Das Todesspiel von Sky- (Fortsetzung zu "Das Grauen") ================================================================================ Kapitel 10: Extra: Zwei Herzen, ein Schicksal --------------------------------------------- Es war kalt und die einzige Lichtquelle in der Zelle kam von den flackernden Neonröhren. Die Wände waren weiß gefliest und noch immer hing hier der Gestank von Blut in der Luft. Die namenlose Frau, die mit nichts weiterem als einem weißen Hemd bekleidet war, hatte sich noch immer nicht von den Strapazen der letzten Experimente erholt und fühlte sich völlig erschöpft. Noch immer hatte sie diesen metallischen Geschmack im Mund und spuckte die letzten Reste Blut aus. Diese elenden Mistkerle hatten ihr mal wieder ein paar Organe entfernt und es nicht für nötig gehalten, ihr eine örtliche Betäubung zu geben. Nieren, Leber, Gebärmutter und Milz waren ihr dieses Mal entfernt worden und diese schreckliche Tortur wollte einfach nicht enden, bis sie schließlich ohnmächtig wurde, als sie ihr im Unterleib herumschnibbelten. Tag für Tag war es das Gleiche, seit sie geboren wurde. Jeden Tag wurden ihr irgendwelche Medikamente gespritzt, die sie krank machten oder Organe entfernt oder Gliedmaßen amputiert, die nach minutenlangen andauernden Schmerzen und Höllenqualen wieder nachwuchsen. Aber sie konnte schreien und weinen so viel sie wollte, diese Menschen würden kein Mitleid mit ihr haben. Sie würden morgen wiederkommen und ihr etwas herausschneiden. Und es würde bis in alle Ewigkeit so weitergehen. Denn sie würde ja sowieso nicht sterben. Das hatten diese Menschen ja schon versucht. Sie hatten ihr Giftspritzen verabreicht, ihr Kugeln durch den Körper gejagt und sie unter Strom gesetzt. Und als wäre das noch nicht genug, hatte man ihr noch letztens den Kopf abgeschlagen oder mit dem Messer auf sie eingestochen um zu sehen, ob sie verbluten würde. Ach, es würde nie enden und die namenlose Frau würde niemals etwas anderes als diese weiß gefliesten Wände zu Gesicht bekommen. Noch nie hatte sie die Sonne oder den Mond gesehen, geschweige denn Kontakt zu Menschen gehabt. Natürlich mit Ausnahme von denen, die die Experimente an ihr durchführten, sie mit dem Schlauch abspritzten oder ihr Essen brachten. Und dann gab es noch die Sorte Menschen, die genau dann in ihre Zelle kamen, wenn die Kamera zufällig nicht funktionierte und sich an ihr vergingen. Ganz zu Anfang hatte sie sich noch gewehrt und jeden umgebracht, der ihr zu nahe kam, aber inzwischen nahm sie es einfach hin. Wenn sie sich wehrte, würden ihr zur Strafe noch mehr Schmerzen zugefügt werden. Die schwere Stahltür öffnete sich und drei uniformierte Männer kamen herein. Sie warfen ihr Handtuch und Seife hin und befahlen ihr, sich auszuziehen. Die namenlose Frau gehorchte und bekam einen eiskalten Wasserstrahl ab. Doch sie versuchte, die Zähne geschlossen zu halten und begann sich nun mit der Seife zu waschen. Reste von getrocknetem Blut wurden abgewaschen und dem schweren Blutgeruch gesellte sich noch ein leichter Seifenduft hinzu, der ersteren Gestank abschwächte. Nachdem sie sich komplett eingeseift hatte, wurde sie noch mal mit dem Schlauch abgespritzt. Sie warf die Seife wieder zurück und begann sich abzutrocknen. Während der Zeit zielten die Männer mit Gewehren auf sie und überwachten jeden einzelnen ihrer Schritte. Oh wie sehr hasste sie diese Menschen, die ihr diese grausamen Dinge antaten. Hätte sie nicht solche Angst