Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Kyrie blockte den nächsten von Thierrys Angriffen. Sie fühlte sich seltsam schwer und unausgeglichen. Ganz anders als sonst im Himmel. Vielleicht lag das daran, dass ihre Freunde sie gerade wie wild attackieren – zumindest hatten Deliora und Liana jetzt ihre kleinen Zwischenwürfe aufgegeben … -, aber vielleicht auch deshalb, weil es einfach so hart war, sich so lange zu konzentrieren. Manchmal glaubte sie, ihr Schwert würde ihr aus der Hand fallen – das wäre ihr Tod, denn es würde sich auf der Erde gleich danach auflösen. Also holte sie ihre Konzentration immer wieder zurück und versuchte auch anzugreifen – doch es funktionierte einfach nicht so gut wie gegen Nathan. Thierry war einfach viel stärker als Nathan! Aber zumindest hatte sie mittlerweile Ahnung von seinem Kampfstil. In den letzten Tagen hatte sie mehr Zeit ins Training investiert – immerhin hatte sie keinen strengen Uni-Zeitplan mehr zu verfolgen. Und Nathan hatte vermehrt auf die Taktik seines Freundes zurückgegriffen. Einige der Attacken erkannte sie – und sie hatte auch die Ansätze intus, um zu blocken. Doch die Präzision, mit der Thi an die Sache ging, war viel höher als bei Nathan. Der Unterschied zwischen Original und Imitat war gravierend. Und noch dazu war dieser Engel so stark und so … stark … Gedanken zu fassen, wurde immer schwerer und schwerer. Es war, als würde ihr die Energie doppelt so schnell entrinnen als sonst. Hatte sie sich etwa noch nie so sehr angestrengt? Sie musste sich dringend öfter so anstrengen … Sonst … würde sie ihr Ziel … nie erreichen … Joshua zu besiegen … Konnte ein kleiner Mann wie Joshua wirklich noch stärker sein als Thi? Ob Nathan jemals eine von Joshuas Attacken nachgeahmt hatte? Sie hatte keine Ahnung, zu wem welche Attacke gehörte … Noch ein Schlag – noch einmal pariert. Sie wich zurück und flog ein wenig zur Seite. Auch ihre Flügel gaben langsam nach. Sie war nicht mehr schnell. Sie war einfach langsam – ausgelaugt. So richtig ausgelaugt … Dabei … hatte sie sich doch gerade erst das ganze Licht zugeführt … Hatten Deliora und Liana sie so sehr drangenommen …? Mittlerweile hätte sie keine Chance mehr gegen drei Leute … Falls … falls Joshua heute kämpfen sollte, so konnte sie bloß hoffen, dass er Thi ersetzte – und dass sie keinen gemeinsamen Angriff starteten. Noch ein Aufschlag. Ihr Griff wurde locker, beinahe schlug er ihr das Schwert aus der Hand. Aber … sie musste es festhalten. Sie wich noch weiter zurück. Von all diesem Zurückweichen ihrerseits mussten sie bereits an einem ganz anderen Ort gelandet sein. Doch sie hatte keine Zeit, die Umgebung zu betrachten. Sie sah beinahe schon verschwommen, was direkt vor ihr lag … wie sollte sie da … weiterschauen? Noch ein Schritt zurück, um den nächsten Schlag perfekt parieren zu können … Ja, sie hatte die Kraft … richtig bemessen … Ihr Arm wurde dabei aber ein wenig zurückgerissen – sie fiel zu Boden. Aber sie wollte sich jetzt nicht ausruhen, konnte sich jetzt nicht ausruhen … Sie musste … wieder auf … Ächzend erhob sie sich – da sah sie bereits die nächste Attacke auf sich zukommen … Er … imitierte es … perfekt … original … So würden Jeff … und … Mike … Mike? Wer war Mike? Sie blockte. Wollte zu einem Gegenangriff ansetzen, aber es funktionierte nicht … Sie fühlte sich schwach. Richtig schwach. Zu Boden gedrückt. Nicht einmal die Heilkraft des Himmels vermochte ihr zu helfen. Es war, als würde sie jede Sekunde, die sie dort kämpfend verbrachte, an Energie einbüßen. Plötzlich stand Joshua vor ihr. Er hielt das Schwert auf sie gerichtet. Ihre … Chance … sie sah … einen Fehler … einen Mangel an Deckung … Dort … ein … Platz … Er … Sie streckte ihre Hand noch vorne, um ihn dort zu entwaffnen, doch sie hielt kein Schwert mehr in der Hand. Wo … war … ihr … Schwert …? „Oh nein!