Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Ray starrte noch immer zum Parkplatz hinüber. Er musste wirklich wie jemand wirken, der bestellt, aber nicht abgeholt worden war. Ein armseliger Anblick vermutlich. Aber das war ihm wiederum egal! Er wollte wissen, was um ihn herum los war. Erfahren. Gründe! Irgendetwas. Plötzlich fuhr ein schwarzes Auto auf den Parkplatz – heute hatte er bereits viele schwarze Autos beobachtet, doch dieses eine stach besonders hervor – und parkte. Aufgeregt machte er sich größer. Und größer. Und beinahe fiel er von der Mauer – doch er versuchte, so viel Platz einzunehmen, wie nur möglich, um ja nichts zu verpassen – um nicht übersehen zu werden. … Und eine Welle der Enttäuschung schlug über ihn herüber, als zwei alte Herren ausstiegen und dabei fröhlich vor sich hin lachten. Nicht Kyrie. Nicht ihr Vater. Nicht ihre Mutter. Die beiden Herren hasteten plötzlich von dem Auto vor und deuteten aufgeregt in eine Richtung. Nichts … Er sank wieder in sich zusammen und seufzte. Eine Stunde würde er noch warten. Wenn sie in einer Stunde auftauchten, dann würde er hier sein und sie empfangen. „Wow, das muss aber ein echt tragischer Arzttermin gewesen sein, wenn du hier herumlungerst, als hätte man dir von der Apokalypse berichtet!“ Diese Stimme kannte er. Er drehte sich in die Richtung, die vom Parkplatz weg führte und machte Ted aus, welcher lässig grinsend auf ihn zu kam und sich dann vor ihm platzierte. „Was tust du hier?“, wollte er wissen, „Holt dich deine Freundin mit dem Auto ab oder was?“ Freundin? Woher wusste … oh, nein – er sagte das nur so. „Nein. Ich warte hier nur auf jemanden“, nuschelte Ray und hoffte, dass man ihm seine Verwirrung nicht angesehen hatte. „In letzter Zeit wirkst du total niedergeschlagen. Mark hat mir auch gesagt, dass du nicht mehr der alte, lässige Ray bist! Und sogar der schreckliche Ken macht sich Sorgen um dich!“, erklärte Ted, wobei er die Arme verschränkte. „Und wenn es sogar mir auffällt, muss es Liebeskummer sein.“ Sein Studienkollege lehnte sich an die Mauer und starrte Ray an. „Du weißt, dass du mir alles in Sachen Frauen und rechtliche Angelegenheiten mitteilen kannst.“ Er grinste unaufhörlich. „Ich habe das Herz am rechten Fleck!“, fügte er hinzu und schien gerade noch verhindern zu können, über sein eigenes Wortspiel in schallendes Gelächter auszubrechen. Ray seufzte. Diese Wortwitze mit Rechtswissenschaften waren einfach … Ted. Vermutlich aber hatte er Recht. Sogar Ted hatte mitbekommen, dass er die Gespräche mit Kyrie vermisste. Dass es ihn beinahe umbrachte, nicht zu wissen, was mit ihr geschehen war! Warum sie so plötzlich verschwunden war … Aber … Liebeskummer? Bitte? Nein. Er vermisste nur seine Mauerfreundin. Sie war jeden Tag hier gewesen – war es da nicht selbstverständlich, dass er sich sorgte und sie vermisste? Doch … irgendwann musste er mit der Sprache raus rücken. Er musste mit jemanden darüber reden. Aber war Ted dafür der Richtige? Nun – wenn er dachte, dass Ray irgendetwas Tieferes für Kyrie empfand, dann würde er seine Finger von ihr lassen. Damit wäre sein Hauptproblem beiseite geschafft … und Ted konnte mit geistreichen Sprüchen und Ideen helfen. Es war irgendwie ziemlich besitzergreifend, solches Gefahrenpotenzial von ihr – ohne ihr Wissen – fernzuhalten, aber … Er würde es nicht aushalten, wenn sie … Nein. Das war nicht das Thema. Kyrie war nicht einmal da. Vielleicht würde sie nicht kommen. Vielleicht würde sie nie wieder kommen! Heute würde sie jedenfalls nicht mehr kommen. Es war bereits spät. Zu spät. Dann kam ihm plötzlich eine Idee. „Ich habe hier in der Stadt einen Freund“, log er darauf los, ohne sich tiefere Gedanken darum zu machen, „Er ist ein alter Spielkamerad von mir. Wir haben zufällig manchmal gleichzeitig aus und treffen uns dann hier, um über alte Zeiten zu plaudern.