vor Schmerzen, würde sie sofort auf sie zurennen und sie allesamt umbringen. Aber selbst wenn sie es schaffte, ihrer Zelle zu entkommen, würde man sie sofort wieder einfangen und einsperren. Als sie ihr Handtuch zurückgegeben hatte, zog sie sich ein frisches Hemd an und bewegte sich nicht, bis die Männer wieder draußen waren und die Tür ins Schloss fiel. Da sie sich schlecht in die nasse Ecke setzen konnte, wählte sie einen anderen Ort, um sich hinzulegen und zu schlafen. Ja, sie schlief auf dem Boden das bevorzugt in einer Ecke, wo sie das Gefühl hatte, ein wenig geborgen zu sein. Sie legte sich auf den kalten Boden und zog die Beine an. Warum nur war sie hier eingesperrt? Warum nur gab es niemanden, der ihr helfen wollte? Wenn es doch nur diese widerlichen Menschen nicht gäbe, die sie hier gefangen hielten und quälten. Dann würde sie so etwas nicht durchmachen müssen. Sie hasste die Menschen! Gerade wollte die namenlose Frau ihre Augen schließen und ein wenig schlafen, da hörte sie plötzlich ein Geräusch und sie setzte sich ruckartig auf. Hatte sie da gerade etwa eine Stimme gehört? Nein, das war sicher nur Einbildung…. Aber als sie sich näher an die Wand lehnte, konnte sie tatsächlich eine Stimme hören, die sehr jung klang. „Hallo, kannst du mich hören?“ „Wer ist da?“ „Ich heiße Dimitrij!“ Na toll, da war ein neuer Nachbar, der auch spätestens übermorgen verlegt wird oder im Leichensack endete. Und überhaupt: Was zum Henker wollte dieser Jemand von ihr? Auf Gesellschaft konnte sie gerne verzichten. Die namenlose Frau wollte sich wieder hinlegen und schlafen, aber die Stimme auf der anderen Seite der Wand sprach weiter. „Wie heißt du?“ „Ich habe keinen Namen.“ „Aber wie soll ich dich dann nennen, wenn du keinen Namen hast? Hast du keine Mama und keinen Papa?“ „Nein, ich wurde künstlich gemacht. Nenn mich wie du willst.“ „Ist es okay, wenn ich dich Anne nenne?“ Na gut, der Name war viel besser als diese entwürdigenden Dinge, als die sie von den Menschen außerhalb der Zelle bezeichnet wurde. Und je länger sie über diesen Namen nachdachte, desto mehr gefiel er ihr sogar. Dieser Name gab ihr so etwas wie eine Identität. „Warum bist du denn hier, Anne?“ „Weil ich nicht sterben kann und weil alles nachwächst, was mir abgetrennt wird.“ „Oh. Mir haben sie auch etwas herausgetrennt: Mein rechtes Auge. Sie haben es mir rausgeschnitten und mir dafür ein anderes eingepflanzt. Es tut aber ziemlich oft weh. Tun diese Leute dir auch weh?“ „Ja, sehr sogar. Oft will ich lieber sterben, als weiterhin solche Schmerzen zu spüren.“ „Hast du jemals deine Zelle verlassen? Ich jedenfalls kam in einem Krankenhaus zur Welt, aber diese Menschen haben mich meinen Eltern weggenommen.“ Soso, ein Außenweltler also. Soweit sie wusste, gab es in diesem Gebäude viele Versuchsobjekte, die in der Außenwelt zur Welt gekommen waren und nun hier waren. Anne lehnte sich mit dem Rücken zur Wand und schloss die Augen. Manchmal versuchte sie sich vorzustellen, wie die Außenwelt wohl aussah. „Sag mal, willst du hier raus?“ fragte der Junge auf der anderen Seite der Wand, der jetzt so klar und deutlich zu hören war, als säße er direkt Rücken am Rücken zu Anne. Diese seufzte und sagte einfach „Ja.“ „Dann werde ich dich befreien, wenn ich hier raus komme!