Der letzte Wille von Nugua (Sequel zu "Die letzte Frage") ================================================================================ Kapitel 3: Zwischen den Zeilen ------------------------------ AN: Hallo, ihr Lieben! Hier ist es endlich, das neue Kapitel! Ihr werdet euch vielleicht wundern, warum ich immer „Shiho“ anstelle von „Ai“ schreibe, aber dafür gibt es am Ende des Kapitels eine Erklärung. Viel Spaß beim Lesen! ^^ ~ ~ ~ Donnerstag, 20. Juli 20xx 1 neue Mitteilung Von: E. Conan Uhrzeit: 07:02 Uhr Komme heute nicht zur Schule, muss Recherchen zu einem Fall anstellen. Shiho musterte den Text mit leicht erhobener Augenbraue, denn obwohl er sich gern darüber beklagte, wie unglaublich langweilig ihr Unterricht doch war, kam es sehr selten vor, dass Kudo-kun für einen Kriminalfall die Schule schwänzte. Er befürchtete, durch zu häufiges Fehlen unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dumm nur, dachte Shiho zynisch, dass unser Meisterdetektiv in anderen Situationen seine Vorsicht derart fahrlässig fallen lässt, dass er sich genauso gut mit einem Megaphon auf den Tokyo Tower stellen und „Ich bin Kudo Shinichi – kommt und knallt mich ab!“ rufen könnte. Dass er nun doch die Schule schwänzen wollte, ließ nur einen Schluss zu: Der Fall, für den er gerade Nachforschungen anstellte, war offenbar wichtig. Und ernst. Shiho hatte keine Ahnung, worum es ging. Aber es hatte auch keinen Sinn, sich großartig Gedanken darum zu machen. Solange Kudo-kun ihr keine Einzelheiten nannte, musste sie davon ausgehen, dass er die Sache unter Kontrolle hatte. Sie tischte den Shônen Tantei eine Lüge auf; behauptete, wie immer in solchen Situationen, dass ihr Freund Edogawa-kun krank geworden sei – was ihr ein unerwartet schlechtes Gewissen bereitete, besonders, als sie in Ayumi-chans große, besorgte Kulleraugen blickte. Ja, die Zeit mit den Kindern hatte sie wirklich weich geklopft. Knapp drei Stunden später kam die nächste SMS: 1 neue Mitteilung Von: E. Conan Uhrzeit: 09:56 Uhr Komm nach der Schule so schnell wie möglich nach Hause. Ich warte dort auf dich. … So viel dazu, dass Kudo-kun die Sache unter Kontrolle hatte und sie sich keine Gedanken – Sorgen – machen brauchte. Ihr Unterricht endete an diesem Tag regulär um 11:30 Uhr. Sie redete den Kindern die Idee aus, ihrem Freund einen Krankenbesuch abzustatten. Auch den Vorschlag, mit ihnen zusammen in den Park zu gehen, schlug sie aus. (Und schon wieder bekam sie ein schlechtes Gewissen. Irgendjemand würde später dafür büßen, soviel war klar. Und dass dieser Irgendjemand Kudo-kun war, war ebenfalls klar.) ~ ~ ~ Sie hatte gerade noch Zeit, die Haustür des Professors hinter sich zu schließen und ihre Schultasche abzustellen, dann hielt Kudo-kun ihr auch schon den Ausdruck eines Fotos unter die Nase: „Kennst du diesen Mann?“ Shiho musterte das Bild mit zusammengekniffenen Augen. Ein Mann, vermutlich Mitte 40, braunes, unordentliches Haar, Schnauzbart … Ihr Organisationsmitglied-Alarm sprang nicht an, und auch sonst stellte sich kein Gefühl der Wiedererkennung bei ihr ein. „Nein.“ „Bist du dir sicher?“, drängte Kudo-kun. Sie warf ihm einen Blick der besonders vernichtenden Sorte zu, und das war Antwort genug. Er rückte prompt ein Stück von ihr ab, nuschelte etwas Unverständliches und machte dabei beschwichtigende Handbewegungen – doch Shiho war nicht in der Stimmung, sich beschwichtigen zu lassen. Irgendetwas stimmte nicht. Sie wollte wissen was, und zwar sofort. „Worum geht es?“, fragte sie. Doch Kudo-kun antwortete nicht. Stattdessen legte er das Foto betont langsam auf Agasa-hakases Couchtisch ab. Dann hob er einen Fußball vom Boden auf und begann, ihn zu dribbeln, während er mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster starrte. Shiho beobachtete mit wachsender Unruhe und Verärgerung, wie der Ball durch die Luft hüpfte. Kudo-kun dribbelte ihn mit routinierter Leichtigkeit von seiner rechten Fußspitze zu seinem rechten Knie, zu seinem Kopf, zurück zu seiner linken Fußspitze. Dann ging das Spiel von vorne los: linkes Knie, Kopf, rechte Fußspitze … Gerade, als es Shiho zu bunt wurde und sie erneut nach einer Erklärung verlangen wollte, hörte er auf: Er riss sich abrupt vom Anblick des Fensters los, ließ den Ball zu Boden kullern, drehte sich zu ihr um und starrte sie mit einer Intensität an, die ihr ungutes Gefühl in ein sehr ungutes Gefühl verwandelte. „Dieser Mann“, sagte er. „Ich habe Grund zur Annahme, dass er ein Mitglied der Schwarzen Organisation ist.“ Die Furcht platzte auf wie eine alte Wunde – schmerzhaft und unbarmherzig. Sie konnte es nicht verhindern, die Erinnerungen an Gin und Vermouth und an Akemi-nee-chan holten sie schlagartig wieder ein und schnürten ihr die Kehle zu. Sie zwang sich, eine neutrale Miene aufzusetzen, ruhig zu atmen, seinem Blick nicht auszuweichen. „Wie kommst du darauf?“ Kudo-kun schien nach den richtigen Worten zu suchen. „… Erinnerst du dich noch an den Diebstahl von Kaito Kid vor drei Monaten? Als er diese Porzellanpuppe namens Aoko gestohlen hatte?“ Ihre Verwunderung war so groß, dass sie sogar ihren Ärger über diese absolut dämliche Frage in den Hintergrund drängte. „Ja, natürlich erinnere ich mich. Was haben Kid und dieser Mann mit-“ Doch die Antwort kam ihr von selbst in den Sinn, noch bevor sie die Frage überhaupt ausformulieren konnte. „Der tote Polizist letzten Samstag.“ Er nickte grimmig. „Das waren wohl doch keine Drogendealer, hm?“ Sie betrachtete das Foto auf dem Couchtisch noch einmal eingehend, doch der darauf abgebildete Mann löste nach wie vor keine Reaktion bei ihr aus. Kudo-kun setzte ein schiefes Lächeln auf. „Vielleicht solltest du dich besser setzen. Das wird eine lange Geschichte.