Der letzte Wille von Nugua (Sequel zu "Die letzte Frage") ================================================================================ Kapitel 2: Unter der Fassade ---------------------------- Kaito summte fröhlich vor sich hin, während er die letzten Meter zu seinem Elternhaus hinter sich brachte. Er summte fröhlich, während er den viel zu ordentlichen Garten durchquerte (Eine Illusion. Die Kurobas passten nicht zu dem Bild, das ihr sauberer Klein-Familien-Garten vermittelte.) und er summte fröhlich, während er eine Runde um das Haus drehte, um zu überprüfen, ob noch alles so war, wie er es verlassen hatte (Er hatte kaum sichtbare Drähte vor den Fenstern gespannt, die unweigerlich reißen mussten, wenn jemand versuchte, durch die Fenster ins Haus zu gelangen. Und die Fußmatte lag immer in einem ganz bestimmten Winkel vor der Haustür.) Und natürlich summte er auch, während er die Haustür aufschloss und das Haus betrat. Erst, als die Haustür hinter ihm mit einem beruhigenden Klicken ins Schloss fiel, erlaubte er sich, die Maske des fröhlichen, sorglosen Jungen fallen zu lassen. Mit dem kalten Holz der Tür in seinem Rücken ließ er sich lautlos seufzend zu Boden sinken. Es war einer dieser Tage, an denen es ihn selbst erschreckte, wie leicht ihm die Lügen inzwischen von den Lippen gingen. An denen er den Schatten von Argwohn und Sorge in Aokos Augen sah und dachte: Verdammte Scheiße, was hast du nur angerichtet? Und doch war Aoko im Moment seine geringste Sorge. Kaito schloss die Augen – ein fruchtloser Versuch, seine Probleme für einen kurzen Moment lang auszublenden. Sein Unterbewusstsein machte ihm einen Strich durch die Rechnung und beschloss, ihn mit seinen Schuldgefühlen wegen Takishima zu bedrängen, statt einfach einmal abzuschalten. Seine Gabe, sich Bilder und Stimmen perfekt einzuprägen, hatte definitiv ihre Schattenseiten, denn plötzlich war alles wieder da: Takishimas kreideweißes Gesicht, seine vom Schmerz verschleierten Augen, sein kraftloses Flüstern, der Schmerz und die Angst in seiner Stimme und der Geruch von Blut … und das Gefühl der Hilflosigkeit, weil er nicht in der Lage gewesen war, dem Mann zu helfen. Natürlich war Takishimas Tod nicht seine erste Konfrontation mit Mord und Gewalt: Kaito, besser gesagt sein Alter Ego Kaito Kid, war schon mehrmals Zeuge eines Mordes geworden (vor allem wenn Kudo in der Nähe war, schienen die Leichen geradezu vom Himmel zu regnen) und einmal hatte ein Mörder sogar die Nerven gehabt, ihm seinen Mord in die Schuhe schieben zu wollen. Kid hatte nicht verhindern können, dass Jack Connery alias Nightmare in den Tod gestürzt war, genauso wenig wie er verhindern konnte, dass Seiran Hoshi alias Scorpion auf ihrer Suche nach dem Farbergé-Ei eine Spur von Leichen hinter sich gelassen hatte. Er hatte auch nicht verhindern können, dass Maki Juri von ihrer Kosmetikerin umgebracht wurde, als er gerade im Flugzeug gewesen war, um ihren Saphir zu stehlen. All diese (und noch einige andere unangenehme) Erlebnisse hatten durchaus an Kaitos Nerven gezehrt, und doch war keines davon auch nur annähernd so emotional belastend gewesen wie Takishimas Tod. Weil er für keinen dieser Morde und Todesfälle direkt verantwortlich gewesen war; er war einfach nur mehr oder weniger zufällig in der Nähe gewesen. Aber Takishimas Fall war anders, diesmal war er direkt verantwortlich, und das war eine Erfahrung, von der Kaito immer gehofft hatte, sie niemals machen zu müssen. Er war nicht so arrogant, die ganze Verantwortung für sich allein zu beanspruchen, immerhin war jedem Polizisten bewusst, dass seine Arbeit gewisse Risiken mit sich brachte, und er war es auch nicht gewesen, der die tödliche Kugel abgefeuert hatte … aber er trug einen Teil