“ Doch Anne lachte nur spöttisch und entschloss sich dazu, diesen Träumer lieber zu ignorieren. Aber trotzdem redeten sie jeden Tag miteinander, meist abends wenn die Lichter ausgingen. Dimitrij war ein kleiner Junge, gerade mal vier Jahre alt, der erst vor kurzem in die Zelle verlegt wurde. Und obwohl der Kleine nicht gerade Annes Altersklasse entsprach, so freute sich Anne doch, seine Stimme zu hören. Nun hatte sie das Gefühl, einen Leidensgenossen zu haben. Jemanden, der ihr einen Grund gab, die Qualen der Experimente weiter zu ertragen. Immer und immer wieder ließ sie sich gerne die Dinge beschreiben, die der Junge von der Außenwelt wusste. So verging fast ein Jahr und Anne hatte das Versprechen längst vergessen. Aber das war ihr auch nicht mehr so wichtig gewesen. Es war für sie schon ein Geschenk, dass sie jemanden zum reden hatte. Aber dann ereignete sich etwas, womit niemand gerechnet hatte und dass das Schicksal dieser beiden verändern sollte: Eine Generatorexplosion, die fast den kompletten Strom lahm legte. Viel bekam Anne in ihrer perfekt gesicherten Zelle nicht mit, nur einen dumpfen Knall und eine leichte Vibration, aber mehr auch nicht. Doch dann öffnete sich plötzlich die Tür und ein kleiner Junge mit silbergrauem Haar, der völlig blutüberströmt war, stand auf einmal da. In seiner einen Hand hielt er einen Schlüsselbund, in der anderen ein Messer. Sein rechtes Auge war eine Art schwarzes Loch, in der ein rotes Licht pulsierte. Ein dünnes Blutrinnsal floss heraus und bot einen entsetzlichen Anblick. Freudestrahlend lächelte er sie an. „Siehst du Anne? Ich hab mein Versprechen gehalten! Ich hab mein Versprechen gehalten! Jetzt können wir raus. Komm schon Anne!“ Zuerst glaubte sie zu träumen, aber Anne sah tatsächlich, dass da der kleine Dimitrij stand, neben dem die Leiche eines Wachmanns lag. „Nun komm schon, wir müssen gehen!“ Anne stand auf und lief ein wenig unbeholfen zur Tür und sofort nahm Dimitrij ihre Hand. Es fühlte sich mehr als seltsam an, Körperkontakt zu jemandem zu haben aber es war auch nicht unangenehm. Nein, es fühlte sich wie das Gegenteil von Schmerzen an, nämlich gut. Und als Anne diese kleine zarte Kindergestalt sah, wurde es ihr plötzlich ganz warm ums Herz. „Komm schon, lass uns gehen, bevor weitere Wachen kommen.“ Der Junge zerrte sie einen Gang entlang, wo überall Wachen regungslos auf dem Boden lagen. Sie alle hatten Schussverletzungen und lebten anscheinend nicht mehr. „Was ist hier passiert?“ „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich habe es inzwischen geschafft.“ „Was hast du getan?“ „Ich habe sie dazu gebracht, sich gegenseitig zu erschießen. Nur habe ich es nie richtig geschafft, mein rechtes Auge einzusetzen. Aber jetzt können wir endlich nach draußen. Und ich verspreche dir, dass du die Außenwelt sehen wirst, Anne! Egal was auch kommt.“ Doch das Gebäude entpuppte sich als ein gewaltiges Labyrinth und überall herrschte Chaos. Aber dann trafen sie auf eine Frau im Laborkittel, die drei verstört aussehende kahl rasierte Kinder bei sich hatte. Diese Frau arbeitete als Wissenschaftlerin und trug den Namen Wednesday Weather. Dank ihr konnten sie unbemerkt an den Soldaten vorbei nach draußen, bis sie den gut gesicherten Innenhof des Instituts erreichten. Dort stand ein Fahrzeug bereit, das sie fortbringen würde. Doch leider kam es anders als erhofft, denn der Wagen bekam nach einer viertelstündigen Fahrt eine Reifenpanne, sodass sie ihre Flucht zu Fuß fortsetzen mussten. Dr. Weather und die drei Kinder setzten ihre Flucht nach Norden fort, während Dimitrij und Anne sich in den Wäldern versteckten. Sie liefen, bis