“ „Ich freue mich schon“, entgegnete Shiho trocken. ~ ~ ~ „Vor drei Monaten“, begann Kudo-kun, „habe ich etwas herausgefunden, das mich dazu zwang, einige Dinge bezüglich Kaito Kid in einem neuen Licht zu betrachten.“ „Hast du herausgefunden, was er sucht?“, frage Shiho. Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und sie begriff, dass er überrascht war, weil sie erkannt hatte, dass Kid irgendetwas suchte. Sie verdrehte die Augen. „Ich bitte dich. Ich bin vielleicht kein Detektiv wie du, aber ich bin durchaus in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen. Wenn man sich nicht von dem ganzen Trara ablenken lässt, das um ihn herum veranstaltet wird, dann ist es ziemlich offensichtlich.“ Kudo-kun nickte langsam. „Er sucht einen ganz bestimmten Edelstein. Ich habe keine Ahnung, welchen, aber ich glaube zu wissen, warum er ihn sucht.“ „Will er versuchen, die Weltherrschaft an sich zu reißen?“, fragte Shiho in einem Tonfall, der vollkommen ernst und nüchtern klang. „Ist der Edelstein irgendein wichtiges Utensil, das er braucht, um seinen Plan in die Tat umzusetzen?“ Kudo-kun starrte sie mit einer interessanten Mischung aus Gereiztheit, Fassungslosigkeit und Resignation an. „Haibara. Das hier ist nicht irgendein klischeehafter Shônen-Manga.“ Shiho grinste humorlos. „Stimmt, es ist viel schlimmer. Jetzt erzähl mir endlich, was du herausgefunden hast.“ Er murmelte etwas Halblautes und definitiv Unfreundliches vor sich hin, dann setzte er sich etwas aufrechter hin und antwortete: „Der aktuelle Kid ist nicht derselbe wie der, der vor neun Jahren aktiv war.“ „Hmh“, machte Shiho. „Auch das ist, wenn man mal genauer darüber nachdenkt, nicht sonderlich überraschend.“ „Der alte Kid“, fuhr Kudo-kun fort – und irgendwie ahnte Shiho schon, was als nächstes kommen würde, sein düsterer Blick verriet ihn – „wurde getötet.“ Shiho atmete tief durch, verdrängte die Erinnerung an ihre tote Schwester und setzte ein Lächeln auf, obwohl Lächeln im Moment das Allerletzte war, wonach ihr der Sinn stand. „Und du glaubst, das war die Organisation.“ „Ja.“ „Ich verstehe das nicht ganz, wie hast du das alles überhaupt herausgefunden? Kid wird es dir wohl kaum einfach erzählt haben.“ „Ähhh …“ Plötzlich wirkte er verlegen. „Um ehrlich zu sein, genauso war‘s.“ Shiho starrte ihn an. „Was habt ihr getan, als ihr in diesem Fahrstuhl festgesteckt habt? Kaffeekränzchen gehalten?“ Kudo-kun überging die Frage geflissentlich. „Er hat nicht gesagt, dass es die Schwarze Organisation war, das glaube ich erst seit Samstag. Aber er hat gesagt, dass sein Vorgänger getötet wurde, weil er den falschen Leuten in die Quere gekommen ist. Das allein war schon beunruhigend, aber er hat noch etwas anderes gesagt. Etwas, das ich weitaus beunruhigender fand: nämlich, dass es ihm nicht helfen würde, sich an die Polizei zu wenden, um die Mörder seines Vorgängers zur Rechenschaft zu ziehen. Es war nur so ein Gefühl, aber für mich klang es damals fast so, als würden die Mörder des alten Kaito Kid Einfluss auf die Polizei ausüben können. Und diesen Verdacht konnte ich am letzten Samstag endgültig bestätigen.“ Er lehnte sich etwas nach vorne, beugte sich halb über den Couchtisch und sah sie dabei eindringlich an. „Haibara, der Polizist, der am Samstag gestorben ist, wurde von ihnen erpresst. Er hat mir einen Peilsender untergejubelt, mich verfolgt und mich unterwegs abgefangen. Dann ist dieser Mann“ – er tippte auf das Foto – „aufgetaucht und hat Kid aufgefordert, sich zu stellen. Sie haben mich mit einer Waffe bedroht. Kid ist dazwischen gegangen und konnte mich retten, aber der Polizist wurde im Schusswechsel verletzt und ist verblutet. Ich habe behauptet, dass wir zufällig einer Gruppe von Drogendealern über den Weg gelaufen wären, damit die Spuren im Sand verlaufen und sie sich nicht gezwungen sehen, Unbeteiligte aus dem Weg zu räumen, die zu viele Fragen stellen.“ Shiho nahm seine letzten Worte nur noch verschwommen wahr; die Kombination „Er hat mir einen Peilsender untergejubelt“ plus „Sie haben mich mit einer Waffe bedroht“ kreiste in ihrem Kopf. Und plötzlich war es schwer, unglaublich schwer, die herannahende Panik im Zaum zu halten. „Sie haben dich benutzt, um ihn zu ködern?!“, frage Shiho. (Irgendwann im Laufe seines Vortrags musste sie aufgesprungen sein, aber sie bemerkte es erst jetzt.) Kudo-kun blickte zu ihr auf, alarmiert und wachsam. „Ja.“ „Du hast sie gesehen und sie wissen, dass du sie gesehen hast. Du bist ein Zeuge.“ „Ja“, sagte er. „Aber Haibara-“ „Wie kannst du dann so seelenruhig hier sitzen? Sie werden versuchen, dich zu beseitigen!“ „Haibara!“, sagte er laut und eindringlich. Sie zuckte zusammen und atmete erneut tief durch; atmen war der erste Schritt. Er beobachtete sie aufmerksam und abwägend und sie hasste es – es lag Geringschätzigkeit in diesem Blick, jedenfalls kam es ihr so vor, und sie wollte nicht auf diese Weise von ihm angesehen werden. Und irgendwie half ihr das, sich wieder zusammenzureißen. Sie setzte sich langsam wieder auf die Couch und hob in entwaffnender Geste die Hände, als wollte sie sagen: Schau her, ich bin ganz ruhig. Kudo-kun schien sich ein wenig zu entspannen. „Fassen wir nochmal zusammen“, sagte Shiho kühl. „Der erste Kid wurde getötet, vielleicht von der Organisation, auf jeden Fall aber von Leuten, die genug Einfluss haben, um die Sache unter den Teppich zu kehren, einen Polizisten zu erpressen und einen Überfall auf dich und Kid zu planen. Kid sucht irgendeinen Edelstein – ich nehme an, der erste Kid hat das Ding auch schon gesucht und wurde deshalb von diesen Typen aus dem Weg geräumt?