Sorry, I'm Late! von Shunya (...Seven Years...) ================================================================================ Kapitel 1: Back to you. ----------------------- Der erste Schultag ist der Schlimmste. Ich bin allem ausgesetzt und wenn ich irgendetwas falsch mache, bin ich bei den Anderen unten durch. Man kommt sich vor, wie ein wildes Tier im Käfig eines Zoos. Ich kann ihren Blicken nicht entfliehen. Sind sie mir wohlgesonnen oder haben sie mich schon in der ersten Pause auf dem Kieker? Mich stört es nicht wirklich. Ich bin ruhig und gelassen. Wahrscheinlich komme ich deswegen immer so gut mit meinen Mitmenschen aus und finde schnell neue Freunde. Wenn man versucht sich krampfhaft bei den Anderen beliebt zu machen, ist das sowieso nur ein Schuss nach hinten. So auch in meiner neuen Klasse. Durch meinen Aufenthalt im Ausland, bin ich Frischfleisch für sie. Amerika. Wer von dort kommt, scheint in ihren Augen angesagt oder wenigstens ein interessanter Mensch zu sein. Ich bin eigentlich eher der normale Durchschnitt. Potthässlich sehe ich nicht aus, denke ich mal. Normaler Haarschnitt, dunkelblonde Haare und das einzige, was mich wohl als Amerikaner auszeichnet sind meine Armbänder an den Handgelenken, insbesondere das Schweißarmband mit der amerikanischen Flagge. Mir fällt auf, dass die meisten Jungs in meiner Klasse scheinbar nicht so viel Accessoires tragen. Scheint wohl bei denen nicht so angesagt zu sein, wie es bei meiner Klasse im letzten Jahr gewesen ist. Die Mädchen sind sofort davon begeistert, dass ich so sportlich bin, denn kaum erzähle ich, dass ich gerne Skateboard fahre und Inlineskate, sind sie alle Feuer und Flamme. Überhaupt sind die Mädchen mir gleich sympathisch. Sie stellen Fragen und zeigen Interesse. Die Jungs hingegen sitzen gelangweilt auf ihren Plätzen oder mustern mich, als könnte ich ihnen gefährlich werden. Ich bin eigentlich eher das Gegenteil. Als Kind war ich sogar sehr schüchtern. Ich habe kaum einen Ton heraus bekommen und wenn Fremde mich angesprochen hatten, habe ich mich immer sofort hinter meiner Mutter versteckt. Nicht unbedingt ein Sohn, den sich mein Vater gewünscht hatte. Ich war ihm immer viel zu ruhig und daher konnte er nicht so viel mit mir anfangen. Trotzdem sind meine Eltern ganz in Ordnung. Zumindest in den letzten sieben Jahren sind sie ziemlich locker geworden. Ich sehe nach meiner kurzen Vorstellung zu meiner neuen Lehrerin und sie schaut sich sofort in der Klasse um, wo sie mich hinsetzen kann. Die Frau hat etwas von einer Bibliothekarin. Die typische Hochsteckfrisur und eine Brille mit dicken Gläsern. Sie schiebt sich die Brille auf der Nase zurecht und deutet dann auf einen Platz am Fenster. „Setze dich dorthin. Das ist zurzeit der einzige freie Platz!“, weist sie mich an und ich folge der Aufforderung. Scheinbar ist der Platz nicht umsonst frei geblieben. Der Junge neben den ich mich setzen muss, trägt einen ziemlich starken Männerduft. Zum Glück sitze ich direkt am Fenster. Ich bin sowieso kein Freund von Parfum und der Junge hat es damit eindeutig übertrieben. Den riecht man ja noch Kilometer weit entfernt! Ich sehe mich kurz in der Klasse um. Die meisten konzentrieren sich schon wieder auf den Unterricht. Einige sind mit ihren Handys beschäftigt oder schreiben sich Briefe. Zumindest bekommt die Lehrerin nicht allzu viel davon mit. Ich wende meinen Blick ab und sehe aus dem Fenster. Von hier aus hat man einen ziemlich guten Blick auf den Sportplatz. Eine Klasse übt