Urbs Caelestis von Melange ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Hinter der schäbigen Tür sieht Friday ein schummriges Foyer, die Rezeption zerkratzt und verstaubt, die einzelne Glühbirne unterstützt durch Öllampen an den Wänden, die mit einem graubraunen Muster verziert sind. Bei seinem Eintreten schreckt der junge Mann am Tresen aus einem in die Handfläche gestützten Halbschlaf auf. Gähnend streckt er sich. „Friday Golding. Einzelzimmer“, kommt er der Frage zuvor. Für einen Moment mustert sein Gegenüber ihn aus wässrigen Augen. Friday weiß, was er sieht: einen Reisenden im Anzug voller Straßenstaub und abgewetztem Mantel, einen Gelehrten mit runder Brille, dunklen Gläsern, die er selbst im Halbdunkel der Herberge nicht abnimmt, obwohl er damit schlechter sieht, einen Abenteurer, der nichts weiter trägt als einen vollgestopften und dreckigen Stoffrucksack. Später knarzt er die Treppe wieder herunter, um sich auf die Suche nach dem Esszimmer zu machen, aber der junge Mann winkt ihn zu sich. „Sir, hier ist ein Brief für Sie.“ Mit dem Papier in der Hand steht Friday für einen Moment da und blinzelt. Gerade einmal dreißig Minuten hält er sich in diesem verschlafenen Dorf auf, einer Ansammlung hübscher Häuschen mit einer Kirche irgendwo an der Westküste Schottlands – hinter den Hügeln rauscht der Ozean gegen die Felsen – und schon ... Anstatt sich weiter den Kopf zu zerbrechen, liest er: Sir, diese bescheidene Dame würde sich freuen, Sie heute Abend mit einer Tasse Tee und hausgemachtem Gebäck zu bewirten. Vielleicht sind Sie geneigt, als Gegenleistung mit ein paar Reiseerzählungen aufzuwarten. Gezeichnet, April Cartermere „Wer ist April Cartermere?“, fragt er den Rezeptionisten. Dieser blinzelt, räuspert sich. „Sie lebt im Haus hinter dem Friedhof. Kommt nie bei Tag heraus. Stammt angeblich von hier, aber da sie lange Zeit in der Fremde war, hat sie weder Freunde noch Verwandte. Seltsame Frau. Schwarze Magie, sagen manche.“ Friday grinst. „Natürlich. Nun, ich werde eure Küche heute nicht in Anspruch nehmen.“ Damit tritt er aus der knarrenden Holztür, den Blick des Rezeptionisten im Rücken. Als Wissenschaftler ist er durch die weiten Gänge der University of London gewandelt, aber endlose Stunden über staubigen Büchern haben seine Kehle ausgetrocknet und den Ruf nach Leben, den Ruf der weiten Welt geweckt. Jetzt ist sie es, die ihn ruft, und er muss antworten. In der straßenlaternenlosen Dunkelheit sucht er den Glockenturm der Kirche, die ein schmuckloser Klotz am Ende des Marktplatzes ist, und folgt der niedrigen Friedhofsmauer auf einen sanften Hügel. Dahinter beginnt grasbewachsene Wildnis, aber in dem schiefen Häuschen brennt gelbes Licht, wie ein letztes Überbleibsel von Zivilisation im Rücken der anderen. Er hebt die behandschuhte Faust, aber die Tür schwingt auf, bevor er sie überhaupt berührt. Im dumpfen Schein von Kerzenlicht finden schwarze Augen seine blauen hinter den Gläsern. April Cartermere ist blass, hochgewachsen und hübsch in dem grünblau gestreiften Kleid. Das Korsett wirkt etwas zu eng, der Saum eingerissen und staubig. Aschblondes Haar fällt in wilden Locken über ihre Schultern. Mit einer leichten Verbeugung tritt sie zur Seite. „Treten Sie doch ein, Sir. Nach dieser langen Reise begehren Sie sicher nichts mehr als einen heißen Tee und etwas zum Beißen.