“ Ein knappes Nicken von Kudo-kun. „Und obwohl sein Vorgänger getötet wurde, hält dieser Kid es für clever, irre lachend auf Dächern herumzuturnen und als gut sichtbares weißes Dreieck durch die Luft zu segeln?“ Ein peinlich berührter Blick von Kudo-kun. „Und du wurdest von diesen Leuten angegriffen und fast getötet und bist nicht der Meinung, dass das ein Anlass zur Sorge wäre?“ „Ich war in den letzten Tagen sehr vorsichtig“, sagte er. „Und ich schwöre dir, niemand hat versucht mich umzubringen.“ „Aber das ergibt keinen Sinn.“ „Vielleicht sind sie im Moment zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Oder sie wagen es nicht, gegen mich vorzugehen, weil ich bei Oc-chan wohne.“ „Das ist nicht sehr ermutigend.“ „Und sich jetzt Hals über Kopf zu verstecken nicht sehr zielführend.“ Das tat weh. Shiho spürte Wut in sich aufsteigen – sie machte sich Sorgen und sie hatte einen guten Grund dafür, es war nur vernünftig. Warum wollte er das nicht einsehen? Aber ihn anzuschreien würde sie nicht weiterbringen und vernünftig zu diskutieren auch nicht, sie kannte ihn gut genug, um das zu wissen. „Und was hältst du in dieser Situation für zielführend? Was willst du jetzt tun?“ „Natürlich das, was ich immer tue.“ Ein seltsames Grinsen zog sich über sein Gesicht – als würde er etwas amüsant finden, das in Wirklichkeit gar nicht lustig war. „Ich werde die Wahrheit herausfinden.“ Dann neigte Kudo-kun den Kopf ein wenig zur Seite, sodass das Licht der Deckenlampe in seinen Brillengläsern reflektiert wurde. Das Grinsen verschwand und sein Tonfall wurde nüchtern und geschäftsmäßig: „Wir brauchen erst einmal mehr Informationen, bevor wir entscheiden können, wie wir vorgehen.“ Ihr entging das „wir“ in seinem Satz nicht. Wir brauchen Informationen. Wir entscheiden, wie wir vorgehen. Shiho fragte sich, ob er sie bewusst in seine Pläne integrierte, oder ob es eher auf unbewusster Ebene geschah. Er hatte sie einmal als seine Partnerin bezeichnet, aber wenn es hart auf hart kam, neigte Kudo-kun dazu, sein eigenes Ding durchzuziehen, ohne Rücksicht auf die Gedanken oder Sorgen anderer. Bisher war das immer gut ausgegangen, aber für ihren Geschmack war dabei viel zu oft sein Glück entscheidender gewesen als sein Verstand. „Und was wären das für Informationen?“ Kudo-kun hob die Hand und zählte an seinen Fingern ab: „Es gibt folgende Dinge zu klären: Erstens: Warum sind diese Leute hinter Kid her? Zweitens: Wonach sucht Kid? Drittens: Warum sucht er es? Viertens: Warum sucht er auf so eine auffällige und extravagante Weise danach? Und Fünftens: Gehören diese Leute zur Schwarzen Organisation?“ Er ließ die Hand wieder sinken. „Ich habe eine recht gute Vorstellung davon, wie die Antworten auf die ersten vier Fragen aussehen, aber bei der fünften bin ich unschlüssig.“ „Na, dann leg mal los und klär mich auf.“ Ein Leuchten trat in seine Augen und Shiho verdrehte innerlich die Augen. Na großartig, ich habe ihm einen Freifahrtschein zum Schwafeln gegeben und jetzt muss ich dafür bezahlen. „Ich habe ja schon gesagt, dass ich nicht weiß, welchen Edelstein Kid sucht. Aber ich weiß zumindest, dass er einen ganz konkreten Edelstein sucht, und es kann ihm dabei nicht nur um den Geldwert des Edelsteins gehen, ansonsten würde er die anderen einfach verkaufen.“ „Ja, das ergibt Sinn. Meinst du, dieser Stein hat einen ideellen Wert für ihn?“ Kudo-kun runzelte die Stirn. „Das wäre möglich, aber ich glaube es nicht. Es würde nicht erklären, warum Sie ihn wollen. Was auch immer es mit diesem Stein auf sich hat, es ist … nichts Gutes.“ Es sah so aus, als wollte er noch mehr sagen – etwas, das er nicht richtig in Worte fassen konnte – aber bevor sie nachhaken konnte, sprach er weiter: „Ich glaube nicht, dass Kid den Stein für sich selbst haben will. Wenn er ihn selbst besitzen wollte, würde er heimlich, still und leise danach suchen, ohne zu riskieren, dass ihm ein anderer dabei in die Quere kommt. So würde er viel schneller und einfacher vorankommen. Es steckt noch etwas anderes dahinter.“ „Naja, hast du den Part mit „irre lachend auf Dächern herumturnen“ und „als gut sichtbares Ziel durch die Luft segeln“ schon vergessen? Du gehst bei deinen Überlegungen davon aus, dass Kid über einen gesunden Menschenverstand verfügt, aber nach allem, was ich jetzt erfahren habe, wäre ich mir da nicht so sicher. Vielleicht ist es ihm einfach zu langweilig, den Stein „heimlich, still und leise“ zu suchen, wie du es ausgedrückt hast. Sein Verhalten ist mehr als leichtsinnig - es ist grob fahrlässig. Vielleicht ist dieser Kid einfach nur verrückt. Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn ist bekanntlich sehr dünn.“ Sie warf ihm einen eindringlichen Blick zu, damit er begriff, dass sie ihren letzten Satz nicht ausschließlich auf Kid bezog. Aber falls er die Anspielung verstand, ließ er es sich nicht anmerken. Er schüttelte nur grinsend den Kopf. „Es überrascht mich nicht, dass jemand wie du sein Verhalten als irrwitzig und verrückt betrachtet.“ Shiho schnaubte leise – was sollte das heißen, jemand wie sie? „Aber ich muss dir widersprechen. Kid ist nicht verrückt. Er wirkt vielleicht so – ich habe das am Anfang ja auch geglaubt – aber er ist es nicht. Hinter allem, was er tut, steckt ein System. Er will nur nicht, dass wir das wissen, daher tut er so, als wäre er verrückt. Doch das ist alles nur Show. Ein Ablenkungsmanöver, sozusagen.