“, rief Nathan panisch. Nathan … da hinten … überall … Warum war er hier? Sie kämpfte doch … weil er … „Joshua, hilf mir!“, ertönte seine Stimme. Und plötzlich stand sie in der Kälte. Automatisch zog sie ihre Flügel ein. Die Sonne stand am Himmel, der golden leuchtete, was darauf hindeutete, dass es Morgen war. Wie früh morgens denn? Sie lehnte an Nathan, der sie festhielt. Joshua stützte sie ebenfalls. Langsam wurden ihre Gedanken wieder klarer. … Moment. Warum stand sie unten in der Nördlichen? Warum war sie nicht mehr im Himmel? Sie fühlte sich wieder frisch und munter. Sofort stellte sie sich auf ihre eigenen Beine und löste sich von Joshuas und Nathans Hilfe. Kein Problem. Ihre Flügel waren eingezogen, ihr Schwert verschwunden. Dann schaute sie in Nathans Gesicht. Er war bleich. Schreck verzerrte sein Gesicht. Der Schock schien tief in seinen Knochen zu sitzen. Auch Joshua wirkte nicht weniger aufgewühlt. So viel Gefühl auf seinem Gesicht … „Leute?“, fragte sie besorgt nach, „Was ist … passiert?“ Sofort sprang Nathan zu ihr und umarmte sie. „Oh, Gott, wie hast du mich erschreckt!“ Er drückte sie fest an sich. Sie umarmte ihn zurück, auch wenn sie den Anlass nicht so recht kannte. Auch Joshua schloss sich plötzlich in die Umarmung mit ein. Aber er ging danach sofort wieder auf Abstand. „Warum … Was … ist passiert?“, wiederholte sie verblüfft. Er trat einen Schritt von ihr zurück. Er sah sie erleichtert an. Er wirkte wirklich … mitgenommen. Plötzlich umarmte Joshua Nathan. „Es ist alles gut …“, beruhigte er ihn, während er ihm sanft über den Rücken strich, „Es ist alles wieder in Ordnung …“ Sie verschränkte die Arme und schaute unauffällig Richtung Himmel. Wirklich … ihr ging es wieder fabelhaft. Eigentlich war es doch immer andersherum – wenn sie nach einem langen Tag in den Himmel kam, war sie ausgeruht, aber diesmal hatte der Himmel sie beinahe fertig gemacht. Die Erde schien ihr Heilung zu bieten, fast als … Irgendwo erklang eine Kirchturmuhr. Messezeit. „Messezeit?“, rief sie erschrocken aus. Dann starrte sie genauso überrascht Nathan an. „M … Moment …“ Nathan löste sich langsam, behutsam von Joshua, als würde er jeden Zentimeter, der zwischen sie trat, zutiefst bereuen. Aber er wandte sich Kyrie zu. Er nickte. „Ich habe in meiner Aufgabe als Lehrer und Behüter total versagt“, stellte er sich der Wahrheit, „Ich habe die Zeit total vergessen und dich über vierundzwanzig Stunden im Himmel belassen.“ Er seufzte. „Ich bin froh, dass kein irreparabler Schaden entstanden ist … Aber du solltest jetzt zu Bett gehen. Ich weiß nicht, ob es einen Rückfall geben wird oder nicht oder …“ „Ich war wirklich vierundzwanzig Stunden im Himmel?