Angst ist ein gemeiner Begleiter. Sie schleicht sich klammheimlich an dich heran, umarmt dich liebevoll und sanft. Ihre Finger sind zart wie Seide und zunächst gibt sie dir das Gefühl von Glück und Frieden. Sie umgarnt dich, küsst dich, liebt dich, nur, um dir im nächsten Augenblick den Hals zuzudrücken. Du schnappst nach Luft und weißt doch, dass diese niemals wieder deine Lungen füllen wird. Denn sie wird ihren tödlichen Griff nicht mehr lockern, nicht in tausend Jahren. Sie wird dich bis an dein gottverdammtes Lebensende verfolgen, dich in deinen Träumen heimsuchen und jeden deiner Schritte, deiner Gedanken und deiner Taten mit Schmerz versehen. Sie wird dich zerstören und du kannst nichts dagegen tun.
Ich sah auf das kleine Mädchen – es war nicht älter als sechs Jahre – und wusste, ich würde nie wieder atmen können.
Es lag zusammengekrümmt und nackt auf meinem Bett. In dem Bett, in dem ich heute Nacht nicht geschlafen hatte. Die Nase des Kindes war abgeschnitten worden und lag in seiner fingerlosen Hand. Die Augen waren zwei schwarzen, blutverkrusteten Höhlen gewichen und der Unterleib der Kleinen war bis zur Brust aufgeschlitzt. In den offenen Wunden tummelten sich die Freunde des Todes: Maden.
Der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Als ich eben das Haus durch die geheime Luke auf dem Dach betreten hatte, hatte ich vor allem mit einem gerechnet: belastendem Material. Irgendwelche gefälschten Beweisstücke, die mich einer gemeinen Straftat bezichtigen könnten. Aber ich hatte bestimmt nicht angenommen, die verstümmelte und verwesende Leiche eines kleinen Mädchens in meinem Bett vorzufinden.
Ich beugte mich zu ihm hinab und strich ihm das blutverklebte, lange Haar aus dem Gesicht. Die Kleine hatte den Mund zu einem erstickten Schrei geöffnet. Als hätte sie laut geschrien, um ihr Leben gefleht und geweint. Vielleicht hatte sie nach ihrer Mutter gerufen oder nach ihrem Vater. Vielleicht war es ihr auch egal gewesen, nach wem sie rief, solange nur jemand gekommen wäre und sie gerettet hätte. Solange sie jemand den Klauen ihres Schänders entrissen hätte. Letztendlich hatte sie niemand gehört.
Ich hatte schon damals, als ich noch im Dienst war, oft mit verstümmelten Kindern zu tun gehabt. Und es war mir nie leicht gefallen, sie zu betrachten. Allerdings war ich gezwungen, die Fälle links liegen zu lassen, weil es sich bei den meisten Opfern um arme Kinder aus der Unterstadt handelte. Und die Ermittlungsbeamten sollten sich nicht mit solch unwichtiger Klientel aufhalten. Schließlich brachte die Lösung dieser Fälle kein Geld.
Aber dieses hier war kein Mädchen der Unterstadt und es kam auch sicher nicht aus ärmlichen Verhältnissen. Vielmehr wies der Ring – darauf waren zwei Schlangen zu sehen, die sich um ein Schwert ringelten – der neben ihm lag, darauf hin, dass es von Adel war. Denn arme Kinder trugen keine Ringe, und schon gar keine, auf denen das Zeichen des Königs prangte.
Was das bedeutete, wurde mir erst dann wirklich klar, als die Vordertür aufflog und die Stadtwache vollbewaffnet hinein stürmte: Dieses tote Adelskind würde für Aufsehen sorgen und es würde alles daran gesetzt werden, den Mörder zu fassen und zu hängen. Und in den Augen der Stadtbewohner würde ich dieser Mörder sein.
Ich war in diesem Moment wie gelähmt. Alles in mir schien gefroren zu sein, erstarrt zu kaltem Eis. Ich war nicht fähig, mich auch nur ein winziges Stück zu rühren. Das Mädchen hatte mich mit seinen toten, augenlosen Höhlen gefesselt, schien mich anzustarren und anzuschreien, mich anzuflehen, es von seinen Qualen zu erlösen. Ich konnte sein Wimmern deutlich in meinen Ohren hören und für die Länge eines Wimpernschlags hatte ich tatsächlich das Gefühl, die Kleine würde ihren Mund bewegen und sagen: »Rette mich«, genau wie es die alte Frau in meinem Traum getan hatte.