der Schuld. Und dass Takishima Tantei-kun bedroht hatte, änderte nichts daran, dass Kaito sich wegen seines Todes schreckliche Vorwürfe machte. Er wusste inzwischen, wie es Snake gelungen war, Takishima zu erpressen – der Mann hatte horrende Spielschulden gehabt – und es war auch kein Geniestreich zu erraten, wie Takishima ihn in der Nacht seines Todes überhaupt so schnell gefunden hatte. Er hatte Kudo unbemerkt einen Peilsender untergejubelt, während Kudo ihm unbemerkt einen Peilsender untergejubelt hatte (Kaito hätte die Ironie daran amüsant gefunden, wenn der Ausgang nicht dermaßen tragisch gewesen wäre.) Jetzt, im Nachhinein, war es für ihn offensichtlich, dass er und Kudo zu leichtsinnig gehandelt hatten - er, weil er Snake unterschätzt hatte, und Kudo, weil er sich niemals darum bemüht hatte, den Medienrummel um ihn als „Kid-Killer“ zu unterbinden. Es war ein logischer, wenn auch unerwartet cleverer Schachzug von Snake gewesen, sich Kudos Scharfsinn zu Nutze zu machen, um Kaito Kid auf die Spur zu kommen. Und Takishima hatte den Preis dafür zahlen müssen. Und Kaito war seinem Ziel, Pandora zu finden, und Snakes ominöse Organisation zu zerschlagen, keinen Schritt näher gekommen. Ein leises Geräusch unterbrach seine Gedanken. Kaito öffnete die Augen und sah wie Anri, eine seiner Tauben, die Treppe hinunterflatterte. Sie setzte sich leise gurrend auf seine Schulter, dann begann sie, ihren Kopf liebevoll gegen seine Wange zu reiben. Kaito lächelte; er stieß ein paar leise, melodische Pfeiftöne aus, die prompt von seiner Taube erwidert wurden. Mehrere Minuten lang blieb er einfach vor seiner Haustür sitzen, während er über Anris Gefieder strich und leise Pfeiftöne mit ihr austauschte. Kaito liebte jede einzelne seiner Tauben und er hatte ihre Gesellschaft in düsteren Stunden schon immer als tröstlich empfunden – nicht so tröstlich, wie ein netter kleiner Schabernack während des Unterrichts, aber immerhin. „Wird Zeit, dass wir nachschauen, welche Informationen deine Freundin uns geliefert hat, nicht wahr?“, sagte er schließlich. Er stieg, mit Anri auf seiner Schulter, die Treppe hinauf und betrat sein Schlafzimmer. Anri flatterte von seiner Schulter und macht es sich stattdessen auf der Gardinenstange bequem, während er seine Schultasche zu Boden fallen ließ und sich seinem Schreibtisch näherte. Ein aufgeklapptes Notebook stand dort; der Bildschirmschoner war aktiv und zeigte ein Familienfoto von ihm und seinen Eltern. Er drückte wahllos irgendeine Taste, der Bildschirmschoner wurde deaktiviert und ein Video-Fenster wurde sichtbar. Es handelte sich um die Life-Übertragung einer Mini-Kamera, die er an der Kralle einer anderen Taube befestigt hatte, um Kudo … nun ja, auszuspionieren war das falsche Wort. Zu überwachen passte da schon besser. Natürlich nur zu seiner eigenen Sicherheit. Die ersten zwei Tage nach Snakes Überfall hatte Kaito größtenteils damit verbracht, Kudo persönlich zu beobachten, weil er befürchtet hatte, dass Snake seine Leute auf den geschrumpften Detektiv und die Moris hetzen würde, um einen lästigen Zeugen aus dem Weg zu räumen. Seine Sorge schien jedoch unbegründet gewesen zu sein – Kudo war zwar an beiden Tagen in gewohnter Manier über Leichen gestolpert, doch Snake hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, ihn zu töten. Worüber er natürlich erleichtert war, aber … es machte ihn auch ein wenig stutzig. Kaito hatte nur zwei mögliche Erklärungen für das Ausbleiben eines Angriffs parat: Entweder war „Edogawa Conan“ in Snakes Augen einfach keine Bedrohung, die es wert war, eliminiert zu werden (Wenn der nur wüsste!) oder Snake wagte es nicht, gegen einen berühmten Mann wie Mori Kogoro vorzugehen und damit noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Keine dieser Erklärungen überzeugten ihn wirklich, aber solange Kaito keine weiteren Informationen hatte, musste er diese Eigentümlichkeit einfach hinnehmen und sich darüber freuen – so, wie er es auch mit dem merkwürdigen Fakt tat, dass Snake nach der Ermordung seines Vaters nie auf den Gedanken gekommen war, auch die restliche Familie Kuroba auszuschalten. Nachdem Snake zwei Tage lang keine Anstalten gemacht hatte, die Detektei Mori in die Luft zu jagen oder Kudo anderweitig auszuschalten, war Kaito etwas zögerlich zu dem Schluss gekommen, dass es nicht länger notwendig war, seinen Rivalen auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Der Kerl hatte oft genug bewiesen, dass er auch auf sich selbst aufpassen konnte, und Kaito hatte schließlich noch andere Dinge zu tun als einen seiner ärgsten Widersacher zu stalken. Trotzdem hatte er es sich nicht nehmen lassen, eine seiner Tauben an Kudos Fersen zu heften, nur für den Fall … denn Takishimas Tod hatte ihm wieder schmerzhaft bewusst gemacht, wie schnell sein Glück sich gegen ihn wenden konnte. Kaito maximierte das Video-Fenster, sodass es den ganzen Bildschirm seines Notebooks einnahm. Die Bildqualität war nur durchschnittlich und die Aufnahme erfolgte aus einem ungünstigen Winkel, aber für seine Zwecke genügte es. Er konnte Kudo trotz der großen Entfernung zwischen ihm und der Kamera gut genug erkennen und erlaubte sich ein erleichtertes Aufatmen: Kudo war also immer noch am Leben, immerhin etwas. Dann wurde ihm plötzlich klar, was Eli, seine Taube, da gerade filmte, und er stöhnte innerlich. „Meitantei, vergeht eigentlich auch mal ein Tag in der Woche, an dem du keinen Mordfall aufklären musst?“, murmelte Kaito halblaut – denn genau das geschah gerade irgendwo in einer anderen Ecke von Tokyo. Kudo und die Moris standen zusammen mit den beiden Polizisten Takagi und Sato um einen Mann mittleren Alters herum, der mitten auf dem Bürgersteig lag und ziemlich tot aussah. Kein Wunder, dass Tantei-kun ständig so leicht reizbar ist, dachte Kaito in einem Anflug trockenen Humors. Mir würde es auch ziemlich aufs Gemüt schlagen, ständig auf Leichen zu stoßen … Kaito konnte das Gespräch der Leute nicht mitverfolgen, dafür war die Kamera zu weit von ihnen entfernt. Trotzdem fiel es ihm leicht nachzuvollziehen, was gerade geschah: Mori diskutierte mit den Polizisten über irgendwas, die Polizisten schienen sich unsicher zu sein, ob sie seinen Beitrag ernst nehmen sollten, während Kudo auf dem Boden herumkroch, irgendwas von der Straße aufhob und die Diskussion mit einer – für sie – seltsamen und unerwarteten Frage unterbrach. Dieselbe Leier wie sonst auch immer, gähn. Kaito beschloss, es damit gutsein zu lassen. Tantei-kun lebte noch und das war alles, was er zu wissen brauchte. Kaito verkleinerte das Video-Fenster und öffnete stattdessen eines seiner E-Mail-Konten. Eine einzelne neue E-Mail wartete im Posteingang auf ihn; sie sah aus wie eine typische Junk-Mail (ein englischer, nichtssagender Betreff, ein unbekannter Absender und ein dubioser Datei-Anhang), doch Kaito wusste, dass sie in Wahrheit von Jii stammte und dass die Verschlüsselung als Junk-Mail nur eine Tarnung war. Er öffnete die E-Mail. Sie enthielt keinen Text, aber einen ZIP-Ordner im Anhang. Nachdem er den Ordner heruntergeladen hatte, ließ er ihn durch ein spezielles Entschlüsselungsprogramm laufen. Er zog ein paar Jonglierbälle aus seinem Ärmel und jonglierte mit ihnen, während er die Entschlüsselung der Dateien im Ordner abwartete. Sein rechter Oberarm schmerzte leicht bei diesen Bewegungen, doch wenn er in Form bleiben wollte, musste er üben. Ein kurzer Blick auf das verkleinerte Video-Fenster auf seinem Bildschirm