Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Jeder trägt Angst und negative Gefühle mit sich herum“, erklärte Thi ihr, während er auf die Säule starrte, „Auch Leute, die es zu verbergen wissen.“ „L + G“ war in eine Säule aus Licht eingraviert. Doch Säule konnte sie es nur nennen, weil ihr gesagt worden war, dass es eine sein hätte sollen. Sie hätte es wohl als Stein oder Trümmerhaufen abgetan. Aber bei genauerem Hinsehen … hatte es sehr wohl etwas von einer gut konstruierten Säule. Eine, die einst wohl in Gold und Weiß geglänzt hatte und mit vielen kleinen, komplizierten Mustern versehen worden war … Und inmitten standen diese Initialen, die noch immer völlig unversehrt waren – als würde ihr Kraft den letzten Rest noch zusammenhalten. Kyrie legte den Kopf schief. Sie wusste nicht genau, weshalb Thierry ihr diesen Ort zeigte. Auch wenn sie wohl einfach froh war, diese Abwechslung genießen zu dürfen. Nachdem sie am Morgen beide zitternd, aber weitgehend beruhigt, aufgestanden waren, hatte Kyrie ihren Eltern erklärt, dass Thi sie gestern Nacht noch nach Hause gebracht hatte, aber für den Rückweg zu geschwächt gewesen war. Und dass sie beide müde waren. Bei Kyrie lag das aber wohl daran, dass sie bestimmt noch eine Stunde lang die Antwort, die Ray ungewöhnlich schnell getippt hatte, durchgelesen hatte. Sie wusste nicht, ob es Euphorie war, dass sie ihn am Montag wieder sehen würde, dass sie dann reden konnten, dass Kylie endlich weg war, oder eher die Angst, was er sagen würde, dass sie bis Montag nicht überlebte oder … was auch immer sie dazu geritten hatte, so eine unglaublich dumme Nachricht zu schreiben. … Aber von dem Nachrichtenaustausch hatte sie nichts erzählt. Vor allem, weil ihre nächste Nachricht nur ein lausiges „Gute Nacht“ gewesen war. Worüber sie sich dann noch mehr Gedanken gemacht hatte, während Thi ruhig neben ihr geschlafen hatte. Für das, dass Engel nicht schlafen mussten, waren sie unglaublich gut darin. Vermutlich beruhigte es einfach … Aber Thierry hatte sie ja nicht so leicht verheimlichen können wie die Nachrichten. Das Missfallen im Blick ihrer Mutter hatte sie beinahe durchbohrt, während ihr Vater viel unbesorgter wirkte. Beinahe … erfreut. Aber das war ihr in dem Moment egal gewesen. Sie hatten gemeinsam gefrühstückt und dann waren sie ins Auto gestiegen. Zusammen hatten sie sich zum Hochhaus begeben, wo Thierry ausgestiegen und alleine weiter gegangen war. Er hatte ihr versichert, dass er es alleine schaffen würde. Und nachdem sie alleine auf der Mauer gesessen und zuhause gut gegessen hatte, war er auch quietschfidel wieder aufgetaucht. Zumindest gab er sich unbekümmert, bis sie gemeinsam das Haus verlassen hatten. Er hatte ihr offen gestanden, dass er es nicht über sich bringen konnte, noch einmal dieselbe Panik zu erleben wie am Vortag. Dass er Pause machen, diese aber auch sinnvoll nutzen wollte. Indem er ihr ein Geheimnis zeigte. „Du hast mich ja gefragt, was es mit dem Vertrauen auf sich hat“, holte er erneut auf, „Und das hier ist meine Antwort.“ „Wofür steht es?“, wollte Kyrie wissen, wobei sie die Säule weiterhin musterte. „Der Engel Gabriel hat diese Säule zum Zeichen seiner Liebe erschaffen“, erzählte Thierry, „Das war vor gut zweihundert Jahren“ Sie sah ihn interessiert an. „Was ist mit der Säule passiert?“, hakte sie nach. Zum Zeichen seiner Liebe … Solche Geschichten nahmen kein gutes Ende. Sie sollte sich lieber auf etwas gefasst machen … „Gabriel ist gestorben. Die Säule hat er aber mit so viel Macht und Gefühl produziert, dass sie auch nach seinem Tod erhalten geblieben ist – und durch den natürlichen Abbauprozess der Magie, bleibt sie bis genau 333 Jahren nach seinem Tod erhalten.“ Kyries Augen weiteten sich vor Überraschung. „Das wusste ich gar nicht.“ „Ist nicht überlebenswichtig für schwache Engel wie uns beide“, meinte Thierry leichtfertig, „So etwas kümmert nur starke Engel.“ „Unsere Magie kann also gar nicht solange erhalten bleiben?