gerade den Staffellauf. Dann wird mir wenigstens nicht zu langweilig. Ich habe nämlich spitz gekriegt, dass ich in den meisten Fächern viel weiter bin, als die Schüler in meiner neuen Klasse, also werde ich mich in diesem Schuljahr nicht sonderlich anstrengen müssen, um gute Noten zu bekommen. Was für ein Glück, da ich leider nicht zu den besten Schülern gehöre und nebenbei auch nicht sehr fleißig bin, was das Lernen betrifft. Das Einzige was mir in der Schule wirklich Spaß macht, ist der Sportunterricht. Der erste Schultag geht an mir vorbei. Im Schneckentempo. Ich kann es wirklich kaum erwarten wieder nach draußen zu können. Ich bin sowieso eher jemand, der viel draußen unterwegs ist. Drinnen hält mich einfach nichts. Es gibt auch einen bestimmten Grund, warum mich heute nichts sonderlich lange in der Schule hält. Ich muss unbedingt an einen Ort, den ich früher immer aufgesucht habe und irgendwie drängt es mich immer wieder dorthin, seit ich wieder in meiner Heimat bin. Ich sehe ständig auf die Uhr an der Tafel und beobachte, wie sich die Zeiger in Zeitlupe vorwärts bewegen. Irgendwie habe ich das Gefühl, als würden die Zeiger sich nicht vom Fleck bewegen. Wenn ich ständig auf die Uhr sehe, scheint nichts zu passieren. Seufzend werfe ich wieder einen Blick aus dem Fenster. Da haben wir schon so tolles Wetter und müssen trotzdem in dem stickigen Klassenzimmer ausharren. Der Junge neben mir schwitzt wie sonst was und ich befürchte, wenn er noch länger hier sitzen muss, löst er sich noch in eine Wasserpfütze auf. Ich sehe mich noch einmal in meiner Klasse um. Hier sind ein paar hübsche Mädchen. Vielleicht habe ich ja das Glück, dass ich endlich mal eine Freundin finde? Ich bin immerhin 17 Jahre alt. Da wird es doch so langsam mal Zeit? Leider bin ich eher so ein Kummerkasten für die Mädchen. Das ist schon manchmal blöd, wenn sie mich gar nicht richtig als Junge wahr nehmen. Eine große Auswahl gibt es leider nicht. Auf den ersten Blick gibt es gerade mal eine handvoll Mädels, die mich interessieren würden. Wie soll man sich da bitte entscheiden? Eine sieht auf und lächelt mir zu. Sie sieht eigentlich gar nicht mal so schlecht aus. Vielleicht sollte ich es mal bei ihr versuchen? Ich lächele zurück und nehme mir vor, sie bei der nächsten Gelegenheit anzusprechen. Auch wenn es mir schwer fällt, da ich nicht gerade der Draufgänger bin, der locker mit jedem Mädchen reden kann. Als es endlich zur Pause klingelt, strecke ich mich aufatmend und erleichtert. Sind ja nur noch einige Stunden, bis ich heimgehen kann. Und ich habe heute nicht mal Sportunterricht. Das wird also ein extrem langweiliger Tag! Ich sehe zu meiner Auserkorenen. Grinsend stehe ich auf und beschließe einfach mal mein Glück zu versuchen. Aber vorher muss ich mich irgendwie etwas ungelenk an dem Dickerchen neben mir vorbeizwängen. Manieren hat der Typ auch nicht, denn er macht mir nicht mal Platz. Ich gehe zu dem Mädchen, die ziemlich weit hinten sitzt und nun zu mir aufsieht. Sie lächelt und hoffnungsvoll lege ich mir in Gedanken schon mal ein paar Worte zurecht. Plötzlich werde ich zur Seite gedrängt und stolpere gegen einen Tisch. Das Mädchen sieht zu mir und ich lächele sie entschuldigend an. Dann sehe ich wieder zu dem anderen Mädchen und muss enttäuscht feststellen, dass sie bereits mit dem Idioten am herum turteln ist, der mich gerade gerammt hat. Was für eine Pleite! „Das war wohl nichts!“, meint das Mädchen neben mir und grinst amüsiert. Ich nicke geknickt und drehe dann ab. Ich gehe zurück zu meinem Platz und komme mir echt wie ein Trottel vor. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Als ob so ein Mädchen sich mit mir abgeben würde. Nur langsam schleicht der Vormittag voran und ich langweile mich die ganze Zeit. In den Pausen ist es zum Glück nicht ganz so schlimm. Es haben sich regelrechte Ansammlungen von Schülern um mich gesammelt und alle wollen etwas über mich oder das Leben in Amerika wissen. Ich mag ihre Offenheit und mit einigen kann ich mich ganz gut unterhalten. So vergeht der Vormittag dann doch noch einigermaßen erträglich und ich bin froh, als die letzte Stunde endlich vorbei ist. Ich packe meinen Rucksack, verabschiede mich gut gelaunt und verlasse das Schulgebäude. Draußen erwartet mich die warme Sommerluft und da ich es jetzt nicht mehr so eilig habe, gehe ich gemütlich die Straße entlang. Das Schlimmste habe ich immerhin überstanden. Ich gehe zu einer Bushaltestelle in der Nähe meiner Schule. Es stehen nicht viele Leute dort, nur eine alte Frau sitzt auf einer Bank und zwei Schüler stehen vor dem Haltestellenschild. Ob sie von meiner Schule sind, kann ich nicht sagen. Einer der Jungs läuft sogar im Sommer mit einem Pullover durch die Gegend und dann auch noch komplett in schwarz. Ich ziehe verwundert meine Augenbraue in die Höhe. Ist ihm das nicht zu heiß? Der Junge neben ihm ist wohl ein Freund und trägt eine ziemlich auffällige Brille. Sie tuscheln angeregt miteinander. Der Schwarzhaarige sieht mich kurz an und spricht dann wieder mit der Brillenschlange. Habe ich etwas im Gesicht? Ich sehe schnell zur Seite und hole mein Handy aus meiner Hosentasche, um mich zu beschäftigen, aber irgendwie kann ich mich nicht darauf konzentrieren. Ich sehe erneut zu ihnen. Es gefällt mir, dass sie so vertraut miteinander umgehen. Das erinnert mich irgendwie an meine Kindheit. Da habe ich auch ständig am Rockzipfel meines besten Freundes gehangen. Ich beobachte, wie der Schwarzhaarige dem blonden Jungen einen Arm über die Schultern legt. Interessiert sehe ich zu ihnen. Doch schon im nächsten Moment weiten sich meine Augen. Der Größere der Beiden küsst den Jungen mit der Brille! Überrascht kann ich meinen Blick kaum von ihnen abwenden. Wie können die sich einfach so mitten auf der Straße küssen und das vor allen Leuten? Verlegen sehe ich auf meine Schuhe und warte ungeduldig auf den Bus. Ich werfe noch einmal zögerlich einen Blick auf die Jungs und schaue dann schnell wieder weg. Ich spiele auf meinem Handy herum, um sie nicht dauernd anstarren zu müssen. Überrascht blicke ich auf, als der Bus an mir vorbeifährt und dann hält. Ich habe es gar nicht mitbekommen, weil ich mich krampfhaft auf mein Handy konzentriert habe. Ich gehe zum Einstieg und stelle mich hinter den beiden Jungen an. Ich gebe mir Mühe sie nicht immer anzustarren, aber so richtig gelingt es mir dann doch nicht. Sie setzen sich ganz hinten in den Bus, also beschließe ich weiter vorne zu sitzen. Meine Gedanken drehen sich immer noch um die beiden. Sie müssen ungefähr in meinem Alter sein, aber es erstaunt mich immer noch, wie offen die beiden zu ihrer Homosexualität stehen. Das habe ich bisher noch nicht erlebt. Es ist ungewohnt, aber irgendwie auch aufregend. Ich beneide sie, immerhin sind die beiden Jungs ein festes Paar und ich stehe mit meinen 17 Jahren immer noch als Single in der Weltgeschichte herum. Das ist ziemlich deprimierend. Zwei Haltestellen vor mir steigen sie aus und ich schaue ihnen heimlich hinterher. Dann