Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Wie lange warten wir noch?“, wollte Liana wissen, welche gelangweilt ihre Arme verschränkte und auf der Treppe saß. Deliora hockte in genau derselben Haltung neben ihr und fügte leicht maulend hinzu: „Ohne Kyrie sind Mittwochstreffen nicht dasselbe. Es ist mehr wie … ein Treffen … So wie wir es vor Nathans Abzug immer gehabt haben.“ Sie starrte Nathan so an, als wäre es seine Schuld, dass Kyrie sich auch heute dazu entschieden zu haben schien, nicht kommen zu wollen. „Seht es doch so“, versuchte Nathan die beiden Frauen zu beschwichtigen, „Thi ist heute ja auch nicht hier! Er trainiert bereits für das Spiel nächste Woche. Aber hat er sich gemeldet?“ Er wartete kurz. „Nein“, beantwortete seine Frage selbst, „Warum hat er sich nicht gemeldet?“ Erneut pausierte er, erwartete jedoch keine Reaktion – welche auch nicht kam. „Weil wir das nicht tun! Wir sind Engel. Wir leben nach den Regeln der Engel. Und Vertrauen ist unser oberstes Gebot – von dem her …“ Liana unterbrach ihn barsch: „Hör auf, so zu klingen, als wärst du eine Todsünde. Dafür hast du später noch genug Zeit.“ Deliora nickte, um ihrer Freundin beizupflichten: „Wir sollten beide unsere Zeit noch nutzen, solange wir sie haben! Wenn wir einmal Pflichten haben, sind so unbeschwerte Treffen nicht mehr möglich. Und … so ein Ersatzfall kann sehr schnell eintreten.“ Für einen kurzen Moment war Nathan schockiert über die Worte von Deliora. Sie konnte doch nichts davon ahnen, dass bereits so viele Engel verschwunden waren? Er hatte es doch noch nicht einmal Acedia gesagt, weil diese dazu in den letzten Tagen einfach zu mürrisch war. Aber er würde es ihr bald mitteilen – wenn er mehr Anhaltspunkte dazu hatte, allerdings … Nein. Das musste allgemein bezogen sein. Das war keine Andeutung. Bestimmt nicht. „Seht das nicht so schlimm“, versuchte er, die beiden Frauen zu beruhigen, „Um Thi sorgt ihr euch ja auch nicht! Behandelt Kyrie nicht so, als sei sie anders.“ Er schaute von einer zur anderen. „Sie ist ein Engel, kapiert? Ich habe sie an das Engelsgesetz gebunden – und damit gelten für sie sämtliche Rechte und Pflichten der Engel.“ Beide Frauen warfen ihm einen unbeeindruckten Blick zu, sagten allerdings nichts mehr. Nathan wandte sich zu Joshua um, welcher dem ganzen schweigend beigewohnt hatte. Aber auch er wirkte plötzlich unbeeindruckt. Stellten sie hier vielleicht seine Glaubhaftigkeit in Frage? „Na gut – nachdem heute also niemand mehr vorbei kommen wird …“, begann Liana nach einer kurzen Periode der Schweigsamkeit, „Was machen wir?“ „Wir könnten Thi beim Training besuchen“, schlug Deliora vor, wobei sie Nathan einen mahnenden Blick zu warf, „Oder Kyrie beim Lernen.“ Nathan seufzte. „Nein – und nein.“ Er verschränkte die Arme. Langsam wurde es wirklich anstrengend. „Für beide gilt dasselbe – sie kommen nicht, weil sie keine Zeit haben. Ob Training oder Prüfungen – manchmal muss man seine Freunde für die Selbstentfaltung eben zurückstellen! Wie du genau weißt, Deliora, können wir den Anforderungen der Oberen nicht nur wegen einem Mittwochstreffen ausweichen! Und das hier ist fast dasselbe. Jeder hat seine Pflichten.