“ Friday seinerseits neigt den Kopf und pflückt den Hut vom schwarzen Haar. „Friday Golding. Das wäre tatsächlich sehr freundlich von Ihnen, Miss Cartermere.“ Aber sie fällt ihm ins Wort. „Natürlich bin ich sehr dankbar, sehr dankbar, dass Sie sich hierher bemüht haben, nachdem Sie gerade ein Schlafquartier gefunden haben. Sie müssen wissen ... aber müssen Sie das?“ Verwirrt, vielleicht von den eigenen Worten, hält sie inne, das Teetablett in beiden Händen. „Ich habe heute Geburtstag.“ „Meinen herzlichen Glückwunsch“, meint Friday und setzt sich vorsichtig auf den Stuhl ihr gegenüber. Im winzigen Empfangszimmer steht der massive Tisch wie ein Ungetüm während zwischen Stuhllehne und Bücherregal kaum Platz ist. Die Wände sind hinter Unmengen Holz und Papier verborgen. „Ja, sehr herzlich, freundlich, meine ich“, klirrend schlägt die Teekanne gegen die Tasse und beim Einschenken schwappt dampfende Flüssigkeit auf das Tablett. Friday nimmt die tropfende Tasse mit hochgezogenen Brauen entgegen. April Cartermere setzt sich und rührt heftig in ihrem Tee herum, als wolle sie Zucker verteilen, den sie weder bereitgestellt noch verwendet hat. Auf einmal ist sie so stumm, dass Friday das Schweigen nicht aushält. „Warum wollten Sie mich sehen, Miss?“ Ihre Augen blitzen auf, ein Ausdruck wie Glühen in tiefer Nacht. Oder kommt das aus der Dunkelheit vor dem Fenster? „Sehen, ja, sehen wollte ich Sie. Aber nicht nur das, ich wollte Sie auch hören, denn gesehen habe ich Sie schon von weitem. Sie sehen aus wie der Richtige. Nun, welche Orte haben Sie bereist, welche Wahrheiten gesehen und welche Ziele tragen Sie über die Straßen und Landwege? Erzählen Sie, wenn Sie können, ich höre zu. Ja, ich verspreche, dass ich Sie nicht unterbrechen werde, wie es sonst meine Gewohnheit ist.“ Friday starrt sie an. Erst nach einer Weile erkennt er das Zeichen, rutscht ein wenig auf seinem Stuhl herum. Der Tee dampft noch immer in seiner Porzellantasse. „Sie sollen wissen, dass ich nicht so weit gereist bin, wie Sie anzunehmen scheinen ...“ Und er erzählt. Das Chaos, in dem seine Gastgeberin lebt, das sogar in ihrem Kopf tobt, bereitet ihm Unbehagen, aber die Worte lösen seine Zunge und die Bilder nehmen seine Aufmerksamkeit ebenso ein wie ihre, die an seinen Lippen hängt. Er erzählt und vergisst die Gegenwart. Irgendwann kommt er ein zweites Mal in der schäbigen Herberge an und steigt den Hügel hinauf. Jetzt zieht er seine Taschenuhr heraus und der Schreck zerrt ihn zu praktischen Überlegungen zurück. „So spät schon! Ich habe erzählt, Miss, aber es ist nur recht, dass Sie dasselbe tun.“ Sie neigt den Kopf, ein paar Locken fallen in ihre Stirn und ihr Murmeln dringt wie das Plätschern eines Bächleins an seine Ohren. „Ist es das? Was ist schon recht und was nicht. Aber ich freue mich, dass Sie mir so viel gegeben haben. Ich dagegen habe nur wässrigen Tee und kein Gebäck. Leider ist es vor Ihrer Ankunft angebrannt. Aber erzählen sollte ich, nicht wahr, weil Sie gekommen sind. Als Dank.