muss auch ich aussteigen. Leichte Vorfreude macht sich in mir breit und es kribbelt ein wenig in meinem Bauch. Nervös verlasse ich den Bus und bleibe einen Moment auf dem Bürgersteig stehen. Die Gegend sieht immer noch so aus wie vor sieben Jahren. Jedenfalls hat sich auf den ersten Blick nicht viel verändert. Ich gehe einen schmalen Weg entlang, der schon beinahe etwas von einem winzigen Wald hat. Der Weg führt auf ein offenes Gelände. Zufrieden bemerke ich, dass das Gebäude noch immer steht. Früher befand sich eine Produktionsfirma für Sportschuhe auf dem Gelände. Inzwischen sind aber nur noch einsturzgefährdete und leerstehende Gebäude darauf zu finden. Alles ist mit Gras überwuchert und wie es aussieht, hat sich bisher noch niemand dafür interessiert das Gelände zu kaufen und zu sanieren. Ich gehe den Asphaltweg entlang und fühle mich beobachtet, obwohl überall Bäume am Rand stehen und die Sicht versperren. Der Anblick ähnelt einer Lichtung im Wald. Ich höre die Vögel zwitschern und gehe zu einem kleinen Holzschuppen, der etwas abseits steht. Es ist unglaublich, dass der immer noch an Ort und Stelle steht. Viel Platz hat man kaum. Ich weiß bis heute nicht, wofür der Schuppen überhaupt auf dem Gelände steht. Auf jeden Fall habe ich ihn damals mit meinen Freunden als Geheimversteck benutzt und zwar immer dann, wenn die Arbeiter Feierabend hatten. Zusätzlich gab es dann noch ziemlichen Ärger, weil ich mich abends nicht alleine herumtreiben sollte. Trotzdem habe ich es immer wieder getan. Ich versuche die morsche Tür zu öffnen. Das Holz knarzt so laut, dass ich schon Angst bekomme, dass man es noch kilometerweit hören kann. Ich stemme mich dagegen und kann mich nicht erinnern, dass sie schon damals so schwer zu öffnen war. Mit einem Ruck gibt sie plötzlich nach und ich fliege der Tür beinahe hinterher, kann mein Gleichgewicht jedoch im letzten Moment wiederfinden und stehe etwas wackelig auf den Füßen. Die erste Hürde habe ich schon mal gemeistert. Ab zur Nächsten. Ich betrete neugierig den Schuppen und sehe mich darin um. Überall sind Spinnenweben und Staub. Hier ist schon lange niemand mehr gewesen. Mir fällt etwas ins Auge und ich knie mich vor eine Kiste. Ich schiebe sie vor und greife nach einer halboffenen Tüte. Okay, hier kommt doch noch ab und an jemand her. Nur wer? Ich befördere Süßigkeiten, Getränke, einige Comics und Pornohefte hervor. Bei Letzterem laufen meine Wangen rot an. Ich blättere in dem Pornomagazin herum und sehe mir die nackten Frauen darin an. Ich muss gestehen, einige davon turnen mich wirklich an. „Was machst du hier?“ Ich drehe mich erschrocken um und lasse das Magazin aus meiner Hand fallen. Vor mir steht ein Schwarzhaariger Junge. Piercings an Nase und Mund. Seine Klamotten sehen nicht so stylish aus. Ein schwarzes Shirt, ein rotes Karohemd zum zuknöpfen und eine schwarze Jeans. Ertappt lächele ich ihn an und greife blind nach dem Heft, weil ich meinen Blick kaum von ihm abwenden kann. Er erinnert mich an jemanden, aber ich weiß partout nicht an wen. „Ich habe dich was gefragt!“, meint der Junge nachdrücklich und sieht von oben zu mir herunter. Ich weiß gar nicht, was ich ihm antworten soll. Mein Grund ist ihm bestimmt zu kitschig. Der glaubt mir kein Wort! „Also, ich war schon mal hier...“, stammele ich und bin noch immer leicht aus dem Konzept gebracht. Der Junge hat mir einen tierischen Schrecken eingejagt. Er kniet sich neben mich und nimmt mir das Heft aus der Hand. Dann steckt er es zurück in die Tüte. Meine Augen weiten sich. Vorsichtig hebe ich meine Hand und streiche ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er zuckt zusammen und sieht mich erschrocken an. „Was machst du da?