“ Sie verdrehte die Augen, stimmte dann aber unbegeistert zu. Auch sie hatte bereits so einige Treffen sausen lassen müssen, um noch spontan Bücher anzufertigen oder andere Aufgaben zu erledigen. „Wenn die beiden das nächste Mal zum Treffen kommen, wird uns Thi bestimmt erzählen, wie toll sein Training verlaufen ist und wie siegessicher er ist – und Kyrie wird dasselbe von den Prüfungen sagen. Tut nicht so, als sei es ungewöhnlich, dass jemand nicht kommt“, herrschte Nathan sie an, „Wenn ihr diese Stimmung hier weiter verbreitet, dann werde ich nämlich gehen.“ Er hatte wirklich keine Lust, sich mit den Launen dieser Frauen herumzuschlagen! Er hatte anderes zu tun – er konnte weiter Indizien sammeln. Aber … je weiter er in diese Geschichte hineinstieß, desto besorgniserregender wurde sie … Engel verschwanden auf ungeklärte Weise – und seit hundert Jahren war keiner jener Engel zurückgekehrt oder anderweitig aufgetaucht … Was ging da bloß vor sich? Eine neuartige Krankheit? Er musste unbedingt weiter in der Vergangenheit herumstochern. Liana starrte ihn erwartungsvoll an. Oh – er hatte sie wohl ausgeblendet. Sie starrte weiter. Er würde reagieren müssen. Er warf Joshua einen kurzen, verzweifelten, Hilfe suchenden Blick zu. Joshua erschien regungslos. Doch in seinen Augen blitzte Belustigung auf. Dieser … „Hat es dir die Sprache verschlagen?“, verlangte Liana dann ungehalten zu wissen, „Oder glaubst du, du wärst nicht angesprochen?“ „Ich habe nicht zugehört“, gab er leise zu, „Bitte? Was hast du gesagt?“ Plötzlich lachte die Frau, deren Gesicht älter wirkte als das der anderen, laut auf und fuhr sich durch das braune Haar, in dem auch heute eine so charakteristische Blume steckte. Rot. Ob sie die immer nach ihrer Laune auswählte? „Ach – du“, begann sie dann, lachte aber wieder, „Genau deshalb liebe ich dich so!“ Das war nur dahin gesagt. „Na dann – auf Wiedersehen.“ Und damit erhob sie sich von der Treppe in die Lüfte und brauste davon. „Was hat sie gesagt?“, wollte Nathan verwirrt wissen, als er ihr nachschaute. „Sie hat gesagt“, erklärte Deliora, während sie sich von der Treppe erholt, „… dass sie schwer mit dem Eintreffen der Geschehnisse rechne, die du voraussagtest. Entsprechend geht sie jetzt anderen Tätigkeiten nach, da sich ein Sechsertreffen mit vier Anwesenden ihrer Meinung nach nicht bringt – vor allem wenn die Hauptcharaktere fehlen.“ Sie schaute ihn eisig an. Als wäre es seine Schuld. „Das hat sie gesagt …?“, fragte er leise. Oh … Plötzlich wirkte Deliora sehr erheitert. „Ach, was. Sie sagte: Wer zuletzt beim Stadium ist, hat verloren!“ Und damit stieß auch sie sich ab und raste davon. Einige Federn blieben zurück. Nathan blickte Joshua an. „Aber das hat sie wirklich gesagt, oder?“ Dieser nickte. „Hat sie.“ „Was sagst du zu der ganzen Sache?“, wollte Nathan dann wissen. Wie immer hatte er Joshuas Anwesenheit gemieden. Nur zu Mittwochstreffen sah er ihn. Darum war Nathan auch schon länger nicht mehr bei sich zuhause gewesen. Er wollte Joshua einfach nicht sehen … Er war so weit von der Gefühlsstärke entfernt, die er besitzen sollte … Hoffentlich würde Acedia nicht in nächster Zeit zu denen zählen, die verschwanden … Hoffentlich behütete ein Assistent Todsünden davor, was-auch-immer zum Opfer zu fallen. „Du wirkst besorgt“, stellte Joshua sachlich fest. „Nicht wegen Kyrie, falls du das glaubst“, versicherte Nathan ihm, „Ganz bestimmt nicht wegen ihr …“ Manchmal waren Probleme einfach größer als man selbst. Und trotzdem musste man ihnen gegenüber treten … Zum Glück war er nur derjenige, der die Beweise sammelte – und nicht der, der sie kombinieren und den Fall lösen musste. Joshua schüttelte den Kopf. „Ich glaube dir, wenn du sagst, dass das normal bei … Menschen ist.