zeigte ihm, dass der „schlafende Kogoro“ gerade in Aktion getreten war. Ran, Takagi und Sato standen staunend um Mori herum, während sich „Conan“ hinter einen Hydranten kauerte und durch seinen Stimmenverzerrer zu ihnen sprach. Die Szene entlockte Kaito ein Schmunzeln. Kudo liebt es genauso sehr wie ich, eine Show abzuziehen. Ich frage mich, ob ihm das bewusst ist? Der große Unterschied ist nur, dass er sein Publikum dadurch begeistert, dass er Geheimnisse und Rätsel aufdeckt, während ich eben jene erzeuge. Ein leises Plopp-Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den ZIP-Ordner. Die erste Datei war entschlüsselt und geöffnet worden, und nun folgten die anderen Dateien im Sekundentakt. Kaito ließ die Jonglierbälle wieder verschwinden, und während seine Augen das Aufploppen der Dateien verfolgten, wurde sein Grinsen breiter und breiter. „Jii-chan“, flüsterte er ein wenig ehrfürchtig, „das ist großartig.“ Der Ordner enthielt mehrere Fotografien: ein Gebäudeplan, einzelne Ausschnitte des Gebäudeplans in Großansicht, das Gebäude von außen aus allen möglichen Winkeln, Nahaufnahmen des Eingangstors und diverser Fenster, eine Nahaufnahme eines Tresors, durch ein Fenster hindurch fotografiert, das Zimmer, in dem der Tresor stand, mit Infrarot-Kamera fotografiert, ein Mann (europäisch, Mitte 50, teurer Smoking) und ein anderer Mann, der aussah, als wäre er einer Werkstatt für Klischee-Bodyguards entsprungen. Neben diesen Fotografien gab es noch ein paar Zeitungsauschnitte, deren Datum fast fünf Jahre zurück lag. Einer davon zeigte das Foto eines eiergroßen Diamanten in einer Glasvitrine. Und dann war da noch ein Word-Dokument, das den üblichen Tagesablauf des Mannes im Smoking beschrieb. Der Mann im Smoking hieß Victor Scott; er war ein reicher britischer Unternehmer und in alle möglichen krummen Geschäfte verwickelt. Und der Diamant, der aufgrund seiner Tränenform und seines leicht grünlichen Glanzes Vernal Tear - „Frühlingsträne“ - genannt wurde, war schon seit einigen Wochen Kaitos Ziel. Damals war Kaito eher zufällig auf einen alten Zeitungsartikel gestoßen, weil Aoko ihn wegen eines Schulprojekts für den Englisch-Unterricht in die Bibliothek geschleift hatte. Dieser Artikel hatte vom Fund eines alten keltischen Tempels in Südengland berichtet, und die Vernal Tear zählte zu den Fundstücken, die aus dem Tempel geborgen werden konnten. Die Ursache für Kaitos großes Interesse an diesem Diamanten war ein Bericht des Forschers, der die Vernal Tear gefunden hatte. Angeblich hatte dieser Forscher in der ersten Nacht nach dem Fund beobachtet, wie der Stein im Mondlicht angefangen hatte, rot zu leuchten. Allerdings war dieses Leuchten nach dieser ersten Nacht nicht mehr aufgetreten und der Forscher hatte im Nachhinein versucht, seine Beobachtungen zu herunterzuspielen, aus Mangel an einer vernünftigen Erklärung und aus Furcht, von seinen Kollegen verlacht zu werden. Der Diamant war wenig später in ein Museum gewandert und wenige Monate darauf verschwunden, als das Museum einem Brand zum Opfer gefallen war. Kaito setzte große Hoffnungen darauf, dass der Brand und der Diebstahl der Vernal Tear nicht auf das Konto von Snakes Organisation ging, weil Snakes anhaltende Suche sonst bedeutet hätte, dass auch die Vernal Tear nicht Pandora war. Und die Dinge, die er bisher über die Vernal Tear in Erfahrung gebracht hatte, klangen einfach zu vielversprechend … Wesentlich vielversprechender als der Sunlight Spark, der sich nach kurzer Untersuchung in die lange Liste von Enttäuschungen eingereiht hatte. Allerdings hatte ihn seine Suche nach der Vernal Tear auch vor zwei entscheidende Probleme gestellt: Erstens hatte er keinen Anhaltspunkt gehabt, wo der Stein nach seinem Verschwinden abgeblieben war. Zweitens lag England nicht gerade um die Ecke und er hatte kaum Kontakte dort. (Einmal abgesehen von Hakuba. Aber er hätte schlecht einfach ins Haus des britischen Detektivs marschieren und „Yo, Hakuba! Ich suche einen Diamanten, der vor viereinhalb Jahren aus einem englischen Museum gestohlen wurde! Du weißt nicht zufällig, wo er ist?