Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Nathan kam schon ziemlich ins Schwitzen, als er sich noch einmal aufzwang. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Da nützte auch die Heilkraft des Himmels nichts – immerhin war er nicht verletzt. Und genau darin bestand der Sport: Konditionstraining und Muskelaufbau. Einen Körper wie den seinen bekam man nicht vom Faul-Herumsitzen. Erschöpft blieb er liegen. Sein Kopf ruhte auf dem Wolkenboden, seine Beine lagen noch auf der Treppe. Es musste für Außenstehende wohl so wirken, als wäre er gestürzt und liegen geblieben. Vielleicht hätten sie ihm geholfen – wenn da nicht zwei kichernde Frauen gestanden hätten, ein entnervt seufzender Mann und ein Sportstiger mit niemals endender Kondition. Thierry vollführte weitere Übungen, als würden sie das jetzt nicht schon seit sicher fünfzehn Minuten durchziehen. „Weißt du …“, kam es von seinem Sportsfreund, „… Du vernachlässigst dein Training. Du verbringst zu viel Zeit im Büro.“ „Ich bin deine nächste Todsünde“, murrte Nathan leise, ohne ihn anzusehen, „Ich muss das tun.“ „Gib nicht damit an“, schnarrte Deliora sofort und beugte sich tadelnd über ihn, „Du bist nicht die einzig wichtige Persönlichkeit.“ „Ich hab doch nicht …“, wollte er sich rechtfertigen, wurde allerdings barsch von Liana unterbrochen. Sie schnauzte: „Entwickle mehr Pflichtbewusstsein!“ Schnaufend erhob er sich langsam und vorsichtig. Zum Glück gab es im Himmel keinen Muskelkater – der würde nämlich geheilt werden. Das war wohl das, was er auf der Erde nach dem Sportunterricht am meisten vermisst hatte: Heilung. Von Muskelkater. Er hasste diese Milchsäuregärung. „Wer war denn letzte Woche nicht anwesend?“, gab er ungehalten zurück, „Wohl nicht etwa ich? Nein? Du. Ah, stimmt.“ Er schaute seine beiden Freundinnen unbeeindruckt an. „Sie hat jetzt Prüfungen. Da hat sie nicht einfach so den ganzen Mittwochnachmittag über Zeit.“ „Aber …“, wollte Liana widersprechen. „Nichts aber“, gab er dazwischen, „Gleiches Recht für alle – sie hat sich letzte Woche ja sogar danach erkundigt. Da wird es auch gleich ausnutzen.“ Schließlich schaffte er es, sich ganz zu erheben, ohne seine Erschöpfung zu fest preiszugeben – Joshuas Blick erstach ihn beinahe mit Sorge. Er deutete auf sich selbst. „Ich kenne sie jetzt schon seit zwanzig Jahren. Ich weiß, wie sie tickt. Beim Ruf hättet ihr sie erleben müssen.“ Er grinste. „Keine Bange – wenn sie dann zum nächsten oder übernächsten Mittwochstreffen erscheint, wird sie euch Folgendes zurufen.“ Er machte eine dramatische Pause und räusperte daraufhin, wonach er mit verstellter Stimme rief: „Leute! Leute! Ich bin im nächsten Semester! Ich habe es geschafft! Klassenbeste!“ „Ja – gut … Ich … Du hast vermutlich recht … Aber können wir sie dann nicht kurz besuchen?“, wollte Liana wissen, „Ich habe sie jetzt schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen! Ich vermisse meine Kyrie!“ Deliora nickte. Thierry stoppte seine Übungen und starrte ihn entschlossen an. Joshua wirkte emotionslos, doch Entschlossenheit war auch in den Tiefen seiner Augen, beinahe verborgen, zu finden. „Nein“, sagte er fest, „Wir haben beschlossen, dass wir uns hier treffen. Jeder, der hierher kommt, hat Zeit. Was hättest du denn letzte Woche gesagt, wenn wir dich einfach so aufgesucht hätten, um deine Zeit, die du anders einzusetzen geplant hast, zu verwenden, Liana?“, forderte er zu wissen. Felsenfest und hart. Es war eine Lektion für Kyrie – falls sie nicht wirklich lernte, würde sie so zumindest erfahren, dass er genau das meinte, was er sagte! Sie könnte fernbleiben – und sie würden ohne sie Spaß haben. Selbst Schuld, wenn sie es unbedingt herausfinden wollte. „Also gehen wir jetzt?