Levitation von YourBucky ================================================================================ Kapitel 3: Akte 3a/ Bin ich schön? ---------------------------------- Irgendwie... hab ich lange nix mehr hochgeladen... was soll man sagen? Tempus fugit. Und zwar viel zu schnell... oh, und weil dieses Kapitel irgendwie - ausgeartet ist, hab ich kurzerhand beschlossen, es in zwei Teile aufzuteilen. Ich weiß, das Ende ist gemein, aber... viel Spaß beim mitraten! ^_^ Ja, und es ist auch so noch lang, aber ich hatte sehr viel Spaß beim Schreiben und hoffe, den habt ihr beim Lesen genauso!!! Diese Story ist bislang nicht so sehr beachtet worden, ich hoffe, das ändert sich jetzt, wo's richtig losgeht. Dieses Chapter ist sehr... von meiner momentanen Verfassung beeinflusst, was natürlich wieder an meinen armen Charas ausgelassen wurde. *drop* Gomen! Trotzdem hat's mir Spaß gemacht... ^^;;; Ich bin schlimm. Und ich widme das wieder mal meinem Fünkchen, der Yoko-chan (Danke, dass ihr immer so lieb meine Fanfics lest ;_;), allen Mit-RPGern und vor allem der Tía-chan, danke für das schönste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten. Und DIR!!! ^____^ Das Lächeln des Mädchens glich dem eines Engels. Ihre zart geschwungenen roten Lippen bildeten einen anmutigen, faszinierenden Kontrast zu ihrer blassen Haut. Langes, goldblondes Haar rahmte ihr fein geschnittenes, klassisches Gesicht ein. Nur ein halb transparentes, schimmernd weißes Kleid umspielte die sanften Rundungen ihres makellosen Körpers. Das Einzige, was dieses betörende Abbild vollkommener Schönheit störte, waren die armdicken Stahlkabel, die Bauch, Brust und Schultern des Mädchens durchstießen und sie so wie eine engelsgleiche Marionette knapp einen Meter über dem spiegelnden Boden des Laufstegs schweben ließen. Einer der Deckenscheinwerfer ließ die bizarre Szenerie in einem geisterhaft hellen Rund erstrahlen. Der Rest des Raumes, der schwere, samtig rote Vorhang und die Armada von Stühlen, auf denen normalerweise unzählige Reporter und Fotografen die zehn Meter, die die Welt bedeuteten, in ein Feuerwerk aus Blitzlichtgewittern tauchten, lagen wie eine längst verlassene Grabstätte in erdrückendem Halbdunkel. Aya verzog das Gesicht und wandte sich mit einem widerwilligen Grummeln von ihrem IV-Gerät ab, das die wieder einmal alles andere als erbaulichen Spätnachrichten als fotorealistisches Hologrammbild in ihr Wohnzimmer projizierte. Der durchaus verstörende und nicht unbedingt unblutige Anblick des aufgehängten Mädchens wurde von einer ruhigen, emotionslosen Männerstimme kommentiert, die der jungen Wissenschaftlerin bis in ihre kleine Küche folgte. "Der Tod der jungen Kimberly Melvin überschattet die nahende Vorausscheidung des größten Schönheitswettbewerbs des Sigma-Quadranten, dem Evershine New Diamonds Award. Profiler vermuten, dass ein Serientäter hinter der Tat stecken könnte und verlangen die Absagung der Veranstaltung. Nach Aussagen des Firmenleiters Marque Venelle ist der Kosmetikhersteller Evershine zurzeit jedoch noch nicht gewillt, auf seine jährliche Haupteinnahmequelle zu verzichten und hofft..." Mit einem energischen Tritt nach der kleinen Fernbedienung, die nichts ahnend auf dem Telefontischchen zwischen Eingangs- und Küchentür geruht hatte, brachte Aya ihr IV-Gerät mitsamt Nachrichtensprecher zum Schweigen. Während das schwarze Plastikteil mit einem ebenso erschrockenen wie empörten Klappern zu Boden fiel, angelte die Wissenschaftlerin nach dem Teller, auf dem sie ihr Essen vom Vortag aufgewärmt hatte, und stapfte dann zurück in ihren bescheidenen Wohnraum, wo sie sich auf einen der schon etwas ausgesessenen, aber dafür umso gemütlicheren Ledersessel fallen ließ. Langsam begann sie die Ereignisse der vergangenen 24 Stunden zu begreifen. Da war zunächst einmal dieser große, leuchtend rote Strauß künstlich herangezüchteter Rosen gewesen, der heimlich, still und duftend vor der Türe ihres Appartements platziert worden war. Sicher, Aya war es gewohnt, von Laborgehilfen und Kollegen jeglichen Alters umschwirrt zu werden wie eine Kerzenflamme im Mottenbau, aber es war doch alles andere als gewöhnlich, dass sich jemand den überaus unreifen Spaß erlaubte, ihr einen derart sündteuren Blumenstrauß ohne Absender oder Nachricht zukommen zu lassen. Wie auch immer, sie hatte sich über diese willkommene kleine Abwechslung nach einem langen, harten und vor allem grauenvoll eintönigen Arbeitstag durchaus gefreut - zumindest so lange, bis sie jene geheimnisvolle Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter gehört hatte. Normalerweise ärgerte sich Aya jedes Mal darüber, dass sie Tag für Tag heimkehrte, ohne ein Lebenszeichen auf ihrem kleinen elektronischen Freund vorzufinden. Wenn sie dann auch noch ans Fenster trat und hinaus auf das glitzernd graue Häusermeer Litonias blickte, wurde ihr mit grausamer Eindringlichkeit bewusst, dass sie doch eigentlich nur eine gesichtslose Nummer unter Milliarden war, die sich als winziges, unbedeutendes Zahnrad in ein fehlerhaftes, sinnloses Ganzes einfügte. Und wenn sie sich dann mit einer extragroßen Tasse Vanillecapuccino und einer Tafel Guaranaschokolade vor die tristesten Sendungen, die ihr IV-Gerät am späten Nachmittag zu bieten hatte, zurückzog, um ausgiebig zu bedauern, dass niemand an sie dachte und niemand sie wirklich kannte, spätestens dann begann sie ein ums andere Mal zu bedauern, dass sie sich anstelle dieser wortkargen mechanischen Nervensäge nicht den schönen Camouflage-Minirock oder die blaue Nachttischlampe oder den silbernen, ganz besonders flauschigen Bettvorleger gekauft hatte. Kurz gesagt: Der ewig schweigende Anrufbeantworter gehörte zu den ständigen kleinen Ärgernissen in Ayas Alltagsleben, und eigentlich hatte sie sich über das rot blinkende Lämpchen an dem kleinen Gerät sogar fast noch mehr gefreut als über den unzweifelhaft kostspieligen Rosenstrauß. Dann jedoch hatte sie sich die Nachricht angehört. "Sieh dir unbedingt die 21-Uhr-Nachrichten an. Die dritte Nachricht, vielleicht auch die vierte. Ich brauche deine Hilfe, Aya." Nachdem die junge Wissenschaftlerin den kurzen, eindringlichen Hilferuf etwa zehnmal wiederholt und die nächsten zweieinhalb Stunden damit verbracht hatte, sich vergeblich daran zu erinnern, wo sie die tiefe, von einem undefinierbaren Akzent beherrschte Männerstimme schon einmal gehört hatte, war sie schließlich doch vor dem IV-Gerät gelandet, nur um dort einem durchbohrten, lächelnden Modell ins Gesicht zu blicken. Und jetzt endlich wusste sie auch, wer ihr die Blumen und die dazugehörige Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Gleichzeitig hatte ihre Freude über die ungewohnten Aufmerksamkeitsbezeugungen einen reichlich heftigen Tiefschlag erleiden müssen. Es gab nämlich einige Kapitel in Ayas Vergangenheit, die sie irgendwo, ganz tief unten in einer unauffälligen Kiste vergraben und im grauen Wandschrank des Vergessens platziert hatte. Sie schämte sich nicht etwa dafür, und noch viel weniger wollte sie all diese Erlebnisse ungeschehen machen - aber sie ruhten gut und friedlich in ihrem angestaubten Grab mit dem großen, leuchtend roten Aufdruck: "Ich war jung und brauchte das Geld!" und sollten dort nach Möglichkeit auch nicht angetastet werden. Eine dieser gesammelten Requisiten und Kuriositäten waren jene Monate in Ayas Studienzeit, nachdem der hoffnungsvollen, dafür aber umso mittelloseren angehenden Wissenschaftlerin eines schicksalhaften Abends im damaligen Trendlokal der Stadt, dem Heaven's Delusion, ein sympathischer, wenn auch allzu glatter Mann namens Marque, Marque Venelle, begegnet war. Er hatte sie angelacht, sich kurzerhand mit seinem zartfliederfarbenen Anzug, dem schreiend bunten Hemd und der silbernen Sonnenbrille im pechschwarz am Kopf klebenden Haar neben sie gesetzt und sich mit ihr - unterhalten. Da bei dem damals aber noch recht jungen Nachtclubbesitzer jegliche noch so banale Unterhaltung einer Gehirnwäsche gleichkam, hatte Aya gar nicht recht bemerkt, dass er ihr einen Job in seinem florierenden Laden angeboten hatte. Bis, ja, bis sie etwa vierundzwanzig Stunden später mit Silbertablett und Bunnykostüm bewaffnet durch das Heaven's Delusion gestöckelt war, um den mehr oder weniger lüsternen Gästen Getränke anzubieten. Damals war ihr der eigentlich doch sehr leicht verdiente Lohn gerade recht gekommen, doch mittlerweile hatten sich die Zeiten geändert. Sie war nun eine nicht mehr angehende, sondern schon aufstrebende Wissenschaftlerin, die es nach langen Jahren harter Arbeit endlich geschafft hatte, sich einen gewissen Bekanntheitsgrad in der reich bevölkerten Szene zu verschaffen. Marques Nachtclubrepertoire hatte sich mittlerweile auf etliche andere Planeten ausgebreitet und erfreute sich immer noch größter Beliebtheit - obwohl, oder vielleicht gerade weil ihr Besitzer sie eigentlich nur noch rein hobbymäßig betrieb und ganz nebenbei noch eine der größten Kosmetikfirmen des gesamten Quadranten leitete. Diese und noch etwa tausend andere Gründe trugen als erdrückende Gesamtmasse dazu bei, dass Aya nicht die geringste Lust verspürte, ihren ehemaligen Arbeitgeber noch einmal wieder sehen zu müssen. Sie wollte die teuren Blumen aus dem Fenster werfen, auf dass ein übel gelaunter Passant sich an ihnen erfreuen konnte - und den Anrufbeantworter am liebsten gleich hinterher - aber ihre Fenster blieben geschlossen und die Rosen unberührt. Denn trotz all ihres Widerwillens wusste Aya, dass sie sich noch am nächsten Tag mit Venelle verabreden und nur wenig später wieder einmal in seinem Auftrag handeln würde. Und trotz dieser ernüchternden Erkenntnis mischte sich eine unverhohlene Spur von Stolz in die trübsinnige Laune der jungen Wissenschaftlerin. Ihr kleines Labor hatte soeben seinen ersten Auftrag erhalten. Ayas dunkle Vorahnung sollte sie wieder einmal nicht trügen, denn es dauerte in der Tat nur etwas weniger als vierundzwanzig Stunden, bis die Dunkelhaarige mit einem ausnahmsweise gar nicht so kurzen Rock und einem unguten Gefühl in der Magengegend im lauschigen kleinen Büro ihres ehemaligen Vorgesetzten saß. Süßlicher Zigarrenrauch hing in dunstigen Nebelschwaden zwischen den mit violetter Tapete und dunklem Holzimitat verkleideten Wänden, die ein enges Viereck um eine Garnitur von schwarzen Ledersesseln bildeten. In den Ecken des Raumes standen grün glänzende Palmpflanzen, zwischen denen je zwei flache quadratische Lampenschirme wie Bilder an der Wand hingen und den Raum in diffuses Licht tauchten. "Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist, Aya. Du weißt gar nicht, was für einen Gefallen du mir damit tust." Venelles tiefe Stimme erfüllte den kleinen Raum mit ihrem tiefen, einlullenden Tonfall. Aya nickte schwach, dann