“, kombinierte Kyrie – ein wenig betrübt. … Nicht, dass sie ein großes Denkmal errichten wollte … es … war nur schade, dass einfach nichts von ihr hier zurückbleiben würde. „Nein“, bekräftigte er, „Die Ränge haben so viel Macht, wir nicht.“ „Ich verstehe …“ Sie verschränkte die Arme. „Was hat Gabriel denn so sehr geliebt?“ „Liana“, antwortete er. Als er das sagte, hielt Kyrie den Atem an. Er konnte doch nicht … ihre Liana meinen! Die fröhliche, gut gelaunte … Nein, ihre Liana konnte doch keinen verloren haben … So darüber hinwegzukommen … funktionierte das?! Ganz ohne Bedauern, voller Freude … Natürlich konnte sie nicht ihr Leben lang trauern – aber dennoch …! Kyrie hätte darauf geschworen, dass Liana eine jener Personen war, denen noch nie Leid widerfahren war. „Sie waren keine hundert Jahre lang glücklich miteinander gewesen“, fuhr er fort, „Dann wurde Gabriel zu Superbias ersten Assistenten. Einer der stärksten und ältesten, die es je gegeben hatte … Und doch hatte er Liana umsonst aufzugeben versucht.“ „Hat er es denn wirklich geschafft?“ Ihr Blick auf die Säule, auf das unbeschädigte Herz mit den Buchstaben, verriet ihr die Antwort wohl nur zu genau. „Nein“, meinte Thierry, „Er hat genauso versagt wie Nathan.“ Und so leise, dass sie es kaum verstehen könnte, fügte er hinzu: „Und wie Gula ...“ Sie sah ihn interessiert an, aber er verneinte. „Gabriel ist jedenfalls ganz normal gestorben, hat den starken Zauber aber nie aufgelöst“, fasste er zusammen, „Und darum kommt Liana noch sehr oft her, um über vergangene Zeiten nachzudenken.“ Kyrie nickte verstehend. … Liana tat ihr leid. … Zweihundert Jahre … Eine lange Zeit, wenn man jemanden vermissen musste. Wenn man jemanden erst sehen konnte, sobald man selbst tot war … Unerträglich lange. Vor allem, wenn man ihn so sehr mochte … Und in hundert Jahren würde diese Säule nur noch ein Relikt aus ihren Erinnerungen sein … Also war es gut, dass Thierry sie ihr gezeigt hatte. So … konnte Gabriels und Lianas Liebe auch in ihrer Erinnerung weiter existieren. „Ich wollte dir damit eigentlich nur klar machen, dass du die Zeit mit Leuten, die du magst, gut nutzen musst“, fuhr er fort, „Oder mit Dingen, die du gerne tust – du musst alles Positive solange genießen, wie es geht. … Denn irgendwann wird der Tag kommen, an dem du alles verlieren wirst …“ … Der Tag, an dem sie alles verlieren würde. Der Tag, an dem sie sterben würde. … War das jener Tag, vor dem sie am meisten Angst hatte? Mit diesem Gedanken erhob sie sich. „… Gut, dann will ich, dass du wieder zu deinem geliebten Spielfeld zurückkehren kannst.“ Sie suchte seine Augen. „Ohne Bedauern.“ Thierrys Gesichtsausdruck hellte sich für den Bruchteil einer Sekunde auf. „Sind wir beide denn schon bereit dafür?“ Die Frage war ernst gemeint. Sie spürte das Zittern in ihren Knien. Übelkeit stieg jetzt schon in ihr auf. … Aber sie musste Thierry endlich erlösen. Es war genug, wenn einer von ihnen beiden diese Last mit sich trug. Ohne Bedauern. Sie musste Thi helfen. Er war ihr Freund, er hatte ihre geholfen! Sie … schuldete es ihm. Sie schritt langsam los. … Ob sie auch irgendwann einmal lernen würde, mit ihrer Trauer so gut umzugehen wie Liana? Oder fehlte ihr dafür die Lebenszeit? Ein weiterer Schritt. … Sie wusste nicht, was passieren würde … Sie konnte nur hoffen, dass alles irgendwie ein gutes Ende nehmen würde. Und als sie am Schwerttrainingsplatz standen, glaubte sie, auf ihren Henker zu warten. „Kyrie hat sich verändert“, stellte John nüchtern fest. Er stand im Garten und beobachtete den leichten Schneefall. Bald würde es schon wieder vorbei sein mit dem Schnee. Das war hier immer so, wenn es schneite. Vielleicht eine oder zwei Wochen – und dann kamen schon wieder die ersten Regenfälle. Magdalena begutachtete den Gartentisch. Sie hatten ihn draußen stehen lassen, weil ihnen im Geschäft versichert worden war, dass dem Holz kein Schneefall etwas ausmachen würde. Seine