“, fragte Deliora zweifelnd. Nathan nickte fest entschlossen, bestimmt und ohne zu zögern. „Natürlich.“ „Zeit mit Kyrie verbringen …“, stellte Liana trocken fest, „Ohne dass diese anwesend ist?“ Nathan bejahte. „Immerhin ist es ja auch ein Treffen zwischen uns. Ich sehe euch genauso nur mittwochs wie auch Kyrie!“ „Na dann los!“, rief Thierry munter und sprang auf, wobei er mitten im Sprung seine Flügel komplett ausbreitete und damit in die Höhe stieg, „Wer zuerst beim Turnierplatz ist, hat gewonnen!“ Und schon düste er los. Liana schaute Nathan noch einmal verständnislos an, folgte Thi dann aber wortlos. Deliora und Joshua blieben bei ihm stehen und beide sahen ihn anklagend an. „Thierry wollte sie heute persönlich zu seinem nächsten Turnier einladen. Dieses findet in genau fünfzehn Tagen statt“, erklärte sie ihm gereizt, „Wie lange dauern die Prüfungen denn?“ Es war einfach erstaunlich, dass sie alle keine Ahnung von den Menschen hatten. Die Erfahrungen, die er gesammelt hatte, waren einfach … unersetzlich. „Eine Woche“, erklärte er, „Wenn sie nächsten Mittwoch also wieder nicht auftaucht, schreibt sie vermutlich gerade eine Prüfung. Also können wir in zwei Wochen bestimmt wieder mit ihr rechnen.“ Da war es sich ziemlich sicher. „Verstehe“, sagte Deliora und stieg hoch empor, um daraufhin davonzufliegen. Joshua nickte. „Es klingt einleuchtend“, kommentierte er, „Gleiches Recht für alle.“ Er erhob sich in die Lüfte. Nathan folgte ihm. Schade, dass sie heute nicht kommen konnte. Es war immer sehr schön zu sehen, wie sie sich hier oben entspannen konnte und sich wohl fühlte. Aber er hatte es ja fast schon im Verdacht, dass sie seine Worte auf die Probe stellen würde. Sie war eben Kyrie. Ray trat in die Villa ein. Es herrschte gespenstische Stille. Die Autos waren weg. Also waren Kim und sein Vater fort – wie immer eben. Er spazierte vom Vorraum durch das Speisezimmer direkt in die großräumige Küche. Er hatte diese Einrichtungen noch nie benutzt – die Mikrowelle war alles, was er brauchte. Kim bereitete ihm sein Essen vor, stellte es auf die Mikrowelle, deckte es zu, er wärmte es, aß es schnell, räumte das Geschirr in die Spüle und verbarrikadierte sich bis zum Abend in seinem Zimmer. Und um halb sechs, also eine halbe Stunde bevor seine Mitbewohner zurückkehren würden, ging er wieder aus dem Haus. Heute traf er sich mit Ted Dickston und seinen Freunden. Das machte er immer ein-, zweimal die Woche. Ted war einfach ein guter Freund – und er hatte auch die Entschuldigung von letzter Woche ziemlich gut aufgenommen. Da half es wohl, dass er ein ziemlich einfach gestrickter Mensch war. Genau das war das Schöne an Ted – er sah immer nur das Offensichtliche und nahm es nie genau. Dass dieser Mann die Aufnahmeprüfung fürs Politikstudium geschafft hatte, bezeichnete Ray noch immer als ein Wunder. Das Essen schmeckte relativ gut. So wie immer eigentlich. Auch wenn er nie mehr von ihr wollte als ihr Essen, bemühte sich Kim trotzdem für ihn. Das war nett von ihr. Und das war alles. Mehr nicht. Er brauchte Kim nicht. Sein Vater brauchte Kim doch auch nicht wirklich. Er hatte Kim und seinen Vater bereits seit Wochen nicht mehr zusammen gesehen – und das war ihm auch recht so. Das konnte gerne so bleiben. Kim würde seine Mutter niemals ersetzen. Plötzlich verschwand sein Appetit. Er entleerte sein Teller in den Biomülleimer, stellte den Teller in die Spüle und setzte diese in Gang, da sie voll war. Danach verzog er sich in das übergroße Zimmer, das er sein Eigen nannte – und in dem er tagsüber etwa drei Stunden verbrachte und nachts meistens schlief. Entsprechend kahl und unpersönlich war es auch. Riesige Regale zierten die Wände. Einige davon hatte er mit Büchern bestickt. Für jedes Studium eine Regalreihe, die einige Bücher enthielt. Jeden Tag