“, will er skeptisch wissen. „Die kleine Narbe...“, meine ich Gedanken versunken und starre noch immer auf die verblasste Narbe unter seinem Ohr am Halsansatz. Er greift mit seiner Hand nach meiner und schiebt sie sich aus dem Gesicht. Mürrisch sieht der Junge mich an. „Das war nur ein kleiner Unfall. Nichts weiter und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst!“, meckert er. Ich muss grinsen und kann mich einfach nicht mehr zurückhalten. Ich falle ihm um den Hals und zusammen kippen wir zur Seite. Ich lande auf ihm und schlinge meine Arme fest um den Schwarzhaarigen. Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, halte ich ihn fest. Der Junge sieht mich überrumpelt an und versucht mich abzuwehren. „Was soll das? Lass mich los? Bist du verrückt?“, fragt er mich verständnislos mit aufkeimender Panik in seiner Stimme. „Ich habe dich so vermisst!“, erwidere ich lachend und schmiege mich an ihn. Er hat sich wirklich verändert. Ich habe ihn ja kaum wieder erkannt. „Lass mich endlich los!“, keift er und drückt mich mit seinen Händen von sich, was aber gar nicht so einfach ist, denn ich habe nicht vor ihn loszulassen. „Was soll der Mist? Lass mich los! Wer bist du überhaupt?“, schreit er mich wütend an. Ich nehme es ihm nicht wirklich übel. Okay, doch ein bisschen schon. Ich sehe ihm in sein Gesicht, das nur wenige Zentimeter von meinem entfernt ist. „Was ist mit Elena, ist sie auch hier?“, frage ich ihn und fühle mich gerade wie im siebten Himmel. „Elena?“ Verständnislos sieht er mich an. „Du kennst Elena?“ Ich seufze. Kann er sich denn gar nicht mehr an mich erinnern? Meine leichte Enttäuschung kann ich nur schwer verbergen. Ich richte mich ein wenig auf und mustere ihn. „Ich bin's, Oliver.“, erkläre ich ihm. „Oliver wer?“ Er versteht noch immer nicht und ich bin nun doch irgendwie verstimmt. „Oliver Rados!“, wiederhole ich mich. „Calvin, tu nicht so! Du kennst mich doch!“ Er zieht seine Stirn kraus und sieht mich prüfend an. Seine Augen ziehen sich zusammen und er versucht sich zu erinnern, aber mir scheint, er kennt mich nicht mehr. „Calvin...“ Ich sehe eindringlich zu ihm herab und spüre leichte Verzweiflung in mir aufsteigen. „Weißt du nicht mehr? Wir waren unzertrennlich und haben alles zusammen gemacht. Wir waren zehn Jahre alt, als ich nach Amerika gezogen bin.“ Ich versuche ihm hartnäckig auf die Sprünge zu helfen. Er sieht mich noch immer unnahbar an und so langsam gebe ich doch die Hoffnung auf. Habe ich mich etwa geirrt? Aber die Narbe! Das ist eindeutig die Narbe, die er sich damals zugezogen hatte. Ist irgendetwas passiert, dass er sich jetzt nicht mehr an mich erinnern kann? Aber er ist doch hierher gekommen? Dann dürfte er sich doch auch nicht mehr an den Schuppen erinnern. Glaube ich zumindest. „Du hast mich im Stich gelassen...“, meint er und sieht stumpf zu mir auf. Ich lächele, hat er sich endlich erinnert, doch es gefriert mir im Gesicht. Was meint er damit? Ich habe ihn im Stich gelassen? Was habe ich denn gemacht? „Was meinst du damit?“, frage ich ihn und komme einfach nicht darauf, worauf er hinaus will. „Du bist gegangen und hast mich alleine hier zurückgelassen!“, brüllt er mich wütend an. Ich sehe Calvin mit großen Augen an. „Da kann ich doch nichts für. Ich konnte doch nicht alleine hier bleiben. Meine Eltern hätten mich niemals hier gelassen!