Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Als Ray erwachte, war Kylie bereits weg gewesen. Vermutlich war sie früher aufgestanden, um Kim helfen zu können. Das war dann wohl ihr Pflegerinstinkt, der sie dazu verleitete, so was zu machen. Nachdem Montag war, hätte er heute früh aufstehen und zur Uni gehen sollen. Aber er blieb dabei, für Kylie zu schwänzen – dann hatten sie viel mehr Zeit gemeinsam zur Verfügung. Natürlich blieb sein schlechtes Gewissen gegenüber Kyrie, aber sie hatte es ja gut aufgenommen. … Schade, dass er sie heute nicht sehen würde. Er erhob sich. Es würde doch blöd klingen, wenn er Kylie extra aus dem Roten Dorf käme und er dann die ganze Zeit nur an Kyrie hängen würde, die er ohnehin fast jeden Tag sehen konnte … Nachdem er sich umgezogen und fertig gemacht hatte, fragte er sich, was er jetzt tun sollte. Er hatte länger geschlafen als sonst, was bedeutete, dass zumindest Kim noch da war. Sollte er zu ihr gehen? So tun, als sei das normal? Oder sollte er hier warten, bis Kylie hoch kam? Aber sie war so stur … Vermutlich würde sie den ganzen Tag da unten sitzen bleiben, nur um ihn zu zwingen, nach unten zu kommen. Das hatte keinen Zweck … Er seufzte. Warum hatte sie nur diese Mission angenommen, ihn zu bekehren? Das war doch nicht ihre Art! Seine Mutter zog die Fäden, da war er sich sicher. Oder seine Schwester. Oder beide zusammen. Sie hatten Angst, dass dieser … Vorfall … sein ganzes Leben einnehmen würde! Aber er war ganz glücklich gewesen, so wie es gewesen war. Konnten sie das nicht einfach akzeptieren? Er konnte auch ganz gut ohne die Anwesenheit, Anerkennung oder Aufmerksamkeit bestimmter Personen leben. Dennoch stieg er die Treppen nach unten. Bereits dabei hörte er zwei tratschende Frauenstimmen. „Die hat ja ein wunderschönes Gesicht“, erklang Kylies überraschte Stimme, „Wie die Mutter, so die Tochter, was?“ „Sie ist wirklich hübsch“, stimmte Kim zu, „Ich hoffe, dass die Kleine hier drinnen in diesem Sinne ihrer Schwester gleichen wird.“ „Ja, dann wären es zwei sehr hübsche Schwestern“, lobte seine Freundin. Seit wann konnte die denn bitte so nett sein? „Sie sorgt sich sehr um ihr Gesicht“, erklärte Kim weiter, „Du … kannst dir bestimmt vorstellen warum. Aber sie ist zufrieden.“ Ray hatte die Türschwelle erreicht. Wieder kostete es ihn Überwindung, einzutreten … Er musste erwarten, dass sie ihn zum Essen aufforderte … Dass er wieder hier essen musste. Vielleicht benahm er sich wie ein kleines Kind, doch … Es sollte so sein! Er wollte es so. Ende. „Komm ruhig rein, Angsthase“, forderte Kylie ihn auf, ohne ihn anzusehen. Wie hatte sie bemerkt … Egal. Es war Kylie. Da konnte ihn nichts mehr überraschen. Also sog er scharf die Luft ein und betrat die Küche. Kim lächelte ihn an, Kylie strahlte eine Aura der Selbstzufriedenheit aus. „Schau, wir haben hier ein ganzes Frühstücksbuffet zusammengestellt!“, übertrieb Kylie, „Also setz dich und genieße es mit uns.“ Jetzt blickte sie ihn endlich an. Sie wirkte sehr munter und ausgeschlafen. Er warf ihr einen unbegeisterten Blick zu – dann widmete er sich dem Essen. Es stand schon viel am Tisch, aber ein Buffet konnte man es noch lange nicht nennen. Aber es sah einladend aus, das musste er zugeben. „Danke“, murmelte er dann. … Wie sollte er da weiterhin unfreundlich sein, sodass sie ihn mied? „Bitte!“, meinte Kim hocherfreut, wobei sie sich dazu setzte, „Es ist wirklich schön, Gesellschaft beim Essen zu haben.“ „Isst du jeden Tag allein?“, informierte sich Kylie neugierig, wobei sie sich schon Brot aufschnitt. Kim nickte. „Sonntags ist Radiant bei mir, aber sonst immer allein.