Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Als er sie gesichtet hatte, saß sie auf einer Bank, die auf seinem Nachhauseweg lag. Sie wartete mit verschränkten Armen und einem Stirnrunzeln, wobei sie nicht eher vom Boden aufgesehen hatte, bis er sich neben sie gesetzt hatte und einige Momente des Schweigens vergangen waren. „Kyrie ist nicht da?“, stellte Kylie die eindeutige Realität in Frage, als wollte sie diesen Umstand noch unnötig breittreten, sodass es sich für ihn wie Schläge ins Gesicht anfühlte. „Ja“, beantwortete er die Frage in der Hoffnung, sich nichts von seinem Unmut ansehen zu lassen. „Warum?“, hakte die Blondine nach, wobei sie ihn ernst ansah. „Terminkollision.“ Mehr wollte er dazu nicht sagen. „Und du bist die zweite Wahl?“ Ein Funken Humor war in ihre Augen zurückgekehrt. „Die würde ich nicht mehr küssen.“ „Egal“, murmelte er, sprach dann aber deutlicher weiter: „Warum bist du eigentlich plötzlich abgehauen?“ Abrupt kehrte der Ernst zu ihr zurück. Sie überlegte eine Weile, ehe sie langsam und vorsichtig antwortete: „Ich … Also … Als ich …“ Sie stockte. „Warte … was?“ Er sah sie – beinahe schockiert – an. Was … war denn los mit ihr? Was war denn passiert? Eine Kylie stotterte nicht! Und schon gar nicht so! Sie wusste doch immer, was sie sagen wollte, wie sie es sagen sollte und tat es dann auch ohne Rücksicht auf Verluste. Eine Kylie war bestimmt. Und nicht … das! Eine Kylie hatte keine Probleme, über die sie nicht reden konnte! Er legte einen Arm um sie. Ernst. „Was ist passiert?“ Er konnte sich beim schlechtesten Willen nichts vorstellen, was man ihr antun hätte können, was sie so plötzlich so … fertig machen könnte! Sie! „Ich wollte etwas sagen …“, erklärte sie, „Aber … plötzlich wusste ich nicht mehr was! Ich wollte sagen, woran es mich erinnerte, aber …“ Sie schüttelte den Kopf, wobei der einzelne Zopf herumpeitschte, „… es war weg. Nicht mehr da. Von einer Sekunde auf die andere.“ Als er die Erklärung hörte, starrte er sie einige Sekunden lang perplex an. Und dann brach er in schallendes Gelächter aus – und mit jedem Lachen schaute Kylie noch finsterer drein. Er klopfte ihr mit seiner Hand auf den Rücken. Und als er sich vom schlimmsten Lachen erholt hatte, brachte er heraus: „Das ist normal. Einfach normal.“ Alle Sorge brach von ihm ab. Er war erleichtert. … Dass er sich deshalb so aufgeregt hatte! Sie schaute unbeeindruckt drein. „Nein, das ist schrecklich.“ „Sowas hat jeder einmal! Oder öfters! Bei dir wurde es auch einmal Zeit!“ Er grinste, als ihm etwas einfiel. „Vielleicht wirst du ja jetzt auch alt und deine Hirnleistung beginnt zu sinken – wie bei allen anderen.“ Sie schaute ihn schockiert an. „Nein, das ist nicht möglich! Ich will nicht meine Erinnerungen verlieren!“ Sie wirkte ungewohnt panisch. Scheinbar schien sie das wirklich zu beunruhigen – und das war auch der Grund, weshalb Ray sich wieder um Ernst bemühte. Er wollte nicht, dass es ihr schlecht ging. … Aber … dass sie so ein mickriger Umstand dermaßen aus der Fassung brachte? „War es so schlimm?“, fragte er nach. Sie nickte. „Es war einfach … als wäre alles blockiert!“ Sie schaute Richtung der Universität. „Da bekommen mich keine zehn Pferde mehr hin.“ Plötzlich schmunzelte sie. „Bestimmt hat der Ort des Wissens mit meinem Königreich des Wissens im Konkurrenzkampf gelegen“, erkannte sie dann, „Das heißt, ich werde den Ort da einfach meiden.