“ Nicht gerade intelligent und keinesfalls durchdacht, aber … gegen Ted würde es nützen. Und es war viel besser, als zuzugeben, dass Kyrie seine Mauerfreundin war. Ted schaute mitfühlend drein. „Dieser Freund taucht aber seit etwa einer Woche einfach nicht mehr auf und meldet sich nicht mehr. Und ans Telefon geht er auch nicht – ich mache mir Sorgen, aber ich weiß nicht, wie ich ihn erreichen soll.“ Ted nickte verstehend. Dann runzelte er kurz und nachdenklich die Stirn und schlug daraufhin vor: „Wenn er ein alter Freund von dir ist, kannst du ihn ja besuchen.“ „Darauf wäre ich sogar selbst gekommen, Schlaumeier“, fuhr Ray ihn ungehalten an, da er ihm so etwas wohl zutrauen hätte können. „Aber ich weiß nicht, wo er wohnt. Im Westen der Stadt. Seine Eltern fahren ein schwarzes Auto.“ Er brauchte jetzt keine offensichtlichen Antworten – er brauchte weise Ratschläge. … Er hätte sich irgendeinen Psychologen als Freund suchen sollen. … Oder einen Kerl aus der Stadtverwaltung. „Im Westen wohnt mein Opa!“, rief Ted erfreut aus. Und plötzlich starrte er Ray schockiert an, wobei er sich panisch umschaute. „Mein Opa!“ Ray schaute verstört drein. „Wie bitte?“ „Wo ist er? Mein Opa? Er sollte sich hier mit seinem Kumpel aufhalten, um auf das Auto von meinem Vater aufzupassen, bis ich da bin!“ Noch einmal ließ er seinen Blick hin und her schweifen. „Wo ist er hin?!“ Plötzlich wirkte er erleichtert. „Das Auto ist noch da! Also kann er noch nicht weit sein!“ Ray folgte dem Blick seines Freundes. Ironischerweise war es das Auto, aus dem die beiden Pensionisten ausgestiegen waren. „Ja, dein Opa ist in etwa in diese Richtung gegangen“, erklärte Ray gestikulierend, woraufhin er die zwei alten Männer gleich lachend bei einem alten Sportwagen fand. „Ich denke, es geht ihnen gut.“ Ted seufzte erleichtert. „Danke, Ray! Das hat mir jetzt einen Schrecken eingejagt! Mein Opa ist nämlich etwas … na ja … abenteuerlustig.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich schulde dir was.“ Das Wort „Idee!“ stand ihm plötzlich ins Gesicht geschrieben. „Ich fahr mit dir den Westen ab! Dann kannst du nach deinem Freund suchen – meine Schulden sind beglichen, ich habe mein Auto und meinen Opa muss ich sowieso dort absetzen. Er hat nur seinen Freund hierher gebracht, da dieser bald von seinem Sohn abgeholt wird.“ Ray staunte nicht schlecht. „Ernsthaft?“, vergewisserte er sich. Er hatte immerhin nichts getan. „Natürlich! Freunde tun so was füreinander! Und mein Opa liebt dich bestimmt genauso wie ich!“ Ted grinste. Ray blinzelte überrascht, dann bat er trocken: „Bitte sag so etwas nicht in der Öffentlichkeit.“ Ted stieß Rays Schultern an, um ihn nach vorne zu treiben. „Komm schon! Mein Opa hat nicht ewig Zeit!