legte sie den Kopf ein kleines Stück weit in den Nacken und ließ ihre Augen zu dem großen schwarzen Deckenventilator schweifen, der gute zwei Meter über ihnen träge seine Runden zog, ohne wirklich Bewegung in die stagnierende Luft zu bringen. "Das ist mein Job", entgegnete sie kurz, ohne den Blick des schwarzhaarigen Mannes aufzufangen. Ein leises metallisches Klicken ertönte, als dieser daraufhin seine mit goldenen Ringen besetzte Hand nach einem der Cocktailgläser ausstreckte, deren grellbunte Farben sich auf dem kleinen runden Glastisch inmitten der ledernen Sitzgruppe widerspiegelten. "Ich weiß, ich weiß, Honey. Du hattest schon immer höhere Ziele, was? Schade eigentlich. Du warst mein bestes Pferd im Stall. Wirklich schade." Aya antwortete mit einem Lächeln. Sie wusste, dass sich jede weitere Antwort erübrigte, denn natürlich hatte Venelle mit seinen Worten voll und ganz Recht. Ja, sie hatte höhere Ziele verfolgt. Ja, die Stammkunden des Heaven's Delusion hatten ihre Kündigung nur schwer verschmerzt (und sie auch noch monatelang auf offener Straße auf selbige Tatsache hingewiesen). Aya vermied es grundsätzlich, auf rhetorische Fragen eine Antwort zu geben. Außerdem - konnte man überhaupt noch tiefere Ziele verfolgen, als Nacht für Nacht zwischen Rauch, Bartischen und Betrunkenen im Playboyhäschendress Getränke zu verteilen? "Und jetzt hat uns das Schicksal wieder zusammengeführt..." Venelle verschränkte seine braungebrannten Finger und zeigte seine blitzend weißen Zähne. Eigentlich, schoss es Aya unweigerlich durch den Kopf, sah ihr ehemaliger Chef immer noch genauso aus wie früher. Der hellblaue Anzug. Die cremefarbene Krawatte. Die goldene Rolex am Handgelenk. Die schwarz glänzenden Wellen, die sich über seine dunkle Kopfhaut zogen und einer ebenso schwarzen Sonnenbrille mehr oder weniger Halt boten. All das brach wie ein alptraumhaftes Déja-vu-Erlebnis über die Wissenschaftlerin herein und sie fühlte sich mit einem mal wieder so klein und völlig von dem geballten Charisma des jungen oder zumindest jung gebliebenen Nachtclubbesitzers gebannt wie in jener schicksalhaften Nacht, als sie völlig ohne nachzudenken einen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte. "Eigentlich war es eher mein Anrufbeantworter." Aya zwang sich zu einer trockenen Antwort und rückte ihre Brille zurecht. "Beziehungsweise diese Nachrichtensendung. Und ich liege doch richtig damit, dass es genau darum auch geht. Ich soll deinen Modelcontest retten, bevor entweder ein weiteres dieser Zuckerpüppchen oder der letzte Rest deiner Reputation im Eimer ist, richtig?" "Ist das ein Verhör?" Venelle lachte so plötzlich auf, dass ihm beinahe die Zigarre aus dem Mund fiel. "Nein. Aber bevor ich ein Problem löse, muss ich erst einmal wissen, worum es eigentlich geht." "Honey, das fällt hier wohl unter empirische Wissenschaften, aber die liebt ihr Akademiker doch so, was?" Er strich sich eine glänzende Haarlocke aus dem Gesicht, die sich in doch noch nicht ganz unterdrückter Widerspenstigkeit aus dem aalglatten Gesamtkunstwerk gestohlen hatte, und nahm einen weiteren Schluck seines giftgrünen und wohl auch ebenso gesunden Cocktails, in dem eine dicke Schicht zerstoßenes Eis wie gefrorenes und zerschmettertes Mondlicht schimmerte. Aus irgendeinem Grund überflutete das Gefühl leiser Melancholie, den dieser Anblick in Aya wachrief, jene unterschwellige Wut, die schon seit Venelles erster lustiger Bemerkung mit stetig wachsendem Appetit an dem Nervenkostüm der jungen Wissenschaftlerin nagte. Ein resignierter Seufzer stahl sich über ihre Lippen. "Soll das heißen, du hast keine Ahnung, was es mit diesem Mord auf sich hat? War es denn der Erste?" "Der Erste?" Der braungebrannte Konzernchef lachte wieder, diesmal allerdings klang ein bitterer Unterton in seiner Stimme mit. "Honey, wenn das so wäre, würde ich dir jetzt nicht deine kostbare Zeit stehlen. Allerdings gab es auf Ecliptica schon das eine oder andere Casting, und glaub mir, der Planet hat ne ganze Menge hübscher Chicos und Chicas zu bieten. Andererseits - was erwartet man? Dort ist immerhin unsere Quadrantenhauptstadt Neo-Midgard, und die ließ sich nicht zweimal bitten und der Ansturm war echt gigantisch. Das war unser Glück. Ich glaub, das erste Mädchen hatte keine wirklichen Angehörigen. Hübsches Ding, aber wahrscheinlich ne Nutte oder Schlimmeres. Jedenfalls hat keiner nach ihr gefragt." "Es gab also schon ein Opfer. Und du bist sicher, dass es der gleiche Täter war?" Ayas Finger zeichneten Linien aus gebrochenem Licht auf das Leder der breiten Sessel. Sie fühlte, wie ein leichtes, aber nicht unbedingt unangenehmes Schaudern über ihren Rücken lief. Es fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer, ihre seit jeher etwas zu stark ausgeprägte Neugierde noch zu bezähmen. "Sie war die Erste. Du weißt, ich bin alles andere als religiös, Aya. Aber dieses Mädchen - Moira, wenn ich mich nicht irre - die hatte jemand gekreuzigt. Sie lag in einem weißen Kleid auf dem Laufsteg, in den Händen und den Füßen Schraubenzieher und im Bauch ne Babypuppe. Ja, ganz recht, im Bauch. Gott weiß, wo das Zeug hingekommen ist, das vorher drinnen war. Es war pervers. Aber das Schlimmste... das..." Venelle stockte. Auf das gesunde Braun seines Gesichtes hatte sich eine leicht grünlich anmutende Bleiche gelegt. Er nahm einen weiteren tiefen Schluck von seinem Getränk und beugte sich ein Stück weiter zu Aya vor, bevor er in leiserem Tonfall weitersprach. "Das Schlimmste war nicht das Blut und alles, sondern... ihr Gesicht. Ich bin nicht leicht zu erschüttern, das darf man in meinem Job nicht sein und das weißt du auch. Aber davon... davon hatte ich noch tagelang Alpträume." "Wieso?" Ayas große braune Augen hingen wie gebannt an Venelles leicht bebenden Lippen. "Sie... sie hat gelächelt. Wie ein Engel. Nicht so ein verzerrtes Todesgrinsen, keine Spur von Angst oder irgendetwas in der Art. So glücklich hat sie lebend und ganz jedenfalls nie gelächelt. Ich hab noch nie so etwas Krankes gesehen, und ich hab ne Menge gesehen, Honey." "Ja aber..." Die junge Wissenschaftlerin spürte, wie das warme Leder unter ihren Fingern zu kleben begann. "Ein Mensch, der getötet wird, lächelt normalerweise nicht, und schon gar nicht glücklich oder entspannt. Aber erzähl nur erst einmal fertig, bevor ich mit irgendwelchen Theorien und Zweifeln auspacke." "Für dich doch gerne, Aya. Natürlich wurde intern getuschelt, auch wenn nichts von dem grauenvollen Mord nach draußen drang. Aber damals war es noch mehr Sensationsgier - immerhin hat ein leichtes Mädchen wie Moira immer viele Feinde und man vermutete sogar religiöse Fanatiker hinter der ganzen Sache. Aber kurz darauf fand man etwas in einem der Spinde des Gebäudes, in dem die besten Models des Castings untergebracht worden waren. Ich sage bewusst etwas, denn als Mensch kann man es ja wohl kaum mehr bezeichnen, wenn ein bloßer abgetrennter Kopf auf einen Puppenkörper genäht wird, nicht? Jedenfalls war es diesmal einer der Jungs, Stan. Wieder war der Körper unauffindbar. Wieder dieses selige Lächeln. Abartig. Das Mädchen, das ihn oder es oder wie auch immer gefunden hat, sitzt jetzt glaube ich in der Geschlossenen. Schade - sie war hübsch. Wir hatten allerdings wieder Glück. Denn dieser Stan war von zuhause weggelaufen, um am Wettbewerb teilzunehmen. Also immer noch keine wirkliche Gefahr für uns. Was meinst du soweit dazu?" "Schäbig", grummelte Aya und bemaß Venelle mit einem tadelnden Blick. "Und damit meine ich nicht den Mörder." "Honey, du verstehst mich falsch. Natürlich tat der Junge mir Leid, und das Mädchen ja sowieso. Aber in diesem Business ist sich nun mal jeder selbst der Nächste und man muss immer das Gemeinwohl im Auge behalten. In diesem Fall bedeutet das: Show must go on. Wir brauchen diesen Wettbewerb. Das Geld. Schon allein die verdammte Webecampagne für den New Diamonds Award kostet mehr, als drei durchschnittliche Unternehmen in einem ganzen Jahr verdienen. Zusammengenommen natürlich. Die Sache abblasen? Unmöglich! Und deshalb können wir auch keine Massenpanik oder böse Gerüchte gebrauchen, verstehst du?" "Ja." Aya nickte ergeben, um Venelles theatralischem Vortrag ein schnelles Ende zu bereiten. "Aber schäbig ist es trotzdem. Egal. Was ist dann passiert?" "Zu diesem Zeitpunkt haben wir die ganze Sache wohl noch nicht mit dem nötigen Ernst behandelt. Aber warum auch? Wir sind dann ja eh mit Mann und Models nach Attraya übergesiedelt. Irgendwie dachten wohl alle ,Neuer Planet, neues Glück' oder etwas in der Richtung. Es wollte wahrscheinlich auch keiner damit rechnen, dass uns dieser mordende Irre folgt - meine Güte, in einer Mega-Metropole wie Neo-Midgard laufen nun mal eine ganze Menge Freaks und Killer und so weiter herum, jedenfalls fühlten wir uns nach diesem Ortswechsel alle mehr oder minder sicher oder wollten es zumindest. Und tatsächlich vergingen fast drei Wochen, ohne dass unser ,Sweet Slaughter' irgendein Lebenszeichen von sich gegeben hätte. So wurde unser Mörder nämlich mittlerweile von den Eingeweihten genannt, weil seine Opfer zwar reichlich verstümmelt, aber dabei doch erstaunlich glücklich aussahen. Etliche Models kamen und gingen und der übliche, schon allein zeit- und stressbedingte Verdrängungsprozess setzte ein." "Bis gestern Abend", vermutete Aya und brachte so Venelles düstere Erzählung an dessen Stelle zu Ende. Der hatte mittlerweile zu seiner üblichen solariumverwöhnten Hautfarbe zurückgefunden und bleckte seine professionell gebleichten Zähne, während er einen tiefen Zug von seiner halb heruntergebrannten Zigarre nahm und dann einen glühend roten Regen aus Asche und sterbenden Funken in seinen goldenen Aschenbecher hinabgehen ließ. "Ganz genau. Und diesmal hatten wir weniger Glück. Irgendeine dieser gottverdammten Reporter-Ratten muss von der ganzen Sache hier Wind gekriegt haben. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber meiner Meinung nach sollte man jeden Einzelnen von denen ersäufen und dann von mir aus ihre schicken, feinen Wohnungen zu wohltätigen Zwecken vermieten. Das wäre die mit Abstand beste Tat, die unser kleiner grauer Planet hier jemals gesehen hat!" "Soll ich jetzt den Mörder finden oder Attrayas Reporter unter die Erde bringen? Das solltest du mir eventuell noch sagen, bevor ich zur Tat schreite." Die junge Wissenschaftlerin fühlte sich von Minute zu Minute unwohler in dem neblig finsteren Raum, der durch die ausnahmslos dunklen Farben der Wände und Einrichtungsgegenstände noch ungleich kleiner und auf eine unangenehme Art und Weise erdrückend wirkte. Der träge Ventilator ließ einen kraftlosen Wirbelsturm aus blauem Dunst inmitten der glanzlosen schwarzen Ledersitzgruppe emporsteigen. Das bleiche Licht der Wandlampen wurde mit jedem Zug an der teuren braunen Zigarre mehr und mehr gedämpft. "Honey, du bist meine letzte Hoffnung. Der Strohhalm in meinem Cocktailglas sozusagen. Ich kann doch nicht zur Polizei gehen! Was würden die mir sagen? Ich soll die Veranstaltung abblasen! Und dann das ganz öffentliche Drumherum, ich wäre glatt ruiniert, da könnte ich mir den Sweet Slaughter auch gleich zum Kaffee einladen. Ich hoffe du verstehst selber, dass diese Möglichkeit quasi nicht existiert. Aber du kennst meine Philosophie - zu jedem Problem gibt es eine Lösung, und meine Lösung hat braune Haare und unwerfend lange Beine, verstehst du?" "Nein. Vergib mir, aber für derart subtile Anspielungen reichte mein bescheidener IQ noch nie aus." Aya ließ ein leises Grummeln über ihre Lippen entweichen und warf einen sehnsüchtigen Blick zu der schwarzen Türe hin, deren golden polierter Türgriff ihr wie ein einziges pupillenloses Zyklopenauge höhnisch entgegenblitzte. Das Wiedersehen mit ihrem ehemaligen Chef weckte tatsächlich ursprünglichste Seiten in ihr, von denen sie nicht einmal mehr geahnt hatte - insbesondere einen ausgeprägten Fluchtinstinkt. "Für deinen Humor könnte ich dich heiraten, Aya, aber wie du weißt lehne ich derartige Dinge ja grundsätzlich ab." Ein tiefes, leicht heiseres Kichern drang aus Venelles Kehle hervor. Er fuhr mit seinem rechten Zeigefinger einmal um den vergoldeten Rand seines Cocktailglases herum. Ein leiser, singender Ton durchschnitt die bedrückend schwere Luft. "Aber es wird Zeit, dass ich dich in meinen in der Tat überaus subtilen Plan einweihe. Du hast dich bestimmt gefragt, warum ich mich ausgerechnet an dich gewendet habe, oder?" Nein, dachte Aya, während das letzte sterbende Leuchten in ihren dunklen Augen endgültig erlosch, eigentlich hatte sie sich das nicht gefragt. Vielmehr war sie naiv und verblendet davon ausgegangen, dass tatsächlich jemand von ihren Fähigkeiten und ihrer neuen Stellung gehört und ganz spontan beschlossen hatte, sie und ihr kompetentes Team um Hilfe zu bitten. Sicherlich - eine dumme, ganz und gar absurde Annahme. Aber die kleine Aya, die vom Leben und von der großen bösen Welt da draußen ja sowieso keine Ahnung hatte, fühlte sich durch Venelles Frage so ernüchtert wie durch einen Faustschlag mitten in die Magengrube. "Ja, natürlich", nickte sie hastig, bevor ihre tiefe Enttäuschung den Weg aus den Untiefen ihres Inneren hinauf an die betont gelangweilt dreinblickende Oberfläche ihrer Gesichtszüge finden konnte. "Wer würde das nicht tun?" "Die Antwort ist ganz einfach, Darling!" grinste Venelle, ganz offensichtlich von Stolz ergriffen, dass ihm ein neuer Kosename für die junge Wissenschaftlerin eingefallen war. "Du... warst immer der Liebling meiner Gäste, und glaube mir, die hatten Geschmack und in den meisten Fällen auch reichlich Erfahrung. Du kannst dich bewegen, du hast eine perfekte Figur - von allem nicht zuviel und nicht zuwenig, sondern eben genau richtig und unwahrscheinlich lecker - und ganz nebenbei verfügst du auch noch über das reizendste Gesichtchen jenseits des Atalic Lake und darüber hinaus. Aya, du wirst sie umhauen! Du wirst sie nicht nur täuschen - du hast Chancen, verstehst du?" "Moment!" Venelle hatte kaum das letzte Wort über seine Lippen gebracht, da brachen Ayas latent geweckte Instinkte endgültig über sie herein und ließen sie so heftig aufspringen, als ob ein Stromschlag durch das matte, warme Kunstleder gefahren wäre. Ihre dunklen Augen blitzten mit ihren Brillengläsern um die Wette, in denen sich der schwache Widerschein der Lampen und der intensiv rote Glutfunken von Venelles Zigarre spiegelten. "Sag mir jetzt bitte, dass ich das falsch verstanden habe. Ich soll... ich... ich soll..." "Du sollst dich als Modell ausgeben und an meinem kleinen Wettbewerb teilnehmen. Ganz harmlos und niemand außer uns beiden Hübschen wird jemals etwas davon erfahren." "Ich hoffe inständig, du meinst das nicht ernst! Du wolltest mir gerade eben nicht mitteilen, dass ich allen Ernstes zwischen diesen grinsenden, mehr Silikon als Fleisch gewordenen Barbiepüppchen in Badeanzügchen und Abendkleidchen und natürlich den patentierten Stöckelschühchen von Genickbruch und Co.-KG über einen mörderisch schmalen und noch viel, viel glatteren ,Lauf'steg hüpfen und mich von einer Horde notgeiler alter Säcke, verzeih, Modefotografen und frigiden alten Modedesignerjungfern und natürlich, wie du jetzt sagen würdest, Reporter-Ratten begaffen lassen soll wie ein Affe im Käfig?" Die junge Wissenschaftlerin unterbrach ihren Redeschwall für eine kurze Atempause, um die gesamte Wut, die sich im Laufe der vergangenen Stunde in ihr angestaut hatte, in ihre letzten Worte zu legen, und selbige ihrem ehemaligen, aber garantiert nicht zukünftigen Arbeitgeber wie zwei Magnumschüsse aus nächster Nähe mitten ins schmierige Grinsen zu feuern. "Vergiss es, Honey!!!" Aya warf sich ihren langen braunen Zopf über die Schulter und gab noch ein letztes entrüstetes Schnauben von sich, dann stapfte sie hoch erhobenen Hauptes auf die geduckte schwarze Türe zu, obgleich alles in ihr danach schrie, sich noch weitere wunderbar erhebende Minuten an Venelles paralysiertem Gesichtsausdruck zu weiden. Mit einer energischen Bewegung zwang sich die junge Wissenschaftlerin dazu, den altmodischen goldenen Türöffner herumzudrehen (Venelle bestand in seinen Firmengebäuden, ebenso wie in seiner Prachtvilla auf einem der kleineren Trabanten Eclipticas aus stilistischen Gründen auf manuell zu öffnende Türen), um das so genannte Konferenzzimmer des Konzernbesitzers so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Sie wusste nicht, warum Venelles Worte sie schlagartig zum Einhalten zwangen. "Schade, Aya. Ich habe gehört, du und dein neues Team, ihr sollt die Besten sein." Wie ein lähmendes Nervengift gruben sich die hinfällig gesprochenen Sätze in Ayas zierlichen Körper und ließen sie mitten in ihrer Fluchtaktion erstarren. Noch bevor sie wie im Zeitlupentempo den Kopf herumgedreht hatte, wusste sie, dass Venelles Gesicht sein Grinsen wiedergefunden hatte. "Hast du das?" Der immer noch feindselige Tonfall in ihrer Stimme konnte nicht ganz über ein erwartungsvoll gespanntes Beben hinwegtäuschen und Venelle begriff augenblicklich, dass seine Beute den ganz nebenbei hingeworfenen Köder nicht nur gewittert hatte, sondern ihm schon ganz und gar verfallen war. Ein selbstgefälliges Zucken umspielte seine Mundwinkel und Aya hätte sich am liebsten augenblicklich dafür erschossen, dass sie nun nicht mehr die Kraft fand, die Türe zu öffnen und hinaus in die Freiheit der Nacht zu laufen. Ihre Finger hinterließen einen feucht-weißen Film auf dem Gold des Türgriffs. "Honey, du hast nen Ruf, selbst bei uns Neureichen. Du bist mein Licht, das die äußerst finstere Gesamtsituation erleuchtet. Ich hab von deinem neuen Job gehört und dachte - du oder keiner. Und das meine ich auch so. Ich kann jeder Frau das Feeling geben, die Schönste von allen zu sein. Ich könnte wahrscheinlich jede Alcyara-Tempelschwester dazu bringen, mich auf der Stelle zu heiraten. Aber wenn ich von einer letzten Hoffnung rede, dann sind das mehr als nur leere Worte. Niemand anderem trau ich soviel zu wie dir... niemand anderem vertraue ich wie dir, zumindest niemandem, der dann auch noch das Zeug dazu hat, an unserer wahrhaft und in meinem Auftrag kritischen Jury vorbeizukommen, denn die darf natürlich nicht eingeweiht werden - immerhin könnte jeder, auch jemand vom Team hier der Sweet Slaughter sein! Du bist die Letzte, die meinen Wettbewerb noch retten kann. Aya, der New Diamonds Award liegt in deinen Händen." Eine leichte Röte stahl sich auf die Wangen der jungen Wissenschaftlerin. Sie wusste, dass sie für Lob und Schmeicheleien jeglicher Art überaus empfänglich war - und dummerweise wusste Venelle das genauso gut wie sie selbst. Aya wischte ihre Hand am glatten weißen Stoff ihres doch recht kurzen Rockes ab und sammelte sich, bevor sie endlich mit möglichst ruhiger Stimme zu einer Antwort ansetzte. "Ich werde den Job nicht annehmen." "Ja, aber..." Venelles schwarze Augen wurden größer, als Aya es jemals bei ihm gesehen hatte. Seine glänzende Stirn legte sich in derart tiefe Falten, dass ihm beinahe die obligatorische Sonnenbrille vom Kopf gerutscht wäre. Als er weitersprach klang seine Stimme ein bisschen so wie die eines auf die Straße gesetzten untreuen Ehemannes, der im strömenden Regen unter dem Fenster seiner Gattin um Gnade beziehungsweise Einlass flehte. Das sicher geglaubte Beutetier hatte sich ganz offensichtlich seinen Fängen entzogen. "Honey, das kannst du mir nicht antun! Das ist mein Todesstoß!" Nun war es Aya, die mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen den Kopf schief legte, während ihre schlanken Finger wie beiläufig an dem längeren Hebel herumspielten, an dem sie nun endlich hatte Platz nehmen können. Sie genoss das stumme Winseln in Venelles Augen noch einige Sekunden lang, bevor sie langsam und bedächtig fortfuhr. "Es tut mir leid, Marque. Ich werde und ich kann diese Rolle einfach nicht übernehmen. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe auch meinen Stolz und ganz nebenbei noch einen Ruf, den ich beim besten Willen nicht auf eine derartige Art und Weise verspielen möchte. Mal abgesehen davon, dass es vielleicht doch nicht ganz so unauffällig wäre, wenn jemand in meiner Position ausgerechnet an einem Schönheitswettbewerb teilnimmt, der gerade - oh Wunder! - von rätselhaften Morden überschattet wird. Nein, welch ein Zufall! Entschuldige, aber das ist es mir nicht wert." "Das heißt dann wohl, du kannst es mir antun." Venelle stieß einen theatralischen Seufzer aus und drückte den kümmerlichen Stummel seiner einstmals so stolzen Zigarre in dem goldenen Aschenbecher aus, der es sich neben seinem nicht mehr ganz so intensivgrünen Cocktail bequem gemacht hatte, dessen Alkoholanteil inzwischen von dem geschmolzenen Gletscher aus zerstoßenen Eiswürfeln größtenteils in Wohlgefallen aufgelöst worden war. "Gut, Honey. Tu, was du nicht lassen kannst. Aber bitte sage mir - was habe ich falsch gemacht? Womit habe ich diese Abfuhr verdient?" "Ich hätte eigentlich nicht gedacht, dass du dich schon so sehr an Abfuhren gewöhnt hast, dass du sie selbst dann noch raushörst, wenn es gar keine gibt. Wie auch immer. Ich habe nur gesagt, dass ich nicht an diesem dubiosen Wettbewerb teilnehmen werde. Aber den Fall übernehme ich, verlass dich drauf. Vielleicht gibt es ja doch noch eine andere Lösung? Wart einfach ab - du hörst von mir." Aya zwinkerte Venelle, der zum zweiten Mal an diesem Abend gelernt hatte, sprachlos zu sein, noch ein letztes Mal zu, dann öffnete sie endlich die niedrige schwarze Türe und trat mit einem unverschämt breiten Grinsen