“ Sie erhob sich sogleich. Sie wirkte umgehend erleichtert – und entspannt. „Los, wir gehen.“ Nichts von der Unruhe, die sie vor einigen Momenten noch umgeben hatte, war mehr zu spüren. Er schaute ihr nach, als sie sich wirklich in Bewegung setzte. … Das war aber schnell gegangen. „Woran hat es dich also erinnert?“, wollte er wissen. Aus Interesse – und vielleicht auch zur Probe. Sie wandte sich lächelnd um. „An so etwas solltest sogar du dich noch erinnern. Dritte Klasse, dein Geburtstag.“ Sie ging weiter. Er stand auf. „Dritte Klasse …?“, murmelte er und dachte zurück. … Warum sollte er das jetzt noch wissen?! Aber egal. „Wohin gehst du jetzt überhaupt?“ „Zu Kim. Da wartet ein Kuchen auf mich.“ Sie blieb stehen und wartete, bis er sie eingeholt hatte. „War Liz da? Was haben sie gesagt?“, fragte er dann. Kylie grinste. Die alte Kylie war also wieder komplett regeneriert. Er unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. Er hatte gar nicht gespürt, wie angespannt er deswegen gewesen war. Jetzt war er einfach nur noch froh. Und Kuchen war vielleicht gar nicht so schlecht. Aber drei Stück mussten übrig bleiben. … Und John und Magdalena konnte er auch noch welchen mitbringen. Ab Montag würde er vielleicht wieder bei Kyrie essen. … Bei Kyrie … Wie sollte er den Beinahe-Kuss erklären? Wie würde sie reagieren? Was würde sie dazu sagen? … Allein beim Gedanken daran, wie sich ihre Lippen beinahe berührt hätten, schlug sein Herz schneller. „Ja“, meinte Kylie, „Und sie ist genauso schön wie auf den Bildern. Echt – sie … wow … Du wirst platt sein, wenn du sie triffst, das schwöre ich dir.“ Etwas an Kylies Tonfall gefiel ihm nicht. Aber er wusste nicht genau, was. „Ach ja?“, prüfte er nach, „Aber ich hoffe, dass du weißt, dass ich mich von dieser Familie ganz besonders fernhalten werde.“ „Natürlich“, beruhigte Kylie ihn, „Aber ich nicht. Wie du weißt.“ Sie grinste durchgehend. „Jedenfalls geht es allen gut und blabla und sie freut sich, dich kennenzulernen und hofft, dass sie gut mit dir auskommen wird.“ „Da hat sie aber leider schweres Pech“, informierte Ray sie sachlich. „Sie ist an schwere Zeiten gewohnt.“ Wieder war da dieser Tonfall. „Sie wird aber durchhalten.“ Ein amüsiertes Glitzern trat in ihre Augen. „Das wird eine ziemlich fette Überraschung für dich werden.“ „Da bin ich aber froh“, gab er unbegeistert zurück, „Werden sie da sein, wenn wir jetzt kommen?“ Er sah eine Abzweigung. „Ich kenne einen Umweg.“ Plötzlich krallte sie sich in seinem Arm fest – was er durch den Mantel hindurch spürte. „Ich habe einen Kuchen für dich gebacken“, erinnerte sie ihn mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen, „Du hast die Pflicht, den jetzt mit mir zu teilen.“ Er verdrehte die Augen. „Willst du deinen Plan nach wie vor durchführen?“ „Wenn er mit Kuchen verbunden ist, dann schon.“ Und schon zog sie ihn fort. Als ihr Vater die Tür aufsperrte, trat Kyrie ein – denn wie ein echter Gentleman ließ er den Damen Vortritt. Die Fahrt war schweigend verlaufen, wie die ganze Woche schon. Immerhin war Ray nicht da, mit dem sie reden konnte … und zu erzählen hatte sie auch nichts … „Wah!