Frau wirkte dennoch unzufrieden mit dem Zustand des Möbelstücks. Oder sie benutzte es als Ausrede, um ihm ihre Grimasse nicht zu zeigen. Auch wenn sie bis zuletzt an die Richtigkeit geglaubt hatte, die in Kyries Handeln lag, so konnte sie ihre Sorge nicht mehr verbergen. Natürlich war John besorgt, weil Kyrie sich plötzlich – innerhalb von ein paar Monaten! – mit lauter Fremden herumtrieb, aber er beruhigte sich immer wieder damit, dass es Engel waren. Und je mehr Zeit seine Tochter mit ihnen verbrachte, desto engelsgleicher wurde sie. … Aber desto weiter entfernte sie sich auch von ihnen. Und das war es wohl, was auch Magdalena zu schaffen machte. „Sie verbringt kaum mehr Zeit mit uns“, gab Magdalena ihm leise Recht und erhob sich, sah ihn aber immernoch nicht an, „Sie … sperrt uns aus …“ „Zumindest bleibt uns noch die Stunde beim Autofahren“, kommentierte John trocken, wobei er sich nicht sicher war, wie ernst er das meinte. Sobald seine Tochter in das Auto stieg, schwebte sie in ihrer Gedankenwelt, zu der sie ebenfalls keinen Zugang besaßen. Und ab Montag würde wohl eine Fahrt wieder von Ray blockiert werden. … Dieser Ray … John … hatte nichts mehr gegen ihn. Gut, er verachtete Gott, obwohl er mit einem Geschöpf Gottes befreundet war … Das war auch so eine Sache. Wie lange gedachte Kyrie, ihn noch anzulügen? Das war doch genau die Art von Situation, die er ihr ersparen wollte … aber … er konnte ihr dabei auch nicht helfen. Sie hatte ja Engelsfreunde. Warum gab sie sich dann noch mit Menschen ab, die ihr Geheimnis nicht erfahren durften? Es war für ihn selbst ja auch schwer gewesen, zwanzig Jahre lang mit niemandem darüber zu reden – und für Magdalena war es gleich hart, das wusste er. Und jetzt hatten sie ihren Engel. … Aber einen, der seine Flügel dazu nutzte, davonzufliegen, ohne je eine Karte zu schreiben. Er spürte sanfte Hände auf seinen Schultern und Magdalenas weiches, schwarzes Haar, das sich gegen seinenRücken drückte. Er lehnte sich ein wenig gegen sie. Sie war diejenige, die ihn immer aufgemuntert hatte, ihn immer vorantrieb. Sie war die Person, an die er glauben konnte. Und den Glauben an Kyrie würde er auch nicht verlieren. Sie fand jetzt ihren eigenen Weg, na gut. Aber sie sollte sich wirklich immer darauf verlassen können, dass ihre Eltern für sie da waren. Egal, was passierte. John wollte sein Kind beschützen. „Lassen wir sie weiter draußen stehen?“, wechselte er mit einem Nicken zur Gartenbank das Thema. Seine Frau lachte kurz auf. „Zum Reinstellen ist es etwas zu spät.“ Sie schwieg kurz. „Aber wir sollten reingehen. Ich koche Tee auf.“ „Soll ich Kuchen holen?“, schlug John vor, „Vielleicht hat Kyrie ja später noch Lust dazu, ein Stück mit uns zu essen!“ „Tolle Idee!“, lobte Magdalena ihn und startete sofort los. Heute hatten sie beide abends frei. … Hoffentlich würde Kyrie auch endlich Zeit für sie haben. Er unterdrückte ein Seufzen. Er war und blieb einfach ein Vater! Dass Kyrie einen Heulanfall erlitten hatte, hatte Thierry als lobenswert empfunden. Erst hatte sie das nicht ganz verstanden, doch als ihre Tränen getrocknet waren, erkannte sie, dass Weinen zur Angst gehörte. Und wenn sie ihren Gegner zum Heulen bringen könnte … Sie erschauderte, als Thierry noch einmal zitternd das Schwert hob. Er wirkte so unsicher, so überhaupt nicht bereit und unwillig – und trotzdem schlug er Mal um Mal wieder zu. Bruchstücke von negativen Erinnerungen machten immer und immer wieder den guten Gedanken Platz, nach denen Thi dann absichtlich suchte. Einmal getroffen zu werden, würde ihr Todesurteil sein, wenn sie wieder als Gruppe ankamen. Dann konnte einer sie lähmen, während die anderen kurzen Prozess mit ihr machten. Sie erschauderte bei dem Gedanken, als Thi sie wieder losließ. Sie atmete tief durch. Wenn sie kamen … wenn sie ihre Schwerter riefen … Wenn Kyrie sich treffen ließ, dann wäre alles umsonst gewesen. All die Zeit, die sie Nathan dazu gezwungen hatte, sein