Ma Boy von Shunya (What he wants) ================================================================================ Kapitel 3: White Flag --------------------- „Da stehen zwei Polizisten vor meinem Zimmer. Ich komme mir vor wie ein Schwerverbrecher...“, meint Andreas leise und sieht mich lächelnd an. Ich knabbere auf meiner Unterlippe. Seit gestern weiß ich, dass seine Eltern tot sind und ich habe immer noch keine Ahnung, wie ich mich ihm gegenüber jetzt verhalten soll. „Wer bist du wirklich?“, rutscht es mir ungewollt heraus. Überrascht sieht Andreas mich an. „Na, ich bin ich. Andreas Eyck. Wer soll ich denn sonst sein?“, meint er ein wenig verwirrt. „Hast du deine Eltern wirklich getötet oder war Notwehr?“ Andreas sieht mich schweigend an. „Glaubst du wirklich, ich töte zwei Menschen aus Notwehr?“, stellt er mir eine Gegenfrage. „Hör mir zu! Das ist mein Ernst!“, meine ich mürrisch und beuge mich vor. „Haben sie dich verletzt, so dass du dich aus Notwehr verteidigt hast oder hast du sie umgebracht? Hast du das geplant?“ Andreas sieht mich schweigend an. „Was denkst du?“, fragt er nach einer Weile. „Was ich denke spielt hier keine Rolle! Ist dir klar, dass du in den Knast wanderst?!“ Andreas sieht mich unglücklich an. „Sag es mir endlich! Wenn du von der Polizei verhört wirst, musst du ihnen sowieso die Wahrheit sagen!“, rede ich auf ihn ein. Andreas Lippen zittern. „We-wenn ich es sage... Ich will nicht, dass du mich für ein Monster hältst. Ich mag dich... Ich will dich nicht verlieren...“, schluchzt er, dreht den Kopf von mir weg und heult leise in sein Kissen. Ich setze mich zurück in den Stuhl, an die Lehne und seufze. „In der achten Klasse war da dieser Junge, der mir ziemlich auf die Nerven gegangen ist.“ Ich sehe zu Andreas, der mir den Rücken zugedreht hat. „Irgendetwas an ihm hat mich total gestört, aber ich weiß nicht was. Vielleicht war es seine Art, wie er andere so überheblich behandelt hat, seine schwulen-feindlichen Witze oder das er ein übergewichtiges Mädchen schikaniert hat. Keine Ahnung.“ Andreas wischt sich über das Gesicht und dreht sich mir zu. Er sieht mich mit verheulten Augen an. „Irgendwann ist bei mir wohl eine Sicherung rausgeflogen!“, erzähle ich und lache leise auf. „Ich habe ihn mitten auf dem Schulhof verprügelt, vor allen Leuten, habe ihm das Gesicht zertrümmert, ein paar Zähne rausgeschlagen und ziemlich schlimme Sachen gemacht. Als ich wieder zu Sinne kam, lag er in einer Blutlache vor mir. Irgendwelche Leute haben mich von ihm weggezerrt, Schüler und Lehrer. Er ist im Krankenhaus gelandet und lag wochenlang im Koma. Deswegen habe ich im Jugendknast gesessen.“ Ich halte inne und sehe Andreas direkt in die Augen. „Weißt du was das Schlimme an der ganzen Sache war?“, frage ich ihn. Andreas schüttelt den Kopf und reibt sich mit der Hand über die Augen. „Als ich ihn verprügelt habe, hat es mir Spaß gemacht. Ihn so wehrlos am Boden liegen zu sehen, in all dem Blut... Gleichzeitig hat es mir auch Angst gemacht. Es hat sich ziemlich schnell herumgesprochen, was ich getan habe. Klar, ich hätte die Schule wechseln können, aber wieso sollte ich auch noch klein beigeben?“ Ich schüttele den Kopf. „Ich musste mit einem Psychiater reden und danach habe ich mir geschworen, nie wieder jemanden zu verletzen! Verstehst du? Ich habe nur ein Leben und das will ich mir nicht verbauen! Ich will nicht zu jemandem werden, der Spaß daran hat, andere Menschen zu verletzen.“ „Ist er gestorben?“, fragt Andreas mich zögernd. Ich schüttele den Kopf. „Nein, zum Glück nicht. Nach meinem Aufenthalt im Jugendknast habe ich ihn besucht und mich entschuldigt. Weißt du, das ist so absurd! Ich war bei ihm Zuhause, habe gesehen, wie er mit seiner Familie umgeht, was er für ein Leben geführt hat und in der Schule war er so anders, so gehässig.