“ sagen können. Auch wenn Hakubas Reaktion gewiss überaus amüsant gewesen wäre.) Daher hatte Jii nach England reisen und ein paar alte Kontakte seines Vaters zu Rate ziehen müssen. Und nach einigen Tagen des ungeduldigen Wartens hatte sich Jii in der letzten Woche endlich gemeldet und ihm den Namen des Mannes genannt, der höchstwahrscheinlich der aktuelle Besitzer der Vernal Tear war. Aber damals hatte Kaito mitten in seinen Vorbereitungen für den Sunlight-Spark-Clou gesteckt und bereits Polizei und Presse informiert. Und jetzt, als er endlich Zeit hatte, sich mit Victor Scott auseinanderzusetzen, sah er sich mit einem neuen Problem konfrontiert: Wann sollte er nach England reisen und den Diamanten stehlen? Die Schulferien waren erst im nächsten Monat, aber so lange wollte Kaito nicht warten. Er konnte es sich aber auch nicht leisten, schon wieder mehrere Tage lang die Schule zu schwänzen, Aoko war schon misstrauisch und besorgt genug. Und ein einzelnes Wochenende war für einen Diebstahl wirklich knapp bemessen. Hm. Vielleicht wäre es besser, für dieses eine Mal von seiner üblichen Vorgehensweise abzuweichen und einfach keine Warnung abzugeben? Das würde ihn zwar um die Gelegenheit bringen, sich wieder einmal mit Hakuba zu messen, der sich einen Kid-Auftritt in seiner Nähe sicher nicht entgehen lassen würde, aber es wäre definitiv zeitsparender und sicherer. Und nach den Vorkommnissen bei seinem letzten Coup wäre es auch eine angenehme Abwechslung, sich einmal nicht um eine mögliche Einmischung von Snake Sorgen machen zu müssen. Andererseits konnte er es sich auch nicht leisten, Snake einfach aus dem Weg zu gehen, so wie er es in den letzten Wochen mit Kudo gemacht hatte, vor allem jetzt, da Snake seine Vorgehensweise so aggressiv geändert hatte. Er durfte nicht zulassen, dass er sich von Snake in eine Position drängen ließ, in der er nur reagierte. Er musste derjenige sein, der seinem Feind immer einen Schritt voraus war und die letzten Monate hatten deutlich gezeigt, dass das vorherige Ankündigen seiner Diebstähle nicht ausreichte, um Snake in die Arme der Polizei zu treiben. Er begann, erneut mit seinen Bällen zu jonglieren, während er nachdachte. Eins war klar: Nach Takishimas Tod wollte er mehr denn je, dass Snake im Gefängnis landete, schon allein wegen der Gefahr, die er für andere Menschen darstellte. Aber wie sollte er das anstellen? Er brauchte solide Beweise, deshalb hatte er immer darauf gepokert, dass die Polizei Snake während seiner Coups irgendwann auf frischer Tat ertappen würde. Aber er hatte ja gesehen, wie das enden konnte. Sollte er versuchen, seine Organisation zu unterwandern? Nein, das war unmöglich, er war zwar ein fantastischer Schauspieler, aber er wäre niemals in der Lage zu morden oder andere Gewaltverbrechen zu begehen, die dafür nötig wären, das Vertrauen einer solchen Organisation zu gewinnen. Sollte er versuchen, Snake eine Falle stellen? Ein Gerücht in Umlauf setzen, dass Pandora irgendwo in Japan aufgetaucht war, um- Bevor er den Gedanken zu Ende führen konnte, begann sein Handy zu klingeln. Er ließ die Bälle achtlos fallen und fisch- ahh, blöde Wortwahl!