“, rief sie schockiert aus. Der Himmel also? Er hatte so an ihren Kräften gezerrt? Nicht einmal dem Himmel konnte sie komplett trauen? Jeder fiel ihr irgendwann in den Rücken? Sie fiel auf die Knie und sank langsam in sich zusammen. Sie war wohl wirklich nirgendwo richtig willkommen … Auf Erde nur für fünfundzwanzig Jahre … Im Himmel für einen ganzen Tag … Wo nur war sie … wirklich zuhause? Bei ihren Eltern? Ja … sie liebten sie, boten ihr Schutz, aber … auch sie konnten nichts gegen ihre wahre Natur tun … Nach fünfundzwanzig Jahren … Bei Ray? … Wieso kam gerade er ihr in den Sinn? Nathan legte eine Hand auf ihre Schulter. „Bitte, mach dir keine Vorwürfe – denke über nichts Dummes nach … Es sind einfach die Spielregeln. Dein Körper verkraftet diese Unmenge an Energie einfach nicht. Er hat versucht, dich zu beschützen, indem er den Überschuss wieder abgegeben hat.“ Er lächelte. „Er hat nur versucht, dich zu retten.“ Dann tätschelte er ihren Kopf. „Und genau deshalb solltest du auch ihn beschützen. Gehen wir zu dir heim.“ Sie sah Joshua an. „Danke, dass du mir geholfen hast …“, murmelte sie. Er nickte. „Du hast versucht, gegen meine leere Hand anzukämpfen, obwohl du am Boden gelegen hast …“, erklärte er sachlich, „Wer sich da keine Sorgen macht …“ Dann hielt er ihr ihre Hand hin. Sie nahm sie und zog sich mit seiner Hilfe wieder auf. Vor ihren Augen drehte sich alles. Ihr war so schwummrig zumute, richtig … unangenehm … Sie trat einen Schritt zurück, in der Hoffnung, ihr Gleichgewicht zu finden. Geistesgegenwärtig fing Nathan sie ab und stützte sie. „Nachwirkungen“, vermutete er betont, „Soll ich dich tragen?“ Er lächelte spitzbübisch. Sie lehnte sich erneut an ihn. Sie fühlte sich, als würde sie sofort wieder zusammenbrechen … Was für eine verkehrte Welt … Der Himmel saugte sie ab, nachdem sie den Himmel verließ, war sie geschwächt … Und jetzt musste sie schlafen, um nicht mehr müde zu sein … Oh, das war dann wohl normal. Theoretisch. Morgen sollte sie wieder fit sein … Sie würde sich wieder mit Ray treffen. Wieder spontan … Wie am Montag … Gestern hatte sie gelernt und ihre Trainingseinheit genossen, was sie Ray natürlich vorenthalten hatte. Er hatte Verständnis dafür aufgebracht. Aber er hatte genug andere Freunde, mit denen er etwas unternehmen konnte … Im Gegensatz zu ihr … Apropos … Wo waren sie? Liana, Deliora und Thierry … Plötzlich fühlte sie sich ganz erleichtert. Sie spürte ihr eigenes Gewicht nicht mehr – da realisierte sie, dass Nathan sie aufgehoben hatte und trug. „Ich weiß ja, wo du wohnst“, sprach er frei heraus. Aber er ging noch nicht los. Kyrie öffnete die Augen. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie sie sie geschlossen hatte … Hatte sie ihr Bewusstsein verloren? Nathan starrte Joshua an. „Kommst du mit? Dann schaffen wir es danach zu zweit in den Himmel“, schlug er vor. Joshua wirkte überrascht, aber er nickte stumm – und folgte ihnen genauso wortlos. „Wo sind … Liana und die anderen?“, wollte sie wissen. Ihre Stimme hat kaum Kraft … So geschwächt zu sein … Es erinnerte sie beinahe an früher. Damals, als die anderen sie mit ihren Gemeinheiten zum Weinen gebracht hatten … Damals war sie auch manchmal einfach am Weg zusammengesunken und hatte ihren Tränen freien Lauf gelassen. Sie schaute Nathan ins Gesicht – sein Blick ging stur gerade aus. Er hatte sie nie aufgefangen. Auch wenn es die Erfüllung ihrer Träume gewesen wäre – damals. Jetzt hielt er sie. Sie freute sich darüber, aber … es war kein Traum mehr. Keiner mehr gewesen. Es ging einfach in Erfüllung, war sozusagen eine unerwartete Wendung … „Im Himmel“, erklärte er leise, „Ich habe ihnen befohlen, oben zu bleiben. Es würde deinen Eltern so schon nicht gefallen, da muss ich sie nicht gleich mit einer ganzen Garde erschrecken.