auf den dunklen Gang hinaus. Sie hatte sich lange nicht mehr so gut gefühlt. "Ihr habt eine Mission zu erfüllen!!" In Ayas dunklen Augen lag ein Ausdruck ernsthaften Stolzes. Ihr Gesicht war mit äußerst wichtiger Miene der Decke zugewandt, während ihr Blick unaufhörlich über ihre in Reih und Glied vor ihr aufgestellten Mitarbeiter glitt. Ihr linker Arm war hinter ihrem militärisch gerade aufgerichteten Rücken verschränkt, während sie mit dem rechten Zeigefinger in lebhaft-autoritärer Eindringlichkeit jedes einzelne ihre Worte mit einer bedeutungsschwangeren Geste untermalte. "Aye, Sir!" rief D und salutierte, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. "Das heißt Ma'am, du Depp, und außerdem ist die Sache verdammt ernst, also verhaltet euch auch dementsprechend, kapiert, Rekruten?" "Du bist der Boss!" Ronin nickte sichtlich begeistert und zwinkerte Aya mit einem seiner großen roten Augen zu. "Aber wenn derartige Fragen einem einfachen Rekruten wie mir gestattet sind: Worum geht's denn jetzt eigentlich genau?" "Noch so eine Frage und es setzt zwanzig Liegestützen, Unwürdiger!" Aya reckte demonstrativ ihr Kinn in die Höhe und zwang sich mit einigen Anstrengungen zu einem ernsten Gesichtsausdruck. "Etwas Unfassbares und absolut Unvorhergesehenes ist eingetroffen, also wird hiermit Ausnahmezustand über dieses Labor verhängt." "Warum freust du dich darüber?" mischte sich Ravin in üblich kaltem Tonfall ein und bedachte Aya mit einem kritisch zweifelnden Blick. Damit war es um die Fassung der jungen Wissenschaftlerin endgültig geschehen und ein strahlendes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. "Leute... wir haben einen Auftrag!" "Nein!" Ronin schlug die Hände zusammen und stieß ein leises Quietschen aus. "Wie geil! Und das gleich an meinem... ähm... dritten Arbeitstag! Werd ich gebraucht? Sag schon, Aya, werd ich gebraucht?" "Nun ja... da liegt das Problem bei der ganzen Sache... dafür, dass dies die erste richtige Arbeit in meinem neuen Team sein wird, bin ich mit der geplanten Vorgehensweise nicht ganz glücklich." "Jetzt machen sie uns aber Angst, Ma'am!" D zog die Augenbrauen hoch und hob seine Hände an, sodass er mehr oder weniger wie ein verstörtes kleines Hundebaby aussah. Ayas vorsichtig bedrückte Miene wich augenblicklich wieder einem Lächeln. "Es ist ja gar nichts Schlimmes, D, aber mich enttäuscht ein wenig, dass wir für diesen Auftrag weder das PSI-Walking noch das Maze wirklich gebrauchen können. Gut, Letzteres vielleicht noch am Rande, aber... eine richtige Arbeit im Team wird es nicht geben. Es lässt sich nicht vermeiden. Dies ist nun mal eine ungewöhnliche Aufgabe, und ungewöhnliche Aufgaben verlangen ungewöhnliche Maßnahmen." "Jetzt machen sie uns wiederum neugierig, Ma'am!" grinste D, nicht ohne ein vorfreudiges Blitzen in den braunen Augen, und sah Aya mit leicht geneigtem Kopf erwartungsvoll an. Im Hintergrund kündigte ein leises Piepsen an, dass die laborinterne Kaffeemaschine gerade mit der Zubereitung des morgendlichen Lieblingsaufputschmittels des jungen Schwarzhaarigen fertig war - eine extragroße Tasse Karamell-Schokocappuccino mit viel Zucker und Sahne - und das verführerisch duftende Getränk nun auf seine Abholung wartete, aber Ds Neugierde war stärker als sein Appetit und ließ selbst dieses überaus verlockende Angebot zumindest für einige Augenblicke in den Hintergrund treten. "Ich will euch ja gar nicht auf die Folter spanne - auch wenn ich vielleicht so aussehe und es mir, zugegebenermaßen, eine ganze Menge Freude bereitet. Aber da dies ein ernstes Gespräch ist, werde ich euch natürlich gleich einweihen, jedenfalls, nachdem ich euch noch einmal darauf hingewiesen habe, dass ihr all die Informationen, die ihr nun erhaltet, strengst vertraulich behandeln müsst und unter keinen Umständen an Dritte weitergeben dürft, kapiert?" "Woah, jetzt wird's aber spannend!" Ronin rieb sich die Hände, ohne seine roten Augen - die nun noch ein bisschen größer waren als sonst - vom Gesicht der jungen Wissenschaftlerin zu nehmen. "Ich liebe das! Ich gebe ja zu, einer der Gründe, warum ich mich für diesen Posten beworben habe war meine nicht zu leugnende Affinität für sämtliche Dinge, die man als absonderlich oder ganz trivial mit dem Wort ,spannend' bezeichnen würde, und diese Spannung, um mal einfach bei dem Wort zu bleiben, die wird ja durch das sprichwörtliche Siegel der Verschwiegenheit nur noch erhöht und überhaupt, ich frag mich ja schon von Anfang an, worum es hier geht, weil das doch alles so wahnsinnig wichtig und auch ein bisschen bedrohlich klingt, und deshalb schweige ich natürlich wie ein Grab, Ehrensache, denn für mich ist es doch irgendwie noch ein Privileg, in derartige Dinge eingeweiht zu werden, ich meine, ich bin ja sozusagen noch neu auf diesem Gebiet und außerdem..." "Im Arbeitsvertrag mit INFERIA verpflichtet sich jeder Mitarbeiter, betriebsinterne Informationen niemals an Außenstehende und nur mit ausdrücklichem Hinweis an andere Angestellte oder organisationsgebundene Institutionen weiterzugeben", stellte Ravin trocken fest und brachte so den immer euphorischer werdenden Redefluss des Rotäugigen zum Versiegen. Aya seufzte ergeben. "Du hast es wieder einmal auf den Punkt gebracht. Mein Hinweis war natürlich überflüssig und ich danke dir, dass du mich darauf hingewiesen hast. Aber zurück zu unserem eigentlichen Problem. Wer von euch hat vorgestern Abend die Spätnachrichten gesehen?" "Ich! Ich!!!" rief Ronin begeistert aus und fuchtelte wie ein übereifriges Schulkind mit seinem dünnen, bleichen Arm. "Ich auch. Wieso?" "Das will ich dir gerne sagen, D... und dir natürlich auch, Ronin. Ihr erinnert euch vielleicht an die Story von dem toten Modell..." "Die Blonde?" D verzog das Gesicht. "War keine sehr schöne Story, wenn ich mich recht erinnere. Die Kleine wurde ja regelrecht gekreuzigt... nur auf ne verdammt makabre Art und Weise." "Sie wurde mit etwa zehn Zentimeter dicken Stahlkabeln durchbohrt und knapp zwei Meter über dem Laufsteg aufgehängt", verbesserte ihn Ravin mit ungerührter Miene. "Das ist etwas Anderes. Bei einer Kreuzigung stirbt man nicht durch seine Verletzungen, sondern weil die Organe durch die Anstrengung der unnatürlichen Körperhaltung..." "Hey! So genau wollte ich das gar nicht wissen!!!" winkte der Schwarzhaarige hastig ab und wandte sich dann wieder Aya zu. "Übrigens, deute ich deine vage andeutenden Worte jetzt richtig, wenn ich mal ganz vorsichtig vermute, dass wir uns um genau diesen Mord kümmern sollen? Aber sprich, ehrwürdige Lady, ist das nicht eher Sache der Bul... der Polizei?" "Da kann ich eigentlich nicht widersprechen, D - also wirklich, jetzt sagt mir doch bitte mal, womit ich solch intelligente Mitarbeiter wie euch verdient habe? Ach so, und nutzt diese Intelligenz dann bitte auch und denkt mal scharf darüber nach, dass es eventuell auch einen Grund dafür geben muss, warum sich der Geschädigte nicht an die städtischen Sicherheitsbeamten gewandt hat, sondern eben an unsere Wenigkeiten." "Häh?" D kratze sich am Kopf und zog eine seiner Augenbrauen nach oben, um dem ganzen Ausmaß seiner Verwirrung plakativ Ausdruck zu geben. "Wieso der Geschädigte? Ich dachte, das wär ne sie gewesen und außerdem sah die irgendwie nich ganz so aus, als ob sie so in nächster Zeit geplant hätte, mal eben fröhlich in ein Polizeirevier zu spazieren und..." "D! Du bist wirklich... ooooh! Aber nein. Nein - ich bin ja selber schuld! Schutt und Asche auf mein Haupt! Wie konnte ich dich auch allen ernstes als intelligent bezeichnen? Ich meine... diese Handlung ist ja fast schon eine Antithese an sich, wenn du verstehst, was ich meine..." "Eure gute Laune freut mich", mischte Ravin sich mit Grabesmiene und ebenso lebhafter Stimme ein. "Aber ich dachte, wir hätten irgendein unvorstellbar ernstes Thema zu besprechen? Es ging um einen Grund. Es ging um einen Geschädigten. Wie weiter?" "Weiter... ja, natürlich... danke, Ravin. Ich sag's doch immer - wenn ich dich nicht hätte! Wo wär ich denn dann? Wahrscheinlich immer noch in der tiefsten Einleitung..." Aya strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und zwang sich mit einem tiefen Seufzer zur Ruhe. "Aber gut, du hast ja Recht. Trotzdem fang ich am Besten mal ganz von vorne an: Unser Geschädigter heißt Marque Venelle, Inhaber des Kosmetikherstellers Evershine und diverser florierender Nachtclubs. Kann gut sein, dass ihr - ihr auf D bezogen - den Namen schon mal gehört habt." "Jau, die Clubs, die kenne ich!" stimmte Ronin grinsend zu, was ihm einen kurzen Blick seitens seiner Vorgesetzten, sonst jedoch keine größere Beachtung einbrachte. Die Dunkelhaarige räusperte sich kurz, um den Einstieg in ihren Vortrag wieder zu finden, und fuhr dann in möglichst sachlichem Tonfall fort. "Um es kurz zu machen: Dieser Venelle ist reich, er ist mächtig und er veranstaltet gegenwärtig den Model-Contest des Sigma-Quadranten, den Evershine New Diamonds Award. Habt ihr vielleicht auch schon mal gehört." "Langsam begreife ich die Zusammenhänge... aber red nur weiter, Aya." "Ja, ich glaube, das ist auch besser so, D. Denn langsam aber sicher komme ich an den Punkt der Erzählung, wo's wirklich wichtig und spannend und so weiter wird. Denn unter den Models wütet ein Killer - der Sweet Slaughter. Der aktuelle Mord ist nur der dritte aus einer Serie, die sich wahrscheinlich noch weiter fortsetzen wird. Dummerweise sind jetzt aber die Medien aufmerksam geworden wovon Venelle natürlich wenig begeistert ist und dementsprechend dringend unsere Hilfe benötigt, weil sonst sein süßer kleiner Contest der ganz große Reinfall wird." "Cool." Ronin nickte andächtig. "Aber entweder hab ich grade nicht richtig zugehört oder du hast immer noch nicht gesagt, warum sich der Gute jetzt an uns und nicht an die Polizei gewandt hat." "Sagt bloß, ihr könnt euch das nicht denken! Na, weil unser Ruf uns eben bis weit über die Landes- und Planetengrenzen vorauseilt! Aber was für ein Ruf, das glaubt ihr gar nicht! Und jetzt ratet noch mal, warum Venelle ausgerechnet uns zu Hilfe gerufen hat? Kommt ihr drauf? Weil die Polizei an unsere Kompetenz nun einmal nicht herankommt, weil wir die Besten, die absoluten Spezialisten sind - bei solch mysteriösen Angelegenheiten versagt der gewöhnliche Sicherheitsapparat! Da braucht es andere Methoden! Und so - treten wir auf den Plan. Geheimnisvoll. Unerkannt. Das wollte Venelle sich natürlich nicht entgehen lassen und hat sich dementsprechend an uns gewandt." Aya holte tief Luft und ließ ihre eben noch stolz geschwellte Brust mit einem Seufzer der Resignation wieder in sich zusammensinken. "Genau das würde ich euch jetzt gerne erzählen. Leider halte ich nicht viel von Lügen. Schade eigentlich. Um genau und ehrlich zu sein, Venelle