Ich spürte nicht mehr, wie ich auf die Knie sank. Und ich spürte auch nicht, wie sich die Stadtwache, die sich vom ersten Schreck der Szene erholt hatte, auf mich stürzte. Ein kräftiger Kerl rammte mir seinen Ellenbogen ins Kreuz und legte mir Handschellen an.
»Ekelhaftes, krankes Schwein!«, brüllte er mir ins Gesicht, doch die Worte drangen nur als ein leises Flüstern an mein Ohr. Ich schien endlos weit entfernt zu sein, war nicht mehr Herr meines Körpers, sondern höchstens ein stummer Beobachter, der auf sich selbst hinabschaut. Als wäre nicht ich es, der immer und immer wieder »Ich war es nicht« flüsterte und der dennoch wusste, dass ihm niemand glauben würde. Irgendwann hatte einer der Stadtsoldaten die Schnauze voll und zog mir kurzerhand den Schwertschaft über den Schädel.
***
Ich fand mich in einer dunklen, nasskalten Zelle wieder. Nur durch eine kopfgroße, vergitterte Öffnung drang Tageslicht hinein. Doch da der Tag trüb und der Himmel wolkenverhangen war, konnte man es nur als Tageslicht erahnen. Die wenigen hellen Strahlen trafen auf meine Augen und waren der Grund für mein Erwachen.
Ich lehnte an einer Steinwand, die Hände auf dem Rücken in Schellen gelegt. Anstatt meiner eigenen Kleidung trug ich ein stinkendes Leinenhemd und eine viel zu große Hose. Man hatte mir also tatsächlich alles abgenommen – sogar das letzte Hemd.
In meinem Kopf hatte sich ein Trommelspieler eingenistet, der so viel Taktgefühl besaß, wie ich Freunde. Das verursachte mir höllische Schmerzen im Oberstübchen und ich konnte ein gequältes Stöhnen nicht unterdrücken konnte.
Mich hatte ein gemeines Zittern befallen, wie hungrige Insekten einen Salatkopf. Das musste daran liegen, dass ich schon eine Weile drogenfrei war. Wie lange genau ich schon hier hockte, wusste ich nicht, aber das Zittern verriet mir, dass es mindestens ein halber Tag sein musste.
Ich hasste es, wenn die Wirkung der Rauschmittel nachließ. Nicht nur wegen der Zitteranfälle, sondern vor allem wegen der Schmerzen, die meine Gliedmaßen hinauf und hinab strömten. Sie waren kaum zu spüren, aber doch so präsent, dass ich sie nicht ignorieren konnte. Wie eine Assel, die sich unter deiner Haut verkrochen hat und von dort aus auf Wanderschaft durch deine Adern geht. Und so sehr du auch mit der Hand darauf schlägst – die Assel bleibt und krabbelt stetig weiter.
Ich biss mir auf die Unterlippe, um die Assel dort hin und weg von meinen Augen zu lenken. Es half, wenn auch nicht viel.
Plötzlich drang ein Laut an meine Ohren. Zuerst hielt ich es für ein Flüstern, doch bei genauerem Hinhören wurde mir klar, dass es sich um schleifende Schritte handelte. Dicke Solen, die sich träge über steinernen Boden zogen. Dann erfüllte ein gelber Schein den Bereich hinter den Gittern. Ich erspähte die Silhouette eines Mannes, der gerade eine Fackel in die Halterung hängte und dann an seinem Schlüsselbund nach einem passenden Exemplar suchte, um meine Zellentür aufzuschließen.
Mit einem Quietschen zog er die eiserne Tür auf, hängte den Schlüsselbund zurück an seinen Gürtel und trat ein.
Mein Blick war wahrscheinlich nie so klar gewesen wie jetzt und doch war es mir in diesem Halbdunkel nicht möglich, den Mann zu identifizieren, der sich nun vor mir aufbaute. Erst als das Licht der Fackel günstig auf mein Gegenüber traf, erkannte ich den Alten, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet hatte. Sein linker Mantelärmel hing schlaff herab. Und auch wenn ich es nicht richtig sehen konnte, wusste ich, dass ihm der linke Arm fehlte. Ich wusste es, weil ich der Grund dafür war.