“ Kyrie nickte. „Danke“, murmelte sie. Dann schloss sie Augen erneut. So … müde … Er wog sie langsam hin und her, vielleicht war es auch bloß die Bewegung, die bei seinen Schritten entstand. So langsam … so sanft … so … freundschaftlich … „Schläft sie?“, wunderte sich Nathan mit gedämpfter Stimme, als er in Kyries Gesicht sah. Es war so blass, richtig ausgezehrt. Sie war nie die farbigste Person gewesen, doch diesmal konnte man es beinahe als farblos bezeichnen. Über vierundzwanzig Stunden … Sein Herz verknotete sich. Wie hatte er das bloß zulassen können? Er sollte wohl vor den Sieben Todsünden eine Strafe fordern, aber … Weil er ein Assistent war, würden sie wohl alle Augen zudrücken und ihn entkommen lassen. Es würde sich nichts bringen. Er konnte jetzt auch nicht in Selbstmitleid zerfließen – er konnte nur hoffen, dass sie ihm das verzieh und dass sie jetzt nicht noch mehr Angst vor dem Himmel hatte … Warum war er nur so erpicht darauf gewesen, sie heute schon gegen Joshua antreten zu lassen? Ihr heute schon zu beweisen, was sie konnte? Vor all ihren Freunden! Er hatte sie blamiert! Ihr mehr geschadet, als geholfen … Warum hatte er nicht einfach angehalten? Hoffentlich machte sich Thierry keine Vorwürfe. Aber er hatte sich definitiv zurückgehalten – er brauchte gar nicht darüber nachzudenken, nein … Es war bloß seine eigene Schuld. Er hätte besser aufpassen müssen. Sie beschützen müssen. Er wollte sie nicht verlieren. Nicht jetzt, wo sie offen miteinander sprechen konnten. Er hatte wirklich keine Geheimnisse mehr vor ihr. Jetzt waren sie endlich die Freunde, die sie schon lange sein sollten. Wie hatten es die Assistenten vor ihm nur geschafft, sich mit ihren Schützlingen anzufreunden, obwohl so viel Heimlichtuerei zwischen ihnen stand? Hatte sie das nie gestört? „Mach dir nicht so viele Sorgen“, erklang Joshuas leise, sanfte Stimme, „Sie wird es überleben und verstehen.“ Er ging einfach neben ihm her. Einfach so … Auf der Erde … Hatte er nicht auf der Erde Zuflucht vor ihm finden wollen? Vor seiner Sehnsucht zu ihm? Und jetzt spazierten sie die Treppen dieses überalten Gebäudes hinunter, als seien sie einfach nur Freunde, die Treppen stiegen. „Ja“, murmelte er, „Wie gefällt dir die Erde bisher?“, wollte er mit lauterer Stimme wissen. Joshua sah sich um. „Sie scheint ziemlich dreckig und zerfallen zu sein. Und sie bietet wenig Platz.“ Nathan schaute ihn verwundert an – erst dann realisierte er, dass Joshua seine Flügel noch ausgebreitet hatte. Doch dieses zarte Weiß auf diesem finsteren Schwarz passte so gut zu ihm, machte ihn einfach aus, dass er das einfach so hingenommen hatte! Auch seine Kleidung entsprach nicht den irdischen Vorschriften. Aber was redete er denn da? Wie konnte Joshua das auch wissen? Er selbst hatte sich in letzter Zeit bereits im Himmel so zurechtgemacht, dass er nicht auffiel, doch so unerwartet Besuch zu bekommen … Aber wenn Joshua schon hier war, wollte er nicht auf seine Anwesenheit verzichten. „… Der Himmel sieht von unten aber genauso schön aus wie von oben“, fügte er noch leise hinzu. Nathan blieb stehen. „Stopp.