hat sich einzig und allein aus einem Grund an uns gewandt, nämlich weil er sich keinen Skandal erlauben kann und deshalb die Öffentlichkeit aus den Ermittlungen ausschließen möchten. Uns kennt keiner, uns verdächtigt keiner, uns braucht keiner, wir haben den Fall. Das ist traurig, demotivierend und desillusionierend, aber wahr." "Ach weißt du, so schlimm find ich's jetzt gar nicht!" D zuckte kurz mit den Schultern, immer noch ein breites Grinsen auf den Lippen. "Fall ist Fall. Honorar ist Honorar. Und wenn's ein reicher Geldgeber ist - umso besser! Aber jetzt sag doch mal... wie stellst du dir denn diese... unerkannten, diese geheimnisvollen Ermittlungen vor? Ich... ahne ja was, aber ein letzter schwindender Hoffnungsstreif am Horizont lässt mich nicht aussprechen, was dort in meinem Geiste nagt und wütet." "Vielen Dank für diese pathetische Einleitung, D, aber du brauchst dich gewiss nicht vor meinem Plan zu fürchten, der fällt nämlich leider nicht auf dein Hoheitsgebiet. Dabei hast du wahrscheinlich sogar Recht - ich will, dass einer von euch Undercover Ermittlungen anstellt. Ja, genau, unerkannt, geheimnisvoll, all das. Und um sogar noch genauer zu sein: Einer von euch Experten soll sich in diesen Wettbewerb einschleichen und ein Auge auf alles haben, was da so vor sich geht. Niemand darf euch erkennen, nicht einmal Venelle selber. So und nicht anders könnt ihr den Sweet Slaughter zur Strecke bringen. Ganz einfach. Alles klar soweit?" "Ähm, ja, schon... das Prinzip ist auch noch nicht sonderlich kompliziert... aber... verrätst du mir dann auch mal, an wen du..." "Aya, Aya, Aya, darf ich? Darf ich? Bitte, bitte, bitte! Ich... ich hab doch schon immer mal davon geträumt, ein Model zu sein und dann... dann... all die schönen Menschen und die Zuschauer und das Blitzlichtgewitter und diese ganz besondere, unbeschreibliche Atmosphäre aus Angst, Aufregung und Euphorie, dieses innerliche Flackern und Glühen, wenn man hinaus in das Scheinwerferlicht tritt und die wichtigsten Minuten seines Lebens beschreitet und... und... oh Aya, bitte!" Ronins rote Augen glühten vor Aufregung. Ein stetes Beben durchlief seine bleichen Lippen und bei jedem seiner Worte schlugen seine Hände mit einem dumpfen Klatschen gegeneinander, ganz so wie die eines überdrehten Kindes. "Oh... Ronin, du... also..." Die Dunkelhaarige räusperte sich einige Mal. Wieder einmal musste sie feststellen, wie schwer es ihr eigentlich fiel, jenen Ausdruck beschämter Verlegenheit von ihren Gesichtszügen zu wischen, den sie sich als Vorgesetzte nicht leisten musste und konnte. Denn trotz ihrer nicht zu leugnenden Affinität zur Macht und Autorität war sie alles andere als glücklich darüber, der gierigen Begeisterung ihres neusten Mitarbeiters so jäh einen Riegel vorschieben zu müssen. Gleichzeitig war ihr klar, allzu klar, dass ihre Entscheidung längst schon gefallen und vielleicht nicht schön, nicht angenehm, aber doch in jedem Falle richtig war. "Was'n los, Chef?" Aya musste ein weiteres Mal tief durchatmen, bevor sie endlich antworten konnte - langsam, schoss es ihr durch den Kopf, mussten ihre Lungen an akuter Sauerstoffvergiftung leiden! "Ronin - du wirst diesen Auftrag nicht annehmen. Bitte... schau nicht so... ich... ich habe mir eine ganze Menge Gedanken gemacht, das könnt ihr mir glauben. Aber mein Plan steht jetzt umso fester und er kann nur funktionieren, wenn darin jeder seine angemessene Rolle spielt. Versteh mich bitte nicht falsch, ich... es ist nicht so, dass ihr dir diesen Job nicht zutraue, aber unser Undercoveragent muss ja selber so lange wir möglich bei diesem Wettbewerb dabei bleiben, um auch entsprechend lange ermitteln zu können. Und ich denke, die besten Chancen..." "Aya, bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?" fiel D der jungen Wissenschaftlerin ins Wort, nun doch mit einer dunklen Spur von Besorgnis in der plötzlich gar nicht mehr so heiteren Stimme. "Ich meine... ich weiß, dass es auf eine Art schon irgendwie gut ist, ja. Und wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, auch ja. Aber glaubst du wirklich, dass er..." "D - ich glaube nicht. Ich bin keine Theologin, sondern Wissenschaftlerin. Ich überlege und ziehe dann aus diesen Überlegungen meine Möglichkeiten." Nun endlich fand Aya die nötige Bestimmtheit, die sie die ganze Zeit über so vergeblich in ihrer Stimme gesucht hatte. Ein wichtiger, ungewohnt autoritärer Ausdruck trat in ihre dunklen Augen. "Ravin, du wirst dich unerkannt in diesen Schönheitswettbewerb einschleichen... und dem Sweet Slaughter das Handwerk legen!" Gedämpftes buntes Licht durchsickerte den Raum, tränkte die unangenehme Wärme, das allgegenwärtige Murmeln, Kichern und Plaudern, ließ die überfließende Schönheit zu einer einzigen, konturlosen Masse verschwimmen. Das leise Klingen aufeinanderprallenden Glases legte sich wie ein hoher, unrhythmischer Singsang über die belanglose Musikuntermalung. Eine einzige Gestalt stand abseits der fröhlichen Zwanghaftigkeit, abseits der Gespräche, der besorgt-ängstlichen Lästereien über die - selbstverständliche chancenlose - Konkurrenz, der geballten Dekadenz teurer Anzüge und Abendkleider, gekauft, geliehen oder gestohlen für nur einen einzigen Abend in einem langen, aber meist belanglosen Leben. Diese Gestalt musterte die umstehenden Personen ruhig und abschätzend, wie durch eine gläserne Mauer oder die schonungslos objektive Linse einer Kamera von ihnen getrennt. Bildhübsche Frauen aller Haut- und Haarfarben, manche exotisch, manche interessant, manche niedlich, einige erotisch. Hier und dort hatten die Modedesigner gewaltig an Stoff gespart, die Schönheitschirurgen dafür eine Extraportion Silikon und Falten mordende Nervengifte zugelegt und so ging die Gleichung letzten Endes überall auf, die Gleichung, deren Ergebnis mehr oder minder jenem rätselhaften Wort entsprach, das die Menschen so gerne leichtfertig verwendeten und beurteilten. Schönheit. Unsere einsame Gestalt kümmerte sich jedoch nicht weiter um das so genannte schöne Geschlecht, das ja schließlich für ihn als Konkurrenz nicht in Frage kam, und wandte sich stattdessen den anwesenden Herren der Schöpfung zu, ganz so, wie seine Vorgesetzte es ihm angeordnet hatte. "Ravin, diese Party ist deine Chance! Du musst deinen Gegner kennen, um ihn besiegen zu können, also schau dir deine Rivalen besser mal genau an - du wirst noch eine ganze Menge Zeit mit ihnen verbringen müssen..." Ravin seufzte leise. Er konnte den Sinn und Zweck dieser ganzen, zweifellos unglaublich kostspieligen Veranstaltung beim besten Willen nicht begreifen. Warum dieses äußerliche Kräftemessen? Warum musste ein willkürlicher Zusammenschluss einiger Planeten unbedingt wissen, welcher seiner Bewohner nun am ehesten einem durch und durch subjektiven Idealbild entsprach, das sich in einem, höchstens in zwei Jahren ohnehin wieder vollkommen verändert haben würde? Es war absurd, es folgte keinerlei Logik, aber nichtsdestotrotz war dies ein Befehl seiner Chefin, und denen hatte er nun einmal Folge zu leisten. So tasteten seine eisfarbenen und nicht weniger kalten Augen stumm und analytisch über die leicht verschwommenen Menschenmassen, suchten nach einem Gegner, den zu fürchten und zu besiegen es nun galt. Die Männertypen überraschten ihn nicht weiter, entsprachen sie doch im Großen und Ganzen denen ihrer weiblichen Gegenstücke. Grinsende, vom zurückgegelten Scheitel bis zur blank polierten Schuhspitze strahlende Sunnyboys Marke Surflehrer deines Vertrauens, etliche verkappte Bauarbeiter mit eher rustikalem, wildem Charme, durchtrainierte Dunkelhäutige mit glühenden Augen, bildhübsche Asiaten oder auch jener momentan nicht ganz so beliebte nette Junge von nebenan, der sich ohne größere Probleme an die Front irgendeiner Boygroup stellen und harmlos lächelnd Playback singen konnte... Eigentlich interessierten auch sie ihn nicht sonderlich, denn er selber verstand nicht viel von diesen Dingen, von jenem Mythos namens Attraktivität, der die ganze Welt fest in seinen lackierten und perfekt manikürten Klauen hielt. Den klassischen schwarzen Anzug hatte er ganz einfach deshalb angezogen, weil Aya und Ronin etwa eine Stunde lang um die Wette gequietscht und gekichert hatten, wie umwerfend er doch darin aussehen würde, beide mit diesem seltsamen Leuchten in den Augen, das ihm nach all der Zeit immer noch so fremd war... sie waren es auch gewesen, die ihm das lange, schneeweiße Haar geflochten hatten, die ihm eine ganze Menge über die richtigen Bewegungen, eine seltsame, an und für sich vollkommen widernatürliche Art zu laufen beigebracht hatten... und trotzdem. Er verstand das alles nicht. Eigentlich hatte er von Anfang an nicht ganz begreifen können, warum ihm so viele Menschen immerzu gesagt hatten, wie unglaublich schön er war. Zu schön, hatte es ab und an sogar geheißen, aber was machte das denn nun wieder für einen Sinn? Wie konnte man von einer offensichtlich positiven Gabe überhaupt zuviel besitzen? Man sprach doch auch nicht von zuviel Geld, zuviel Gesundheit, zuviel Geschicklichkeit... es war absurd. Es war alles vollkommen absurd. "Du trinkst ja gar keinen Champagner, mein Hübscher!" säuselte ihm urplötzlich eine süßliche Stimme ins Ohr und riss ihn aus seiner nachdenklichen Beobachtungshaltung. Ravin blickte auf - und direkt in das dezent solariumgebräunte Gesicht einer sehr hübschen, sehr blonden jungen Frau. Ihre Augen lagen etwas zu weit auseinander und waren eigentümlich angeschrägt, aber gerade das riss ihr Äußeres aus der recht niedlichen Belanglosigkeit, strahlte eine ganz eigene Faszination aus. Das Haar der Fremden war sanft gelockt und eigentlich fehlten nur noch zwei flauschige weiße Flügelchen auf ihrem makellosen, frei liegenden Rücken, um das Gesamtbild perfekt zu machen. Ravin schüttelte stumm den Kopf und beachtete sie dann nicht weiter. "Warum nicht? So ein sündteures Tröpfchen, und das umsonst, wo kriegt man das schon wieder in derartiger Fülle? Ob ich nun weiterkomme oder nicht - ich will jeden dieser Abende genießen. So ein süßes Leben könnte ich mir durchaus auch auf die Dauer vorstellen." "Ich trinke keinen Alkohol", warf Ravin der Blonden kurz angebunden zu und hoffte, dass sie sich doch möglichst bald wieder unter jenes feiernde Volk mischen mochte, in dem sie sich offensichtlich so heimisch und wohl fühlte. "Das ist mir und einigen anderen Models auch schon aufgefallen!" Die Frau kicherte, eine bezaubernde, aber dadurch nicht weniger gekünstelt wirkende Geste, bei der sie ihre blitzenden Augen schloss und galant eine Hand vor den zarten Mund hob. "Du bringst offensichtlich Opfer dafür, so auszusehen, wie du es jetzt tust. Das müsstest du nicht. Das Ganze ist eigentlich eh schon entschieden." "Wie meinst du