Schwert in die Hand zu nehmen. All die Momente, in denen sie sich an irgendwen geklammert hatte, um dessen Hilfe zu ersuchen, um ihn an die Front zu schicken … Und dennoch würde sie völlig alleine sein, sobald die Halbengelhasser sie aufsuchten. Da würde niemand sein, an den sie sich wenden konnte. … Am wahrscheinlichsten sogar noch Ray oder ihre Eltern … diejenigen, die sich gar nicht wehren konnten. Menschen, die den Schutz der Engel benötigten, weil sie keine Waffen besaßen … Nein … Sie … sie durfte doch nicht alle, die sie liebte, in Gefahr bringen! Sie hatte endlich das Leben, das sie sich zwanzig Jahre lang erträumt hatte – und dann? Dann ließ sie es sich einfach kaputt schlagen? Von ein paar Hassern? … Ja. Ja, das war so. Sie hätte auf den Himmel verzichtet, wenn Nathan sie nicht zurückgeholt hätte. Sie hätte auf alles verzichtet, wenn nicht irgendwo immer wieder ein Licht aufgetaucht wäre, das sie angezogen hätte, das ihr versprochen hätte, bei ihr zu sein, wenn sie es brauchte … Dieses Licht … der Himmel hätte doch voller Licht sein sollen … Sie wollte das Licht, das ihn erleuchtete, wieder finden. Dass er für sie so trüb geworden war … wie hatte sie das nur zulassen können? Aber … sie wollte das ja nicht … Darum hatte sie letzten Endes zur Waffe gegriffen, hatte sich beibringen lassen, wie man zu einem schwertschwingendem Ungetüm wurde, das sich um jede Ecke verteidigen wollte, ohne dass das jemals gelang. All die Stunden, die Nathan für sie geopfert hatte … und dass sie nichts nutzten. Dass sie sogar noch Thierrys Zeit in Anspruch nehmen musste, um sich gegen das Gesetz zu stellen. Alles zur Selbstverteidigung. Alles für die Waffe. Und doch wusste sie, dass es egal war, ob sie sterben würde oder nicht. Die Zeit, die sie alle in sie steckten, würde vergebens sein. Sie konnte nicht in den Himmel. Nicht alleine. Ohne ihre Freunde … schaffte sie das nicht. Sie wusste, dass sie in ein tiefes Loch stürzen würde, obwohl sie hoch hinaus wollte. Und dieses Loch bereitete ihr Angst. Sie erschrak, als der nächste Hieb sie am Arm traf. Und als sie sich selbst beim Schwertkämpfen sah, wie sie die Szenen mit Xenons Untergebenen wiedererlebte und nicht zuletzt auch das Erlernen der verbotenen Technik erschien, erkannte sie, dass diesmal alles anders war. Sie war nicht gefangen. Und in dem Moment wich Thi auch mit einem kurzen Schrei zurück und hielt sich die Augen zu. Er stolperte rückwärts und verlor dabei sogar sein Schwert, welches sich natürlich sofort auslöste. Er wirkte bleich. Tränen standen in seinen Augenwinkeln. „Das war keine Angst“, murmelte er schwer atmend, um sich wieder zu beruhigen. Er wischte sich über die Augen, schaute sie direkt an. „Das war ein Alptraum …“ Kyrie starrte ihn überrascht an. „Was war ein Alptraum?“ Er ging auf sie zu. Als er vor ihr stand, half er ihr auf. „Ich denke, du hast es geschafft … Du hättest nur noch wegfliegen brauchen und Verstärkung rufen …“ Seine Stimme stockte. „Aber …“, widersprach sie, „Wie …? Ich meine - …“ Sie wusste nicht ganz genau, was sie meinte – außer, dass sie es nicht anders gemacht hatte als die letzten Male. „Es hat geklappt“ Er schien noch erleichterter zu sein als sie selbst, „Dreimal noch“, schlug er vor, „Morgen, übermorgen und dann noch einmal.“ Er wirkte plötzlich so zuversichtlich, als wäre all seine Angst verschwunden. Als hätte er … neuen Mut gefunden. So motiviert … Wie schaffte er das? Gestern hatte er vor Angst noch gezittert und … jetzt? „Wenn du es immer schaffst, dann kannst du es. Dann bist du sicher.“ Er lächelte. „Vogelfrei! Du kannst dann wieder in den Himmel gehen, wie, wo und wann du willst!“ … In drei Tagen … würde das also geklärt sein. Alles. Sie bemerkte, dass ihre Wunden schon wieder geheilt waren. … Sie fürchtete sich vor dem Ergebnis, sah Thi aber lächelnd in die Augen und beteuerte von ganzem Herzen ihren Dank für seine Bemühungen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)