“ Er schaute auf Kyrie. Sie schien noch immer zu schlafen. Sanft legte er sie auf einem großen Treppenabsatz ab, lehnte sie gegen eine Mauer und hoffte, dass sie schlafen konnte. Zum Glück hatte sie ihre Flügel automatisch eingezogen, sobald sie die Erde erreicht hatten. Genauso wie Nathan. Das machte er mittlerweile einfach ohne nachzudenken. Aber Joshua … Er erhob sich, nachdem er Kyrie zurechtgerückt hatte, wieder und musterte Joshua, der einige Treppen unter ihm stand. Er selbst breitete seine Flügel wieder aus. Plötzlich machte Joshua einen stark überraschten Gesichtsausdruck – er schien seine Unaufmerksamkeit bemerkt zu haben. Sofort zog er die Flügel ein. Das Leuchten um ihn herum verschwand auf der Stelle. Es war so schön gewesen … Dieses Goldene, das ihn umgab … Es war nur so klein und schwach – es passte zu seiner ruhigen Ausstrahlung … Auch wenn er es selbst nicht sehen hatte können, als seine Flügel eingezogen waren … Wieso war Joshua nicht aufgefallen, dass er Nathans Leuchten nicht genießen konnte? … Vielleicht wusste er einfach nicht, dass man es auch auf der Erde sehen konnte? Aber das war … nebensächlich. Nathan konzentrierte sich und formte mit Hilfe seiner Magie Kleidung für seinen Freund. Das zehrte hier sehr an seinen Lichtreserven, doch es war es ihm wert – so waren sie dann wohl zu einem Spaziergang in Zweisamkeit gezwungen. „Was machst du da?“, forderte Joshua ruhig zu wissen. Er achtete immer auf einen kühlen, leisen Ton – um Kyrie nicht zu wecken. Er war so aufmerksam … „Kleidung für dich“, beantwortete Nathan die Frage ehrlich, „Du kannst nicht mit deinen Himmelsfetzen hier herumstreunen.“ Er selbst brauchte ein wenig länger für Kleidung, weil er an keine so genaue Ausarbeitung gewohnt war – das war auch der Grund, weshalb Todsünden bei Besuchen auf der Erde immer nur langweilige Mäntel trugen: Sie waren nicht präzise genug, um passende Erdenkleidung herzustellen. Und sich jedes Mal komplett neu einzukleiden – auf Vorbestellung bei unteren, dafür zuständigen Rängen – war den Todsünden wohl doch zu anstrengend. Nathan hatte seine Kleidung vor einer Weile bei einem aus dem siebten Rang anfertigen lassen, der darauf spezialisiert war – derjenige war auch manchmal in der Menschenwelt unterwegs, um dort die neueste Modeentwicklung mitzuverfolgen. Wenn er mit seinen Freunden auf die Erde kam, musste er daran denken, zuvor zu dem Mann zu gehen, um vor allem Liana keine Enttäuschung zu bieten. Er grinste beim Gedanken daran. „Ich hoffe, dass das Grinsen nichts zu bedeuten hat“, erklang ein Murmeln von Joshua. Er schaute zu ihm. Der Schwarzhaarige lächelte ihm zu. Und ehe Nathan sich versah, stand er bei Joshua und fuhr ihm durchs Haar … Er drängte ihn zurück bis zur Steinmauer und sah ihm in diese schwarzen Augen. Sie waren eigentlich so ziemlich in derselben Größenklasse, doch wenn er sich so klein machte, sich so nachgiebig zeigte, wirkte er tausendmal kleiner als er … Beschützenswert. Lieblich. Er legte seine Stirn an Joshuas und schloss die Augen. „Was sollte es denn bedeuten?“, wollte er keck wissen. Plötzlich legte Joshua seine Arme um Nathan und wisperte: „Wenn du nur öfter bei mir sein könntest …“ Nathan atmete resigniert durch. „Wenn ich es könnte …“ „Ich vermisse dich“, fügte er leise an, „Zu sehr …“ „Ich liebe dich“, erwiderte er gedankenverloren, „Zu sehr …“ „Du musst loslassen“, erinnert Joshua ihn plötzlich. Entgegen seiner Worte drückte er ihn aber fester an sich. „Ich will dich aber nicht loslassen.“ „Das ist nur ein Problem“, gestand Nathan betrübt, „Ich kann dich auch nicht einfach so vergessen … Ich bin nicht so stark wie Acedia.