das?" Ravin hob seinen Blick, nicht aber seinen Kopf, was seiner Meinung nach schon mehr als genug war, um wenigstens einen Anflug von Interesse anzudeuten. In den letzten Tagen hatte er gelernt, dass es in jenen entzückenden Kreisen, in denen er sich nun bewegte, offensichtlich normal zu sein schien, jeden noch so Fremden, noch so unsympathischen Menschen, dem man bei gleich welcher Beschäftigung begegnete, spontan und ohne weitere Fragen zu duzen, zu umarmen, zu knuddeln, zu küssen und vielleicht sogar zu heiraten. "Ach, sag bloß, das hast du nicht bemerkt!" Die Blonde machte eine zuckersüße Handbewegung und warf ihren Kopf ein wenig zurück. "Was habe ich nicht bemerkt?" "Jetzt hör aber auf! Ich meine, du brauchst dich doch gar nicht mehr anzustrengen. Wer außer dir soll denn diesen Wettbewerb schon gewinnen? Keiner hier ist auch nur annähernd so... so perfekt wie du. Die Juroren stehen auf so was. Du weißt schon, dich könnte man in einen Müllsack stecken und vor eine abgebrannte Fabrik stellen und du würdest immer noch umwerfend aussehen!" "Aha", machte Ravin. Sein Interesse war ebenso schnell wieder verflogen, wie es sich bemerkbar gemacht hatte, und daran konnte auch die betont überpointierte Sprechweise der blonden Schönheit nichts mehr ändern. Eigentlich brauchte er sich gar nicht zu wundern, und wenn, dann nur über seine eigene Dummheit - wie hatte er jemals annehmen können, dass ausgerechnet diese durch und durch künstliche Marionette, gekettet an die unsichtbaren Fäden von Political Correctness und einer steten, unschudlig-mädchenhaften Ausstrahlung, über irgendwelche betrügerischen Unstimmigkeiten dieser großen, strahlenden Wahl Bescheid wissen konnte? Angenommen, die Juroren waren bestochen. Angenommen, der Sieger würde sich seine gold-blaue Schärpe nicht nur durch ein charmantes Lächeln und einen makellosen Teint, sondern vielmehr durch eine kleine Gefälligkeit in Form eines unscheinbaren, aber umso wertvolleren Schecks erringen... wieso sollte ausgerechnet diese wandelnde, in weiß gehüllte Unschuld vom Himmel herabgestiegen sein, um ihn davon in Kenntnis zu setzen? Noch eine Absurdität, die sich perfekt in das abstoßend süßliche Gesamtbild dieses verlorenen Abends fügte. "Aber natürlich!" Die Blonde hauchte einen leisen Seufzer hervor. "Bei den Frauen ist es dieses Jahr nicht ganz so einfach. Trotzdem schien es mir in der Vorrunde so, als ob entweder Tara, Li-Anh oder Chastity die Jury am meisten entzückt hätten." Ihre schrägen Augen glitten nacheinander über eine klassische Brünette, deren bleiche Gesichtzüge wohl schon recht nah an die Definition des Wortes makellos heranreichten, über eine zierliche, nicht minder schöne Asiatin und schließlich eine außerordentlich gut gebauten Blondine. Ein leises Kichern drang über die Lippen des Models, und für einen ganz kurzen Augenblick durchlief ein Beben ihren zarten Körper. Die perlende Flüssigkeit in ihrem Cocktailglas erzitterte. Als sie weitersprach, klang ihr entzückendes Stimmchen gedämpft. "Ach, was soll denn dieses ganze scheinheilige Gerede? Natürlich will ich gewinnen! Und deshalb werde ich auch gewinnen. Wenn ich in meinem Leben eines gelernt habe, dann, dass ich immer bekomme, was ich haben will, verstehst du? Aber sag das bloß nicht weiter! Was würde das denn für einen Eindruck machen? Vor allem bei der Jury! Immer schön bescheiden, so ist das Motto, bescheiden, niedlich, willenlos... ha!" Ravin betrachtete den leisen Ausbruch der schönen Frau mit ungerührter Miene. Er verstand nicht, warum sie ihre harmlose, reizende Maske ausgerechnet in seiner Gegenwart lüftete, aber es bestätigte einmal mehr jenes Bild, das er seit jeher von derartigen Veranstaltungen und ihren Teilnehmer hatte - falsch, verlogen, erzwungen, berechnend. Ansonsten interessierte sie es ihn nicht weiter. "Aber scheinbar muss ich mir da eh keine Gedanken machen. Bist wohl keiner von der gesprächigen Sorte, was? Ich bin mal gespannt, wer dein Zimmerpartner wird." "Zimmerpartner?" "Ja. Jeder hier hat einen Zimmerpartner, und die Ausscheidungsrunden sind von Anfang an so ausgelegt, dass das auch bis zum Schluss so bleibt. Damit wollen sie wohl verhindern, dass irgendjemand hier allzu sehr in Allüren verfällt. Außerdem schürt es Neid, Eifersucht und Intrigen - und somit wohl auch den Ehrgeiz der Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Übrigens fällt mir gerade auf, dass ich noch nicht einmal deinen Namen kenne!" "Ravin", antwortete der Weißhaarige kurz, ohne Anstalten zu einer jener üblichen erniedrigenden Begrüßung zu machen, wie sie von den übrigen Models so exzessiv betrieben wurden, um auch ja aller Welt zu zeigen, auf welch glückliche, tolerante, durch und durch faire Familie sie da blickte. "Ich bin sehr erfreut. Ein wundervoller Name!" Sie biss sich leicht auf die Lippe, wohl, um noch verführerischer auszusehen, und senkte ihren Kopf ein wenig. "Er passt zu dir." Wie zufällig schlug sie ihre langen Wimpern einige Male auf und nieder. "Ich bin Ivy. Merk dir den Namen gut. Du wirst noch einiges von mir hören!" Sie stieß ein letztes, zuckersüßes Lachen aus, bevor sie sich abwandte und wieder in der graubunten, gesichtslosen Masse verschwand. Ravin konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, welche Bedeutung das Wort Zimmerpartner noch für ihn haben sollte. Im Grunde genommen konnte er es selbst dann noch nicht ahnen, als er die stilvoll schwarz-goldene Türe mit einem kurzen Druck auf einen goldfarben glänzenden Knopf lautlos öffnete, eintrat und sich kurzerhand auf einem der beiden breiten, außerordentlich bequemen aussehenden Betten niederließ, das sich an die linke Wand des ihm zugeteilten Zimmers drängte. Er begann in aller Seelenruhe damit, seine Sachen auszupacken und in einen der lackschwarzen Schränke einzuräumen, und er blickte auch dann nicht auf, als sich die Türe ein zweites Mal leise öffnete. Er unterbrach seine Tätigkeit notgedrungen erst dann, als er mit einem einzigen Ruck am Arm gepackt und herumgerissen wurde. "Hey, Mr. Perfect!" Das Erste, was Ravin unweigerlich ins Augen sprang, waren zwei makellose Reihen weiß glänzender Zähne, entblößt zu einem ganz und gar unglaublich breiten Grinsen. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass diese strahlende Palisadenfront ganz nebenbei auch noch von einem Gesicht umgeben war, von sonnen- oder wahrscheinlich eher solariumgebräunter Haut, von blondierten, leicht lockigen Haaren, die sich in scheinbarer Todesangst eng an die Kopfhaut krallten und auf eine höchst bizarre Art und Weise wie ein betonharter Heiligenschein direkt auf das Haupt des vor guter Laune schier platzenden Wesens aufzementiert zu sein schienen. Passend zu dieser heiligen Ausstrahlung war das leuchtende Wasserstoffblond von einer unsichtbaren Aura aus Haarspray umnebelt, die bei jeder Bewegung in den hilflosen irdischen Raum diffundierte. Ravin schluckte und blinzelte das wandelnde Grinsen mit großen, entsetzten Augen an. Es war nicht unbedingt leicht, ihn zu schockieren - der Fremde jedoch hatte dieses Wunder ohne größere Mühen und ohne mehr als drei Worte mit ihm gewechselt zu haben in größtem Maße zustande gebracht. "Wie - bitte?" war alles, was der Weißhaarige noch über die Lippen brachte. "Du wirst es nicht glauben, aber ich will dich begrüßen." Aus irgendeinem Grund fühlte sich Ravin überaus unangenehm von der Tatsache berührt, dass der Fremde und am besten auch für immer und ewig fremd Bleibende ihn so einfach duzte, wie es in den vergangenen Tagen schon unzählige andere getan hatten. Er machte mehr oder weniger unauffällig einen Schritt zurück und versuchte vergeblich, sich aus der Reichweite der stechend süßlichen Duftwolke zu retten. "Aha." "Ja! Woah! Staun!" Das Grinsen schien auf wundersame, erschreckende Weise sogar noch ein wenig breiter zu werden und legte einige Millimeter lachsfarbenen Zahnfleisches frei. Ravin spürte, wie sich ein widerlich kalter Schauer über seinen Rücken zog. "Du scheinst das ja noch nicht zu wissen, aber für gewöhnlich begrüßt man jemanden, den man noch nicht kennt. Vor allem, wenn man in den nächsten Tagen - Wochen? - sein Zimmer und sein Brot mit ihm teilen wird. Na, verblüfft? Tja, man lernt eben täglich dazu." Ravin sparte sich eine Antwort. Langsam hatte sich sein gewohnt kalter Blick wieder eingestellt, und der Weißhaarige hatte schon lange begriffen, dass er die meisten Menschen damit abschreckte - wie gesagt, die meisten, denn sein fröhlicher Zimmergenosse zeigte sich unbeeindruckt und - grinsend. "Also, Geschwätzigkeit scheint ja nicht grad zu deinen Todsünden zu gehören. Hey - sag nichts. Ich weiß, dass es eigentlich keine Todsünde ist, aber... ach, warum reg ich mich auf? Du würdest ja ohnehin nichts sagen!" Das Grinsen seufzte. "Weißt du, was deine Todsünde ist?" Ravin deutete ein Kopfschütteln an und warf einen hastigen Blick auf die viereckige, goldgerahmte Uhr, die ihm unbarmherzig und höhnisch tickend von der Wand entgegenblitzte. Noch fünfzig Minuten bis zur ersten Probe - keine Chance zu entkommen - vertreib dir die Zeit mit deinem Zimmerpartner - hahahahaha - .... "Deine Todsünde", verkündete das Grinsen und machte einen unangenehm forschen Schritt auf Ravin zu, den Zeigefinger wie eine vernichtende Waffe auf sein Gesicht gerichtet, "das ist der Hochmut. Oder Eitelkeit. Nenn es, wie du's willst. Du meinst, du bist was Besseres, was? Du weißt genau, dass du die Jury in der Tasche hast! Aber freu dich mal nicht zu früh!" Absurderweise schien der junge Mann selbst dann noch zu grinsen, als sein Gesicht längst schon einen finsteren Ausdruck angenommen hatte. Ravin zuckte nur kurz mit den Schultern, dann ließ er sein solariumgebräuntes Gegenüber kurzerhand stehen und wandte sich wieder seinem Koffer zu. Dann jedoch hielt er noch einmal inne, blickte auf und sah seinen Zimmerpartner mit eisig kalten Augen an. "Freut mich auch. Ich bin Ravin." "Äh- häh?!?" Diesmal war es das Grinsen, welches ihn verwirrt, nahezu perplex anstarrte und nicht so recht zu wissen schien, welche Reaktion als nächstes angebracht war. Der Weißhaarige ließ ihn einige Sekunden lang in dieser dumpfen Ungewissheit schweben, dann zuckte er mit den Schultern und widmete sich wieder jenen Kleidungsstücken, die Aya und Ronin so fein säuberlich für ihn ausgesucht und zusammengepackt hatten. "Erstaunt? Nun - du scheinst das ja noch nicht zu wissen, aber für gewöhnlich begrüßt man jemanden, den man noch nicht kennt. Vor allem, wenn man in den nächsten Tagen - Wochen? - sein Zimmer und sein Brot mit ihm teilen wird..." Als Ravin seinen Blick zum zweiten Mal hob, war es um die Fassung des Grinsens endgültig geschehen. Es klappte einige Male seinen Mund auf und zu und presste dann so fest die Lippen aufeinander, dass