“ Ich raufe mir die Haare und sehe zu Andreas auf. „Er hat mir gestanden, dass er selber schwul war und einfach nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Er hatte Angst, dass er ein Opfer werden würde und alle würden sich über ihn lustig machen, also hat er den Spieß umgedreht, bevor es dazu kommen konnte und ist vom Opfer zum Täter geworden.“ „Vom Opfer zum Täter...“, murmelt Andreas gedankenverloren. Als ich klein war, haben sie mich nie richtig beachtet. Irgendwie war ich immer nur im Weg. Ich habe länger gebraucht als andere, um eine Antwort zu geben, deswegen haben sie mich gleich für dumm gehalten.“, erzählt er und sieht an mir vorbei aus dem Fenster. „Ich wusste die Antwort, aber ich musste nachdenken, weil mein Kopf immer voller Gedanken war und ich konnte nicht sofort wie aus der Pistole geschossen antworten.“ Andreas sieht mich an und schaut mir fest in die Augen. „Ich bin nicht dumm!“ Ich schüttele den Kopf. „Nein, das bist du nicht.“ Andreas presst seine Lippen aufeinander, knabbert daran herum und scheint zu überlegen. „Mein Vater war schon immer etwas jähzornig. Er konnte sich auch nicht lange auf eine Sache konzentrieren. Wenn etwas nicht sofort geklappt hat, dann ist er sofort ausgeflippt. Er war kein schlechter Mensch, er hatte sich nur nicht gut unter Kontrolle und meine Mutter hat das auch noch gefördert, weil sie ihn herablassend behandelt hat. Er hat sie damals geschwängert und Verantwortung für das Kind, für mich übernommen. Dann ist er doch kein schlechter Mensch oder? Schlecht wäre er, wenn er Mum damals hätte sitzen lassen. Ich weiß nicht, woher genau seine Wut kam. Er hatte so viel Wut in sich aufgestaut... Durch die Arbeit, Mum, ich weiß es nicht. Irgendwas lief nicht richtig. Er hat mich nicht immer verprügelt. Er hat anfangs immer nur Sachen durchs Haus geworfen. Die Blätter hat er mal vom Tisch gefegt, wenn ihm etwas nicht gepasst hat. Kleine Sachen waren es anfangs nur, eine Tasse, die er an die Wand schlug, Schuhe hat er herumgeworfen...“ Andreas zuckt mit den Schultern. „Jeder hat mal einen Wutanfall, aber... Man lässt es nicht an anderen aus. Seine Wut oder? Die lässt man andere nicht spüren, das ist schlecht und man verletzt damit nur Leute, die man liebt.“ Nachdenklich nicke ich. „Ich war nur im Weg, zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich war doch schuld an der ganzen Misere. Hätte Mum mich nicht bekommen, dann hätte er ein ganz normales Leben führen könne, so wie er es wollte.“ „Hey, sag so was nicht! Du kannst doch nichts dafür!“, meine ich und greife nach seiner Hand. „Du bist nicht schuld daran! Dich trifft keine Schuld!“ Andreas lächelt und erwidert den Griff um meine Hand. „Er hat mich anfangs nur geschubst, ich sei im Weg, dann hat er mich gerempelt, mich heftiger geschubst und Sachen nach mir geworfen. Dabei hat er gelacht und immer gesagt: Mist! Vorbei!“ Andreas knabbert auf seiner Unterlippe und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich dachte, dass geht auch irgendwann wieder vorbei, dass er sich schon wieder beruhigt und dann sind wir wieder eine heile Familie, aber... Er hatte so eine tiefe Wut! Verstehst du, an irgendjemandem musste er sie ja auslassen und Mama war nicht so oft Zuhause. Es hat weh getan, aber ich habe nicht geheult, doch am Anfang, aber irgendwann gewöhnt man sich daran und nimmt es hin, dass man nicht mehr geliebt wird. Man spürt den Schmerz nicht mehr. Von seinem wutverzerrtem Gesicht habe ich immer noch Alpträume. Ich weiß schon gar nicht mehr wie er damals ausgesehen hat, als er immer am Lachen war. Er war früher so lieb und verständnisvoll. Er hat mich in den Arm genommen und war ein toller Vater! Aber... aber irgendwas in ihm ist kaputt gegangen...“ „Andreas, was ist passiert? Was ist Zuhause passiert?“, frage ich ihn eindringlich. Andreas schluckt und seine Mundwinkel ziehen sich herunter. „Er hat Mum nie angefasst. Er hat immer nur mich verprügelt, aber Mum nicht, die hat er verschont, obwohl sie so schlecht über ihn geredet hat!