“ Und damit ließ sich Ray überzeugen. So etwas nannte sich dann wohl „Wink des Schicksals“ oder so ähnlich. Wenn einem eine Gelegenheit wie diese geboten wurde, durfte man sie nicht ausschlagen. Er würde Kyries Auto erkennen, wenn er es sah. Da war er sich sicher. Sie würden es nur finden müssen. „Danke, Ted“, sagte er leise, als er zusammen mit seinem Freund und dessen Opa ins Auto stieg. Kyrie war überrascht, als sie die Straßen langsam wiedererkannte – und als sie feststellte, dass es nicht diejenigen in der Nähe ihres Zuhauses waren, sondern jene, die in Richtung der Universität lagen. Eine … erfreuliche Überraschung! Wenn Ray auch hier war. Schlagartig wurde sie nervös. Was wenn er hier war? Wenn er sie so sah? Würde er sich Sorgen machen? Hätte sie sich doch zuerst auskurieren sollen? … Aber dafür hatte sie keine Zeit. Jeder Tag, den sie nicht dazu nutzte, ihm die Situation zu erklären, konnte dazu führen, dass sie sich auseinander lebten. Wer wusste, was innerhalb von zwei Wochen geschehen konnte? Was wenn er in der Zwischenzeit ins Rote Dorf zurückgekehrt sein würde, ohne dass sie davon erfahren würde? Was sollte sie dann tun? Im Sekretariat nachfragen? Würden sie ihr überhaupt Auskunft geben können? Sie wusste es nicht. Aber wenn sie ihn sah, dann würde sie ihm seine Handynummer abnehmen – das schwor sie sich. Diese Unsicherheit war kaum auszuhalten! „Alles in Ordnung, Kyrie?“, fragte ihre Mutter besorgt, „Du wirkst so aufgeregt.“ Plötzlich lächelte sie wissend. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Mutter Gedanken lesen konnte. Sie lächelte einfach zurück. „Ich freue mich einfach, dem Krankenhaus entkommen zu sein“, gab sie zurück. „Ich bin immer noch dafür, dass dir diese Aktion zu anstrengend sein wird“, beharrte ihr Vater unwirsch, „Du musst dich auskurieren und dann mit der Regeneration anfangen.“ Zumindest sprach er sie nicht mehr auf die Geschehnisse an. Sie war noch nicht ganz mit einer Ausweichgeschichte zufrieden. Xenons kalte Augen und Jeffs und Drakes Angriffe und Schwerter verboten es ihr, zulange über das Gesamte nachzudenken. Es zog sie dabei innerlich zusammen und sie fror … Nein, sie durfte jetzt nicht darüber nachdenken. Ray war wichtiger. „Ja“, stimmte sie nachgiebig zu, „Ich weiß. Aber ich muss Ray benachrichtigen …“ „Ja, das verstehst du nicht, John“, half ihre Mutter ihr aus, „Du hättest dich bestimmt auch um mich gesorgt, wenn ich plötzlich nicht mehr bei dir aufgetaucht wäre.“ John brummte etwas Unverständliches. Dieser Vergleich war etwas … überzogen. Aber er traf es genau – ihr Vater musste doch verstehen, dass man sich sorgte. Seine Pfarrgemeinden sorgten sich bestimmt auch, weil er bereits seit Dienstag keine Messe mehr gehalten hatte … „Wir sind da“, sagte John dann gleichgültig, suchte sich einen freien Parkplatz und stoppte den Motor. Kyrie schaute neugierig aus dem Fenster. Nichts hatte sich verändert. Die Menschen strömten noch immer den Weg entlang. Leute im Anzug. Leute in Alltagskleidung. Gestresste Leute. Lockere Leute. Und keiner dieser Leute wusste, dass sie gefehlt hatte. Nur einem würde es aufgefallen sein … Aber soweit sie sah, war er nicht hier. Als sie einen Blick auf die Uhr warf, welche noch schwach aufleuchtete, erkannte sie, dass es gerade nicht mehr in der Zeit gelegen hatte, die sie normalerweise miteinander verbracht hätten. Vielleicht war er bloß schon gegangen? Vielleicht war er noch in der Vorlesung? Vielleicht … vielleicht war er auch krank …? Oder vielleicht war er gar nicht hier. Vielleicht wollte er gar nicht mehr auf sie warten … Vielleicht hatte er schon viel zu lange gewartet. Ihre Mutter schaute sie von der Seite her an. „Komm, schauen wir nach“, sagte Magdalena mit Optimismus in der Stimme, „Er kann ja nicht weit sein!“ Kyrie strengte sich an, doch sie fand ihn nirgendwo … „Ja …“, gab sie nach, „Vermutlich sehe ich ihn bloß nicht.