“, versuche ich es ihm zu erklären. Calvin schaut mich gereizt an. „Du hast es ja nicht mal versucht! Du bist ohne zu murren mit ihnen ins Ausland geflogen! Du hast dich nicht mal mehr gemeldet! Ich habe auf dich gewartet, ein Brief oder eine Mail, aber du hast überhaupt nichts von dir hören lassen! Du hast mich komplett vergessen, als hätte es mich nie gegeben!“ Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Er hat Recht. Ich habe ihn ja nicht mal angerufen. Hilflos sehe ich Calvin an. „Na ja, die neuen Eindrücke, das Haus, meine neue Schule...“, murmele ich und suche nach den richtigen Worten. „Alles nur Ausreden. Dumme Ausreden!“ Calvin sieht mich verletzt an und drückt mich von sich herunter. Diesmal lasse ich es zu. „Du weißt gar nicht, was ich durch gemacht habe! Du weißt gar nichts!“, keift er mich an und rappelt sich auf. Ich knabbere auf meiner Unterlippe. Ich fühle mich schlecht. „Aber...“, setze ich an, doch er lässt mich gar nicht erst zu Wort kommen. „Hör auf damit! Ich will nichts mehr hören. Ich will dich auch nicht mehr sehen! Verschwinde!“, kommt es aufgebracht von Calvin. Ich sitze stumm auf dem Boden. Was solle ich jetzt machen? „Was ist denn passiert?“, frage ich ihn unwissend und weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll. Er wirkt gerade so gar nicht redselig. Wie kann ich ihn denn nur beruhigen? Wir haben uns gerade erst wiedergesehen und ich will nicht im Streit mit ihm auseinander gehen. „Verschwinde endlich!“, brüllt Calvin so laut, dass ich zusammen zucke. Ich sehe ihn verletzt an. Ich stehe auf und kann einfach nicht anders. Ich schlinge meine Arme um ihn und drücke Calvin fest an mich. Ich spüre, wie er sich augenblicklich verspannt und anfängt sich in meiner Umarmung zu winden. Er ist ordentlich am Ächzen, aber ich bin stärker als er und lasse nicht los. Ich bekomme von seinem Atem an meinem Hals eine Gänsehaut. Nach einigen Sekunden gibt Calvin auf. Zufrieden lächelnd lockere ich meinen Griff. Hätte ich lieber lassen sollen, denn er nutzt diesen kurzen Moment aus und windet sich aus meiner Umarmung. Er schubst mich und dreht sich um. Ich falle nach hinten und pralle unsanft gegen die große Kiste. Ich keuche auf und greife stöhnend mit meiner Hand nach meinem schmerzenden Rücken. Ich höre Calvins Schritte auf dem Asphalt und rappele mich hastig auf. Wieso rennt er jetzt vor mir weg? So schnell ich kann, laufe ich ihm hinterher. „Calvin, warte! Bleib stehen!“, rufe ich ihm zu und bin mir nicht sicher, ob er mich auch hört. Ich hätte nicht gedacht, dass er so schnell laufen kann. Er hat nur ein Problem, ich bin der Sportlichere von uns beiden und so kann ich schnell aufholen. Nur noch einige Meter trennen uns voneinander. „Hey, hör mir doch mal zu!“, versuche ich es erneut, aber es ist vergebens. Er hört mir nicht zu und wird auch nicht langsamer. Das ist doch echt zum Verzweifeln! Ich hole noch mal alles aus mir heraus und wetze ihm hinterher. Wir rennen durch enge Gassen, vorbei an den Vorgärten einiger Einfamilienhäuser und so langsam verliere ich den Überblick. Ich finde mich kaum noch zurecht, weil ich eigentlich nur auf Calvin achte. Wo führt er mich hin? Weiß er, wo er hinrennt? Ich war zwar früher oft hier, aber ich habe mich immer nur in der Nähe des Schuppens aufgehalten. Diese Gegend kenne ich gar nicht. „Calvin! Bleib doch mal stehen!