“ Shiho merkte, wie Kudo-kun gedanklich abdriftete. Dass er nicht mehr zu ihr, sondern mehr zu sich selbst sprach. Er hob den Fußball wieder vom Boden auf und balancierte ihn eine Weile lang nachdenklich auf seiner Fußspitze, bevor er weiterredete. „Kid will den Edelstein nicht für sich. Es geht ihm gar nicht wirklich um den Stein. Sein primäres Ziel sind diese Leute. Er sucht den Edelstein nur, weil diese Leute ihn suchen – weil er verhindern will, dass sie ihn bekommen. Und sie wiederrum sind hinter ihm her, weil sie ihn aufhalten wollen. Sie wissen, dass sie kaum eine Chance haben, ihm den Stein wieder abzunehmen, wenn er ihn erst einmal gefunden hat. Das ist die einzige Erklärung, die Sinn ergibt.“ Shiho musste widerwillig feststellen, dass er sie neugierig gemacht hatte. Dass die Angst vor der Organisation während ihres Gesprächs allmählich in den Hintergrund gerückt und dem Interesse am Rätsel „Kaito Kid“ gewichen war. Ja, sie verbrachte definitiv zu viel Zeit mit Kudo-kun und den Shônen Tantei. „Schön und gut, aber warum sucht er in aller Öffentlichkeit nach diesem Edelstein? Warum riskiert er es, sich selbst und seine Fans zu gefährden? Das ergibt für mich immer noch keinen Sinn.“ „Aus zwei Gründen. Erstens: Er versucht, den Schein zu wahren und tut so, als wäre er immer noch derselbe Mann wie der, der vor neun Jahren als Kaito Kid sein Unwesen getrieben hat. Der alte Kaito Kid war genauso sensationslüstern und albern wie der aktuelle, allerdings hatte er ein internationaleres Publikum.“ „Was darauf schließen lässt, dass der aktuelle Kid noch ein Schüler ist, der Japan nicht für längere Zeit verlassen kann, ohne aufzufallen.“ „Stimmt, er ist ein Teenager zwischen 16 und 19 Jahren, hochintelligent, fühlt sich unterfordert in der Schule, hat Schwierigkeiten, sich in gesellschaftliche Normen einzufügen oder Autorität anzuerkennen. Ich vermute, dass der Tod seines Vorgängers ihn stark geprägt hat, sehr wahrscheinlich war es das einschneidendste Erlebnis seiner Kindheit. Seine „Niemand wird verletzt“-Agenda lässt darauf schließen, dass er eine starke Abneigung gegen Gewalt hat, die durch den Tod seines Vorgängers ausgelöst wurde. Ich bezweifle, dass es ihm leicht fällt, sich anderen Menschen zu öffnen. Einerseits, weil er offensichtlich nicht normal ist und andererseits, weil er unter Verlustängsten leidet. Ich vermute, dass sein Drang nach Aufmerksamkeit und nach Herausforderungen mit Gegnern wie mir ein Mittel ist, um dieses Fehlen von emotionalen Bindungen zu kompensieren.“ Nach diesem Vortrag herrschte mehrminütiges Schweigen. Shiho studierte das Gesicht ihres Freundes, den selbstironischen Ausdruck seiner Mimik. „Du … hast ein Persönlichkeitsprofil von ihm erstellt?“ Eines, das, einmal abgesehen vom prägenden Verlust des Vorgängers, in vielen Dingen auch erstaunlich gut auf dich selbst anwendbar ist. „Ja, natürlich habe ich das. Ich hätte das eigentlich schon viel früher tun sollen. Aber mehr über Kid zu erfahren hätte bedeutet, seiner Ergreifung einen Schritt näher zu kommen, und ich wollte ihm nicht auf diese Weise auf die Spur kommen. Ich hatte immer vorgehabt, ihn während eines Diebstahls zu fassen, alles andere wäre … irgendwie unangebracht gewesen. Als wäre es seiner nicht würdig. Als würde es gegen die Spielregeln verstoßen.“ „Aber jetzt hast du deine Meinung geändert.“ „Ja. Weil ich jetzt weiß, in welcher Gefahr er schwebt.“ „Kudo-kun …“ Shiho zögerte. „Hast du überhaupt noch vor, ihn zu fangen?“ „Nein.“ Er fuhr sich mit einer erschöpften Geste durch die Haare. „Ihn der Polizei auszuliefern würde bedeuten, ihn zum Tode zu verurteilen. Wenn Kid im Gefängnis landet, werden Sie zweifellos einen Weg finden, ihn umzubringen.“ Plötzlich grinste er. „Irgendwie ironisch. Bei unserer ersten Begegnung als Kid und Conan hatte ich ihm gesagt, dass die meisten Künstler erst nach ihrem Tod berühmt werden würden und dass ich ihm zu diesem Ruhm verhelfen würde – mit dem Unterschied, dass er nicht sterben, sondern im Gefängnis landen würde. Ich hatte keine Ahnung, wie dicht ich mit diesem Vergleich doch an der Wahrheit lag.“ Sein Blick wurde wieder in sich gekehrt, und Shiho glaubte zu wissen, woran er dachte – an den Fall mit Aso Seiji auf der Insel Tsukikagejima. Der junge Mann, der die Mörder seines Vaters getötet und sein Haus in Brandt gesteckt hatte, und der anschließend in den Flammen des Hauses umgekommen war. Sie wusste genau, wie sehr dieser Fall Kudo-kun traumatisiert hatte. Er hatte ihr nur ein einziges Mal davon erzählt, aber sie kannte noch jedes Wort davon: „Es war fürchterlich, Haibara. Ich hatte keine Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Keine Möglichkeit, ihn da rauszuholen, ihn zu retten. Ich konnte nur dastehen und zusehen, wie das Haus von den Flammen verschlungen wurde, und zuhören, wie er auf dem Klavier Beethovens Mondscheinsonate spielte. Die Musik erklang noch lange, nachdem er mich aus dem Fenster geworfen hatte, viel länger, als es eigentlich hätte möglich sein dürfen. Als hätte sein Geist für ihn weitergespielt, als er schon längst an einer Rauchvergiftung gestorben war.“ Sie kannte auch den Grundsatz, den er nach diesem Vorfall für sich festgelegt hatte – „Ein Detektiv, der einen Mörder mit seinen Schlussfolgerungen in die Ecke drängt und zulässt, dass er Selbstmord begeht, ist selbst auch nicht besser als ein Mörder.