Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Nachdem sie in einer – dem überraschten Blick der Verkaufskraft nach - kaum besuchten Touristeninformation noch einmal ganz genau nachgefragt hatten, ob es denn kein höheres Gebäude als die Kirche gäbe, hatten sie aufgegeben. Die Kirche war nicht einmal annähernd eine Kirche! Sie war so groß wie ein Haus. Und das Krankenhaus war ebenfalls kein Turm, sondern ein Gebilde aus vielen kleinen, einzelnen Häusern! Und damit hatte es dieses Dorf tatsächlich geschafft, kein Hochhaus zu haben! Bevor Nathan in seiner Verzweiflung auf die Idee gekommen wäre, das Hochhaus hochzuklettern, überredete Kyrie ihn zu einer Rückkehr zu ihrer Oma. Und dabei wollte sie morgen wirklich mit ihrem Vater die Messe gestalten. Und lernen. Sie hatten sich informiert, ab wann das Bürogebäude wieder geöffnet hatte – und stellten betrübt fest, dass das bereits um acht Uhr morgens war. Montags. „Warum bin ich nicht einfach zu Fuß gegangen?“, beschwerte er sich, nachdem sie nebeneinander im Bett lagen. Sie waren noch bis ein Uhr mit ihrer Großmutter unten gewesen, hatten mit ihr Karten gespielt und noch mehr gegessen. Dann waren sie zu Bett gegangen. Mirabelle schien keineswegs betrübt darüber zu sein, dass sie „den Zug verpasst“ hatten. Um eine Ausrede zu haben, weshalb sie morgen nicht bereits wieder abfahren konnten, gestanden sie, dass sie nicht genug Geld hatten. Sie hatten auch wirklich kein Geld. Wenn man sich teleportieren konnte, brauchte man an sowas doch eigentlich gar nicht erst zu denken ...! Und ihre Großmutter hatte natürlich auch nicht genug Geld übrig, da sie ja erst vor kurzem bei ihnen zuhause gewesen war. Plötzlich schreckte Nathan hoch. „Wir fliegen!“ Kyrie schaute ihn fragend an. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, fast so schwer wie ihr Bauch. Sie war übervoll. Mehr als übervoll … „Wenn wir ausgeruht sind, schaffen wir es, den Weg unter der Wolkendecke entlang zu fliegen.“ Sie schaute ihn skeptisch an. „Das geht?“ Er nickte. „Es dauert länger, ich bin mir nicht sicher wie lange, und es sollte uns bestmöglich keiner sehen, aber es ist möglich. So kommst du morgen noch zu deiner Messe und ich kann dann einfach von der Nördlichen aus in den Himmel aufsteigen.“ „Und das zehrt auch meine Kräfte nicht auf?“, informierte sie sich. Auch wenn sie zugeben musste, dass sie gerne noch etwas mehr Zeit mit Mirabelle verbringen wollte. Wer wusste schon, wie oft sie sie noch sehen würde? Auch wenn sie froh über die neu gewonne Möglichkeit war. „Aber ich glaube, dass es um sechs schon hell sein wird“, wandte Kyrie ein, „Das heißt also, dass wir gesehen werden könnten.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, es gibt eine bestimmte Höhe, von der aus Menschen uns für nichts weiter als Vögel halten werden.“ Er gab sich fest entschlossen. „Und wenn das Wetter mitspielt, dann können wir uns im Grau der Wolken verstecken. Oder im Glanz des Himmels. Oder sonst wo! Ich muss nach da oben!“ „Dann schlaf lieber“, riet sie ihm, „Sonst packst du das nicht.“ „Das würde noch vier Stunden Schlaf machen“, murmelte er, „Auf der Erde … Es gibt kein näheres Dorf, oder?“ „Nein“, bedauerte Kyrie, „Ob wir ins Niedliche Dorf oder in die Hauptstadt … flögen … wäre egal.“ „Schade“, murmelte er, „Aber lass uns schlafen. Und morgen schauen wir dann, wie wir das machen.“ Sie nickte. Sie hatte sich bei ihrem Vater per Handy gemeldet, nachdem Mirabelle bei ihr zuhause angerufen hatte und die offizielle Version geschildert hatte. Kyrie hatte John dann erklärt, was ihr wirkliches Problem war und dass ihre Eltern vermutlich erst ab Montag wieder mit ihr rechnen konnten – und dass ihr das mit der Messe leid tat. Aber John hatte es gut – zu gut! – aufgenommen. „Wenn wir dann auf der Erde fliegen“, fiel ihr plötzlich ein, „… dann werden wir danach ziemlich fertig sein, oder?