- holte sein Handy eilig aus seiner Hosentasche, denn er hatte noch gut in Erinnerung, wie Aokos letzte Reaktion ausgefallen war, als er einen Anruf von ihr verpasst hatte. Aber der Anruf kam gar nicht von Aoko. Sondern von seiner Mutter. Kaito starrte auf das Handy-Display, während er hastig die Zeiten umrechnete. In San Francisco musste es gerade nach zwei Uhr morgens sein, und ihm fielen nur zwei mögliche Gründe ein, warum sie ihn um diese Uhrzeit anrufen sollte … Er nahm das Gespräch entgegen und meldete sich mit einem unbefangenen „Hallo Kaa-chan.“ „Ah, Kai-chan“, antwortete seine Mutter. Sie sprach in einem aufgesetzt fröhlichen Tonfall, doch hinter dieser Fröhlichkeit lauerte Gefahr. Und sie hatte ihn Kai-chan genannt. Beides sichere Anzeichen dafür, dass sie wütend war und dass er in Schwierigkeiten steckte. „Ich bin froh, dass ich dich gleich erreichen konnte. Ich habe gerade erfahren, was letzten Samstag passiert ist und ich hielt es für besser, mich mal bei dir zu melden …“ Sie brauchte ihm nicht zu sagen, dass sie enttäuscht war, weil er sich nicht von selbst bei ihr gemeldet hatte. Das klang auch so deutlich durch. „Uhhh“, murmelte Kaito. Wenn sich jetzt ein Loch im Boden aufgetan hätte, wäre er dankend hineingesprungen. Wie schaffte es seine Mutter bloß immer so leicht, ihm das Gefühl zu geben, dass er immer noch ein 5-jähriger kleiner Rotzlöffel war – sogar durch das Telefon hindurch? War es einfach ein natürliches Mutter-Ding? Oder hatte es etwas damit zu tun, dass sie Phantom Lady war, ein professioneller Dieb genau wie er, und dass sie ihn deshalb so leicht durchschauen konnte? Er wusste es nicht, aber es war auf jeden Fall lästig. „Ja, ich hätte es dir gleich sagen sollen“, sagte er schließlich. „Ich weiß. Es ist nur, ich … ach, keine Ahnung! Es tut mir leid.“ Ein schweres Seufzen war zu hören, dann ein leises, trauriges Lachen. „Du bist genauso schlimm wie dein Vater. Rückst nie von selbst mit der Sprache raus, wenn dich etwas bedrückt – es könnte ja sein, dass sich dann andere Leute Sorgen um dich machen! Sei froh, dass ich gerade mehr als 800.000 Kilometer von dir entfernt bin, sonst würde ich dir Hausarrest erteilen.“ „Aber Kaa-chan!“, rief Kaito, und sein entsetzter Tonfall war nur zur Hälfte geheuchelt. „Kein Aber, junger Mann. Sag mir lieber, wie es dir geht.“ Er dachte an Takishima und an das viele Blut, an Takishimas Frau, an Tantei-kun mit einem Revolver am Kopf, an Aoko … Die Schussverletzung an seinem Arm begann zu kribbeln und zu jucken, aber er widerstand der Versuchung, daran zu kratzen. Bei jedem anderen Menschen hätte er versucht, die Sache herunterzuspielen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, aber er wusste, dass das bei ihr nicht funktionierte. Also beschloss er, die Wahrheit zu sagen. „Nicht so gut.“ Er hätte sie gerne gefragt, was genau sie gehört oder gelesen hatte, aber das konnte er nicht, ohne Kids Auftritt am Samstag direkt anzusprechen. Und sie versuchten immer, sich während ihrer Telefonate möglichst vage auszudrücken, für den unwahrscheinlichen Fall, dass es jemandem gelang, das Gespräch trotz all ihrer Sicherheitsvorkehrungen abzufangen. Seine Mutter schwieg mehrere Sekunden lang, dann fragte sie „Soll ich zurück nach Japan kommen?“ „Nein!“ Es platze viel zu laut und viel zu schnell aus ihm heraus und er fluchte innerlich, zwang sich, tief durchzuatmen. „Nein“, sagte er noch einmal, ruhiger diesmal. „Deine Geschäftsreise ist zu wichtig.“ Die Geschäftsreise, die nur ein Vorwand für sie war, um in den USA nach Pandora zu suchen. „Keine Geschäftsreise ist wichtiger als du, Kaito.“ Und er wusste, welche Gedanken sich hinter diesen Worten versteckten: Ich habe schon meinen Mann an Pandora verloren, ich will nicht auch noch dich verlieren. „Kaa-chan“, sagte er leise. „Du brauchst dir keine Sorgen machen. Ja, ich gebe zu, dass es mir gerade nicht besonders gut geht, aber das wird schon. Du kennst mich doch, ich lasse mich nicht so leicht unterkriegen.