“ Wollten sie ihm jetzt ein schlechtes Gewissen einreden? Das würde nämlich nicht funktionieren. Das war nämlich das Besondere am Ignorieren: Man tat so, als sei jemand nicht da, weshalb man auch niemandem abging und keinem Gesellschaft leisten konnte. „Muss echt blöd sein, wenn man so unfreundliche Hausbewohner hat“, sinnierte seine Freundin weiter. „Ich schmeiß dich gleich raus“, murrte er. Daraufhin funkelte sie ihn belustigt an. Das war also genau die Reaktion, die sie ihm entlocken wollte. „Ach was.“ Kim winkte sofort ab. „Ich bin froh, wenn mein Essen gegessen wird und wenn es schmeckt“, meinte sie ruhig lächelnd. „Ein wenig Alleinsein hat auch seine Vorteile.“ „Wenn Liz kommt, bist du eh nicht mehr alleine“, munterte Kylie sie auf. Kim schüttelte den Kopf. „Nein, da hast du recht.“ „Arbeitest du eigentlich?“, fragte Kylie weiter, wobei sie jetzt damit begann, Obst zu schälen. Kim nickte. „Aber nur nachmittags“, erklärte sie, „Radiant ist es wichtiger, dass ich das Haus in Ordnung halte, was ich auch gerne tue.“ Kylie stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Das merkt man.“ „Danke. Ich fühle mich geschmeichelt.“ Sie lächelte weiter. Ray ließ das ganze Gespräch einfach im Hintergrund ablaufen, merkte sich aber einige Kleinigkeiten, die er noch gar nicht gewusst hatte – es war schon beschämend, drei Studienrichtungen zu studieren und dabei noch nicht einmal zu wissen, als was die Stiefmutter arbeitete, aber … So war es nun einmal. Weil es so sein sollte! „Die Hochzeit soll erst stattfinden, wenn ich mich erholt habe“, beantwortete Kim eine Frage, die Ray überhört hatte, „Ich will weder mit rundem Bauch noch mit Nachwirkungen am Traualtar stehen“, gab sie leise zu, „Das würde Liz schon gar nicht zulassen.“ „Und … sie bleibt tatsächlich bis zur Hochzeit? Das kann ja dann noch ein ganzes Jahr dauern“, hakte Kylie nach, „Ich meine … Huh, das kann dann teuer werden.“ Kim seufzte. „Radiant bezahlt alles. Ich fühle mich schon schlecht dabei, aber ich danke ihm auch von tiefstem Herzen dafür.“ Ray konnte nicht anders, als die Frau anzustarren. Für eine unbekannte Nicht-Verwandte hatte er also Geld für einen halben Umzug? Also das Teuerste vom Teuersten? Und für einen kurzen Besuch seiner eigenen Ehefrau hatte er keine Zeit?! Jetzt erinnerte er sich wieder daran, warum er seinen Vater so verabscheute. Er kümmerte sich um gar nichts, was Maria betraf! Es wäre wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, wenigstens einmal in fünfzehn Jahren vorbeizuschauen! „Ich habe eine Idee!“, rief Kylie fröhlich aus, „Ray hier geht am Donnerstag, wie gehabt, zur Uni und wir bereiten am Morgen den Kuchen vor! Dann hole ich ihn ab, lerne sein Zuckerpüppchen kennen und dann essen wir Kuchen!“ Sie schien begeistert von der Idee zu sein. Scheinbar hatten sie schon wieder das Thema gewechselt. Er sah sie skeptisch an. „Ach ja?“ „Wir lernen uns kennen, sie kann mitkommen, du lernst was …“ Sie lächelte zuckersüß. „Und ich kann die Torte backen!“ „Weißt du, wo die Universität sich befindet?“, fragte Kim vorsichtig nach. Kylie nickte bekräftigend. „Natürlich. Er hat mir den Weg ja gezeigt. Wege sind kein Problem für mich.“ Sie grinste. „Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie verlaufen!“ Er nickte. „Das stimmt.“ Kim schien beruhigt zu sein. Aber sie schaute Ray erwartungsvoll an. Er zuckte mit den Schultern. „Kyrie wird sich bestimmt auch freuen.“ Dann seufzte er. „Und sie ist nicht mein Zuckerpüppchen. Hast du den Namen erfunden?“ „Nein, das warst du. Isabella, dritte Klasse, Grundschule. Drei Tage vor der Mathearbeit, bei der du knapp die Hälfte der Punkte hattest. Vielleicht erinnerst du dich ja daran.“ Er dachte zurück. Er konnte sich nicht einmal an eine Isabella erinnern. „Ihr kennt euch wohl wirklich schon lange“, staunte Kim, „Und ihr seid wirklich kein …?