aber … das hat sich jetzt wohl erledigt …“ “25 Jahre hält diese gottverlassene Welt sowieso nicht mehr aus.“ Diese Worte – voll von Spott - hatte die Todsünde ihnen noch nachgerufen, während sie bereits die Treppen nach unten gerannt waren. … Sie hatte Flügel. Wenn sie ihnen folgen hätte wollen, hätte sie das leicht tun können, indem sie sie von oben beobachtet hätte. Hatte sie aber nicht. Zum Glück hatte sie sich dagegen entschieden – aber weshalb? „25 Jahre …“, murmelte Ray vor sich hin. „… sind meine verbliebene Lebenszeit“, erklärte Kyrie leise, „25 Jahre als Mensch …“ „Und versuche gar nicht erst, den Himmel noch einmal zu betreten. Die Pforten sind deinetwegen verschlossen. Bis du stirbst.“ Die Stimme hatte gehallt, sie war so mächtig und stark, dass sie sich in seinen Kopf gefressen hatte – und doch hatte seine Panik es geschafft, sie zu verdrängen. Ihre Worte waren mehr als nur beunruhigend. Und wie laut und bedrohlich sie durch das Treppenhaus gehallt hatten – es fühlte sich nach wie vor an, als wäre er hier in dieser Seitengasse aus einem Alptraum erwacht. „Warum … soll der Himmel zu sein?“, wollte er wissen. Er verstand es nicht. Er verstand nichts von dem, was Kyrie ihn da gerade erzählt hatte. Ein Engel. Sie erklärte ihm gerade vollen Ernstes, dass sie ein Engel war! Er hatte gerade dabei zugeschaut, wie ein anderer Engel sie töten wollte! Wie ein Engel ihr erklärte, dass sie sterben müsste, um den Himmel wieder zu öffnen! Das konnte doch alles nicht real sein! Es klang so unglaublich! Und doch bestätigte es ihm, woher Kyrie ihren festen Glauben hatte – das war Wissen. Wissen um einen Gott, der sie auch nicht mehr beschützte, Wissen um Engel, die sich gegen sie gestellt hatten ... Es klang unglaublich. Aber möglich. Und er hielt sie in diesem Moment fest umklammert, weil sie gerade vor einer Verrückten geflohen waren. Das war kein Alptraum im eigentlichen Sinne gewesen. Das war eine neue Ebene der Realität. „… Ich weiß es nicht“, gab sie bedrückt zu. Sie wirkte ehrlich betrübt. … Die Worte der Todsünde waren auch schockierend. … Bis du stirbst. „Sie wir im Moment sicher?“, informierte er sich und kontrollierte noch einmal den Zugang zu dieser Gasse. „Nutze deine Zeit“, murmelte Kyrie zur Antwort, „denn ich kann warten.“ Ein Zitat. Ray erinnerte sich an den Klang dieser letzten Worte nur noch ganz verschwommen, weil sie wohl schon zu weit weg gewesen waren, um sie in voller Pracht aufnehmen zu können. „Heißt das … sie wird dich noch einmal aufsuchen?“, fragte er besorgt – und umschloss sie fester. „Ich … ich habe keine Ahnung“, beteuerte Kyrie„Wirklich nicht …“ Sie grub sich wieder in seine Schulter. „Bleibst du bei mir?“, bat sie ihn leise. „Ich verlasse dich nicht“, versprach er ihr entschlossen. Was auch immer das noch für Überraschungen mit sich ziehen sollte – er würde bei ihr bleiben. Er würde sie nicht im Stich lassen, während eine Irre versuchte, sie umzubringen. Er würde sie auch nicht alleine lassen, wenn sie das nicht der Fall wäre. Sie schaute zu ihm auf. „Danke.“ Dann lächelte sie mit solcher Aufrichtigkeit, dass sein Herz fester zu schlagen begann. „Ich liebe dich.“ Beim Klang dieser Worte war er erneut davon überzeugt, dass es sich nur um einen Traum handeln konnten. Doch diesmal einem guten. Aber als ihr Körper sich fester gegen seinen presste, sodass er ihre Wärme spüren konnte, als sein Herz vor Aufregung Salti schlug, weil er sie endlich vernahm – da wurde er erneut in die Realität zurückgeholt, dass es sich dabei um keinen Wunschtraum handeln konnte. Nichts von alledem. … Aber er verstand jetzt, weshalb sie ihm nicht die Wahrheit sagen wollte. Wenn er nicht die Todsünde mit dem Schwert gesehen hätte, hätte er ihr vermutlich auch nicht geglaubt. Jetzt jedoch … jetzt konnte sie mit seinem Vertrauen rechnen. Und er mit ihrem. Und dann näherte sich sein Mund dem ihren – und endlich küsste er sie. Und es fühlte sich genauso magisch an, wie er es schon solange erwartet hatte. Wenn er seinen Engel jetzt küssen konnte … dann war das ein Anfang. Der Anfang einer neuen Geschichte – die er mit Kyrie bestreiten würde. Fünfundzwanzig Jahre klangen nach viel, doch er wusste, dass sie viel zu kurz sein würden. Hand in Hand spazierten Ray und Kyrie weiter. Sie konnte Acedias Leuchten über sich fühlen. Das Licht erhellte den Himmel, der für Ray aber noch immer gleich dunkel wirkte. … Und doch strahlte er für Kyrie noch eine Spur heller. Sie hatte Ray endlich ins Vertrauen ziehen können. Ihm endlich die ganze Wahrheit eröffnen können. Sie brauchte ihn nicht