“ Plötzlich trat er einen Schritt auf Nathan zu. Nathans Herz begann, schneller zu schlagen. Sehr viel schneller. So viel schneller, dass er hoffte, dass es nicht platzen würde. Sie waren völlig alleine hier. Nur er und Joshua. Nur sie … Wie früher … Instinktiv wollte er einen Schritt auf Joshua zu machen, doch er hielt sich selbst davon ab. Er durfte nicht. Er musste stark sein … Er würde eine Todsünde sein. Er war ein Assistent … Er musste Gefühle ablegen können. Die Gefühle mussten warten können. Sein Verstand durfte nicht durch private Angelegenheiten eingenebelt werden … Er musste … durchhalten … Er … Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter liegen. Zwei schwarze Augen starrten ihn entschlossen und mitfühlend an. Sein dunkles Haar glänzte im Gold des Himmels – wieso war ihm dieser wunderschöne Effekt nicht vorhin schon aufgefallen? „Wenn du reden möchtest“, bot er leise an, „Werde ich für dich da sein …“ Und damit stieß er sich nach oben ab, sodass er ein wenig über Nathan schwebte. Doch er flog nicht weiter. Stattdessen streckte er ihm die Hand, die eben noch auf seiner Schulter gelastet hatte, entgegen. Einladend. Nathan würde sie nur noch ergreifen müssen … und dann … konnte er mit Joshua fliegen … Wieder mit Joshua fliegen … Als er es realisierte, hatte er seine eigene Hand bereits zur Hälfte gehoben, um das Angebot anzunehmen. Doch er stoppte. Stoppte sich selbst. Nein … er durfte keine Hilfe in Anspruch nehmen. Als Todsünde empfand er es als seine Pflicht, dem Volk zu helfen – und sich nicht von irgendjemand helfen zu lassen. Schon gar nicht von jemand, den er um jeden Preis beschützen wollte. Und da begann er, sich zu fragen, ob normale, ranglose Engel ebenfalls verschwunden waren. Er zog die Hand ein und hob sich empor. „Pass auf dich auf, Joshua“, bat er ihn – und dann rauschte er an ihm vorbei. Doch er fühlte den Blick seines Freundes auf seinem Rücken – und er glaubte, dass der Schmerz, die Enttäuschung in den Augen seines Freundes, ihn zum Absturz bringen würden. Kyrie ging es schon wieder viel besser. Die aufbauende Medizin, die sie bekommen hatte, kam ihren Muskeln sehr gelegen. Sie konnte bereits wieder gut auf geraden Ebenen gehen. Bei den Treppen war es noch immer schwierig, vor allem da auch ihr Gleichgewichtssinn etwas ins Wanken geraten war, doch sie war sich sicher, dass sie spätestens morgen wieder sehr gut laufen können würde. Und dass es dennoch seltsam war, diesen Arm nicht mehr bei sich zu wissen … doch sobald sie auf ihn schaute, war er da. Ein sehr komisches Gefühl … Sie saß in der Küche. Ihre Mutter räumte das Geschirr weg. Ihr Vater war kurz nach draußen gegangen. „Seid ihr … nicht rein zufällig an der Mauer vorbei gefahren?