die gleichmäßig gebräunte Haut einige Augenblicke lang ihre Farbe verlor. "Freut mich!" stieß der blonde junge Mann in übertrieben freundlichem Tonfall hervor. "Freut mich wirklich sehr! Ich bin Sean. Ich habe wirklich gerne deine Bekanntschaft gemacht! Wir werden uns bestimmt blendend verstehen..." Ravin ignorierte den leicht knurrenden Unterton in der Stimme jenes Wesens, das sich soeben als Sean entpuppt, in seinem Gedächtnis jedoch längst als ein einziges, Furcht erregendes Grinsen eingeprägt hatte. Es war ihm eigentlich auch egal, ob sein Zimmerpartner ihn nun hasste oder nicht, und da er das scheinbar ohnehin schon von Anfang an getan hatte, bestand erst Recht kein Grund, überhaupt noch einen weiteren Gedanken an dieses leidige Thema zu verschwenden. Er hatte ohnehin nicht vor, jemals wieder ein Wort mit ihm zu wechseln. Die folgenden Tage sollten sich als noch ungleich tödlicher herausstellen, als Ravin nach Ayas farbenfroher Schilderung der Mordfälle zunächst erwartet hatte - durchzogen, erdrückt, erschlagen von einer gigantischen Masse zähflüssiger Langeweile, die jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde wie ein blutig roter Faden zu durchtränken schien. Jeder einzelne verdammte Tag schien sich exakt nach demselben Strickmuster in die Länge zu ziehen, sodass sich Ravin das eine oder andere Mal tatsächlich in einer niemals enden wollenden Zeitschleife gefangen wähnte, ohne eine Aussicht auf Entkommen, auf Veränderung. Die Wecker klingelten früh in den Morgenstunden. Süßlich, hell, enervierend - mit einem Wort: unangenehm. Sie klingelten und klingelten, bis sich auch der letzte schöne Mensch aus seinem stilvoll eleganten Nachtlager bequemt hinab auf den unwürdigen Erdboden bequemt hatte. Das Frühstück war ebenfalls stilvoll, aber kärglich. Ravin kümmerte sich nicht darum, er machte sich nicht viel aus Frühstück, auch nicht aus Mittag- oder Abendessen. Trotzdem wurden diese drei hektisch kurzen Zeitspannen mit der Zeit zu Dreh- und Angelpunkten der Tage, schienen sie doch das einzige, was ab und zu wenigstens noch geringfügig variierte. Ansonsten fügte sich alles zu einem ekelhaft klebrigen Brei aus Fotoshootings unter mehr oder minder unmenschlichen bis menschenverachtenden Bedingungen, aus Interviews und einer unerträglichen Menge an Proben, Proben und nochmals Proben. Alles sollte und musste perfekt sein, bereit, das großformatige Hochglanzcover der nächsten BeStyle oder Celebrity Inn oder auch aLive! zu zieren, Käufer an die Zeitungskioske und mitfiebernde Zuschauer in die Veranstaltungshallen zu locken. Mehr und mehr begriff Ravin, dass es eigentlich gar nicht so sehr darum ging, wen die Jury im Endeffekt für den Schönsten, den Charismatischsten, für ein potentielles Supermodel hielt - was zählte, war das Drumherum, die Show, Entertainment. Die einzigen, die davon scheinbar keine Ahnung hatten, waren die hoffnungsvollen neuen Covergirls und -boys, die mit eiserner Disziplin, asketischer Diät und tonnenweise Make up einem Traum nachjagten, den es nicht gab. Ravin kümmerte sich jedoch nicht weiter um Träume, um ratternde Geldmaschinen und erbarmungslose Vermarktungsgeschäfte - er hatte einen Job zu erledigen. Dies war jedoch leichter gesagt als getan. Wie sollte er ermitteln, wie sollte er unauffällig Fakten sammeln in einem Sumpf totaler Amnesie? Das Blut war hinfort gewischt. Der Laufsteg erstrahlte in altgewohntem Funkeln. Alles lächelte, umarmte, fotografierte, verteilte Küsschen und verdeckte letzte Hautunebenheiten, als ob niemals etwas geschehen wäre in dieser bunten, kitschig-künstlichen Plastikwelt. Aya hatte ihm eingeschärft, um gar keinen Preis aufzufallen - aber wie sollte er auch nur irgendetwas über die ungeklärten Todesfälle herausfinden, wenn er sie nicht einmal am Rande erwähnen durfte? Was blieb, war Warten. Endloses, ermüdendes Warten, mitzutreiben im ewigen Strom aus grinsenden Fotografen, aus Novelle Cuisine und PR-Partys, einem Strom, der sich wieder und wieder im Kreis drehte, wie die fünfzigste Wiederholung einer öden Fernsehserie, die schon damals niemanden interessiert hatte... Bis eines Tages die Leiche von Chastity Kramer in der Frauentoilette gefunden wurde. Der vernichtende Blitz schlug inmitten der alkoholisch-heuchlerischen Fröhlichkeit der x-ten kleinen, familiären Feierlichkeit ein, traf die Festgesellschaft scheinbar vollkommen unerwartet und hinterließ ein Chaos aus Schreien, hysterischem Weinen und verzweifelten Versuch, den vernichtenden Schaden auf irgendeine absurde Art und Weise in seine blutigen Grenzen zurückzutreiben. Ravin hatte von Anfang an gespürt, dass die hohen Tiere, die schmierig erhabenen Fadenzieher hinter der profitträchtigen Veranstaltung, mit jedem Tag angespannter, ihr Lächeln und Scherzen erzwungener wirkte. Das Viertelfinale rückte unaufhaltsam näher und die Nerven lagen blank. Selten hatte der junge Weißhaarige derart entsetztes Grauen erblickt, wie in den Augen dieses mysteriösen Venelles (Ravin wusste nur, dass er Aya angeheuert hatte, und dass sie auf irgendeine Art und Weise früher schon einmal miteinander zu tun gehabt haben mussten), als urplötzlich ein gellender Schrei die seichte Musikuntermalung der Party zerriss. Binnen weniger Sekunden war alles in Bewegung, helle Aufregung hatte sich wie ein Feuerwerkskörper zwischen dem belanglosen Geplauder entzündet. Venelle rannte nicht. Er stand da wie erstarrt, die Zähne so fest aufeinander gepresst, dass es beinahe schien, als ob die perlweiße Front im nächsten Moment in tausend makellos glänzende Stücke zerbersten müsste. Seine Fäuste zitterten, die Haut wie zum zerreißen über den Knöcheln gespannt. Es vergingen etliche Momente, Ravin folgte schon längst dem Weg, auf den das hysterisch schrille Kreischen ihn geführt hatte, als er mit einem Mal begriff, was im Kopf des obersten aller Veranstalter vorgehen musste. Ein weiterer Mord war geschehen. Aya hatte versagt... Ravin schüttelte den Gedanken ab. Es gab andere Dinge, um die er sich nun kümmern musste, und diese Dinge ließen es nicht zu, Zeit an irgendwelche sinnlosen Überlegungen zu verlieren. Überall harrten Menschenleiber, dicht an dicht, einige zitternd, wie ein Labyrinth, jede Sekunde bereit, seine Form zu verändern. Der Weißhaarige hatte Mühe, sich schnell und sicher zwischen den schockierten, aufgebrachten, teils ratlosen Models hindurchzudrängen und es verging viel zuviel Zeit, bis er endlich am Ort des Geschehens angelangt war, jener Ort, an dem - endlich! - eine Chance, eine Chance auf Erfolg zu warten schien. Wie alles andere in dem Hotel war auch die Toilette extrem stilvoll. Weiße Kacheln. Lackschwarze Kabinen. Hier und dort ein Hauch von Gold, gerade im Bereich der Waschbecken. Kein einziger Fleck, der nicht vollkommen sauber und steril wirkte. Eine der Kabinen war geöffnet, davor stand eine junge, dunkelblonde Frau, zitternd, schluchzend. Sie klammerte sich an die Arme eines der männlichen Models, um nicht endgültig zusammenzubrechen, die Wangen schwarz von zerfließendem Make up. Der junge Mann, der sie stützte, wirkte jedoch nicht viel weniger hilflos als sie selbst. In seinen Augen stand ein merkwürdiges Flackern, dicke Schweißtropfen rannen über seine beinahe schwarze Haut. Zum ersten Mal, seit Ravin ihn an jenem schicksalhaften, wenn auch reichlich öden Abend seiner Ankunft gesehen hatte, wirkte dieser Mann nicht wie eine makellose Statue, sondern wie ein Mensch - ein reichlich verstörter Mensch, um genau zu sein. "Was ist passiert?" Ohne dass er recht begriff, warum, rückte sich Ravin durch seine kurze Frage binnen Sekundenbruchteilen in den Mittelpunkt aller Öffentlichkeit. Große, vor Angst triefende Augen richteten sich auf ihn, und einen Tick zu spät realisierte der Weißhaarige, dass es sich in dieser bluttriefenden Atmosphäre aus Furcht und Entsetzen ganz offensichtlich nicht schickte, auch nur ein einziges Wort zu sprechen - vor allem dann nicht, wenn dieses Wort so kalt, nüchtern und sachlich klang, wie das bei Ravins Stimme nun einmal der Fall war. Er räusperte sich kurz und blickte in die gaffende Runde, immer noch in Erwartung einer Antwort. "Sie ist tot", presste der Dunkelhäutige hervor, was den gebrechlichen Körper in seinen Armen zu einer erneuten Salve ohrenbetäubenden Schluchzens antrieb. Das nervlich vollkommen zerrüttete Model stammelte irgendetwas, doch es gelang Ravin beim besten Willen nicht, irgendeinen klaren, verständlichen Satzfetzen darin auszumachen. Er holte tief Luft und zückte den kleinen transportablen Nachrichtenübermittler aus seiner Tasche, den ihm Aya als Allzweckwaffe mit auf den gefahrvollen Weg gegeben hatte. "Ich werde jetzt einen Arzt rufen", kündigte er an, während er sich mühte, einen möglichst unauffälligen, für zufällige Betrachter nervös wirkenden Bogen durch den weiß gekachelten Raum zu beschreiten. Glücklicherweise schien tatsächlich keiner der umstehenden Gaffer zu bemerken, dass er tatsächlich mit seinem vermeintlichen Handy ganz nebenbei auch das eine oder andere Foto vom Fundort der Leiche schoss, dass er sich jedes Detail genauestens einprägte, während er scheinbar konzentriert auf das blau leuchtende Display des kleinen Portable Transmitters starrte. Konzentration hin oder her - es sollte Ravin nicht mehr gelingen, die Nummer des nächsten Krankenhauses zu wählen, bevor eine bebende Hand grob, nahezu schmerzhaft seinen Arm packte und ihn derart ruckartig herumriss, dass er einen Moment lang mit dem Gleichgewicht kämpfen musste. Der Blick zweier brennender Augen traf ihn, stechend wie der Hieb eines frisch geschliffenen Messers. "Hast du den Verstand verloren?!?" Venelles Stimme bebte, und etliche Sekunden lang war sich Ravin beinahe sicher, dass der Konzernchef nur zu gerne das Risiko eines weiteren Mordes auf sich nehmen würde, wenn er jenem verachtungswürdigen Subjekt mit dem kleinen grauen Elektrogerät in der Hand jetzt und auf der Stelle den Kopf hätte abreißen dürfen. Aus irgendeinem Grund führte er diesen Plan, der so überdeutlich in den vernichtenden Augen geschrieben stand, dann aber doch nicht aus und machte stattdessen seiner Wut mit einem tiefen, grollenden Seufzer Platz. "Ich bin von Verrückten umgeben! Ich - ich meine... einen Arzt! Einen Arzt!!! Hat man so etwas schon einmal gehört??! Warum nicht gleich die Polizei? Den Grenzschutz? Die Presse?!? Ja, nur zu, nur zu, ruiniere mich, stoß mir den Eispickel in mein faulendes Fleisch! Los! Los!" Ravin schlug seine Augenlider einige Male auf und nieder und betrachtete den Wutausbruch des aalglatten Mannes mit einer Mischung aus Faszination und vollkommenem Unverständnis. Zumindest letzteres schien selbst Venelle zu bemerken, als sich sein Blutdruck langsam wieder senkte und sein rasender Pulsschlag nicht mehr