“ – und sie ahnte, dass er Kaito Kid mit Aso Seiji in Verbindung brachte. Denn wenn ein Detektiv, der zuließ, dass ein Mörder Selbstmord beging, selbst nicht besser war als ein Mörder – was war dann ein Detektiv, der einen Dieb ins Gefängnis brachte, wohlwissend, dass dies den Tod des Diebs bedeuten würde? Diese Eigenart an Kudo-kun – dieser ungetrübte Sinn für Gerechtigkeit – war der Grund dafür, dass sie ihn trotz all der Dinge, die sie so oft ärgerten, bewunderte und wertschätzte. Shiho lächelte vage. Es war an der Zeit, das Thema zu wechseln. „Wir sind abgedriftet. Du wolltest mir eigentlich erklären, warum Kid so eine Show aus seinen Raubzügen macht.“ Kudo-kun blinzelte. „Wah- oh, ja.“ Er räusperte sich leise. „Also, der zweite Grund. Ich hatte es ja schon gesagt, es geht Kid nicht primär um den Edelstein, sondern um diese Leute. Er will die Mörder seines Vorgängers aus der Reserve locken, und das kann er nur, wenn er öffentlich auftritt.“ „Aber er gefährdet dadurch seine Fans“, beharrte Shiho. „Ja, ich weiß. Was er tut, ist ziemlich riskant. Ich nehme an, dass er weiß, dass seine Gegner Kontakte zur Polizei haben, aber nicht, wer genau diese Kontakte sind. Er muss also dafür sorgen, dass diese Verbrecher von einer so großen Menge Augenzeugen auf frischer Tat ertappt werden, dass es unmöglich ist, die Sache unter den Teppich zu kehren. Darum sorgt er dafür, dass immer so ein hohes Polizeiaufgebot bei seinen Coups vorhanden ist. Was die Fans angeht – Kid kündigt nicht alle seine Coups im Voraus bei der Presse an. Viele seiner Ankündigungen gehen nur an die Polizei, und Nakamori versucht dann für gewöhnlich, die Angelegenheit diskret zu behandeln. Ich glaube nicht, dass sich Kids Verfolger überhaupt bei den Diebstählen einmischen, die viel Publikum anziehen, daher sind seine Fans relativ sicher.“ „Ja, wie sicher sie sind, hast du letzten Samstag ja deutlich zu spüren bekommen“, murmelte Shiho. Kudo-kun zuckte zusammen. „Ich bin kein Fan! … Und es ist nicht so, dass er mich nicht gewarnt hätte. Er hat gesagt, dass ich mich nicht in seine Angelegenheiten einmischen soll.“ „Was du natürlich geflissentlich ignoriert hast.“ Irgendwie brachte Shiho es nicht mal mehr fertig, wütend zu sein. „Natürlich, du kennst mich doch. Aber jetzt ist es zu spät, einen Rückzieher zu machen, und es gibt noch eine Sache, die wir klären müssen. Dieser Mann“ – er deutete wieder auf das Foto – „ist bereits im Strafregister der Polizei eingetragen, unter dem Decknamen Jackal. Daher habe ich auch dieses Foto. Sein Gesicht kam mir gleich bekannt vor, aber es hatte eine Weile gedauert, bis ich es zuordnen konnte. Ich hatte ihn schon einmal bei einem Kid-Coup gesehen – die Crystal Mother.“ „Jackal passt nicht zu den Decknamen der Organisation“, wandte Shiho ein. „Und Snake auch nicht - So hatte Kid ihn genannt. Und das ist nicht die einzige Unstimmigkeit: Er und seine Leute trugen keine schwarze Kleidung, sondern braune.“ „Und du glaubst trotzdem, dass er zur Organisation gehört?“, fragte Shiho zweifelnd, fast schon hoffnungsvoll. „Das alles klingt überhaupt nicht nach ihnen.“ „Das ist ja das Problem. Wenn er nicht zur Schwarzen Organisation gehört, würde das bedeuten, dass es eine zweite einflussreiche Verbrecherorganisation in Tokyo gibt, die in der Lage ist, den Mord an einem berühmten Meisterdieb zu vertuschen und seinen ebenso berühmten Nachfolger unbemerkt von Polizei und Öffentlichkeit zu jagen. Kannst du dir vorstellen, dass Anakota das zulässt?“ Shiho ließ es sich durch den Kopf gehen. Anakota war bekannt für seine Vorsicht, aber er war weder dumm noch feige. Es war durchaus denkbar, dass er eine offene Konfrontation mit einer weiteren Verbrecherorganisation meiden würde, doch nur wenn … „Ich denke, es hängt davon ab, inwieweit sich die Interessen der beiden Organisationen überschneiden“, sagte Shiho langsam. „Falls diese zweite Organisation wirklich existiert, könnte es sein, dass Anakota sie gewähren lässt, solange sie ihm und seinen Plänen nicht in die Quere kommt und solange sie keine bedrohliche Konkurrenz für ihn wird. Allerdings würde er ihre Tätigkeiten streng überwachen und einige Maulwürfe bei ihnen einschleusen.“ „Hmmmmm … interessant. Es wäre also wahrscheinlich, dass diese zweite Organisation – falls sie existiert – längst von unserer Organisation unterwandert wurde. Vielleicht arbeiten sie auch für einen Strohmann, ohne es zu wissen.“ Kudo-kun gab seinem Fußball einen kleinen Stoß und sah zu, wie er quer durch das Zimmer kullerte. Er betrachtete den Ball noch eine Weile lang nachdenklich, dann drehte er sich wieder zu ihr um und grinste breit. „Wir sollten das von der positiven Seite betrachten: Je mehr wir über Kid und diese zweite Organisation herausfinden, desto näher kommen wir auch an die Schwarze Organisation heran.“ Shiho holte aus und trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein. ~ ~ ~ „Wenn ich mir noch einen einzigen Mikrofiche ansehen muss, muss ich kotzen.“ Shiho, die stundenlange Arbeit an flimmernden Bildschirmen mit kleiner Schrift gewöhnt war, schob unbarmherzig ein weiteres Plättchen in das Lesegerät ein. „Du warst es doch, der in die Bibliothek gehen und alte Zeitungsartikel über Kid-Coups durchackern wollte, um nach Hinweisen auf diesen Snake und seine Organisation zu suchen.“ Sie flüsterte, obwohl es eigentlich nicht notwendig war, denn sie waren allein in einem alten Hinterzimmer der Bibliothek. „Ja, schon, aber ich hatte nicht bedacht, dass sie so alte Zeitungsartikel in Form von Mikrofiches archivieren … das ist doch Folter!“ Shiho ließ ihren Blick über den Bildschirm schweifen, auf dem ein alter Zeitungsartikel über den Diebstahl eines Diamant-Colliers in Frankreich angezeigt wurde - in überaus dürftiger Qualität und in sehr kleiner Schrift, die bei Vergrößerung des Bildes so unscharf wurde, dass man sie gar nicht mehr lesen konnte. „Wir können auch einfach wieder gehen.