“ Er grinste. „Unkraut vergeht nicht.“ Und wieder ein Seufzen. Dann, nach einigem Zögern: „Ich will, dass du mich jetzt jeden Tag anrufst.“ „Jawohl, Ma’am.“ „Und wenn du es auch nur einen Tag vergisst, bin ich schneller in Japan als Ginzo-san ‚Scheiße!‘ rufen kann.“ „Ja, Ma’am.“ „Wie geht es dem Jungen?“ Ah. Also hatte sie auch mitbekommen, dass „Edogawa Conan“ in die Sache verwickelt war. „Dem geht’s gut. Ich hab ein Auge auf ihn, aber er kann sowieso gut auf sich selbst aufpassen.“ „Machst du dir keine Sorgen, dass er dich verraten könnte?“ „Was? Nein.“ Tatsächlich war ihm diese Möglichkeit noch gar nicht in den Sinn gekommen. „Wie kannst du dir da sicher sein? Er hat dich in der Vergangenheit schon mehrmals in Gefahr gebracht.“ Das stimmte natürlich. Er war seiner Verhaftung wegen Kudo tatsächlich schon mehrmals gefährlich nahe gekommen. Kaito konnte sich noch lebhaft an sein Entsetzen bei ihrer ersten Begegnung erinnern, als dieser unheimliche Knirps mit seinem verdammten Fußball ein Telefon in tausend Fetzen zerschossen hatte. Und er bezweifelte, dass er jemals vergessen würde, wie sein Herz vor Schreck für einen Schlag ausgesetzt hatte, als Kudo seinen Flaschenzug-Trick beim Purple-Nails-Fall durchschaut hatte und ihm auf dem Dach aufgelauert war. Und von den unzähligen Beulen und blauen Flecken, die er sich seinetwegen eingefangen hatte, wollte er gar nicht erst anfangen (aber das war nicht seine Schuld, Kudo ließ sich einfach viel zu leicht provozieren.) Allerdings hatte sich ihre Situation inzwischen drastisch verändert – Kaito machte sich schon seit längerer Zeit keine Sorgen mehr, dass Kudo ihn eines Tages hinter Gitter bringen könnte, denn darauf hatte es Kudo spätestens seit dem Aoko-Fall nicht mehr ernsthaft angelegt. Nein, seine Sorge galt einem anderen Problem, nämlich der Tatsache, dass Kudo inzwischen gefährlich dicht davor stand, sein Geheimnis aufzudecken. Und das war eine Vorstellung, mit der Kaito sich nur schwerlich anfreunden konnte. Er war inzwischen so sehr daran gewöhnt, sich hinter Lügen und Geheimnissen zu verstecken, dass der Gedanke, von einer anderen Person als seiner Mutter oder Jii durchschaut zu werden – und dann auch noch von einem Detektiv – extrem unangenehm für ihn war, sogar ein wenig beängstigend. Und allmählich begann er auch zu begreifen, wie schwer es für Kudo gewesen sein musste, als er die Wahrheit hinter Edogawa Conan entdeckt hatte. Er selbst hatte natürlich von Anfang an gewusst, dass er dieses Wissen niemals ausnutzen würde, um seinem Rivalen aktiv zu schaden, aber Kudo hatte das zu diesem Zeitpunkt unmöglich wissen können. Aber er konnte und wollte seiner Mutter das alles unmöglich am Telefon erklären. „Ich bin mir einfach sicher. Ich kann es nicht am Telefon erklären, ohne weit auszuholen, aber ich weiß einfach, dass er mich nicht in Gefahr bringen wird. In der Hinsicht musst du bitte meinem Urteilsvermögen vertrauen, Kaa-chan.“ „… Also gut.“ Sie seufzte widerwillig. „Und du bist dir wirklich sicher, dass du allein klarkommst?“, hakte sie noch einmal nach. „Absolut sicher, ja.“ „Wie geht es Aoko-chan?“ Er war dankbar für den Themenwechsel. Dankbar, dass sie seinen Wunsch, die Mission seines Vaters zu vollenden, respektierte. Dankbar für das Vertrauen in seine Fähigkeiten und in sein Urteilsvermögen, und dass sie selbst jetzt nicht versuchte, ihn aufzuhalten. Und dankbar, dass sie nicht versuchte, ihn mit leeren Phrasen wie „Es war nicht deine Schuld.“ abzuspeisen. Die meisten Menschen würden vielleicht denken, dass Kuroba Chikage eine schlechte Mutter war, doch er sah das anders. Kaito lachte leise. „Gut genug, um mich mit einem Mob zu verprügeln.