mehr anzulügen, ihm keine Märchen zu erzählen – er wusste jetzt um ihre wahre Natur. Dass sie ein Engel war, zumindest für ein halbes Jahr. Denn jetzt würde sie ihre Flügel nicht mehr ausstrecken können. Acedia konnte warten. Acedia würde warten. Aber sie konnte genauso gut zuschlagen, sobald sie Kyrie sah. Aber Kyries Licht war unsichtbar, solange sie ein flügelloser Mensch war. Und aus irgendeinem Grund würde Acedia geduldig sein … bis sie starb. Fünfundzwanzig Jahre. Und die Zeit tickte. … In der Theorie hatten sie sich lange angehört – aber jetzt erschienen sie ihr unendlich zu kurz. „Ich liebe dich“, hatte sie zu Ray gesagt … und dann hatten sie sich geküsst. Der Kuss erschien ihr, wie die Erfüllung all ihrer Träume. In dem Moment, in dem sich ihre Lippen berührt hatten, waren all ihre Probleme plötzlich wie davon geblasen … Aber danach waren sie mit aller Dringlichkeit zurückgekehrt … Sie musste nachdenken. Sie musste über alles nachdenken! Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte! Immerhin wusste sie auch nicht, was passiert war. … die Pforten des Himmels waren für sie also verschlossen, wenn das stimmte, was Acedia behauptete … Wie sollte sie dann ihr Leben verlängern? Sie lehnte sich weiter an Ray. Ihr Herz schlug wie wild. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Er hatte ihr gesagt, dass er bei ihr bleiben würde … Er hatte sich für sie vor ein Schwert geworfen. Er hatte sie gerettet. Ohne ihn hätte sie nicht einmal mehr fünfundzwanzig Jahre. Sie wäre vielleicht schon tot. … Sie verdankte ihm so viel. Und sie war froh, ihm im Gegenzug endlich in alles eingeweiht zu haben … Und Kyrie hoffte, dass ihr zumindest ein wenig Zeit blieb, um Rays Liebe zu genießen, ehe ihr dann alles so richtig klar werden würde. Es war so viel gewesen … Sie konnte ihre Gedanken nicht einmal richtig ordnen – immer wieder kamen sie zu Ray zurück, zu ihrem Glück … Das Glück, das mit einer schrecklichen Wendung begonnen hatte. „Egal wie dunkel der Weg auch erscheinen mag – irgendwann geht er immer aufs Licht zu“, murmelte sie, „Glaubst du, dass das stimmt?“ „Ganz bestimmt“, versicherte er ihr. Er legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie näher zu sich. Mit dem anderen Arm legte er ihre Hand um seine Hüfte. Er wirkte so lässig … Vermutlich konnte er es genauso wenig glauben. Noch viel weniger … es musste … überwältigend für ihn sein. Wie es für sie am Anfang ebenfalls gewesen war. Sie hatte sich also tatsächlich eine Todsünde zum Feind gemacht … Sie schaute nach oben in den Himmel. Ray hielt sie fest. Sie war davon überzeugt, dass sie zusammenbrechen würde, wenn er sie jetzt los ließe. Aber er tat es nicht. Sie musste zu ihren Eltern. Und dann würde sie auch mit ihnen reinen Tisch machen müssen … Ein Engel hatte versucht, sie zu töten … schon wieder. … Aber wo war Nathan? Er konnte doch nicht damit einverstanden sein – er hätte doch etwas zu ihrem Schutz gesagt … Oder nicht? … Hoffentlich war mit ihm und mit Liana, Deliora, Thierry und Joshua alles in Ordnung … Und wie sollte sie mit ihnen in Kontakt treten, wenn sie ohne ihre Flügel auch keinen Hilferuf aussenden konnte?! Sie fühlte sich fast schon schlecht dafür, mit Ray glücklich zu sein, während sie keine Ahnung hatte, wie es um ihre Freunde stand. … Keine Ahnung - davon hatte sie im Moment genügend. „Ich bin froh, dass du da bist“, meinte sie leise und aufrichtig, „So froh …“ „Ich will immer da sein, wo du bist“, entgegnete er, „Jemand muss auf dich aufpassen.“ „Ich bin froh, dass du es bist“, erwiderte sie erleichtert. Sie schritten weiter. Zusammen. Vielleicht wirkten sie für andere klein und unbedeutend, nicht bemerkenswert und leicht zu ignorieren … Aber für Kyrie wollte ihre Welt im Moment nur aus Ray und sich selbst bestehen. Alles andere hätte sie wohl einfach zerbrochen. Iras Verstand schien endlich zum Stoppen gebracht worden zu sein … Endlich fühlte er den Himmel nicht – endlich konnte er los lassen … Seine Erinnerungen tanzten um ihn herum … Und als er die Augen aufschlug, sah er in Luxurias Gesicht. Sie trug keine Federschwingen am Rücken, sondern golden schimmernde, die aus Metall zu bestehen schienen. Sie lächelte ihn an. Und da erkannte er, dass sie selbst strahlte. Aber anders als sonst. … Vollendeter. „Gray …“, begrüßte sie ihn leise, „… Ich bin hier, um dich zu uns zu holen …“ Sie strich ihm sanft über den Kopf. „Wir brauchen deine Hilfe …“ Und plötzlich brachen seine Blockaden. F e d e r s c h w i n g e n – T e i l 1 Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)