“ „Nein!“, sagte Kudo-kun sofort. „Wir machen weiter!“ „Dachte ich’s mir doch.“ „Was ist das denn jetzt?!“, fragte Shiho, als Kudo-kun plötzlich einen kleinen Papierstapel aus seinem Rucksack zog. „Unterlagen über die Raubzüge, die beide Kaito Kids im Laufe ihrer Karriere durchgeführt haben“, antwortete Kudo-kun. „Chronologisch geordnet. Ich hätte ja gerne Einsicht in die Akte 1412 genommen, aber da Nakamori das Ding hütet wie eine Glucke ihre Küken, musste ich im Internet recherchieren.“ Die Erinnerung daran schien ihn zu reizen; ein leicht genervter Ausdruck trat auf sein Gesicht. „War nicht ganz einfach, seriöse Daten zu finden. Das meiste Zeug, das ich im Internet gefunden habe, war totaler Unfug … irgendwelche Diskussionen auf Fanseiten darüber, ob Kid ein gefallener Engel oder ein Vampir ist. Und seltsame Fanfictions, die mich für den Rest meines Lebens traumatisiert haben.“ (Shiho nahm sich vor, bei Gelegenheit mal nach diesen Fanfictions zu googlen.) „Ich habe sogar versucht, Oto-san anzurufen“, fuhr Kudo-kun fort. „Weil ich weiß, dass er und der erste Kid ein ähnliches Rivalen-Verhältnis zueinander hatten wie ich und sein Nachfolger. Ich konnte ihn aber noch nicht erreichen.“ Er breitete die Unterlagen auf dem Tisch aus. „Ich habe nach Hinweisen gesucht, die auf eine Einmischung von diesem Snake deuten … Unstimmigkeiten, Anzeichen von Gewalt … ich habe mich besonders auf die Diebstähle konzentriert, die sich kurz vor dem Verschwinden des ersten Kaito Kid ereignet haben, bin aber nicht fündig geworden. Ich habe – einmal abgesehen von den Coups, bei denen ich selbst anwesend war – nur einen gefunden, der von Gewalt überschattet wurde. Dieser Coup hat vor 13 Monaten stattgefunden. Ein Interpol-Beamter ist mit Kids Beute in der einen und einem Handschuh von Kid in der anderen Hand von einem Lagerhaus gestürzt und gestorben. Aber ich weiß noch nicht, ob das etwas mit dieser Organisation zu tun hat. Deshalb möchte ich in die Bibliothek gehen und nach alten Zeitungsartikeln über die Diebstähle suchen; vielleicht finde ich auf diese Weise mehr heraus.“ Er betrachtete seine Unterlagen einen Moment lang schweigend, dann hob er den Kopf und sah sie fragend an. „Kommst du mit?“ Shiho warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Tür, die zu Agasas Keller und ihrem gemeinsamen Labor führte. „Also gut. Aber nur, um dich vor Dummheiten abzuhalten.“ Und weil sie selbst aus irgendeinem Grund nicht wollte, dass dieser idiotische Dieb in Gefahr geriet. Aber das brauchte Kudo-kun nicht wissen. „Okay, das reicht jetzt“, sagte Shiho nach weiteren 20 erfolglosen Minuten genervt. „Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du mir wie ein wütender Stier ins Ohr schnaufst.“ „Ich schnaufe nicht!“, empörte sich Kudo-kun. „Und ob du das tust! Wenn dich das Lesen dieser Mikrofiches so anstrengt, dann mach halt mal 'ne Pause, aber hör auf, mich zu stören.“ Zuerst glaubte sie, er wollte protestieren, doch dann zuckte er nur mit den Schultern und stand von seinem Stuhl auf. „Also gut, dann …“ Er nahm seine Brille ab, rieb sich mit den Handknöcheln über die Augenlider, setzte sie wieder auf und wandte sich schließlich einem Computer zu, der in der Ecke des abgedunkelten Raumes stand. „Werde ich etwas anderes ausprobieren … wollte das eigentlich nicht tun …“ Shiho ignorierte sein kryptisches Gemurmel und konzentrierte sich wieder auf den Text auf ihrem Bildschirm. Aber es sah nicht danach aus, als ob ihr dieser Zeitungsartikel irgendwelche wichtigen Informationen liefern würde. Alles, was sie bisher herausgefunden hatte, war, dass die Polizei wirklich nicht aus ihren Fehlern lernte, dass der Name „Kaito Kid“ durch Kudo-kuns Vater in Umlauf gebracht worden war, weil dieser die Ziffernfolge 1412 mit den Großbuchstaben KID verwechselt hatte (aber solche seltsamen Zufälle war sie inzwischen gewöhnt) und dass sich der erste Kaito Kid während seiner Diebstähle wirklich genauso verhalten hatte wie der aktuelle. Sie machte ein Häkchen hinter dem Datum auf Kudo-kuns Liste und suchte einen neuen Mikrofiche aus ihrer Kiste heraus, auf dem ein Diebstahl dokumentiert war, der sich zwei Monate später ereignet hatte. Fünf Minuten später wurde sie in ihrem Lesefluss von einem entsetzten Keuchen unterbrochen. „Aber das ist doch … das kann nicht sein!“ Shiho verdrehte die Augen. Immer, wirklich immer, wenn Kudo-kun bei seinen Ermittlungen irgendetwas Verdächtiges bemerkte und seiner Verwunderung Luft machte, brach er in der Mitte ab, damit der Zuhörer auch ja nicht begreifen konnte, was los war. „Was ist denn?!“ „Ich habe nach berühmten Zauberkünstlern der letzten Jahre gegooglet und … Haibara, hast du eine Zeitung vom 6. April 19xx?“ Shiho war mit ihrer Recherche erst beim Vorjahr angelangt, aber sie hatte die Kiste mit den Fiches des richtigen Jahres bereits auf ihrem Tisch zu stehen, und tatsächlich war eine Zeitung vom 6. April auf einem Mikrofiche gespeichert. Sie tauschte die Plättchen im Lesegerät aus und brauchte nicht lang suchen, der richtige Artikel sprang ihr regelrecht ins Auge: ER KAM UND GING MIT EINEM KNALL Tod eines Zauberers erschüttert Japan Er war der berühmteste und talentierteste Zauberkünstler Japans und viele Kritiker bezeichneten ihn ohne zu zögern als den „größten Magier aller Zeiten“. Wenn Kuroba Toichi (31 Jahre) die Bühne betrat, konnte sich niemand seinem Bann entziehen. Doch damit ist es nun vorbei: Kuroba-san starb gestern Abend um 19:30 Uhr während eines Auftritts und reihte sich damit in die tragische Kette bizarrer Zauberertode ein. „Zuerst dachten alle, es wäre ein Teil seiner Show“, berichtete uns eine Zuschauerin. „Er kletterte in eine Kiste, warf uns allen ein geheimnisvolles Lächeln zu, und als er die Kiste hinter sich schloss, explodierte sie. Ich weiß noch, dass viele Zuschauer vor Begeisterung laut klatschten und pfiffen. Erst, als einer der Vorhänge Feuer fing, wurde uns plötzlich klar, dass da etwas nicht stimmte.