“ „Ich würde auch morgen wiederkommen, wenn es Ihnen genehm ist“, wirft Friday ein. Inzwischen wittert er etwas hinter ihrer Zerstreutheit, pulsierendes Leben hinter einer erstarrten Maske. Sie überhört ihn wieder. Ob willentlich oder versehentlich, kann er nicht sagen. Obwohl sie sich aufrichtet, bleibt der dunkle Blick auf der Tischfläche. „Ich erzähle also ... Sie haben sich an Fakten gehalten, Dinge, die Sie mit eigenen Augen gesehen haben, also werde ich Dinge berühren, die niemand bezeugen kann, die weder gesehen noch erkannt wurden, aber dennoch in Legenden existieren. Haben Sie schon einmal von der Stadt im Himmel gehört?“ Er schüttelt den Kopf, obwohl es keinen Unterschied macht. Ihre Finger verschlingen sich ineinander, bilden immer andere Muster, als suchte sie darin nach den richtigen Worten. „Urbs Caelestis, so wird sie genannt. Im äußersten Norden, direkt vor der Küste, soll sie liegen. An klaren Tagen glitzert das Glas der Türme und sie ist wie eine blaue Fata Morgana gegen den Himmel zu sehen.“ Sie seufzt. „Zumindest sagt das derjenige, der zuerst von ihr erzählt hat.“ „Aber die Erzählungen sind nur Legenden und niemand glaubt mehr daran. Sie dient als Kindermärchen, wie Atlantis oder El Dorado. Schon als Kind war ich fasziniert von der Vorstellung einer schwebenden Stadt. Ich sammelte alles, was ich über sie in die Finger bekam, auch Sagen, Legenden, Träume von Menschen, die niemand ernst nahm.“ Jetzt ist es April Cartermere, die erzählt, von einer Stadt, deren Bewohner eine Technik ersonnen haben, um ihr Heim mithilfe von Dampfkraft in den Himmel zu heben und zwischen den Wolken anzusiedeln. Für April ist es kein Märchen, sondern Wirklichkeit, so schmerzhaft, dass Friday ihr nicht zusehen will. Trotzdem kann er nicht anders. Sie zieht Bücher aus den Regalen und zeigt ihm Notizen, Gedanken, Ideen, Forschungsansätze, Berechnungen. Friday, der Wissenschaftler von der Universität, lernt daraus mehr über sie als über diese mysteriöse Stadt. Er weiß nicht, was er glauben soll. Sie klammert sich an die Beschäftigung, alles über dieses Märchen zusammenzukratzen, aber wovor läuft sie davon? Und ihr Geburtstag ... Warum an diesem Tag, warum er und hier, in diesem verschlafenen Dorf, in dem sie aufgewachsen ist? Das letzte Teil des Puzzles fehlt. „... natürlich sind diese Berechnungen sehr alt, mit modernen Mitteln könnte man so viel mehr herausfinden, aber ...“ Friday betrachtet zwar die verblichenen Zahlen, die gekritzelten Erklärungen und Notizen, aber ihrem unaufhörlichen Gerede hört er nur mit einem Ohr zu. Aus den Augenwinkeln betrachtet er die Einrichtung, sucht Anzeichen für die Lösung des Rätsels, das ihn viel mehr interessiert als ein Haufen Metall und Gas irgendwo über dem Meer. Die flackernden Lichter der Öllampen spielen mit seiner Wahrnehmung, ihre Reflexion am Fensterglas und die dickflüssige Dunkelheit dahinter ... Tanzen die Lichter im Raum oder draußen? Schleichen etwa Tiere durchs Gras? Obwohl er auf eine Gelegenheit wartet, sie zu unterbrechen, ein Atemholen, ein Innehalten auf der Suche nach dem nächsten Buch, findet er keine. April Cartermere redet wie ein Wasserfall. Tatsächlich merkt Friday, dass das Thema sein Interesse weckt und ihre Ausführungen einem wohlüberlegten System folgen. Aber die Lichter ... Da hallt lautes Pochen durch das Haus. Friday zuckt so heftig zusammen, dass