“ Er schaltete das Nachtlicht aus. Beide trugen Nachtgewänder, die Mirabelle ihnen zur Verfügung gestellt hatte – ihre Oma hatte ihr erklärt, dass sie manchmal Gäste hier hatte, die ebenfalls den Zug verpasst hatten. Es war praktisch, dass ihre Oma beinahe direkt am Bahnhof lebte. Bloß blöd, dass Kyrie das erst heute herausgefunden hatte, nachdem sie das Touristenbüro am Bahnhof deprimiert wieder verlassen hatten, und nach wenigen Schritten bereits wieder vor Mirabelles Haus standen. Hauptsache vom Bürogebäude aus dauerte es ewig! „Vermutlich“, merkte er an, „Ziemlich sogar. Magie auf der Erde anzuwenden, ist eine Sache“, erklärte er, „Wirklich zu fliegen, obwohl die Schwerkraft an einem zieht, eine ganz andere. Habe ich gehört.“ „Du … hast das noch nie gemacht?!“, stellte Kyrie schockiert fest. „Wie denn?“, fragte er amüsiert, „Oder hast du mich je fliegen sehen?“ „Das stimmt“, murmelte sie. „Also – hast du heute von mir gesprochen?“, rollte er das alte Thema wieder auf. … Sie hätte es nie angesprochen, wenn sie geahnt hätte, in welcher Situation dieser Tag enden würde. Es war mehr aus Reflex geschehen! Er hatte ihr so leid getan und Joshua erst! „Ja“, gab sie widerstrebend zu. Er bewegte sich am Bett. Sie fühlte seinen Blick auf sich lasten. „Du warst … in mich verliebt?“, fasste er die Geschichte zögerlich zusammen. Wie konnte er das nur so herzlos und offen aussprechen? Sie verkroch sich unter der Decke. „Ja“, wisperte sie. Und bereute es sofort. Andererseits war es erlösend, aber ... „Oh“, machte er. Er rückte von ihr weg. „Tut mir leid.“ Seine Stimme klang plötzlich fiel ferner. Hatte er sich weggedreht? „Ich habe es nie bemerkt.“ „Du warst zu beschäftigt“, beschwichtigte sie ihn, ohne vorher über ihre Worte nachzudenken. „Bist du … froh darüber, über mich hinweg zu sein?“, informierte er sich. Sie ließ sich Zeit mit Antworten. Was sollte sie ihm jetzt sagen? … Die Wahrheit vermutlich. „Ja“, bestätigte sie, „Es hat wirklich wehgetan, wie du mit … mit all diesen Mädchen … Deinen Blick hast du aber nie von mir abgewendet …“ „Ich musste sehen, wo du bleibst“, meinte er leise, „Ich hatte wirklich keine Ahnung von deinen Gefühlen.“ „Ich von deinen auch nicht“, entgegnete sie. „Wie?“, fragte er verwirrt. „Du und … Joshua …“, setzte sie an, brach dann aber ab, weil es so falsch klang. Er antwortete nicht. „So gesehen, war ich schon froh, dass ich es auf die andere Art erfahren hatte … Dass ich keines deiner … Opfer geworden war …“ Sie seufzte leise. „Auch wenn ich … vielleicht heimlich immer wieder davon geträumt habe, dass …“ Sie brach ab. „Soll ich dich küssen?“, bot er ihr sachlich an. Sie hörte ihm an, dass es ein Wiedergutmachungsgeschenk war. Sie erschauderte. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Doch … seltsamerweise … fühlte sie nichts dabei … Nichts als … Abneigung. Er war ihr Lehrmeister, ihr früherer bester Freund, derjenige, der sie lange alleine gelassen und dann wieder aufgefangen hatte … und der Teil, der geglaubt hatte, ihn lieben zu müssen, war gestorben … Und anstatt … anstatt dass sich Sehnsucht nach diesem Ich breit machte … tauchte das Bild eines ganz anderen Menschen vor ihrem inneren Auge auf. Dieses spitzbübische Lächeln, dem immer eine bedrückende Art von Traurigkeit anhaftete, diese funkelnden grünen Augen … Ray … „Schlaf jetzt“, wies sie ihn an, „Morgen wird ein anstrengender Tag werden, wenn du so pflichtbewusst sein willst.“ Er lachte kurz. „Tut mir leid für die Frage.“ „Schon in Ordnung“, antwortete sie leise, „Gute Nacht.