die Erschöpfung sie in die Knie zwang und in einer kleinen Erdhöhle versteckten sie sich dann. Dort harrten sie frierend aus und hatten sich fest umschlungen, um sich gegenseitig zu wärmen. Sie beide waren völlig verdreckt, blutverschmiert und hatten nicht die geringste Ahnung, wohin sie gehen sollten. Das alles hier war völlig fremd für sie. Sie hatten niemals Bäume, geschweige denn Gras, Blätter und Erde gesehen. Sie wussten nicht mal, was eine Straße oder ein Auto war. Jetzt, da sie die Grenzen des Instituts überquert hatten, waren sie in eine völlig fremdartige Welt übergetreten, in der sie Fremde waren. Als es schließlich abends wurde und die Sonne unterging, wagten sich die beiden aus ihrer kleinen Höhle hervor, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Außenwelt so fremd sein würde“, murmelte Anne und sah hinauf zum Himmel. „Sie erscheint mir so unendlich groß und weit zu sein.“ „Irgendwo wird es einen Ort geben, wo wir wirklich hingehören. Ich werde ein Haus bauen, nur für dich und mich und diese bösen Menschen werden dir nie wieder wehtun!“ Und mit diesen Worten kuschelte sich Dimitrij fest an sie und umarmte sie. Anne sah auf ihn herab, lächelte und streichelte zärtlich seinen Kopf. Dieses kleine Wesen hatte sie befreit, obwohl er nur ihre Stimme kannte. Ohne irgendwelche Hintergedanken oder bösen Absichten hatte er sie aus ihrer Zelle befreit, was niemand sonst für sie getan hätte. Aber warum nur machte er das? Als sie ihn das fragte, lächelte der kleine Dimitrij bloß und sagte „Weil wir Freunde sind!“ Als es dunkel wurde, setzten sie ihren Marsch fort und glaubten sich bereits in Sicherheit. Warum denn auch nicht? Es war so dunkel, dass man nichts sehen konnte und wenn sie beide etwas wussten, dann war es, dass Menschen nachts schliefen. Es würde also recht unwahrscheinlich sein, dass man sie fand. Und tatsächlich schafften sie es bis zu einer alten Jagdhütte, in der sie fürs Erste blieben. Ihre Füße waren wund gelaufen und sie waren völlig erschöpft und ausgekühlt. Doch auch in der Jagdhütte war es kalt und sie wussten nicht, wie sie für Wärme sorgen konnten. Zwar war dort ein Kamin, aber sie hatten so etwas noch nie gesehen und keine Ahnung, wozu er eigentlich da war. Aber dann fand Dimitrij ein Magazin, wo ein Bild mit einem Kaminfeuer zu sehen war und nach diversen Versuchen fand er schließlich eine Möglichkeit, Feuer zu machen. Eine helle Flamme prasselte im Kamin und wärmte ihre durchgefrorenen Körper. Sie fanden sogar Decken und Kissen, mit denen sie sich auf den Boden auf einem Bärenfell gemütlich machten und schließlich einschliefen. Es war ihre erste Nacht in Freiheit und obwohl es für jeden normalen Menschen unvorstellbar wäre, auf solch einem Nachtlager zu schlafen, kamen sich die beiden Flüchtlinge vor wie im Paradies. Wie in der Erdhöhle lagen sie eng umschlungen zusammen und fühlten sich so glücklich, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Gleich am nächsten Morgen begannen sie, nach etwas Essbarem zu suchen. Da sie leider nichts in der Jagdhütte fanden, mussten sie das essen, was sie finden konnten. Sie versuchten wirklich alles, um nicht verhungern zu müssen. Angefangen von Beeren (die Anne vorsichtshalber vorkostete um zu überprüfen, ob sie giftig waren) bis hin zu kleinen Tieren, die sie nach unzähligen Versuchen fangen konnten. Hasen, Füchse, Vögel und sogar Mäuse und Ratten verschmähten sie nicht. Das nötige Wasser gewannen sie