“ Wenn er mehr Zeit zur Verfügung hätte, würde er sie mit Joshua verbringen. Es war entsprechend also gut, dass er Kyrie noch als Schülerin bei sich hatte. Sie konsumierte seine verbliebene Freizeit ruckzuck. Sie hielt ihn von Joshua fern. Und je ferner sie sich blieben, desto besser war es für seine Zukunft. Bis er eine Todsünde war, musste er sich von seinen Gefühlen gelöst haben. „Du bist der stärkste Engel, den ich kenne“, flüsterte er ihm leise zu. Nathan konnte seinen Atem spüren. Diesen Atem, der im Himmel immer warm war, hier auf der Erde aber kalt … „Ich habe es nicht auf die Kraft bezogen …“, erklärte Nathan, wollte gerade fortfahren, als Joshua ihn aber sanft unterbrach. „Ich auch nicht“, meinte er – belustigt, „Aber du liebst so stark … Manchmal glaube ich, dass du nach mir rufst, dass ich dabei so unendlich viel stärker werde … Und wenn ich nach dir rufe, dann erscheinst du nie …“ Nathan lächelte. „Am Anfang habe ich sie deutlich gespürt, doch seit ich meine Flügel zwanzig Jahre nicht mehr getragen habe, spüre ich diese verzweifelten Rufe gar nicht mehr …“ „Ich werde nie aufhören, sie dir zu senden“; versprach er. „Ich werde mich daran erinnern“, entgegnete er – und ehe er sich versah, drückte er Joshua einen Kuss auf die Lippen. Dieser erwiderte. Und Nathan fühlte sich wie im Himmel – als würde Joshuas Energie auf ihn übergehen … So stark … So leidenschaftlich … Er wollte nicht, dass dieser Moment jemals endete. Kyrie wollte ihren Atem anhalten, wollte überhaupt nicht gesehen werden und schon gar nicht gehört. Sie glaubten, sie wäre noch ohnmächtig, doch ein seltsamer Ruck hatte sie wieder aufgeweckt … Aber sie wollte sich nicht melden und als sie aufgewacht war … Sie errötete noch mehr. Drehte sich vom Schauspiel weg … und hoffte, dass ihr Herzklopfen nicht zu hören war. … Das, dem sie da gelauscht hatte, war wohl dann der eindeutige Beweis für die Liebe zwischen den beiden. Es gab eigentlich nichts mehr, was dagegen sprach, dass … dass Nathan … und Joshua … Und dass Nathan diese Mädchen nur ausgenutzt hatte … oder vielmehr – hatte er sie als Ablenkung genutzt? Um Joshua zu vergessen? Er musste Joshua vergessen, um eine Todsünde zu werden … weil er sich wohl seiner Gefühle enteignen musste … um … um gerecht herrschen zu können, ohne Voreingenommenheit, ohne Verletzlichkeit … Grausam … Er musste sich selbst und diejenigen, die er mochte, aufgeben, um den anderen ein faires Leben zu ermöglichen … Alle Todsünden mussten das … Und dann kamen Leute wie sie angerannt, die von Verletzungen sprachen, von Ungerechtigkeit … Vor ihnen, die ihre Liebe aufgegeben hatten … Nathan liebte Joshua … Gula liebte Sport … Sie wusste nicht, was die anderen geliebt hatten, doch es musste in jedem Leben etwas geben, das man ihnen weggenommen hatte … Nein – das sie aufgegeben hatten. … Wenn sie selbst vor diese Wahl gestellt würde … würde man ihr dann den Glauben nehmen? Oder ihre Eltern? Nathan? … Ray? Wieso … kam Ray ihr jetzt schon wieder in den Sinn? Ray war doch unerreichbar für sie, sie trafen sich, sie lachten miteinander, sie hatten zusammen Eis gegessen und waren auf einem Konzert gewesen … Er gab ihr Glück und Freude, ließ sie sich fühlen, als sei sie im Himmel, wenn sie nur sah, dass er wirklich gekommen war … Dieses Gefühl … eigentlich hatte sie das bisher nur bei einer einzigen Person gekannt … Damals … Sie konnte sich keines weiteren Blickes erwehren – jetzt küssten sie sich! … Laut … Am liebten wäre sie gegangen … Aber sie war dermaßen geschwächt, dass sie nicht einmal hätte aufstehen können … Und ihre Flügel rufen und einfach in den Himmel tauchen … Nein, das traute sie sich nicht … Viel lieber … tauchte sie in ihren Erinnerungen … an früher … Als sie noch an eine Chance geglaubt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)