“ John seufzte und stieg aus, wobei er sich draußen noch einmal umsah. Er öffnete den Kofferraum, um den Rollstuhl rauszuholen und ging mit diesem dann zu Kyrie. Magdalena entfernte sich ebenfalls aus ihrem Sitz, um ihrem Mann beizustehen. Zusammen brachten sie Kyrie auf den Stuhl. Und dann schoben sie sie langsam über den Asphalt, der viel ebener war, als jener vor dem Krankenhaus. Oder Kyrie war gefasster. Sie spannte die verbliebenen Reste ihrer Muskulatur an, um so groß wie möglich zu wirken und wurde dann erhobenen Hauptes den Weg entlang geschoben. Die Menschen stellten ihrem Gefährt instinktiv aus, doch keiner beachtete sie weiter. „Stopp“, befahl sie, als sie die Stelle erkannte, an der Ray und sie sich immer trafen. Aber er war wirklich nicht hier … Also hatte er nicht gewartet … Das war vermutlich auch besser so … „Ich denke, wir brauchen nicht weiter zu suchen“, erklärte sie leise. Und gefasst. Er war also nicht da … Wirklich nicht … Der letzte Hoffnungsschimmer in ihr erlosch. Schade … Sie hätte sich gefreut, ihn zu sehen. Teds Opa lebte am Anfang des westlichen Bezirks. Sie ließen den alten Mann aussteigen, woraufhin dieser fröhlich den Wagen verlassen hatte und in sein Haus gegangen war. Ray empfand den Mann als sympathisch, da er einige Scherze von sich gab und immer einen kecken Spruch auf den Lippen hatte. Aber sein Blick ließ nicht vom Fenster ab. Es gab viele schwarze Autos. Doch keines war so klein und auffällig wie das von Kyries Eltern. Es existierten große, schwarze Autos. Mittlere, schwarze Autos. Lange, schwarze Autos und auch winzige … Aber dieses eine, nach welchem er suchte, begegnete ihnen nirgendwo. Allerdings hätte er auch nicht so genau gewusst, wie er Kontakt aufnehmen sollte, falls er einen Glückstreffer landen würde. Er konnte immerhin nicht einfach während der Fahrt die Tür aufreißen oder einfach irgendwo umdrehen, um sie zu verfolgen … Seit wann nur machte er so ungeplante Dinge? Das war doch gar nicht seine Art! … Es war auch nicht seine Art, irgendeinem Mädchen durch die halbe Stadt nachzujagen. Vielleicht war Kyrie ja wirklich etwas sehr Besonderes. Seine Mauerfreundin, die seine Geschichte kannte, die ihn wirklich zu verstehen schien … Er hatte ihr sein tiefstes Geheimnis anvertraut … Natürlich war sie etwas Besonderes. Nur wie besonders? Nun fuhren sie bereits eine Weile in sehr langsamem Tempo sämtliche Blöcke ab, die zum Westen gehörten. Ray hatte Ted eine möglichst genaue Beschreibung vom Auto und von Kyries Vater gegeben, sodass er auch genau wissen würde, wonach er im Moment suchte. „Also ist er ein Pfarrer“, murmelte Ted nachdenklich, „Lebt er dann nicht in einer Kirche?“ „Bestimmt nicht“, gab Ray zurück, „Niemand lebt in Kirchen.“ „Dann leben sie bestimmt in einem kleinen Einfamilienhaus ohne Garten. Das Auto wird bestimmt auf diesen Hausparkplätzen geparkt“, fügte Ted hinzu, „Das kennen so reiche Schnösel wie du ja nicht“, neckte er ihn dann. Er war einer der wenigen, die vom Reichtum seines Vaters wussten. Und auch einer jener, die es nicht weitersagen würden. Er kam immerhin auch nicht von schlechten Eltern. Deshalb war es bei Ted bereits das zweite Studium – darum war der Mann auch fünf Jahre älter als er und hatte damit schon seine Fahrberechtigung. Ray hoffte, diese auch bald zu erlangen. Von anderen abhängig zu sein, war ein unschönes Gefühl. Wenn er ein Auto hatte, würde er irgendwie dafür sorgen, dass endlich Straßen zwischen den Städten gebaut werden würden – egal, was die Umweltforscher davon hielten! „Such einfach weiter“, meinte er leise und sah sich weiter um. Er durfte nicht genervt sein, nur weil er sie nicht fand. Ted konnte nichts dafür und tat sein Bestes … Nur war sein Bestes nicht gut genug, wie es