aus einem kleinen Bach, der nicht weit von der Hütte floss. Während Anne die Tiere ausnahm und ihr Fleisch über dem Feuer briet, holte Dimitrij Wasser und hielt nach Feinden Ausschau. Sie wussten, dass diese Menschen immer noch nach ihnen suchten und die Hütte als Erstes unter die Lupe nehmen würden. Aber solange es draußen einfach zu kalt war und sie nicht die geringste Ahnung hatten, wohin sie gehen sollten, mussten sie hier bleiben. Als der Tag sich dem Ende zuneigte und ihre hart erarbeitete aber dennoch karge Mahlzeit endlich fertig war, setzten sie sich ans Feuer und genossen jeden einzelnen Bissen. Im Vergleich zum Leben in der Zelle war dieses Leben hier der Himmel! In der Nacht jedoch vergaßen sie, das Feuer zu löschen und so währte ihr Frieden nicht lange, als vier Männer mit Gewehren die Tür eintraten und die beiden Flüchtlinge direkt ins Visier nahmen. „Keine Bewegung! Hände hinter dem Kopf! Wir werden es kein zweites Mal sagen!“ Anne verlor jegliche Farbe im Gesicht und konnte nicht fassen, dass diese Menschen sie gefunden hatten. Jetzt war alles vorbei. Diese Menschen würden sie wieder dorthin zurückbringen und sie wieder quälen. Es war auch zu schön gewesen um wahr zu sein, dieses Leben in Freiheit. Jetzt würde sie das Tageslicht nie wieder sehen und der Gedanke daran, nie wieder die Sonne, den Mond, die Sterne, die Tiere und Bäume wiederzusehen und nie wieder das Zwitschern der Vögel, das Plätschern eines Baches zu hören oder die Erde unter ihren Füßen zu spüren, war unerträglich. Ihre Augen begannen sich mit Tränen zu füllen und hätte sie die Möglichkeit besessen, würde sie lieber hier und jetzt sterben, als wieder in ihre Zelle zurückzugehen. „Wir werden nicht mitgehen!“ rief der kleine Dimitrij entschieden und stellte sich direkt vor Anne. „Diejenigen, die eingesperrt werden sollen, seid ihr!“ Und damit riss er sein rechtes Auge auf, um die bewaffneten Soldaten dazu zu bringen, sich gegenseitig zu töten. Doch leider waren es zu viele auf einmal und leider schaffte er es nicht, den vierten Mann zu hypnotisieren. Dieser feuerte einen Schuss ab und traf den Jungen in die Schulter. Dimitrij schrie vor Schmerz auf und sank zu Boden. Blut quoll aus der Schusswunde und trotzdem biss er die Zähne zusammen. Anne war sofort bei ihm und fing ihn auf. „Warum hast du das gemacht? Du weißt doch, dass ich nicht sterben kann! Warum tust du nur so einen Unsinn?“ „Ich wollte nicht, dass sie dir wieder wehtun. Ich hab es doch versprochen.“ Aber Dimitrij konnte dieses Versprechen nicht halten, denn Anne fühlte sehr wohl einen Schmerz. Er saß ganz tief in ihrem Inneren und fühlte sich fast genauso schlimm an, wie diese unsagbar grausamen Amputationen, nur auf andere Weise. Dieser kleine Junge, der gerade erst sein Leben begonnen hatte, riskierte trotzdem sein Leben, weil er ihr helfen wollte. Er wollte verhindern, dass sie wieder durch die Hölle ging und das nur, weil er sie „Freundin“ nannte? Noch nie hatte jemand sie so genannt. Niemals hatte man ihr etwas Nettes gesagt, ihr geholfen, sie getröstet oder sie beschützt. Dieser kleine Junge war der Einzige und er würde jederzeit sein Leben riskieren, damit sie keine Schmerzen mehr spüren musste. Und als Anne sich dessen bewusst wurde, da fasste sie einen Entschluss. Wenn dieser Junge sein Leben jederzeit für sie hergeben würde, dann würde sie es auch tun. Sie war es nun, die immer für ihn da sein würde, wenn er jemanden brauchte und sie würde