verwendete er eine Stunde auf das Überarbeiten des neu erworbenen Stoffs, sodass er auch immer am aktuellen Stand war – und natürlich erfüllte er alle Aufgaben, die die Dozenten ihnen auftrugen. Auf die Prüfungen lernte er mehr. Trotzdem würde er das Abendessen auch dann vermeiden, wenn er zuhause war. Er wusste noch nicht, wann er anfangen würde, gezielt auf die Prüfungen zu lernen. Aber er musste unbedingt in allen drei Studienfächern durchkommen. Er setzte sich auf den ausgepolsterten Bürosessel, der in etwa doppelt so viel Platz bot wie der Sessel, den er zuhause im Roten Dorf hatte. Auch der Schreibtisch hatte ein größeres Platzangebot aufzuweisen. Ziemlich erstaunlich, dass man hier in Saus und Braus lebte – und dabei so viele, unnötige Dinge besaß. Er lehnte sich zurück. Bequem war er dennoch. Anfangs hatte er sich dagegen gewehrt, sich hier wohl zu fühlen, sodass alle erfreut sein würden, zuzustimmen, dass er zurück durfte. Doch alle hatten sich quer gestellt. „Na ja“, flüsterte er an sich selbst gerichtet, „Zumindest eine gute Sache hatte es …“ Er lächelte kurz. Weshalb auch immer. Die Gedanken an Kyrie machten ihn glücklich. Doch heute war dieser Gedanke mit einer speziellen Traurigkeit behaftet – wo war sie? Hoffentlich würde sie ihn wieder sehen wollen … Wenn nicht … dann würde er wohl mit Ted seine Zeit verbringen müssen, bevor er zum Essen nach Hause kommen konnte – er wollte keine Zeit mit Kim verbringen. Und auch sein Vater sollte spüren, dass er ihm noch immer nicht verziehen hatte. Er hatte seit zwei Monaten nicht mehr mit dem Mann gesprochen. Wie sollte er auch? Sein Vater verließ das Haus zur Mittagszeit – um sechs Uhr kam er zurück. Und Ray vermied das Haus zu diesen Zeiten. Nachts machte er sich dann gegen elf Uhr auf den Heimweg und ging sofort auf sein Zimmer. Zweimal hatte sein Vater bereits versucht, um elf Uhr nachts noch mit ihm zu sprechen – Ray hatte geblockt und den Mann stehen lassen. Irgendwann würde er dieses Verhalten bereuen, dessen war sich Ray sicher. Aber noch war diese Zeit nicht gekommen. Und solange er diese Wut in sich tragen konnte, würde Ray sie auch benutzen, um zu zeigen, was er von den Menschen um sich herum hielt. Aus seiner Tasche holte er das Politikbuch. Was hatten sie für Themen besprochen? „Sie kann nicht besucht werden?“, keifte John die Frau am Schalter an, woraufhin jene zurückschreckte, „Sie erzählen mir wirklich, dass ich meine Tochter nicht besuchen darf?“ „Bitte!“, mischte sich Magdalena von hinten ein, „Wir haben sie schon seit über einem Tag nicht mehr gesehen!“ Die Stimme seiner Frau zitterte. Die Informationsdame wirkte bedrückt und mitleidvoll, doch sie lehnte ab. „Es tut mir leid“, fuhr sie kopfschüttelnd fort, „Kyrie Kingston muss sich ausruhen. Sie ist von ihrer Narkose noch nicht erwacht. Sie müssen warten, bis sie von sich aus aufwacht. Ansonsten könnten sich die Nebenwirkungen verschlimmern …“ „Wie geht es ihr?“, wollte John verzweifelt wissen, „Was hat sie? Was ist geschehen?“ „Ich … ich weiß es nicht …“, gab die Frau leise, unbeholfen zu, „Ich kann ihnen nichts sagen … Ich kann nur einen Arzt …“ „Bitte …“, flehte John, „Bitte … Ich will meine Tochter sehen. Wissen, wie es ihr geht …“ Die Frau nickte und erhob sich. „Warten Sie bitte hier …“, bat sie leise und ging zitternd fort. Sie durfte das wohl wirklich nicht. Dankbarkeit breitete sich in John aus. Gott-sei-Dank gab es noch Menschen wie sie. Menschen, die differenzieren konnten – Menschen, die helfen wollten. Leid verstanden. Sich nicht blind an Regeln hielten. Magdalena umarmte ihn von hinten, während sie warteten. Sie schwiegen. Er hielt ihre Hände, strich vorsichtig darüber – um sie zu beruhigen, wobei es auch ihm selbst half, die Nervosität, diese reißende Angespanntheit, zu unterdrücken. Um sie herum waren einige Menschen. Dennoch war es hier in der Eingangshalle des Krankenhauses ziemlich ruhig. Krankenhäuser waren Orte der Ruhe. Hier sollte man nicht stören. Die Tür hinter dem Informationsschalter öffnete sich und die Dame mit ihrem blonden Haar und den leuchtenden, grünen Augen trat wieder ein. Sie schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln. „Ein Arzthelfer begleitet Sie“, teilte sie ihnen fröhlich mit, „Viel Glück.