ihm eine alte Seekarte durch die Finger rutscht. Leicht wie eine Feder schwebt sie zwischen Stuhlbeinen zu Boden und wird vergessen. April Cartermere ist erstarrt. Blinzelnd sieht sie Friday an, der seinerseits in ihre Augen blickt: nur leeres Schwarz. Schließlich gleitet er vom Stuhl und in den Raum, weg von der Tür. Rechterhand liegt die Küche, er zwängt sich in die Ecke zwischen Herd und Wand. Warum? Es gibt kein Zeichen für Gefahr, aber sein Misstrauen treibt ihn weg von unerwarteten Vorfällen. Verstecken und abwarten, ein Instinkt, den er früher nicht gekannt, nicht gebraucht hat. Das Pochen erklingt erneut, und drängender. Mit einem leisen Geräusch zwischen Stöhnen und Wimmern raschelt April Cartermere zur Tür und öffnet sie. Stille während sich die zwei ansehen, sie und der Besucher, zumindest stellt Friday es sich so vor. Sein Herz spielt Ping Pong wie ein kleiner Chinese. Ein tiefes Lachen erklingt. „Ah, April, meine süße April ... Siehst du, du kannst mir nicht entkommen. Ich finde dich überall, früher oder später kommen wir wieder zusammen. Deine Versuche verschwenden nur Zeit.“ Hastiges Rascheln. „Warum wehrst du dich? Hast du vergessen, was zwischen uns war?“ Friday senkt den Blick: Seine Hände sind zu Fäusten geballt. „Erkennst du immer noch nicht, dass es keinen Sinn hat? Bleib bei mir und dir wird es gut gehen.“ „Nein!“ Ein saftiges Klatschen. „Ich bitte Sie, lassen Sie mich in Ruhe! Ich wollte das nie!“ „Ach, April ...“ Ein schwerer Schritt und mehr Rascheln. Ihr Kleid. Dann ein dumpfer Aufprall. „Ich will es ebenso wenig, aber wenn du dich sträubst, bleibt mir nichts anderes übrig.“ Sie redet auf ihn ein mit ihrer hellen Wasserfallstimme, die von weiter unten kommt. Friday zittert. Der Mann hat sie gestoßen, vielleicht geohrfeigt. Und er, warum versteckt er sich? „Zier dich nicht so! Du willst es doch auch, du hast mir Zeichen gegeben. Ich hab es nicht vergessen! Früher oder später wirst du schon zu diesen Gefühlen zurückfinden. Aber jetzt komm mit!“ „Nein, ich bitte Sie, ich will nicht, lassen Sie mich, lassen Sie mich einfach hier leben, ich tue auch nichts, ich sehe keine anderen Männer, bitte, ich bin ganz brav, aber bitte ...“ Neben dem Herd hängt eine breite Pfanne am Nagel. Lautlos tritt Friday einen Schritt vor und pflückt sie herab. Mit kaltem Metall in der Faust bricht er durch den Strom weinerlicher Worte, stößt so etwas wie einen Kriegsschrei aus und schleudert die Pfanne quer durch den Raum. Seine Vermutungen waren richtig: Aprils blonder Schopf lehnt an der Tischkante, darüber beugt sich ein untersetzter Mann in dunkler Kleidung. Für einen Moment sind seine Augen groß wie Teller, aber er schlägt das Metall zur Seite. Scheppernd landet es, aber Friday klaubt das silberne Tablett vom Tisch und wirft. Als nächstes die Teekanne, die an der Wand neben dem Kopf seines Ziels zerspringt. „Lasst sie in Ruhe!“, ruft er und hebt die Faust, entschlossen wie Stahl, aber braune Finger fangen sie leicht auf und stoßen ihn in die entgegengesetzte Richtung. Ein Stich jagt durch seine Wirbelsäule, als sich eine Stuhllehne in seinen Rücken bohrt. Dunkle Brillengläser zerspringen zwischen seinen Füßen. Keuchend richtet er sich auf. „Oho, sagtest du nicht, du siehst keine anderen Männer, meine Süße? Er will dich retten, aber kennt er dich wirklich?