“ Shiho überflog den Rest des Artikels. „Wunder, dass es keine weiteren Verletzte gab, Spekulationen über Selbstmord dementiert … da fällt kein einziges Wort über einen Mordverdacht.“ Kudo-kun, der wieder neben ihr Platz genommen hatte, starrte mit einer Intensität auf den Bildschirm, die ihr Unbehagen bereitete. „Kudo-kun?“ „… Hm?“ „Bist du dir sicher, dass Kuroba der Richtige ist? Der Zeitpunkt passt und die Umstände seines Todes sind verdächtig, aber wir sind immer davon ausgegangen, dass Kid nicht als Privatperson, sondern in seiner Rolle als Kaito Kid bei einem Diebstahl ermordet wurde.“ „Er ist es. Ich weiß es einfach. Haibara, ich … ich kannte diesen Mann. Kuroba Toichi war nicht nur ein erstklassiger Zauberkünstler, er war auch ein Meister der Verkleidung. Er hat meine Mutter unterrichtet.“ Das war so absurd, dass Shiho beinahe anfing zu lachen. „Warum wundert mich das überhaupt noch?!“ Kudo-kun überging die Frage. „Außerdem …“ Er deutete auf die letzte Zeile des Artikels. Kuroba-san hinterlässt eine liebende Frau (29 Jahre) und einen kleinen Sohn (8 Jahre). „Sein Alter passt auch.“ „… Der Sohn also.“ Shiho betrachtete das kleine Wörtchen „Sohn“ in dem Artikel und spürte eine seltsame Mischung aus Unglauben und Ehrfurcht. Es war bei Weitem nicht so intensiv, aber trotzdem vergleichbar mit dem Gefühl, das sie befallen hatte, als sie den Prototypen des Apotoxin fertig gestellt hatte – bevor sie ahnen konnte, dass man ihre Entdeckung für Mord und Totschlag missbrauchen würde. Sie waren einer lebenden Legende auf die Spur gekommen. Zumindest glaubte Kudo-kun das, aber wenn er es glaubte, konnte sie davon ausgehen, dass es stimmte. „Du weißt, was das bedeutet, oder?“, sagte sie nach einer Weile betroffenen Schweigens. „Das kann nicht das Werk der Organisation sein. Sie hätten die Familie nicht am Leben gelassen.“ „Keine losen Enden“, murmelte Kudo-kun. „Ich verstehe einfach nicht, warum Oto-san nicht in diesem Fall ermittelt hat. Er muss doch geahnt haben, dass da etwas faul ist. Und Kaa-san kannte Kuroba.“ „Vielleicht hat er ja ermittelt und du weißt es nur nicht?“ Er zog eines seiner Handys – das von Shinichi, nicht das von Conan – aus seiner Hosentasche und versuchte abermals, seinen Vater anzurufen. Ohne Erfolg. „Dieser –! Versteckt sich wahrscheinlich wieder vor seinen Verlegern!“ Das Klingeln eines Handys ertönte – zuerst glaubte Shiho, es wäre Kudo-kuns Vater, der zurückrief, und er schien es im ersten Moment auch zu denken, denn er schaute hoffnungsvoll auf sein Handydisplay. Dann begriffen sie beide, dass es Shihos Klingelton war. „Das ist Ayumi“, sagte Shiho, bevor sie das Gespräch entgegen nahm. „Hallo?“ „Ai-chan, Ai-chan!“, rief das Mädchen aufgeregt. „Hast du es schon gehört?“ Shiho blinzelte. Die aufgeregte, fröhliche Kinderstimme passte weder zu ihrem abgedunkelten Bibliothekszimmer, noch zu dem dunklen Geheimnis, das sie und Kudo-kun gerade verfolgten. Und das brachte sie ein wenig aus dem Konzept. „Was soll ich denn gehört haben?“ „Kid-san hat eine neue Ankündigung gemacht! Ist das nicht toll?“ Shihos Augenbrauen schossen in die Höhe. „Nein, davon wusste ich nichts.“ Und sie war sich nicht sicher, ob das wirklich so toll war, wie Ayumi-chan dachte. „Vielleicht sollten wir Conan-kun besuchen und ihm davon erzählen, was meinst du? Das muntert ihn doch sicher auf!“ „Auf keinen Fall!“, sagte Shiho sofort. „Ich habe dir doch gesagt, dass er noch nicht fit genug ist, um Besuche zu empfangen. Und es würde ihm nicht helfen, davon zu erfahren, im Gegenteil. Du weißt doch, wie Edogawa-kun ist. Er würde sich sofort aus dem Bett quälen und wieder versuchen, Kid aufzuhalten. Und das würde seinen Gesundungsprozess massiv beeinträchtigen.“ Der neugierige, leicht amüsierte Ausdruck verschwand bei der Erwähnung von Kid sofort aus Kudo-kuns Gesicht. „Oh“, sagte Ayumi-chan hörbar enttäuscht. Kudo-kun lief zurück zum Computer, zweifellos, um im Internet nach einer neuen Ankündigung von Kid zu suchen. Ayumi-chans Enttäuschung schlug derweil mit einer Schnelligkeit um, die für Kinder zwar typisch war, Shiho aber immer noch ein wenig bestürzte, obwohl sie inzwischen daran gewöhnt sein müsste. „Wie wäre es dann, wenn du zu uns kommst und wir gemeinsam versuchen, das Rätsel zu lösen? Mit deiner Hilfe schaffen wir es bestimmt! Conan-kun wird sicher ganz stolz auf uns sein, wenn wir es schaffen!“ Shiho haderte mit sich selbst. Sie hatte keine Zeit für so etwas, doch sie wollte die Kinder ungern ein zweites Mal an diesem Tag vor den Kopf stoßen. „Vielleicht später. Ich habe jetzt keine Zeit, ich muss noch etwas Wichtiges für Agasa-hakase erledigen. Aber ihr könnt es ja schon einmal ohne mich versuchen, das ist sicher ein gutes Training für euch. Ich rufe später noch mal an, in Ordnung?“ Sie legte auf, bevor Ayumi-chan antworten konnte, und gesellte sich zu Kudo-kun an den Computer. „Ich hätte nicht gedacht, dass er so kurz nach dem Tod des Polizisten schon einen weiteren Diebstahl ankündigen würde.“ „Hat er ja auch nicht.“ Kudo-kun tippte mit dem Zeigefinger gegen den Bildschirm, auf dem ein Newsticker mit der neuen Ankündigung angezeigt wurde. „Das ist nicht von Kid.