“ „Dankeschön“, murmelte er erleichtert. Der Arzthelfer erschien sogleich und nickte ihnen zu. Sie folgten ihm schweigend. Nachdem sie im Aufzug standen, unterbrach der relativ kleine Mann mit dem braunen Rossschwanz die Stille. „Kingston Kyrie ist Ihre Tochter?“, fragte er noch einmal. „Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen!“, bot John sofort an. Er kramte bereits in seiner Hosentasche. Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein – ich glaube Ihnen. Ich … Nun – ihre Tochter befindet sich noch in einem gewöhnlichen Schlaf. Ihr geht es, den Umständen entsprechend, gut. Bitte seien Sie also still, wenn wir bei ihr sind. Sie muss sich selbst auskurieren – nur ihr eigener Körper weiß, wie viel Ruhe und Rast sie wirklich nach dieser Operation braucht.“ Er wirkte recht sachlich, doch auch etwas Mitleid schwang mit. Also konnte er noch nicht lange Arzt sein. John hatte die Erfahrung gemacht, dass Senior-Ärzte kein Mitleid mehr kannten. Magdalena nickte entschlossen. Er stimmte zu. Kyrie … Sein armes Mädchen … Sie stiegen aus dem Aufzug und folgten dem Arzthelfer schweigend. Sein weißer Mantel wehte stolz hinter ihm her. Er ging etwas steif. Es war ihm wohl unangenehm, hier zu sein. Sie waren umgeben von Ärzten, die fragend dreinschauten. Hier waren keine Patientenzimmer – hier lagen Patienten der Notoperation, die noch nicht erwacht waren. Deren Zustand häufig noch nicht bestimmbar war … Sie würden sie doch nicht anlügen, oder? Kyrie würde leben … Vor der Tür mit der Nummer 7 blieb er stehen. Sieben … eine wichtige Zahl in der Heiligen Schrift … Gott bewahre – dies sollte doch ein gutes Zeichen sein, oder? In der Tür war ein kleines Fenster eingelassen. Es war dünn und klar. Vermutlich frisch geschrubbt. John stellte sich zuerst davor. Nur eine Person konnte hindurch sehen. Sein Blick fiel auf ein Bett, welches in der Nähe der Tür stand. Das Bett war weiß überzogen. Viele Maschinen standen darum herum. Kabel waren damit verbunden. Dutzende Kabel … Und alle liefen auf der kleinen Gestalt zusammen, die dort ruhig auf dem Bett lag. Eine Sauerstoffmaske verdeckte Teile ihres Gesichts. Ihre Augen waren geschlossen, die Wangen aufgeschwollen. Langes, schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden worden und hing ein wenig aus dem Bett hervor. Das kleine Mädchen war unter einer Bettdecke, die sich langsam hob und senkte. Sie schlief … das kleine Mädchen … seine Tochter … sie schlief … Sie wirkte so ruhig und … und müde … erschöpft … Beim Anblick Kyries traten Tränen in seine Augen. Gott sei Dank. Sie lebte. Sie schlief … Sie schlief … Er konnte nicht anders, als sich sofort umzudrehen und seine Frau zu umarmen. Tränen sammelten sich in den Augen Magdalenas. Er ließ sie los, sodass auch sie zum Fenster gehen konnte. Er trocknete seine Augen mit seinem Ärmel und sah seiner Frau dabei zu, wie sie für einige Momente, die ewig erschienen, durch das kleine Fenster schaute. Plötzlich lächelte sie. Und Tränen rannen ihre Wange hinab. Der Arzt stand einfach daneben, ohne eine Regung zu zeigen, auch wenn er erleichtert wirkte. John schaute noch einmal durch das Fenster. Und so froh wie in diesem Moment war er schon lange nicht mehr gewesen. Sie lebte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)