alles für ihn tun und alles riskieren, weil er ohne Hintergedanken bereit war, das Gleiche für sie zu tun. Und als Anne diesen Entschluss fasste, da war es ihr im Moment egal, welche körperlichen Schmerzen sie erwarten würden. Jetzt besaß sie die Kraft, es auszuhalten, denn sie wusste, dass Schmerzen irgendwann vorbei waren. Nachdem sie den verletzten Jungen auf den Boden gelegt hatte, sprang sie wie eine Raubkatze auf, rannte furchtlos auf die Soldaten zu, die sie mit ihren Gewehren in die Beine, in die Arme und in den Kopf, ja sogar in die Brust trafen. Aber Anne war so entschlossen, dass sie den Schmerz gar nicht mehr registrierte und sich einfach nur auf ihre Angreifer stürzte und sie alle tötete. Niemanden ließ sie am Leben. Und als sie ihr blutiges Werk getan hatte, eilte sie zu Dimitrij, versuchte so gut es ging die Blutung zu stoppen und überlegte, was sie nun tun sollte. Sie wusste, dass die Wunden von anderen Menschen nur sehr langsam verheilten und eine Schusswunde besonders gefährlich war. Wenn Menschen zu viel Blut verloren, konnten sie daran sterben. Aber wie sollte sie die Wunde denn schließen, wenn der Körper einen dermaßen langsamen Heilungsprozess besaß? Schließlich kam ihr eine Idee: Wenn sie ihr Blut mit seinem vermischte, dann müsste sich der Heilungsprozess beschleunigen lassen und die Wunde müsste sich demnach schneller schließen können. Sofort nahm Anne das Messer und stach sich so tief es ging in den Arm, dann ließ sie ihr Blut in die Schusswunde tropfen. Sie betete, dass es funktionieren würde und tatsächlich konnte sie sehen, wie sich langsam aber deutlich erkennbar, die Wunde schloss. Erleichtert atmete sie auf und schloss den kleinen Jungen in ihre Arme. „Von nun an werde ich dich beschützen. Wenn du es willst, dann werde ich mit dir überall hin mitgehen oder dich alleine ziehen lassen. Ich werde jeden töten, der dich bedroht oder Böses will und jeden beschützen, der dir wichtig ist. Das schwöre ich dir.“ „Das musst du nicht tun“, sagte der Kleine mit leisem Schluchzen und wischte sich seine Tränen weg. „Es reicht auch, wenn wir Freunde sind.“ „Das weiß ich. Eben deswegen will ich es tun!“ Und dieser Schwur wurde zu Annes Lebensaufgabe. Egal was Dimitrij ihr sagte, sie tat es ohne zu zögern und sie brachte jeden um, der es wagte, ihrem geliebten Menschen auch nur ein Härchen zu krümmen. Doch dann eines Tages, nachdem fast vier Jahre ins Land gezogen waren und sie völlig erschöpft und ausgehungert die Grenze Russlands erreichten, da trafen sie auf einen alten Mann, der sich Watari nannte. Und dieser erkannte, dass der Junge ein sehr intelligentes Köpfchen besaß. Allein die Tatsache, dass er sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht hatte und in dieser Einöde so lange Zeit überleben konnte, sprach für sich. Dieser Mann nahm sie beide mit nach England, wo sich ihre Wege trennen sollten. Am Tore von Wammys House, wo Dimitrij die nächsten Jahre leben sollte, nahmen sie voneinander Abschied. „Ich verspreche dir, dass ich uns ein Haus bauen werde, in dem wir glücklich zusammen leben werden, Anne“, versprach der nun neunjährige Dimitrij und umarmte seine Beschützerin. Diese küsste ihm die Stirn und streichelte ihm den Kopf. „Und ich verspreche dir, alles Mögliche zu tun, damit ich dich auch in Zukunft beschützen und deine Wünsche erfüllen kann. Wann immer du mich brauchst, ich werde da sein! Immer!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)