“ Also wieder mal ein Nachahmer, oder jemand, der versuchen wollte, sein eigenes Verbrechen in Kaito Kids Schuhe zu schieben? Shiho verstand nicht, warum diese Idioten das immer wieder versuchten; inzwischen sollte doch klar sein, dass Kid sich so etwas nicht gefallen ließ. Sie begann zu lesen: Wenn die vierte Stunde schlägt Werde ich stehlen, was ich zuvor nie gewagt 44 kleine Schätze Und stündlich wird einer genommen Wenn die vierte Stunde schlägt Kannst du verhindern, was zuvor nie geschah Dort, wo es begann Kehrst du zurück, ein letztes Mal - Kaito Kid „Die Schrift und die Kid-Karikatur wirken ziemlich authentisch“, stellte Shiho fest. „Aber der eigentliche Text … Kid drückt sich normalerweise etwas nebulöser aus. Weißt du schon, worum es geht?“ „Ja.“ Kudo-kuns grimmiger Tonfall ließ sie aufhorchen. „Sie versuchen, Kid zu erpressen.“ „Sie?“ „Schau dir den zweiten Vers an: Werde ich stehlen, was ich zuvor nie gewagt. Nakamori hat es einmal gesagt: Es gibt nur eins, das Kid nicht stiehlt, nämlich das Leben. Haibara, dieses Gedicht ist eine Morddrohung.“ Shihos Mund wurde trocken. Kudo-kun grinste humorlos. „Stell dir vor, du willst Kaito Kid aus dem Weg räumen, aber du schaffst es nicht, ihn während seiner Diebstähle zu erwischen. Es gibt zu viele Polizisten und zu viele Fans, es ist einfach zu auffällig und zu gefährlich. Was tust du also? Du versuchst, außerhalb seiner Coups an ihn heranzukommen. Und wie? Nun, Kid ist berühmt dafür, dass er niemanden verletzt, und vor wenigen Tagen ist er dazwischen gegangen, als sie mich mit einer Waffe bedroht hatten, obwohl das nicht gerade ungefährlich war. Du kannst also durchaus davon ausgehen, dass er nicht die Hände in den Schoß legen wird, wenn du ihm mit dem Tod von unschuldigen Menschen drohst. Du nimmst dir also ein paar Geiseln und behauptest, sie zu töten, wenn er sich nicht freiwillig ausliefert. Aber du weißt nicht, wer Kid ist, und du hast keine Möglichkeit, ihn privat zu kontaktieren. Also suchst du dir eine Methode, die einerseits so auffällig ist, dass er schnell auf die Botschaft aufmerksam wird, aber gleichzeitig nicht auf dich selbst zurückzuführen ist. Zuerst werden alle denken, dass es nur eine seltsame Botschaft von Kid ist, und falls jemand durchschaut, dass die Forderung eines Geiselnehmers dahintersteckt …“, Kudo-kun zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern, „wird es trotzdem schwierig sein, den eigentlichen Drahtzieher zu ermitteln. Kid hat schon mehrmals direkt oder indirekt zur Überführung und Verhaftung von Verbrechern beigetragen, er hat sicher eine Menge Feinde in der Unterwelt. Im Notfall werden sie es irgendeiner kleinen kriminellen Gruppierung in die Schuhe schieben, zum Beispiel den Akai Shamuneko.“ Shiho wurde kalt ums Herz. So sehr sie es auch drehte und wendete, Kudo-kuns Schlussfolgerung ergab auf grausame Weise einen perfekten Sinn. „Dort, wo es begann“, murmelte sie. „Damit ist wahrscheinlich der Ort gemeint, an dem Kid und diese Organisation sich zum ersten Mal begegnet sind.“ „Und den praktischerweise niemand sonst kennt. Das Schlimmste daran ist, dass der aktuelle Kid es vielleicht selbst nicht weiß. Diese Entführer glauben offenbar, sie hätten damals den falschen erwischt und dass der aktuelle und der zweite Kid ein und dieselbe Person sind. Ansonsten hätten sie Kurobas Sohn doch längst aufs Korn genommen.“ „Und die 44 kleinen Schätze …“ „Der Schulbus aus Kyouto, der gestern spurlos verschwunden ist. Da saßen 44 Kinder drin, die immer noch vermisst werden. Und ein Fahrer, der wahrscheinlich schon tot ist.“ Shiho schaute auf die Uhr des Computers, dann auf ihre eigene Armbanduhr, um die Zeiten zu vergleichen. Kein Zweifel, es war wirklich schon 14:56 Uhr. Wenn die vierte Stunde schlägt … Kid hatte nur noch eine Stunde und vier Minuten, um den ersten Mord zu verhindern. ~ ~ ~ AN: Ein sehr dialoglastiges Kapitel. ^^' Aber diese Dinge mussten mal gesagt werden, oder habt ihr gelaubt, dass Shinichi nach allem, was passiert ist, einfach die Hände in den Schoß legt und Däumchen dreht? xD Natürlich nicht. Ich weiß, es ist fies, dass ich am nach dem letzten Kapitel einfach auf den nächsten Tag und zu anderen Charakteren gewechselt bin. Ich hoffe, die Wendung am Ende dieses Kapitels entschädigt euch dafür, immerhin wisst ihr jetzt, warum Kaito in so großer Gefahr schwebt. Die Einleitungsphase ist nun endgültig abgeschlossen, ab jetzt geht es Schlag auf Schlag weiter. Kaito muss einen Weg finden, um die Kinder zu retten und Shinichi muss einen Weg finden, um Kaito dabei zu helfen ... und Heiji wird auch einen kleinen Part spielen. Ich hatte die Schulbusentführung (die übrigens schon im ersten Kapitel erwähnt wird) absichtlich nach Kyouto verlegt, weil Kyouto so dicht an Osaka liegt. ^^ Ihr habt es vielleicht schon bemerkt: Ich habe in den Author Notes immer von "Shinichi" und nicht von "Conan" gesprochen. Ich habe nämlich nachträglich beschlossen, das "Conan" in der Vorgeschichte und im Prolog konsequent durch "Shinichi" zu ersetzen. Weil Shinichi (und Shiho, für sie gilt das Gleiche), obwohl er in Conans Gestalt gefangen ist, nach wie vor Shinichi ist und sich seine Persönlichkeit dadurch nicht ändert. Bei ihm ist es anders als bei Kaito, der in eine andere Persönlichkeit schlüpft, wenn er zu Kaito Kid wird. Es ärgerte mich schon seit längerer Zeit, dass ich überhaupt erst damit angefangen hatte, ihn "Conan" zu nennen, und nun habe ich mich dazu durchgerungen, es nachträglich zu ändern. Ich hoffe, das ist okay für euch. Danke fürs Lesen und bis zum nächsten Mal! :) nächstes Kapitel: Showtime Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)