“ Andreas schluchzt auf. „Ich wollte doch nur, dass er mich auch lieb hat...“, schluchzt er und vergräbt sein Gesicht in den Händen. Hilflos sehe ich zu ihm und habe keine Ahnung, was ich machen soll. Abwartend sehe ich zu ihm, bis er sich wieder ein wenig beruhigt hat und sich die Tränen aus dem Gesicht wischt. „Warst du eifersüchtig, hast du ihn deswegen...?“ Ich wage es kaum den Satz zu beenden. Andreas schüttelt vehement den Kopf. „I-ich habe doch nur...“ Andreas schnieft. „Sie hat doch nur getrunken und... Sie ist da einfach in der Küche zusammengesunken. Sie hat nur getrunken und er war so wütend. Er meinte, sie geht ihm fremd und hat ihm das Kind aufgehalst, damit sie ihren Spaß haben kann. Ich weiß nicht, irgendwie ist alles eskaliert und ich war so sauer auf die beiden! Nicht wegen der Schläge, sondern weil sie nichts getan haben, um es wieder besser zu machen oder sich wenigstens zu trennen. Ich weiß, dass ich das nicht hätte sagen sollen und das es ihn nur wieder wütend gemacht hätte, aber irgendwie wollte ich auch nicht immer alles runterschlucken und du hast doch in der Schule gesagt, dass ich mir nicht alles gefallen lassen soll...“ Ich schlucke. Ist es jetzt meine schuld? Ist das alles passiert, weil ich ihm in der Schule dazu ermutigt habe? „Er ist wieder auf mich losgegangen und hat mich verprügelt und dann hat sie sich dazwischen geworfen! Verstehst du? Das erste Mal, hat sie sich getraut mich zu beschützen! Weißt du, wie man sich da fühlt? Ich war so glücklich, dass sie mich in Schutz genommen hat, dass sie nicht mehr einfach nur die Augen davor verschließt und teilnahmslos daneben sitzt, wenn er mich mal wieder schlägt.“ Andreas lächelt traurig und schluckt heftig. „Er hat sich ein Küchenmesser genommen und war auf Mum losgegangen. Ich wollte es ihm wegreißen, habe es sogar bekommen, aber sie war plötzlich mitten im Weg und als ich... Ich wollte das doch nicht. Sie war nur plötzlich da und dann habe ich... Ich hatte zu viel Schwung...“ Andreas presst sich die Handflächen gegen die Augen. „Da war so viel Blut und Paps hat mich angeschrien. Er hat geschrien und er war so laut, viel zu laut!“ Andreas schluchzt auf und dreht mir den Rücken zu. „Es war alles so laut...“ Ich stehe auf und setze mich zu ihm aufs Bett. Mit zitternder Hand greife ich nach seiner Schulter. Andreas atmet tief durch, nimmt die Hände vom Gesicht und sieht starr zur Wand. „Er hat nichts gemacht. Gar nichts, nur geschrien. Ich weiß aber nicht mehr was er gesagt hatte. Ich kann mich nicht erinnern. Da war so viel Blut, so vieles dunkles Blut. Alles war dreckig...“ Andreas schluckt und räuspert sich, dann dreht er den Kopf zu mir und sieht mich erschöpft an. „Er war nur viel zu laut...“, flüstert er. Mechanisch nicke ich und habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Eine einzelne Träne rinnt ihm über die Wange. „Es sollte doch keiner was merken. Ich wollte bei meiner Familie bleiben. Es sollte doch alles wieder gut werden...“ „Wie ist das mit deinem Bauch passiert? Du hast so viel Blut gespuckt. Kommt das von den Schlägen?“, frage ich ihn. „Hasst du mich jetzt?“, fragt Andreas mich unerwartet. „Was? Nein. Nein, ich hasse dich nicht!“ Andreas presst die Lippen zusammen und weicht meinem Blick aus. „Du bist kein schlechter Mensch, nur weil du deine Mutter beschützen wolltest, glaub mir!“ Bei der Sache mit dem Vater bin ich lieber still. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. In den Nachrichten hört man immer wieder wie Eltern ihre Kinder umbringen, wegwerfen oder sie im Kinderzimmer verhungern lassen. Kann man es einem Kind dann übel nehmen, wenn die Situation eskaliert? Andreas wollte bestimmt nicht so ein Leben führen. Seine Eltern sicher auch nicht. Von einer Minute auf die nächste ist es vorbei, aber macht es das besser? Was erwartet ihn jetzt? Ein Leben im Gefängnis, als Mörder seiner Eltern? Er wollte nur ein normales Leben führen, seinen Spaß haben, die erste Liebe, Freunde finden, studieren oder Geld verdienen, wie jeder andere auch. Ich senke den Kopf und lehne ihn an Andreas' Schulter. Wer bin ich schon, dass ich über ihn urteilen kann? Die nächsten Tage erholt sich Andreas sichtlich. Täglich kommt eine Frau vom Jugendamt, die Gespräche mit Andreas führt, wie es mit ihm weitergeht, was ihn vor Gericht erwartet, zusätzlich wird er ständig von der Polizei befragt, was stark an seinen Nerven zehrt. Meistens kann ich nur still da sitzen, draußen vor der Tür warten und ihm nicht großartig zur Seite stehen. Die Schule habe ich auch gewaltig schleifen lassen, was wiederum meinen Eltern nicht in den Kram passt. Natürlich haben sie Wind davon bekommen, dass ich meine Zeit im Krankenhaus mit einem Mörder verbringe und heißen es nicht gut, aber sie kennen nur die Hälfte, was in den Nachrichten berichtet wird, sie wissen gar nichts. Keiner weiß, was wirklich los ist, sie verstehen ihn nicht so wie ich! Für alle anderen ist er nur der Junge, der seine Eltern auf dem Gewissen hat, aber ich habe ihn kennengelernt, weiß wie er tickt und ich habe seinen Blick gesehen, als er mir erzählt hat, was passiert ist. Er ist kein brutaler Mörder. Es war nur eine Scheißsituation, die eskaliert ist! Dafür muss er jetzt gerade stehen, weil seine Eltern ihr Leben nicht auf die Reihe gekriegt haben! Ich greife nach meinem Handy und schaue auf die letzte SMS, die er mir geschickt hat. Stirnrunzelnd setze ich mich im Bett auf. „Was hat er dann den ganzen Tag lang gemacht?“ Die Nachricht habe ich am späten Abend bekommen. Wenn es davor passiert ist, was hat er dann die ganze Zeit gemacht? Hat er sich das Blut abgewaschen? Saß er apathisch in der Küche und hat seine Eltern angesehen? Was hat er bis zum Morgen gemacht? Als er in der Schule ankam, sah er aus wie sonst auch, ganz normal, bis er zusammengebrochen ist. Ich lege mein Handy aufs Bett und lehne mich gegen die Wand. Ich werde es wahrscheinlich nie erfahren. Was soll ich jetzt machen? So tun, als wäre nichts gewesen, damit sich jeder wieder dem Alltag widmen kann? Andreas ignorieren, ihn nicht mehr besuchen? Ich schüttele den Kopf. Nein, das kann ich nicht. Dafür wurde ich schon viel zu tief in diese Scheiße reingezogen. Himmel, ich habe Gefühle für ihn! Ich stehe auf ihn, auch wenn ich es mir anfangs nicht eingestehen wollte. Vielleicht habe ich es auch nicht richtig gemerkt. In Liebesdingen war ich noch nie auf der Überholspur. Ironisch lache ich auf. „Wir sind doch das perfekte Paar! Wir sind beide Außenseiter und keiner kann uns leiden.“ Träge lasse ich mich wieder ins Bett fallen. Mir kommt der Abend wieder in den Sinn, als ich Andreas an der Brücke gesehen habe. Hätte er sich an dem Abend umgebracht, hätte es mich wahrscheinlich nicht so sehr gestört oder? Klar, in dem Moment, in dem man es hört ist man bestürzt. Man tauscht sich mit anderen aus, aber irgendwann vergisst man die Sache, weil man sich eh nicht nahe gestanden hat. Dann beginnt wieder der Alltagstrott und man wird mit neuen Problemen beschäftigt, so dass man diese Person nach und nach vergisst, nicht mehr an sie denkt. Vielleicht manchmal noch, in ruhigen Momenten, aber dann...? Irgendwann denkt man nicht mehr daran. Ich wette in meiner Klasse hätten die Jungs nur sein Geld vermisst. Er wäre ihnen völlig egal gewesen. Nein, es wäre mir nicht egal gewesen. Gut, wir waren nicht die besten Freunde und ich habe ihn auch nicht so gut behandelt, ihn ignoriert und manchmal auch mit Worten verletzt, aber seit dem Kuss... Ich verstehe es nicht wirklich. Vielleicht sind wir ja so etwas wie Seelengefährten, wenn es so etwas wirklich gibt. Wir haben es nur nicht so schnell bemerkt, dass wir einander brauchen. „Was für eine miese scheiße...