“ „Gute Nacht“, ertönte seine Antwort. "Ich bin froh, dass du nicht zugestimmt hast." Und bald darauf kehrte Ruhe ein. Sie wusste, dass es nicht böse gemeint war. Kyrie weckte ihn tatsächlich um fünf Uhr auf, doch … Nathan war ehrlich – er schaffte es einfach nicht, aufzustehen. Dieses weiche Bett … Es war keine Wolke, es war Stoff! Richtiger Stoff! Wenn er etwas auf der Menschenwelt vermisst hatte, dann war es dieser Schlaf, der nicht genesend erholsam, sondern relaxend erholsam war! Ein gravierender Unterschied. Ein Unterschied, der ihn bis zwölf Uhr mittags weiterschlafen hatte lassen. Kyrie war bereits bei ihrer Großmutter – seit fünf Uhr, so wie er diese Frühaufsteherin kannte – und half ihr im Haushalt und unterhielt sie. Sie schien es wirklich zu genießen, bei ihrer Großmutter zu sein. Verständlich, wo sie die alte Dame nur so selten sah. Doch er konnte Kyrie nicht alleine lassen, musste aber in den Himmel zurück. Nachdem er aus dem Fenster geschaut hatte und der Himmel so klar war, dass er beinahe glaubte, die Welt der Engel sehen zu können, gestand er ein, dass sie den ganzen Tag hier bleiben mussten – aber sie würden den „Nachtzug“ nehmen. Dann konnten sie nachts noch in den Himmel gehen, sodass Kyrie für Montag ausgeruht war, sie die Schwertübung vormittags absolvierten und er sich danach in Ruhe auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Mirabelle schien noch immer unzufrieden, aber sie wirkte genauso froh dem „jungen Paar“ geholfen zu haben. Er grinste in sich hinein. Wenn sie wüsste. Also verbrachten sie den Tag damit, das Lichte Dorf zu begutachten – es war klein, weshalb es bloß zwei Stunden einnahm, einmal durchzuschlendern. Kyrie und er hatten sich gestern wie in einem Labyrinth gefühlt, doch mit einem Fremdenführer wie Mirabelle herumzulaufen, vereinfachte das ganze ziemlich. Und sie war verflucht schnell für ihr Alter. Und am Ende schauten sie der Abendsonne beim Untergehen zu, während sie auf der Terrasse von Mirabelles kleinem, niedlichem Haus saßen und Tee tranken, zu dem es natürlich Kekse gab. Nathan gab es ungern zu, doch er fühlte sich, als müsste er sämtliche Kekse wieder abtrainieren. Das Schwertkampftraining würde ihm dabei wohl helfen. Überflüssige Kilo wurden vom Himmel nämlich nicht geheilt. Es gab nämlich eigentlich keine übergewichtigen Engel, da Engel normalerweise kein Essen von der Erde aßen. Er musste seinen Freunden unbedingt Kuchen vorstellen. Die süße Version, nicht die himmlische. Dann wäre er nicht mehr der einzige fette Engel. „Warum grinst er so vor sich hin?“, wunderte sich die Großmutter. „Manchmal hat er solche Anfälle“, beschwichtigte Kyrie sie. „Such dir lieber einen weniger verrückten Freund“, gab Mirabelle zurück, woraufhin Kyrie lachte. Solche Aussagen verletzten sie also wirklich nicht mehr. Sie war tatsächlich über ihn hinweg – ohne dass er davon wusste! Entweder er war blind oder … Was auch immer mit ihm falsch war. Wie konnte er das bloß nicht bemerken? Nie? Seine Gedanken waren einfach zu … sehr auf Joshua fokussiert … Er unterdrückte ein Seufzen. Er wollte sich damit nicht mehr auseinandersetzen. Warum konnte er nicht einfach so stark sein wie Kyrie und dieses Ich abtöten? Dieses Ich, das Joshua liebte … Mirabelle hatte sie zum Bahnhof begeleitet – und durch einen billigen Trick, kombiniert mit einem Hauch des Schicksals und einer ausgeliehenen Geldbörse ungeklärter Herkunft, hatten sie sich davon gestohlen und waren nun auf dem Weg, das Dorf zu verlassen. Allein der Fußweg war schon anstrengend genug! Noch dazu war es so dunkel, dass man kaum etwas sehen konnte. Die Geldbörse hatten sie natürlich dem Besitzer zurückgebracht, ehe er sie vermisst hatte. Ob Mirabelle das mit dem Glücksspiel geglaubt hatte? „Wenn du gestern zu Fuß zu meinem Haus gekommen wärst“, fasste Kyrie zusammen, „hättest du jetzt noch genug Licht übrig, um vom Boden aus in den Himmel zu kommen.