“, rief Magdalena erschrocken aus, was Kyrie sofort aufsehen ließ. Mitten in der Wohnung stand Thierry. „Gute- …“, erklang seine höfliche Stimme, doch viel mehr hörte Kyrie nicht, weil ihre Mutter sie sofort nach außen zog und die Tür hinter sich zuschlug, wobei John es noch ins Haus geschafft hatte. Sie standen im schneebedeckten Garten. Nichts deutete darauf hin, dass hier eine Hobbygärtnerin wohnen könnte – alle Pflanzen waren der weißen Schneemasse gewichen. Magdalenas Augen waren geweitet. „Alles … in Ordnung?“, informierte sie sich. „Kyrie, Liebes …“, begann die Frau, wobei sie noch einen Blick zur Tür wagte, „Ich liebe dein Dasein als Engel. Ich mag deine Engelsfreunde und finde es toll, wenn du sie nach Hause mitbringst.“ Sie atmete tief durch. „Aber … ich würde es sehr schätzen, wenn du sie mitbringen würdest und sie nicht einfach überall wie Blümchen hervor sprießen würden!“ Den letzten Satz betonte sie besonders durch die Lautstärke, mit der sie sprach. „Wenn sie mich überall erwarten! In der Küche, im Wohnzimmer … bevor ich überhaupt das Haus betrete!“ Kyrie zuckte bei dem ungewohnten Ton beinahe zusammen. So hatte sie ihre Mutter ja nur selten erlebt … so … beinahe wütend … Vielleicht war sie auch nur schockiert. Ja … Kyrie hätte daran denken sollen. Es musste wirklich eine Belastung für ihre Eltern sein, nicht zu wissen, wann und wo plötzlich überall Engel auftauchten … Sie starrte auf den Boden. … Sie war so dumm. Aber … was sonst hätte sie tun sollen? Wie sollte sie ihnen erklären, dass sie sich einfach nicht traute, alleine in den Himmel zu gehen? Dass sie um die Eskorte gebeten hatte? Sie brauchte? Wie sollte sie das plötzlich abschaffen? Wie …? Verzweiflung machte sich in ihr breit. Dieses seltsame Bauchgefühl … Übelkeit stieg in ihr hoch – und damit zusammen das Gefühl, gleich in Tränen ausbrechen zu müssen. Thierry litt wegen ihr … und es würde nie etwas nützen … Nein, sie musste … sie musste sich zusammenreißen …! „Kyrie, Schatz?“ Magdalena legte sanft die Arme um sie. „Ich … wollte nicht böse sein, es ist nur …“ „Ich verstehe schon“, murmelte sie, „Ich … werde mich nach einer anderen Lösung erkundigen …“ Sie seufzte. „Es ist sowieso zu gefährlich, wenn … Ray wieder kommt …“ Magdalena nickte und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Aber mittwochs, wenn du sie mitbringst und es ankündigst, sind sie natürlich sehr gerne willkommen.“ Ihre Mutter lächelte aufrichtig. „Das nächste Mal gibt es dann das Festmahl, das sie das letzte Mal verpasst haben!“ Kyrie brachte ein Lächeln zustande. „Ja, danke.“ Gleich darauf wandte die Frau sich gleich wieder der Tür zu und trat ein – sie begrüßte Thi sogleich mit einem hocherfreuten: „Guten Tag!“ und bot ihm etwas zu essen an. John war derweil schon in die Küche gegangen, um etwas herzurichten. Sie lächelte Thierry an, der sie belustigt anschaute. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie aber, dass er gar nicht wirklich gut drauf war. Das war ein Schauspiel für ihre Eltern. Dasselbe Schauspiel, das auch sie abzog. „Ich glaube, wir verzichten heute beide auf das Essen, oder?“, schlug Kyrie vor, „Im Himmel gibt es ja genug.“ John wandte sich um – er hatte dieses begeisterte Glitzern in den Augen, das er immer bekam, wenn der Himmel erwähnt wurde. „Na gut, aber esst euch ja satt, hört ihr?“ „Wo ist eigentlich Nathan?“, wandte sich Magdalena dann an sie. „Heute bin ich einmal Kyries Lehrer“, erklärte Thierry sogleich. Als er zu sprechen begonnen hatte, hatte ihr Herz für eine Sekunde ausgesetzt. … Wenn er zu viel verriet … Sie mussten schnell weg. Sofort hakte sie sich bei Thierry unter und lächelte einmal die Runde. „Ich schaue zu, dass ich heute etwas früher heim kann.