schien. Einige Häuser wirkten einfach so, als würde eine kleine, nette Person wie Kyrie darin gut leben können. Breite Fußwege führten durch diese Gassen, welche allesamt zu verlassenen Hochhäusern führten. Den Westen nannte man manchmal Verlassenschaft, da er früher die ruhmreichste Gegend gewesen war, dann aber abgebaut hatte und letztendlich vom Norden, in dem sich die Villen, die Universitäten und die Krankenhäuser befanden, überholt wurde. Jetzt hatte der Westen nicht einmal mehr ein eigenes Einkaufszentrum. Weshalb sie diese hohen Türme, die Überreste des einstigen Glanzes, stehen ließen, wusste Ray nicht. Aber es interessierte ihn auch herzlich wenig. „Wie sieht denn eigentlich dein Kamerad aus?“, wollte Ted daraufhin wissen, „Das hast du mir vorenthalten.“ Er hielt kurz inne. „Das könnte für mich theoretisch von Nutzen sein.“ Er klang, als wäre er leicht genervt von Ray. … Gut, er hatte vermutlich Grund dazu. … Und trotzdem half er ihm. Ted war einfach zu nett. Ray seufzte. Es würde nichts nützen, das geheim zu halten. „Lange, schwarze Haare, eher klein und er trägt am liebsten weiße Stiefel.“ Rein aus Interesse musterte er Teds Gesichtsausdruck kurz, welcher ziemlich verzerrt und äußerst verwirrt wirkte. „Weiße Stiefel?“, wiederholte er, „Wir reden schon von einem Mann, oder?“ Ray antwortete nicht mehr, starrte weiterhin aus dem Fenster, auch wenn er den äußerst neugierigen Blick seines Freundes im Rücken spürte. „Solltest du nicht eher auf die Straße achten?“, fragte Ray beiläufig, wobei er die Umgebung im Auge behielt. Viele schwarze Autos parkten. Doch keines davon kam ihm annähernd bekannt vor. Ob sie überhaupt zuhause waren …? „Ich fahr dann dort rüber“, unterbrach Ted ihn plötzlich, „Ich habe Hunger.“ „Bekommst du nichts zuhause?“, fragte Ray ungeduldig. Er hatte auch nicht ewig Zeit! Aber für Kyrie musste er sich Zeit nehmen. „Nein, ich hol mir immer etwas bei solchen Imbissecken“, klärte Ted ihn auf, wobei er in die Auffahrt des Imbissladens fuhr, sodass er nicht aussteigen musste und durchs Fenster bestellen konnte, „Zuhause ist nie jemand, wenn ich komme und ich bin zu faul, mir selbst was zu machen“, fügte er dann noch hinzu, „Willst du auch was?“ „Nein, danke“, lehnte Ray ab, wobei er seine Arme verschränkte. … Er würde immerhin zuhause etwas bekommen … Er konnte es sich kaum vorstellen, dass niemand zuhause war. Im Roten Dorf hatte er immer Diane, ihren Verlobten oder Kylie gehabt, die für ihn mitgekocht hatten … und hier: Kim. … Wobei er diese ja nie darum gebeten hatte! … Aber vielleicht sollte er es doch mehr schätzen, dass er immer etwas Selbstgemachtes bekam … Er schaute aus dem Fenster. Neben sich sah er nur die Imbissecke. Als er kurz in den Seitenspiegel blickte, raste ein schwarzes Auto über die Kreuzung. Wenn sie das gewesen war, dann wollte … keine Ahnung … Gott nicht, dass sie sich jetzt trafen. Er hatte so lange gewartet. So lange gesucht. Wenn es Fairness in dieser Welt gab, dann würde sie es nicht gewesen sein. Ted bestellte sich einen Hamburger. Als dieser fertig war und Ted wieder auf die Straße fuhr, steckte er sich das Essen in den Mund. Ray hoffte, dass das gut ging. Er nahm den abgebissenen Burger in eine Hand und lenkte mit der anderen. „Wie lange willst du noch suchen? Langsam, glaube ich, haben wir den Westen ziemlich abgeklappert!