“ Er wendet sich an Friday und auf dem breiten Zigeunergesicht tanzt ein Grinsen. „Wenn ich Sie wäre, Sir, würde ich mich da raushalten. Dieses Mädchen gehört mir und weiß es auch.“ Wie ein sich selbst verschlingender Phönix wütet der Zorn in Fridays Bauch. Wer hat das Recht, einen anderen Menschen so zu behandeln! „Das glaube ich nicht“, hört er sich sagen. Der Zigeuner summt nachdenklich und sagt: „Dann haben wir ein Problem ... Sicher kann meine süße April noch ein bisschen länger warten. Sie ist sehr gut darin, müssen Sie wissen.“ Ohne sich umzudrehen zieht er die Haustür zu und steckt den Schlüssel ein. Friday sieht eine Gelegenheit, wirft sich herum und stürzt durch die Küche in das nächste Zimmer. Die scheinheiligen Lockrufe missachtend verschließt er die Tür und sieht sich im Schlafzimmer um: Bett, Kommode, Schrank, ein Teppich auf dem Boden, ein kleines Tischchen unter dem Fenster ... Schusswaffe. Im Versteck vor diesem Mann muss sie eine aufbewahren, oder? Während sich die schweren Schritte langsam nähern, reißt er Schublade um Schublade der Kommode auf, durchwühlt Unterwäsche und Strümpfe, aber findet nichts Hartes. Im Schrank tastet er blind zwischen den Kleidern herum, unter die Röcke und auf der Hutablage, aber nirgendwo kaltes Metall. Auch die kleinen Laden des Tischchens sind leer. Die Schlafzimmertür erzittert unter einem Pochen wie die Haustür zuvor. „Du versteckst dich genau wie deine Freundin! Hat sie dir etwa nicht mehr beigebracht?“, ruft der Teufel durch dickes Holz. Friday reibt sich die feuchten Hände, sein Blick rast fieberhaft im Zimmer herum. Etwas, irgendetwas, das er übersehen hat ... Im nächsten Moment fällt er auf die Knie und reißt den Teppich vom Boden. Die Holzdielen liegen ordentlich vor ihm, aber vorsichtiges Drücken fördert eine knarrende zutage. Leise fluchend zieht Friday die Handschuhe aus – das Pochen wird lauter, stärker, vielleicht benutzt er ein Küchengerät – und zwingt die Ritzen auseinander. Tatsächlich: Da glänzt ein altmodischer Revolver im roten Samt einer Schmuckbox. Nackte Finger schließen sich um angenehme Kälte. Friday wirbelt herum, gerade als die Tür an die Wand kracht: Die Mündung seiner Waffe sieht in ihr exaktes Spiegelbild. Für einen Moment halten zwei Augenpaare die Zeit in knisternder Luft an, sagen, tun, denken nichts. Dann ein Knall. Das Klink-Klink der leeren Patronenhülse am Boden. Ein Körper, der fällt wie in Zeitlupe. Ein Schrei. Letzterer holt Friday in die Wirklichkeit zurück. „Ich lebe“, murmelt er, selbst überrascht, sieht den Revolver in seiner Hand an, sieht ihn zum ersten Mal richtig und legt ihn auf die Kommode. Wie fest seine Finger daran kleben! Über dem Zigeuner steht April mit weit aufgerissenen Augen, die Hände vor den Mund geschlagen. Unter ihrem rechten Auge blüht ein Veilchen in Violett und Blau. Friday will näher treten, kann aber nur taumeln und stolpern. Seine Knie sind Butter anstatt Knochen. „Habe ich ...“ „Wir sollten verschwinden“, fällt sie ihm ins Wort. Er starrt sie an. „Was?“ „Wir sollten verschwinden“, wiederholt sie lauter. Etwas liegt in ihrer Stimme, das ihn überrascht, etwas Kaltes wie Eis. „Sie werden Fragen stellen. Wie sie es immer tun.