“ „Nun, sie hatte sicher ihre Gründe. Wenn sonst nichts weiter ist, werde ich jetzt schlafen gehen. Es ist schon spät und ich habe morgen einen wichtigen Termin. Pass auf dich auf, Kaito.“ „Ich versprech’s. Gute Nacht, Kaa-chan.“ Genau in dem Moment, in dem er das Telefonat beendete, klingelte es an der Haustür. Es war ein wenig unheimlich, als hätte jemand den Zeitpunkt perfekt abgestimmt, und Kaito starrte mit einem Anflug von Paranoia auf das fortlaufende Video auf seinem Bildschirm, rechnete schon halb damit, sein eigenes Haus darin zu erkennen, weil Kudo ihm weiß der Teufel wie auf die Schliche gekommen war. Aber das Video zeigte die Detektei Mori in Frontansicht und Kaito konnte mit einiger Anstrengung erkennen, dass Kudo jetzt direkt hinter dem Fenster an einem Computer saß. Es klingelte erneut und Kaito verdrehte die Augen über seine eigene Schreckhaftigkeit. Reiß dich zusammen, Mann. Das ist wahrscheinlich nur Aoko, die dich noch mal an deine Hausaufgaben erinnern will. Er lief die Treppe hinunter und öffnete die Tür – und stellte fest, dass er sich ein zweites Mal geirrt hatte. Vor der Tür stand nicht Aoko, sondern Koizumi Akako. „Koizumi-kun?“ Er setzte eine halb-neutrale, halb-neugierige Miene auf. „Was kann ich für dich tun?“ „Guten Abend, Kuroba-kun.“ Sie starrte ihn durchdringend an, aber er kannte sich mit durchdringenden Blicken gut genug aus, um gelassen zu bleiben. „Wir müssen reden.“ Einer der gefürchtetsten Sätze eines jeden Mannes, dicht gefolgt von „Ich habe meine Periode gekriegt“, dachte Kaito. Er öffnete die Tür etwas weiter und forderte sie mit einer Handbewegung auf, hereinzukommen. „Worum geht es denn?“ Koizumi betrat den Flur und wartete ab, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Um Kaito Kid.“ Kaito stöhnte übertrieben „Koizumi-kuuuhuuuun, ich hab dir doch schon tausend Mal-“ „Ich hatte eine schlimme Vorahnung“, unterbrach Koizumi sein Palaver. Kaito blieb nach außen hin völlig unbeeindruckt, aber innerlich runzelte er die Stirn. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, ihre Warnungen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. „Wieso, was hast du denn gesehen?“ „Seinen Tod.“ „… Wie bitte?“ „Morgen Nachmittag“, sagte Koizumi mit einer Stimme, die auch sehr gut in ein Gruselkabinett gepasst hätte, „wird Kaito Kid in Flammen aufgehen … und sterben.“ ~ ~ ~ AN: Diese beiden Kapitel sollten einen Einblick in Kaitos Gedanken und Gefühle geben und die Grundlage für den Plot der nächsten Kapitel legen. Der in diesem Kapitel eingeführte Diamant wird in den nächsten Kapiteln noch eine wichtige Rolle spielen, genau wie Akakos „Prophezeiung“ und ein paar andere Details, die eher nebenbei in diese Kapitel eingestreut wurden. Falls ihr euch wegen des Sunlight Sparks wundert: Nein, Kaito hatte Snake im Prolog kein Duplikat vor die Füße geworfen, er ist einfach durch einen Trick wieder an den Ring herangekommen. Dieser Trick wird in einem späteren Kapitel noch einmal zur Sprache kommen, aber er ist eigentlich so simpel, dass er kaum der Rede wert ist, vielleicht kommt ihr ja selbst drauf. ;-) Ein paar Worte noch zu Chikage: Ich habe mich immer gefragt, warum eine erfahrene Phantomdiebin wie sie nichts unternimmt, um ihrem Sohn aktiv bei seiner Mission unter die Arme zu greifen. Deshalb habe ich beschlossen, die Dinge in meiner FF ein wenig zu ändern: Chikage weiß hier über Kaitos „Nachtjob“ Bescheid und er weiß auch, dass sie es weiß. Und um ihn bei seiner Suche nach Pandora zu unterstützen, ist sie in die USA gereist, damit sie dort nach Pandora suchen kann. Danke fürs Lesen. Ich hoffe, ihr seid auch beim nächsten Kapitel wieder mit dabei. ^^ nächstes Kapitel: Zwischen den Zeilen Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)