“ Kylie schüttelte sofort den Kopf. „Wie gestern und heute mit den Worten ‚Nein, wirklich nicht. Wir sind nur Freunde. Beste Freunde.’ abgewiesen – erneut: Nein, wirklich nicht. Wir sind nur Freunde. Beste Freunde.“ Sie klang todernst. Plötzlich blitzten ihre Augen amüsiert auf, ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln und Ray wusste, dass gleich ein dummer Kommentar auf ihn warten würde. Sie beugte sich in Kims Richtung und tat so, als würde sie ihr ein Geheimnis anvertrauen, sprach es allerdings in normaler Lautstärke aus: „Auf Kyrie müsst ihr aufpassen. Auf das kleine Zuckerpüppchen hat er es abgesehen, auf die müsst ihr euch konzentrieren.“ Kim schaute ihn an, während sie sichtlich überlegte. Er seufzte. War Kylie eigentlich hier, um ihn wieder zu sehen oder um ihn fertig zu machen? Kyrie saß ganz alleine auf der Mauer und starrte ihr Mobiltelefon an. Keine Nachrichten. Kein gar nichts. Sie war einfach hier, allein, ohne Ray … Vermisste ihn … Hoffentlich würden ihre Eltern bald kommen. Wenn man so allein war, schien die Zeit ohnehin festzustecken … Vor allem ohne Ray … Hoffentlich hatte er Spaß mit Kylie. Sie sollte ihm viel von seiner Mutter erzählen, das würde ihm bestimmt Heimweh verursachen, aber fröhlich stimmen. Wenn es seiner Mutter gut ging … Sie seufzte. Wenn sie diese Woche Kylie kennen lernte, dann würde diese Woche auch die letzte Chance sein, in welcher sie zu Maria konnte. Aber wollte sie das überhaupt? Sie müsste Nathan mitnehmen und … sie wusste nicht, ob sie das wollte. Aber sie wollte keinesfalls ohne ihn gehen. Und ihm war es auch lieber, wenn sie trainierten, anstatt die Zeit verschwendeten … Außerdem … außerdem … Nach dem, was das letzte Mal passiert war … wusste sie gar nicht so genau, ob sie überhaupt noch einmal ins Rote Dorf wollte … Sie wusste ja nicht, von wo aus die anderen ihre Fährte aufgenommen hatten … Und sie wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Sie verschränkte die Arme und erschauderte. Sie war allein. Wenn sie wussten, wer sie war, wenn sie sie umbringen wollten … Hier wäre doch der perfekte Ort. Auch wenn sie ihre Flügel nicht ausbreitete. Sie seufzte frustriert … Warum konnte sie keine schönen Gedanken mehr fassen? Überall war diese Angst, überall waren Schwerter … Und wenn Ray nicht da war, freute sie sich schon wie wild auf Mittwoch – nur um ihn vorbeigehen zu sehen und auf den nächsten Mittwoch zu warten. Das war traurig. Tragisch … Sie fühlte sich einfach schlecht, als hätte sie etwas falsch gemacht. „Ray“, wisperte sie gedankenverloren, „Komm … bitte …“ Sie schaute sich um – sie erwartete, dass jeden Moment Xenon, Jeff oder Drake um die Ecke sprangen … Dass Milli über sie lachte … Es war … es war schrecklich … Sie wollte nicht mehr! Sie … sie … Was sollte sie tun? … Was konnte sie tun? Nichts. Rein gar nichts … Sie starrte ihr Handy an. … Sie könnte ihm eine Nachricht schreiben. Dann wäre sie abgelenkt. Hätte etwas, auf das sie hoffen konnte … Wenn er antwortete … Aber es war doch unhöflich, ihm zu schreiben, obwohl sie wusste, dass er Besuch hatte. Ein weiteres Seufzen entglitt ihr. Wenn hier jemand herumstand, der sie beobachtete, musste sie wirklich für eine seufzende Persönlichkeit halten … „Wie geht es dir?“, tippte sie in das Gerät ein. Dann starrte sie die Worte an. Sollte sie die jetzt wirklich abschicken? Sie kannte die Antwort ja. Ihm würde es gut gehen, weil ein Stück Heimat zu ihm zurückgekehrt war. Also löschte sie den Text wieder. „Was machst du gerade?“, lautete ihr nächster Versuch. Das klang mehr danach, als wollte sie ihn gleich treffen, weil sie nichts zu tun hatte. … Sie konnte ein Foto von der Mauer schicken und schreiben: „Wir vermissen dich!