“ „Wir bewahren dein Abendessen auf“, bot Magdalena ihr an, „Du isst bestimmt zu wenig.“ Kyrie winkte. „Bis später.“ Und damit beeilte sie sich nach draußen. Als sie die Tür erreicht hatten, ließ sie Thi los. „Und wo bleibt die Umarmung?“, wollte er von ihr wissen, wobei er die Hände ausbreitete. Und sie umarmte ihn. „Ist dir nicht kalt?“, wollte Kyrie wissen, „Du bist nicht ordentlich angezogen.“ „Ich bin Sportler“, antwortete er, als würde das alles erklären. „Und wieso bist du so früh da?“ Sie ließ ihn los, entwickelte den Schal, den sie noch um ihren Hals trug und gab ihn Thierry. „Damit du nicht zu fest auffällst.“ Er lächelte. „Danke!“ Und schon schaute er aus wie jemand, der sich nicht sicher war, welche Jahreszeit sie hatten. Aber durch seinen dunkleren Teint wirkte er sowieso eher wie jemand aus dem Norden – und da war so ein Schneefall ja gar nichts … wie sie bei Kylie festgestellt hatte. „Ich war mir nicht mehr sicher, welche Uhrzeit du festgelegt hattest … da dachte ich mir – lieber früh als spät!“ „Und … seit wann bist du schon da?“, hakte sie nach, während sie sich in Bewegung setzten. „Erst eine Stunde oder so“, meinte er lässig, „Aber ich habe mich nicht vom Fleck bewegt!“ Sie lächelte. Es war seltsam, dass Thierry neben ihr herging – und nicht Nathan. Thi war größer und muskulöser – das wären doch zwei Indizien, um sich bei ihm sicherer zu fühlen … aber … er war nicht Nathan … Er hatte ihr nicht versprochen, dass er auf sie aufpassen würde. Natürlich zweifelte sie nicht wirklich daran, dass er es nicht dennoch tun würde, aber … Die Angst nagte an ihren Knochen. Angst davor, dass Xenon dabei sein könnte. Er war ein Assistent. Er war stärker als Thi. Hätte Thi eine Chance gegen ihn? Aber … er war ja hier, um ihr etwas zu zeigen, das ihr half – etwas, das nicht einmal Nathan beherrschte … Er musste also eine Chance haben … oder? Sie sah in das Gesicht des Engels. Er hatte einen entschlossenen, beinahe grimmigen Gesichtsausdruck aufgelegt. Etwas, das sie an ihm noch nie in diesem Ausmaß gesehen hatte … Ob er sich bereits mental auf die Übungen vorbereitete? Sie erschauderte bei dem Gedanken daran … Was das wohl werden würde? Wenn er so nervös war, steckte er sie an … Und sie kamen dem Hochhaus immer näher. Und wenn sie dann ihre Flügel ausbreiteten, würde die Stunde beginnen können … „Nein, wir bleiben hier“, bestand Thierry. Sie standen mit ausgebreiteten Flügeln am Dach des Hochhauses. Das hatte sie mit Nathan doch auch schon hundertmal gemacht. Warum überkam sie dann jetzt diese unsägliche Nervosität? … Weil eben Nathan nicht da war. Thierry hielt sein Schwert in einer Hand. „Gula hat mit mir die Macht des Blendens geteilt.“ Seine Stimme war leise, kaum hörbar. „Sie gehört zu den verbotenen Techniken, weil man sie nur durch Verletzungen erlernen kann.“ Er schaute sie mit seinen hellen Augen entschlossen an. „Absichtliche Verletzungen.“ Und das war verboten. Einen anderen Engel zu verletzen. „Es geht dabei um das Opfer. Das Opfer muss das Blenden erlernen. Deshalb muss es angegriffen werden – und das heißt, dass der Täter in dem Moment Macht über das Opfer hat.