“ Er sprang über einen Stein, der in diesem Wald aus dem Boden ragte. Dieser Wald war beinahe blickdicht! Ein Dickicht ohne gleichen! Ob hier überhaupt schon einmal ein Mensch durchgegangen war? Sämtliche Äste flogen in ihr Gesicht und hinterließen ihre Spuren darauf. Sie versuchte, sich mit den Händen zu wehren, konnte aber nicht alles abblocken. „Richtig“, meinte er, „Aber so habe ich gerade einen Katzensprung zu wenig.“ Wie machte er das nur, dass er nie stolperte, dass er nie etwas ins Gesicht bekommen zu schien?! „Und ich habe zu wenig, weil ich sie benutzt habe“, murmelte sie, „Ich bin so schwach …“ „Ja“, sagte er, „Aber Joshua war letztens genauso fertig.“ „Habe ich … mein Ziel eigentlich erreicht?“, fiel ihr dabei ein. Er nickte. „Ja. Du hast die vierundzwanzig Stunden im Himmel überlebt – dich kriegt keiner mehr klein.“ Er grinste, was sie am Leuchten seiner weißen Zähne erkannte. „Etwas Übung brauchst du zwar noch, aber wir liegen gut in der Zeit.“ Zum Glück war es nie stockfinster. Nur dunkel. Und alles war voller Blätter. „Wirst du … ewig so viel Zeit für mich aufwenden können?“, informierte sie sich, während sie beinahe über einen Ast stolperte – doch er hielt sie rechtzeitig fest. „Lange genug“, beruhigte er sie, „Irgendwann wirst du ein Schwertmeister sein, vor dem sich die anderen fürchten.“ Er war eindeutig amüsiert. Gerade, als sie zu einer Antwort ansetzen wollte, rief er erleichtert aus: „Das ist der Ort, den ich mir vorgestellt habe!“ Und schon breitete er seine Flügel aus und flog vorsichtig nach oben. Sie schaute ihm lediglich nach und wartete auf Anweisungen. Sie wünschte sich, ebenfalls ihre Flügel ausfahren zu können – dann würde sie durch sein Licht endlich etwas sehen! Als er wieder tiefer flog, meinte er: „Wir sollten weit genug weg sein, dass sie uns für große Vögel halten.“ Er grinste, „Los!“ Kyrie streckte ihre Flügel erfreut aus. Selten vollzog sie diese Prozedur an solch einer tiefen Stelle. Und als sie zu Nathan schaute, stellte sie fest, dass dieses Licht keineswegs erleuchtete. Es war seltsam, aber … das war kein natürliches Licht, das die Umgebung erhellte. Es betonte bloß Nathan. Es war seltsam. „Und jetzt – zieh dein Schwert!“, folgte der nächste Befehl. Schockiert über die plötzliche Aufgabe, starrte sie ihn nur an. „Was?“ „Zieh es – du bist vom Himmel entfernt. So können wir herausfinden, wie gut du wirklich bist“, begründete er. „Sollten wir nicht warten, bis ich keine Energie mehr brauche?“, schlug sie vor. Er lachte leise. „Beim Fliegen geht es um Muskeln, nicht um Licht.“ Sie nickte – und konzentrierte sich. Sie musste ihr Schwert rufen. Hier. Es hier behalten. Also strengte sie sich an, konzentrierte sich einzig und allein darauf, den Gegenstand aus Licht herbei zu beschwören – egal, wie schwer es ihr fiel. Und plötzlich hielt sie es in den Händen. Sie starrte es überrascht an. Es leuchtete – und es beleuchtete die Umgebung! Sie erkannte eine Wurzel vor sich. Aber die konnte ihr jetzt auch nichts mehr anhaben – sie würde fliegen! Ob Menschen dieses Schwert dann eigentlich auch sehen konnten? Nathan klatschte vergnügt. „Sehr gut, das ging sogar richtig schnell.“ Er grinste. „Aber nicht schnell genug.“ Dann verschränkte er die Arme. „Lass es los.“ … Also übten sie jetzt die Geschwindigkeit, mit der sie es an dieser Stelle rufen konnte? Na gut … Ihr Schwert fiel – und nach wenigen Augenblicken verschwand es, löste sich einfach in Nichts auf. Sobald es den Kontakt zu ihren Händen verlor. Hier unten ging das besonders schnell. Eine Entwaffnung wäre tatsächlich ihr Tod. „Egal wie stark jemand ist“, begann Nathan, „Auf der Erde haben diese Schwerter keine Existenzberechtigung. Das Schwert gehört bloß dem Engel, der es gerufen hat – niemand sonst soll es aufheben können.“ Sie nickte. „Ja …“ Dann rief sie ihr Schwert erneut. Und der gesamte Ablauf wurde so lange wiederholt, bis sie sich vollkommen energieleer fühlte. Sie hatte doch geahnt, dass das eine schlechte Idee war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)