“ Friday will fragen wer, welche Fragen, wer der Zigeuner ist und warum, aber sie dreht sich um und er folgt. In diesem Moment kann er nicht anders. Wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen läuft er hinter ihr her. Mit einem gepackten Koffer in einer Hand schließt sie die Haustür ab, diesmal von außen. Schließt den Zigeuner ein. Hinter den Fenstern flackern noch die Öllampen. Friday denkt daran, wie dieser Mann hier draußen herumgeschlichen ist, und erschaudert so heftig, dass sie aufsieht. „Wir müssen verschwinden. Niemand wird die Wahrheit glauben, niemand kennt mich hier ... oder dich.“ Friday schluckt. Die Worte, so surreal sie auch sind in ihrer Ruhe, stoßen ihn in die Wirklichkeit zurück. „Ich brauche meinen Rucksack aus der Herberge.“ „Hol ihn, wenn du musst. Wir treffen uns an der Küstenstraße nach Norden.“ Schon gleitet sie in die Dunkelheit und ist verschwunden, bevor Friday einen Finger rühren kann. Kopfschüttelnd marschiert er zurück ins Dorf, immer noch in Schock und unter der Hypnose ihrer lauten Worte. Die Fragen des jungen Rezeptionisten ignoriert er, ja, hört sie gar nicht. Fast vergisst er die Bezahlung. Wenige Stunden nach seiner Ankunft verschwindet er wieder aus dem verschlafenen Dorf irgendwo in Schottland. Der einzige Unterschied ist der Körper, der in Miss Cartermeres, Aprils Schlafzimmer liegt. Er versteht es nicht. Sein Kopf müsste explodieren, aber sein Körper ist so leicht ... Wie zwei alte Bekannte marschieren sie nebeneinander auf der Straße. Trotzdem gibt es nicht einmal zwischen ihren behandschuhten Händen eine Berührung. Im Osten weicht die tintige Schwärze einem Streifen Licht. Fahles Gelb, Orange, tiefes Rot, zuletzt ein riesiges Feuerwerk aus Farben. Im Hintergrund wird der Himmel blauer. „Wer war er?“, fragt Friday schließlich, weil er fürchtet, in der Stille wegzudriften. Die Müdigkeit wirkt gegen den Tagesanbruch, schaukelt ihn in eine Art Trance. „Luftpirat. Ich war lange Pilotin. Ist nicht schwer, auf die andere Seite des Gesetzes zu rutschen. Er hat sich eingebildet, ich wollte ihn ebenso wie er mich. Bis das Luftschiff abstürzte.“ Kühl und leise gleiten die Worte aus ihrem Mund. Kein nervöses Zucken, keine ausschweifenden Erklärungen. „Du hast dich versteckt und in der Geschichte der Stadt im Himmel vergraben“, vermutet Friday. Der Rhythmus ihrer Schritte bricht, ein winziger Knick, bis sie sich fängt. „Glaubst du mir auch nicht?“ Friday überlegt. Zuerst ... aber dann ... und die Art, wie sie das sagt, wie sie seinem Blick ausweicht, dieses auch ... „Ich glaube dir“, erklärt er und weiß selbst nicht ganz, warum. Aber April lacht, lacht wie leiser Glockenklang und alle Zweifel sind weggefegt. „Wir bauen ein Luftschiff, das uns hinauf trägt. Wir werden sie suchen.“ Jetzt sieht er ihre Augen, ein Funkeln von Träumen und Abenteuerlust im tiefen Schwarz, und weiß: Dieser Frau folgt er überallhin. Sie hat die Zerstreutheit, dieses Gedächtnis voller Spinnweben, abgestreift und jetzt riecht sie nach Abenteuer, nach dem lauten und guten Leben. Mit ihr endet die alte Suche, mit ihr beginnt eine neue Suche, sie ist die Welt, die er braucht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)