“, erklärte Ted. Dann kaute er hörbar. „Ich rufe noch schnell einmal an. Vielleicht geht sie ja jetzt ran“, hörte er sich sagen. War er wirklich der Hoffnung, der blanken, dummen Hoffnung, dass es sich bei jenem kleinen, schwarzen Flitzer um genau das gesuchte Auto handelte? Warum nur hatte er das Gefühl, dass es genauso war? „Tu, was du nicht lassen kannst“, antwortete Ted nur schwer verständlich, da er gerade Burger im Mund zerkleinerte. Ray holte sein Handy hervor und suchte die Nummer der Kingstons heraus. „Sie?“, kam es plötzlich von Ted und er starrte Ray fragend an. Ray drückte sich das Mobiltelefon ans Ohr. Aber nichts tat sich. Einfach gar nichts. Kein Fehlzeichen. Keine Fehlmeldung. Kein Anrufbeantworter. Nichts … Als existierte das Telefon gar nicht. Hatten sie die Nummer gewechselt, weil er angerufen hatte? Das … das konnte doch nicht … Er legte auf. „Ich denke, wir können es lassen …“, gab er sich geschlagen. Irgendwie fühlte er sich fertig. Als hätte er sein ganzes Maß an Hoffnung in die heutige Suche gesteckt und wäre jetzt mit der Realität konfrontiert, dass alles umsonst gewesen war. Dass er nicht nur seine, sondern auch Teds Zeit verschwendet hatte. „Wie komme ich nach Hause?“ „Mit Taxi Ted!“, war die fröhliche Antwort voller Elan, „Aber nur, wenn du mir mehr über deinen Spielkameraden erzählst!“ Er grinste. „Mehr Wahrheit!“ John schob Kyrie ins Haus, während Magdalena ihre Sachen an sich nahm. Kyrie trug eines jener Kleider, die Magdalena für sie gemacht hatte. Aber es war hinten noch zugeschlossen. Sie würde es zerstören, wenn sie ihre Flügel ausbreitete. Deshalb nähte seine Frau auch derzeit all ihre Kleidung um. Kyries Haar war zu einem Zopf gebunden, sodass es sie nicht störte. Sie war so schon eingeschränkt genug, da mussten ihre langen Haare sie nicht noch mehr einschränken. Er fand, dass sie sie kürzen sollte. Sie waren ohnehin mittlerweile viel zu lang. Aber seine Tochter war einfach dagegen. Er stellte sie im Eingangsbereich ab. „Ich fahre noch schnell zum Einkaufen“, erklärte er seiner Familie, „Bleibst du derweil hier im Erdgeschoss?“ Er schaute seine Tochter an. Ihre dunklen Augen hafteten auf ihm. Dann nickte sie. „Wir brauchen viel Brot“; wies Magdalena ihn an. Danach widmete seine Frau sich seiner Tochter. „Bis nachher“, verabschiedete John sich und schloss die Tür hinter sich zu. Seit Ray nicht aufgetaucht war, hatte keine der beiden Frauen mehr einen Ton gesagt. John wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Wie er das einschätzen sollte. Scheinbar schien es beide ziemlich zu stören – aber er persönlich war froh darüber. Das hatte dem Jungen eine Tracht gedanklicher Prügel erspart! Oder zumindest ein Verhör seinerseits. Immerhin war er Pazifist. Wofür hatte er sich entschuldigt? Was fand sie nur an ihm, dass Kyrie ihn so unbedingt sehen wollte? Und vor allem: Wie konnte er es wagen, anzurufen, wenn er dann noch nicht einmal das Durchhaltevermögen besaß, auf sie zu warten? Oder war der Anruf die letzte Chance? Und er hatte die Beziehung seiner Tochter zu diesem Mann zerstört? Er stieg ins Auto. Nein. Absurd. … Oder sollte er sich doch bei Kyrie entschuldigen? Ihr von dem Anruf erzählen? Es wäre wohl das Vernünftigste. Er schaute in den Himmel, als er den Motor startete. Da war nichts. Einfach nichts. Er würde es ignorieren. Nach dem Einkaufen musste er auch noch kurz zur Kirche, um sich wieder anzumelden. Da konnte er Gott für seine Hilfe bei Kyries Genesung bedanken – und er konnte ihn fragen, was er von Ray hielt. Beim Beten würde er die Wahrheit erkennen. Beten, predigen, zuhören - Kyrie ging es wieder besser. Das bedeutete, dass alles wieder seinen Alltag bekommen konnte. Er seufzte erleichtert. Endlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)