“ … Nein. Nein, das könnte sie niemals tun … Sie könnte sich darüber informieren, wann er mit Kylie kommen würde. Oder wann sein Geburtstag war. Die drei Wochen waren um. Aber in beiden Fällen hatte er gesagt, er würde sie am Tag zuvor anschreiben. Vielleicht vergaß er das? Nein … Er war wohl nicht so vergesslich … Aber es würde gar nicht so verzweifelt klingen! Also löschte sie den alten Versuch und probierte es wieder: „Vergiss nicht zu schreiben, wann du kommst und wann du Geburtstag hast. Einen schönen Tag noch!“ Sie las den Satz. Ganz zufrieden war sie noch nicht. Aber es war ein Anfang. Und sie hatte etwas zu tun! Und dann würde sie ihm ein Geschenk besorgen. Sie saßen im Café, in welchem er einst mit Kyrie den Sieben Sünden gelauscht hatte. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Aber es war am Anfang der Ferien gewesen … Also wirklich … Die Zeit verflog! Diesmal hatten sie sich den Ostblock vorgenommen, sämtliche wichtige Einrichtungen begutachtet und sie waren alle Straßen abgegangen, sodass Kylie die perfekte Orientierung hatte. Wenn sie einen Weg kannte, dann kannte sie einen Weg. Sie war zuverlässiger als eine Landkarte. „Nächstes Jahr kommen sie scheinbar ins Rote Dorf“, meinte Kylie, „Aber, wie du weißt, halte ich nichts von dieser Band.“ „Ich verstehe es immernoch nicht“, gab Ray zu, „Sie haben doch für jeden Typen Lieder.“ „Ich weiß nicht, aber ich mag ihren Stil nicht – vor allem der Sänger ist mir unsympathisch“, beschwerte sie sich, „Aber wenn du mich einladen würdest, würde ich natürlich mitkommen.“ Sie grinste. Er verdrehte die Augen. „Wir werden sehen.“ Wie sollte er überhaupt ins Rote Dorf kommen? Kylie hatte noch dabei geholfen, das Frühstück aufzuräumen, dann waren sie auch gleich losgegangen. Sie hatte sich nicht wirklich zu seinen Vorwürfen, sie hecke etwas aus, was mit ihm und seinem Vater zu tun hatte, geäußert. Aber sie hatte gesagt, dass sie Babys mochte, weshalb sie sich auch für Kim interessierte. Und sie hoffte, dass er zumindest zu Liz nett sein würde. Auch wenn ihm der Gedanke, eine Stiefschwester zu haben und Halbgeschwister zu bekommen, nicht sonderlich gut gefiel. Mal sehen, wie sie sein würde. Aber ein Wunder durften sie sich nicht erwarten. Sie war Kims Brut. Also ein potenzieller Feind, der ignoriert werden sollte. Um es übertrieben dramatisch auszudrücken. Sein Handy riss ihn aus seinen Gedanken. Es vibrierte und erklang kurz. Eine Nachricht. Was wohl los war? Kylie sagte im Moment sowieso nichts, vielleicht würde ihm die Nachricht neuen Gesprächsstoff liefern. Er packte das Gerät aus und las: „Hallo! Verrätst du mir dein Geburtsdatum? Und wann du mit Kylie vorbeikommst? Ich freue mich schon darauf!“ … Kyrie. Er schaute auf die Uhr. Sie wären jetzt noch am Mauertreffen, auch wenn es schon ziemlich am Ende wäre. Was es bei ihr wohl zum Essen gab? „Kyrie?“, mutmaßte Kylie, „Vermisst sie dich so schnell schon?“ Er nickte. „Kyrie.“ Dann las er sich die Nachricht noch einmal durch. Sollte er ihr die Antworten sagen oder eine Überraschung daraus machen? Aber wenn er sich nicht beeilte, würde sie ihn noch versetzen. „Beides am Donnerstag“, schrieb er schnell und schickte ab. Dann wandte er sich wieder Kylie zu. „Ich erwarte, dass du nett zu ihr sein wirst“, wies er sie hin. Sie schnaubte entrüstet. „Bin ich nicht immer nett?“ Er sah sie unbeeindruckt an. „Du bist immer schön wie die Sonne, aber dein Charakter ist manchmal hässlicher als die Nacht.“ Sie sah ihn plötzlich beeindruckt an. „Wow, den muss ich mir aufschreiben!“ Er verdrehte die Augen. „Ach nein, ich merke ihn mir ja schon!“ Sie lachte. Ihr Lachen war ansteckend – er stimmte mit ein. Wie schaffte sie das nur? Aber jetzt sollten sie weitermachen. Es wartete noch ein halber Block auf sie! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)