“ Er sprach stockend, als hätte er Angst vor seinen Worten. Sie konnte das nachvollziehen. Seine Worte ließen sie ebenfalls erschaudern. „Es ist eine Verteidigungsmaßnahme, bei der man selbst sich der größten Gefahr aussetzt …“ Er seufzte laut hörbar. Echtes Bedauern ging von ihm aus, seine Schulter hingen beinahe kraftlos herab. Er wirkte fertig. „Ich erkläre dir den Ablauf … vielleicht schaffst du es ja beim ersten Mal, sonst …“ Seine Stimme brach für einen Moment. „Sag mir bitte einfach, wonach ich suchen soll. Such dir irgendetwas aus.“ „Thi …“, murmelte Kyrie. Sein Schmerz bei der ganzen Sache war nur zu deutlich für sie fühlbar, „Du … du musst das nicht tun, ich-…“ Barsch unterbrach er sie: „Gula hat es mir befohlen! Ich bin ihm untergeben – ich tue, was er sagt. Und es ist für dich.“ Sein Mund bildete eine gerade Linie. Nichts von seiner Freundlichkeit war übrig geblieben. „Sage mir etwas in deinen Gedanken, auf das ich mich stürzen soll.“ … Jeff hatte sich auf welche ihrer schlimmsten Erinnerungen gestürzt. Die, die sie von ihren Mitschülern hatte, die sie verstoßen hatten. Er hatte alles heraufgeholt, das sie in das Loch des Vergessens hatte schütten wollen. Thierry wollte scheinbar genau so etwas verhindern. Sie würde ihm also etwas Gutes zeigen. Etwas, das ihn glücklich machte … Aber was? Mittwochstreffen? Aber dabei würde er wohl auf das gestrige stoßen – und das deprimierte. … Ihre ersten Eindrücke vom Himmel? Da würde er wohl unweigerlich auf ihre Angst vor allem stoßen … „Sieben Sünden“, fiel ihr plötzlich ein. Ray hatte sich so sehr über das Geschenk gefreut. Und das Konzert war so erfüllend gewesen. Das erste Mal, dass sie sich fernab der Mauer getroffen hatten. Der Sänger, der ein Engel war … Er nickte. „Vielleicht machst du mich ja zum Fan.“ Wenn er gelächelt hätte oder etwas Belustigung in die Stimme gelegt hätte, wäre es vielleicht als Witz aufzufassen gewesen. Aber so … wirkte er einfach nur wie ein Schüler direkt vor der Prüfung. Ein unvorbereiteter Schüler. „Wie sollte ich blenden?“, fragte sie dann. Sie verschränkte die Arme und versuchte, nicht allzu ängstlich zu wirken. Immerhin konnte immernoch jemand hinter ihr auftauchen, während Thierry gerade das Schwert an ihr testete. Oder … Nein, nein, sie durfte nicht daran denken. Er sog scharf die Luft ein. „Denke an das Schlimmste, was dir je widerfahren ist. An das Schrecklichste. Oder am besten gleich alles Schreckliche zusammen. Du musst deine ganze Seele erschüttern, alles in dir zum Wanken bringen – und es muss so stark sein, dass der andere keine Auswahl hat. Jede deiner Erinnerungen muss mit diesem Schrecken gefüllt sein.“ Er hielt kurz inne. „Und … der Schrecken muss drohen, auf den anderen überzugehen.“ Kyrie runzelte die Stirn. „Was? Wie … aber …“ Sie wusste nicht genau, was sie damit sagen wollte. Aber alles in ihr zog sich zusammen. Das Schrecklichste … „Aber … Jeff … er hat meine schrecklichen Erinnerungen ausgegraben, um …“ Thierry unterbrach sie. Sänfte lag wieder in seiner Stimme. „Er hat die umgekehrte Methode verwendet. Das, was den Schwertkampf so bedeutend macht. Er kann deine Erinnerungen hervorholen, um sie sich anzusehen – aber auch, um sie dir wieder so vor Augen zu führen, dass du fühlst, was du damals gefühlt hattest.“ Ihre Augen weiteten sich. „Also … muss man diese Waffe gegen den Schwertkämpfer wenden.“ Er nickte. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. … Also musste sie von jetzt an jedes Mal, wenn sie alleine war, voller Angst sein. Sie war jedes Mal voller Angst, wenn sie alleine war – aber diesmal musste sie so viel Angst haben, dass sie die Angst richtig in den anderen hinein pressen konnte. Dass Jeff ihre Angst fühlte, wenn er es noch einmal versuchte, dass … Thi ihre Angst fühlte … „Ich … kann das nicht …“, murmelte sie, „Ich … kann dir das doch nicht antun …“ Er schüttelte den Kopf und legte ihr seine freie Hand auf die Schulter. „Ich habe Gulas Angst gesehen. Und das ist das Erste, was ich vergessen möchte. Also … je schneller wir das durchziehen, desto schneller sind wir glücklich.“ Sie nickte, auch wenn sie nicht davon überzeugt war. … Wenn sicher zu sein, bedeutete, ewige Angst zu verspüren … war sie dann überhaupt sicher? „Als Reaktion auf diese plötzlichen Erinnerungen lassen die Gegner dann das Schwert fallen oder sinken“, erklärte Thi weiter, „Und das bedeutet, dass du entweder selbst die Chance zur Notwehr oder aber zur Flucht haben wirst.“ Er fing ihren Blick auf. „Wir müssen das also schaffen. Ich will, dass du eine Chance gegen diese Verbrecher hast. Und Gula will das auch.“ Sie nickte. „… Du darfst … anfangen …“, murmelte sie. Und der erste Stich folgte. Ray hatte schon viele schöne Gesichter gesehen. Eines der schönsten hätte er heute fast geküsst und ein anderes stand grinsend hinter ihm, um ihm den Weg abzuschneiden, sodass er nicht einfach abhauen konnte. Sein Vater war nicht da, Kim hingegen schon. Und neben ihr stand jemand, der genau dasselbe rabenschwarze Haar hatte, das kunstvoll hochgesteckt worden war. Perlen, Bänder und Blumen verzierten das Haar und gaben durch die silberne Farbe den Eindruck wider, dass das das wertvollste Haar der Welt sein musste. Doch noch dazu umrahmten die dunklen, auffälligen Locken ein Gesicht, welches erst bei genauerem Hinsehen als Maske aus Make-up erkennbar wurde. Doch die Ausstrahlung, die das Gesicht hatte, war mystisch. Die Augen stachen groß hervor, wirkten so wunderschön und dunkel, umrahmt von langen, schwarzen und dichten Wimpern, als entsprängen sie direkt einer Model-Zeitschrift. Auch ihre Lippen waren schön geformt und hatten die unnatürlich natürlichste Farbe, die er je gesehen hatte. Alles in allem war das Gesicht also perfekter als nur perfekt. Trotz ihrer eher rundlichen Wangen, wobei die Wangenknochen mit Make-up perfekt zur Geltung gebracht wurden. Und das fiel ihm auf, obwohl er keine Ahnung davon hatte, was Schönheit ausmachte. Er wusste nur, dass sie schön war. Zumindest hatte er das gedacht, bis er sich von dem engelsgleichen Anblick ihres Gesichts losreißen konnte, um den … Torso begutachten zu können. Man musste ihr wohl zugute halten, dass sie wusste, welche Stellen sie betonen sollte, um bei einigen Leuten großen Eindruck zu hinterlassen … aber dass das Kleid unter der Brust einfach nur ausladend war, lag sehr wahrscheinlich nicht nur am Stoff. Aber dennoch wirkte sie graziös und eindrucksvoll wie eine Königin. Eine Königin, die schon viel zu oft Kuchen gegessen hatte. „Ray!“, rief Kim überrascht aus, „Du bist hier!“ Sie lächelte. „Alles Gute!“ Schnell ging sie auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen. Da stand sie. Mit ausgestreckter Hand. Bereit, ihm ins Gesicht zu schlagen – oder zum Geburtstag zu gratulieren. Aber … plötzlich fiel ihm auf, dass sie und Liz beinahe ein Gesicht hatten. Nur, dass eines breiter geraten war. Sie hätten ja fast gleich alt sein können! Dazu noch dasselbe Haar … Und durch den Bauch, der Kim derzeit etwas rundlich wirken ließ … Zwillinge. Es hätten die schönsten, übergewichtigen Zwillinge sein können, die er je gesehen hatte. Wie in Trance reichte er ihr einfach die Hand und nickte. „Man starrt einer Frau nicht so in den Ausschnitt, Ray“, riss Kylies viel zu amüsierte Stimme ihn aus den Gedanken. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Blick wirklich wieder zu Liz’ … Sie hatte sogar mehr zu bieten als Kylie. Ein Rotschimmer überdeckte seine Wangen. Wie peinlich. Sofort wandte er sich um, um die Kücheneinrichtung zu betrachten, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben sehen. „Vor allem, wenn man sich noch gar nicht vorgestellt hatte“, erklang eine sanfte Stimme. Liz’ Stimme. Die Stimme passte zu ihrem Gesicht. „Und du sollst mein Stiefbruder sein?“ „Ich beneide dich gar nicht“, gab Kylie dazu, „Er kann manchmal echt anstrengend sein.“ Sie lachte. „Das sind alle Männer, meine Liebe.“ „Nein, wirklich“, setzte sie noch einen drauf, „Jeder Mann lernt einmal, mir zu gehorchen – aber er weigert sich einfach ständig, vernünftig zu sein.“ Sie verschränkte die Arme. Kim lachte leise. „Er hat heute doch Geburtstag, lasst ihn in Ruhe. Wir sollten essen.“ „Sie hat recht“, stimmte er zu. Er hätte nie geglaubt, dass er so etwas sagen würde. Irgendetwas in diese Richtung. Aber als er die große Schokoladentorte am Tisch sah, auf der liebevoll die Zahl 20 geschrieben stand, drum herum Becher, Kaffee, Tassen, Saft und Teller … Das war seit fünfzehn Jahren der erste Geburtstag, den er nicht im Krankenhaus verbracht hatte. Seine Mutter … Sie würde auch ein Stück der Torte wollen. Er würde sie Kylie mitgeben. Und für Diane natürlich auch. Plötzlich erschien ein Bild vor seinen Augen. Das Gesicht seiner Mutter und auch Dianes Lächeln sahen ihm entgegen. Kylie hielt ihr Handy vor seine Nase. „Das haben wir noch vor meiner Abreise gemacht“, erklärte sie, „Das ist dein Geburtstagsgeschenk von ihnen. Du sollst an sie denken, wenn du den Kuchen isst.“ Langsam und vorsichtig, als wäre das Gerät genauso zerbrechlich wie seine Mutter, nahm er es in die Hand und bestarrte das Bild. Er bemerkte, dass Kim ebenfalls den Bildschirm begutachtete. … Das Lächeln seiner Mutter … Seit über einem halben Jahr hatte er sie nicht mehr gesehen. Es musste ihr wirklich eine Zeit lang schlechter gegangen sein. Sie sah so mitgenommen aus. So viel … älter … Er packte das Handy fester. Er würde sich noch mehr anstrengen müssen. Er würde ein Heilmittel finden. „Kannst du ihnen Kuchen mitbringen?“, wandte er sich an Kylie. Sie nickte fest und lächelte. „Natürlich! Aber erst, wenn du ihn vorgekostet und überprüft hast!“ Er lächelte. „Danke.“ „Und alles Gute noch von mir“, mischte sich Liz dann ein. Sie stand plötzlich neben ihm und hielt auch ihre Hand hin. Er schüttelte sie wortlos und setzte sich dann auf den Stuhl. Diane, Kylie, seine Mutter und er. Kim und Liz hatten den Platz der anderen beiden eingenommen … Aber in ein paar Jahren … würde er wieder mit seiner Mutter feiern. Und diese würde dann ihr Besteck selbst halten können. Am liebsten wäre er gleich aufgesprungen, um zu lernen. Aber der verführerische Geschmack des Kuchens ließ ihn dort bleiben. … Doch in seinen Gedanken war er schon lange nicht mehr am Geschehen des Tisches beteiligt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)