“ rufe ich erneut, leicht verzweifelt. Ich greife mit meiner Hand nach ihm, als ich endlich wieder ein Stück aufgeholt habe, aber es reicht noch nicht und so rennt er noch immer vor mir her. Ich bin drauf und dran aufzugeben. Dann sehe ich meine Chance gekommen. Er schwächelt etwas und das nutze ich zu meinen Gunsten aus. Schnell greife ich nach seiner Hand und reiße ihn grob nach hinten. Calvin schreit schmerzhaft auf. Er prallt gegen mich und zusammen fallen wir ein zweites Mal an diesem Tag zu Boden. Nur diesmal auf den harten Asphalt. Ich schürfe mir meine Ellenbogen auf, ignoriere es jedoch. Wir sind beide schwer am Atmen. Noch immer halte ich Calvin am Handgelenk fest. Völlig außer Puste sieht er zu mir herunter, wobei er sich dabei etwas drehen muss, da er mit dem Rücken auf mir liegt. Er ringt nach Luft und ich merke, dass es mir nicht anders ergeht. Wie weit sind wir überhaupt gelaufen? Ich habe keine Ahnung. Ich lecke mir über meine trockenen Lippen, meine Lungen schmerzen beim Luftholen und mir tut der Rücken weh. „Lass mich los...“, meint Calvin schwer atmend und zerrt mit seiner freien Hand an meinem Handgelenk herum. „Sag mir erst, wieso du nach all den Jahren noch sauer auf mich bist!“, fordere ich ihn auf. Calvin rümpft die Nase und geht gar nicht darauf ein. Er dreht sich auf mir und drückt mir sein Bein unsanft gegen den Schritt. Augenblicklich laufe ich knallrot an. „Ca-Calvin...nicht da...nicht bewegen...“, stammele ich und presse meine Lippen aufeinander, um nicht stöhnen zu müssen. Calvin sieht mich verständnislos an. Ich versuche es zu ignorieren, was mir nicht gerade leicht fällt, wenn sein Bein an meinem Penis reibt. Kann er sich nicht ruhig verhalten? Da ich abgelenkt bin, kann Calvin sich nun endlich von mir befreien. „Du bist doch krank! Das ist pervers!“, schnauzt er mich gereizt an. Eingeschnappt sehe ich zu ihm auf. Was kann ich denn dafür, wenn mein Körper ein Eigenleben führt? Das kann ich doch nicht kontrollieren? „Das wäre gar nicht passiert, wenn du dich ruhiger verhalten würdest!“, kontere ich verstimmt. Calvin erhebt sich und sieht mich ärgerlich an. „Du nimmst das alles hier nicht ernst! Hältst du das für einen Witz?“ Verwirrt sehe ich ihn an. Wie kommt er denn darauf, dass ich es nicht ernst nehmen würde? Ich schüttele mit dem Kopf und lächele leicht. „Aber wir sind doch Freunde. Wieso kann nicht alles so sein wie früher?“ Calvin sieht mich verächtlich an. Fassungslos sehe ich zu ihm auf. Er sieht auf mich herab, dreht sich um und rennt davon. Ich stehe auf und laufe ihm, so schnell ich kann, nach. Ich greife nach Calvins Handgelenk und zwinge ihm zum Stehenbleiben, doch da dreht er sich auch schon um und schlägt mir seine Faust ins Gesicht. Erschüttert bleibe ich stehen und lockere meinen Griff. Ich schmecke Blut in meinem Mund. Es schmeckt metallisch und mir wird leicht übel. Erschrocken sehe ich zu Calvin, dem es nicht anders geht. „Du kommst hierher und tust als wäre nichts gewesen, aber du bist nicht der Einzige, der sich verändert hat!“, meint er mit zitternder Stimme. Er wendet sich von mir ab und rennt davon. Entgeistert sehe ich ihm nach. Diesmal folge ich Calvin nicht. Erledigt wische ich mir über den Mund und als ich auf meinen Handrücken starre, bemerke ich das Blut. Ich sehe auf und erkenne Calvin nur noch schemenhaft. Seine Schritte auf dem Asphalt höre ich noch genau, auch wenn sie leiser werden. Wie konnte er sich so sehr verändern? Sieben Jahre sind doch gar nicht so lang, oder? Mir kam es nie so vor. Habe ich mich auch so stark verändert? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)