“, wollte Kyrie kaum hörbar wissen. Vielleicht überhörte ihre Mutter die Frage ja. Dann würde sie sich auch das Nein ersparen, welches unweigerlich folgen würde. Gestern war es immerhin dasselbe Spiel gewesen. Magdalena hielt in ihrer Tätigkeit inne. „Nein, tut mir leid“, antwortete die Mutter danach, „Du weißt … dein Vater …“ Ihr Vater dachte, dass Ray etwas mit dem Vorfall zu tun hatte. Er glaubte, dass Ray irgendetwas dafür konnte, dass … Ein Blick auf ihren Arm genügte, um zu verzweifeln. Wieso glaubte er das bloß? Was brachte ihn dazu, an diese Idee festzuklammern, egal wie oft Kyrie ihm versicherte, dass es auch wirklich nicht so gewesen wäre … „Du verschweigst ihm etwas“, erklang die Stimme ihrer Mutter leise, „Und das will er nicht … Er denkt, dass dies mit Ray zu tun hat … Dass dies der Grund ist, weshalb Ray an dieser Mauer nicht anzutreffen sein wird …“ Sie wandte sich zu Kyrie um. „Kyrie … Bitte – erzähle uns die Wahrheit … Du weißt, wer dahinter steckt …“ Sie schwieg für einen Moment. „Warum kannst du es uns nicht sagen?“ Kyrie öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn darauf hin aber gleich wieder. Was sollte sie sagen? Was nur konnte sie mehr sagen, als sie gestern bereits verlauten lassen hat? “Ich bin aus dem Himmel herabgestiegen. Ich ging ganz normal das verlassene Wohnhaus hinunter … und auf der letzten Treppe hat mich plötzlich jemand angerempelt. Ich habe keine Ahnung, wer es war – jedenfalls bin ich im Affekt gestürzt … und …“ Ihre Eltern waren skeptisch gewesen. Weshalb hatte sie diese Geschichte dann keinem Arzt gesagt? Es hatte doch nichts mit dem Himmel zu tun … Ihre Ausrede, einfach nicht sicher gewesen zu sein, hatte keine Wirkung erzielt. „John ist wirklich sehr aufgewühlt aufgrund deiner …“ Ihre Mutter unterbrach sich plötzlich mit einem „Oh!“. Kyrie schaute zu ihr – dann folgte sie ihrem Blick zum Telefon. „Und ich habe mich schon gefragt, weshalb schon seit Tagen niemand mehr angerufen hat …“ Die Frau legte sämtliches Geschirr nieder und machte sich zu der Fernsprechanlage auf. Kyrie erhob sich ebenfalls und folgte ihrer Mutter zu dem kleinen Gerät. „Telefone braucht man in Zeiten von Handys doch nicht mehr“, behauptete Kyrie leise, „Wieso haben wir das überhaupt noch?“ „Weil ich mich gegen Handys weigere“, kam das alte Argument ihrer Mutter, während diese sich hinunterbückte, um ein Kabel anzuschließen. „Alles in Ordnung? Soll ich dir helfen?“, fragte Kyrie besorgt. „Nein – alles wieder in Ordnung“, lehnte ihre Mutter freundlich ab und stellte sich wieder auf. Dann rieb sie sich die Hände. „Wozu braucht man denn Männer?“, warf sie rhetorisch in den Raum – und höchst selbstzufrieden. „Wieso war das ausgesteckt?“, wollte Kyrie wissen, während sie das Gerät musterte. Das Kabel wirkte recht stabil und schien gut zu stecken. Und keiner würde an der letzten Ecke der Küche so stolpern, dass er das Kabel unbemerkt entfernte … „Gute Frage“, murmelte ihre Mutter, „Aber das ist doch auch egal, oder? Einige Tage ohne ständige Erreichbarkeit sind auch schön!“ Sie lächelte. Dann ging sie wieder zurück, um dem Geschirr den letzten Schliff zu geben. „Ich habe deine letzten Kleider übrigens bald fertig. Dann kommt die Winterkollektion.“ „Danke“, sagte Kyrie erfreut, „Ich gehe dann ins Wohnzimmer … Bringst du mich hoch, sobald du Zeit hast?“, fragte sie ein wenig unbeholfen. Es war seltsam, jemanden darum bitten zu müssen, einem beim Gehen zu helfen … Aber hoffentlich nur noch bis morgen … Hoffentlich … Wenn alles so verlief, wie die Ärzte das vorausgesagt hatten, dann konnte sie bereits ab Montag oder Dienstag wieder zur Universität … und Ray würde … würde dann hoffentlich da sein … Hoffentlich … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)