“, murmele ich und stehe vom Bett auf. Ich gehe zum Fenster und ziehe die Vorhänge zu, ehe ich mir die Klamotten ausziehe und sie auf dem Stuhl ablege. Ich gehe zum Lichtschalter, neben der Tür und lösche das Licht, ehe ich mich zum Bett taste und unter der Bettdecke verschwinde. Es ist ein komisches Gefühl einen leeren Sitzplatz in der Klasse zu haben, wenn man weiß, dass da jemand war, dem dieser Platz gehört, der aber nicht mehr jeden morgen in die Klasse kommen wird und sich dort hinsetzt. Ich schaue auf den leeren Platz und wende den Blick nach einigen Sekunden wieder ab. Es ist skurril, aber der Unterricht geht völlig normal weiter, als wäre nichts gewesen. In den Pausen redet man noch von dem Vorfall, Gerüchte kursieren und inzwischen weiß wohl nur noch ich, was wirklich passiert ist. Es klingelt zur Pause und so suche ich wie immer meine kleine geheime Raucherecke auf. Ich hocke mich vor die Wand, lehne mich dagegen und suche nach meinen Zigaretten. Blöde Angewohnheit, vielleicht sollte ich damit aufhören? Ich grinse und muss wieder an unseren Kuss denken, wie ich Andreas hier befriedigt habe und wie viel Spaß es mir gemacht hat, ihm an die Wäsche zu gehen. Tja, das war es dann wohl auch erst mal gewesen. Ich habe keine Ahnung, wann wir uns wieder nahe sein können und irgendwie vermisse ich ihn schon jetzt. Dank der Umstände mit den Misshandlungen, wurde er vorerst in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Wie es danach mit ihm weitergehen wird, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wann ich ihn wiedersehen kann. Ob ich ihn überhaupt je wieder sehe... Ich will nicht, dass du mich für ein Monster hältst. Ich mag dich... Ich will dich nicht verlieren... „Scheiße...“, murmele ich leise. Ich will ihn ja auch nicht verlieren. Ich schließe meine Augen und genieße die frische Brise in meinem Gesicht. Am liebsten würde ich ihn mir einfach schnappen und ihn irgendwo hinbringen, wo ihn nie jemand finden wird. Nur er und ich. Wir ganz allein. Schön wär's. Was bringt es uns ein Leben auf der Flucht zu führen, uns immer verstecken zu müssen, um von niemandem erkannt zu werden? Ist es das wirklich wert? Aber was haben wir sonst noch für Möglichkeiten? Viel bleibt ja nicht übrig. Ich muss warten, bis die Ergebnisse von der psychiatrischen Klinik kommen, damit man sehen kann, wie es mit Andreas weitergehen wird. Muss ein blödes Gefühl sein, von einem auf den anderen Tag Waise zu sein. Er ist ja noch nicht mal volljährig. Dann wird er wohl entweder zu Verwandten oder einer Pflegefamilie abgeschoben oder? Und wenn die ihn auch nicht wollen? Wenn sie keinen Mörder in ihrer Familie haben wollen? Nein, in meinen Augen ist er kein Mörder. Er hat seine Mutter beschützen wollen und sein Vater hat nur dafür gesorgt, dass alles eskaliert. Er hätte niemals nach dem Messer greifen sollen... Mir rinnt ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, dass Andreas' Vater ihn genauso gut hätte abstechen können, hätte Andreas nicht nach dem Messer gegriffen. Wollte sein Vater ihn wirklich umbringen?! Wollte ich den Jungen damals auch umbringen? Ich war so in Raserei verfallen, habe ihn einfach mechanisch verprügelt und konnte nicht mehr klar denken. Hätten mich die Schüler und Lehrer nicht zurückgehalten, wäre bestimmt ein Unglück geschehen und so im Nachhinein bin ich wirklich froh, kein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben. Diese Last will ich nicht tragen. Wie es Andreas wohl damit geht? Es klingelt zum Pausenende und während alle anderen ihre Klassen aufsuchen, bleibe ich in meiner kleinen Ecke sitzen und hänge meinen Gedanken nach. Schon komisch, früher habe ich mir nie Gedanken um einen meiner Mitschüler gemacht und jetzt denke ich pausenlos an Andreas. „Tja, das nennt man dann wohl Liebe...“, murmele ich und sehe grinsend nach oben, in den wolkenfreien Himmel. 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