allzu laut, apokalyptischen Paukenschlägen gleich durch den Kopf des Konzernchefs hallte, um jeden klaren Gedanken finster und drohend zu verjagen. Er atmete tief durch - einmal, zweimal, dreimal - wischte sich dann über die ölig glänzende Stirn, die trotz aller Wut auf mysteriöse Art und Weise nicht eine einmal einzige Falte aufwies, und schaffte es dann sogar bemerkenswert schnell, seine abstoßend aufgesetzte Fassung zurückzuerlangen. "Ich - es tut mir leid. Natürlich hast du es nur gut gemeint. Natürlich wolltest du nur Hilfe holen. Du kommst aus Litonia, richtig?" "Illythia", verbesserte Ravin. "Ach, da ist doch kein großer Unterschied! Nein... ich meine... vergiss es. Du kommst von Attraya. Du kannst nicht wissen, dass..." Er brach ab und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. "Euch Models ist vielleicht nicht ganz klar, wie sehr uns negative Pressemeldungen schaden können. Das geht euch ja auch nichts an... aber... redet einfach nicht darüber. Redet nicht darüber. Es ist in eurem eigenen Interesse. Außerdem... traue ich Ärzten generell nicht. Nennt es einen Spleen von mir - wir sind ja eine Familie, da kann man schon mal seine Schwächen eingestehen, ist ja auch alles halb so wild... na, jedenfalls... ich kenne da eine sehr fähige Medizinerin und Wissenschaftlerin, die sich bestimmt gerne um alles kümmern wird. Wird schon alles erledigt, du musst dir also keine Sorgen machen - wie war doch gleich dein Name?" "Ravin", murmelte der Weißhaarige, während seine Gedanken schon längst nicht mehr bei Venelle und seiner mehr oder weniger überzeugenden Beschwichtigungspolitik weilten. Auch die kurz aufflammende Erleichterung bei der beiläufigen Erwähnung jener sehr fähigen Medizinerin und Wissenschaftlerin, die natürlich überaus gut in den Plan seiner Ermittlungen passte und diese endlich, endlich einmal nicht zu behindern, sondern im Gegenteil zu erleichtern versprach, schien vergessen, denn ein neuer Impuls hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zunächst war es mehr ein Reflex gewesen, der ihn hatte aufblicken lassen, die Ahnung einer flüchtigen Bewegung hinter dem goldgerahmten Glas eines Fensters. Ravin hatte nicht nur eindrucksvoll stechende, sondern ganz nebenbei auch noch überaus gute Augen, und so kurz, so vage die Bewegung auch gewesen sein mochte, er war sich vollkommen sicher, nicht einfach nur einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen zu sein. Einige Sekunden lang starrte er angestrengt auf das blauschwarze Viereck, konnte doch nichts wahrnehmen als warme Dunkelheit, dicht, staubig und undurchdringlich. Dann sah er das gedämpfte, stroboskopartige Blitzen. Ravin begriff sofort und zögerte nicht lange. Ob Venelle noch mit ihm geredet hatte oder auch nicht, vermochte er später nicht mehr genau sagen, wahrscheinlich deshalb, weil es ihm in diesem Augenblick ebenso egal war wie das immerwährende Schluchzen des Models, wie die starren, schockierten Gesichter der gaffenden Statuetten, dicht aneinander gedrängt hinter dem Rahmen der Türe. Er machte auf dem Absatz kehrt und sprintete noch aus dem Stand los. Die Menge der schaulustigen Models stellte kein Hindernis mehr für ihn dar, denn nun schlug er sich mit sämtlichen Mitteln durch, die im finsteren Angesicht dieser Situation mehr als berechtigt schienen, ohne sein Tempo dabei verringern zu müssen. Wofür hatte er eine lange, anstrengende Ausbildung, etliche Jahre Training für seinen Posten als Soldat im Dienste INFERIAs absolviert, wenn er in einer Situation wie dieser nicht angemessen regieren konnte? Und es bestand überhaupt kein Zweifel darüber, dass es sich um einen Notfall handelte. Nicht nur, dass man sie ganz offensichtlich die die ganze Zeit über beobachtet hatte - man hatte sie fotografiert. Und wer auch immer hinter dem Fenster gelauert hatte, aus irgendeinem Grund musste er ganz genau gewusst haben, dass und wo in diesem riesenhaften, an und für sich vollkommen unverdächtigen Gebäude ein Mord begangen worden war. Ravin war kein Kriminalbeamter, dennoch fielen ihm nur genau zwei plausible Erklärungen für dieses merkwürdige Phänomen ein. Entweder, der Fotograf war einer jener unerträglichen Paparazzi, schlich schon seit Tagen fortwährend ums Haus, beobachtete sie, verfolgte sie und hatte an diesem grauenvollen Abend ganz einfach eine verfluchte Menge Glück gehabt. Oder er war der Mörder. Schon weit mehr als nur einmal hatte sich Ravin gewünscht, in derart rasantem Tempo aus einem der stickigen, von Rauch, Körperausdünstungen und Alkoholdämpfen vernebelten Partyräume entfliehen zu können. Er durchquerte das bunte Licht des vor kurzem noch vollkommen überfüllten, jetzt wie ausgestorben und von seinem eigenen Atem erdrückt daliegenden großen Saal, stieß die schwarzen Türen auf und stürzte sich ohne zu zögern in den Strom kühler Luft, der ihm wie eine unsichtbare Faust entgegenschlug. Jeder einzelne Muskel im Körper des jungen Soldaten war gespannt, sein Verstand und seine Sinne vollkommen wach und geschärft. Gleich, was ihn erwarten würde - er war darauf vorbereitet. Dummerweise schien auch ihr stummer Beobachter auf diesen kampfesbereiten Ansturm vorbereitet gewesen zu sein, denn als Ravin in halsbrecherischer Geschwindigkeit, aber dennoch sicher im Gleichgewicht um die Ecke des großen Gebäudes rannte (welches von außen übrigens gar nicht mehr so stilvoll und edel, sondern vielmehr grau und hässlich wirkte), konnte der Weißhaarige nur noch mit ansehen, wie eine Gestalt in der tiefen Schlucht zwischen zwei Hochhausbauten verschwand. Ein schwarzer, bodenlanger Mantel, schwarze Haare und schneeweiße Haut, Statur eher klein und zierlich, aber doch eindeutig ein Mann - dies war der letzte Eindruck, den Ravin von dem Flüchtenden aufgreifen konnte, bevor dieser sich endgültig zwischen den Schatten verlor. Ein leiser Fluch stahl sich über die Lippen des Weißhaarigen. Was auch immer nun geschehen würde, er wusste, dass ihm gerade ein unglaublich wichtiges Beweismittel, ein entscheidendes, vielleicht endlich Ordnung in das chaotische Puzzlespiel bringende Teil, wenn nicht sogar der Sweet Slaughter höchstpersönlich durch die Finger geglitten war. Oder auch ein Pressefotograf? Schlimm genug, denn Ravin hatte ja am eigenen Leibe erlebt, dass Venelles Nerven bis aufs äußerste gespannt waren und jeden Augenblick zerreißen konnten. Der Konzernbesitzer hatte - Ayas Schilderung zufolge mit sichtlichem Hängen und Würgen - nach Hilfe gesucht, hatte sich dazu durchgerungen, einen vorsichtigen Schritt in die verhasste Öffentlichkeit zu wagen. Und nun? Es reichte wohl nicht aus, dass ein weiterer Mord geschehen war - nein, damit hatte Venelle ja wahrscheinlich sogar gerechnet -, mit etwas Glück würde ebendieser Mord auch noch in blutig roten Lettern von jeder verfluchten Titelseite jedes verfluchten Sensationsblattes erstrahlen, von grausigen Taten und einem Netz aus Intrigen und Schönheit singen, bis auch der letzte potentielle Zuschauer auf dem großen, weiten Planeten und darüber hinaus die Flucht ergreifen würde, verstört und verängstigt von den apokalyptischen Chören der Yellow Press. Die kalte Nachtluft drang schmerzhaft in Ravins Lungen und machte ihm erstmals bewusst, wie schnell und keuchend sein Atem ging. Es ärgerte ihn, dass sein kleiner Sprint so vollkommen umsonst gewesen sein sollte. Der Schlafmangel der zurückliegenden Tage forderte mit klammen Fingern seinen Tribut, jagte ein leises Zittern durch den Körper des jungen Soldaten und ließ ihn mit einem boshaften Flimmern gegen die raue Wand in seinem Rücken taumeln. Ravin strich sich einige lange, unangenehm feuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er hörte, wie ihn endlich das vertraute Stimmengewirr einholte, wie die schockiert-sensationslüsterne Meute seinem überstürzten Weg folgte, die Türen des Hochhauses aufstieß und einen Schwall rauchiger Wärme mit sich brachte. Allen voran stolzierte Venelle, einem schwer verwundeten Feldherren gleich, das stumme Verlangen nach einer gefälligst verdammt guten Erklärung auf den glänzenden Gesichtszügen. Einmal mehr trug Ravin ein langes, blitzendes Messer in seiner Hand, bereit für den letzten, grausamen Todesstoß. Er konnte die Wahrheit nicht beschönigen. Die Fotos existierten, sie schlummerten fliehend und sicher im Fotoapparat jenes schwarzen Mannes, allzeit bereit, sich in die große, weite Welt der Druckerpressen und Lieferjungen hinauszuwagen. Vielleicht morgen, mit Sicherheit aber übermorgen würde der Evershine New Diamonds Award eine ganze Menge Zeitungscover zieren, wenn auch auf eine andere Art und Weise, als Venelle sich das gewünscht und vorgestellt hatte. Und um den schmerzenden Hohn perfekt zu machen, stammten ebendiese Fotos vielleicht sogar aus den blutbefleckten Händen des Sweet Slaughters, der - nein. Ravin unterbrach sich in seinem dunklen Gedankenfluss. Dieses letzte Detail würde er selbstverständlich nicht vor dem Konzernchef erwähnen. Das vollkommen neue Licht, das dieser Abend auf den ganzen Fall warf, war bislang sicherlich noch nicht für Venelles finster glühende Augen bestimmt... Ravin konnte nicht wissen, dass ohnehin alles ganz anders kommen sollte, als er noch in diesen kalten Minuten wie selbstverständlich annahm. Angst ist ein merkwürdiges Phänomen. Es ist sicher nicht vermessen zu behaupten, dass sie der schlimmste, der unbezwingbarste Feind des Menschen ist; gleichsam auch der flüchtigste. Menschen vergessen vieles, aber nichts anderes verdrängen die selbsternannten Herren der Welt so gern und so oft wie die eigenen Ängste. Dabei benötigt es in den wenigsten Fällen ein halbes Leben, um all die Schatten im Geist eines kleinen Kindes verscheuchen zu können, all die schwarzen Gestalten im Schrank, die Monster unter dem Bett - in dem ganz speziellen Fall einer ganz speziellen Ansammlung von Models und Veranstaltern genügte knapp eine halbe Nacht dazu. Dabei hatte noch der Vorabend in gleichnishafter Eindringlichkeit gezeigt, dass sich Angst zwar sehr gut verdrängen, niemals aber verscheuchen ließ. Lauernd, wie ein von boshaftem Spieltrieb geplagtes Raubtier schlich sie stets um das Lachen, um das ausgelassene, sinnfreie Plaudern all der schönen Menschen, stets bereit dazu, im unerwartetsten Moment wieder hervorzubrechen, gewaltiger, brutaler noch als je zuvor. Und die Angst war nicht nur ein mörderischer, fleischeshungriger Jäger, sondern auch ein leiser Dieb, der beinahe jedem einzelnen Gast der ehemals so fröhlichen, in sorglosen Scheinwelten schwebenden Gesellschaft in dieser Nacht den Schlaf raubte. Doch dann, als die ersten Strahlen der Sonne den Himmel in ein schüchternes Blaugrau färbten, als die Schatten wie in erstarrter Panik vor den Pastelltönen des neuen Morgens hinfortkrochen, zog sich auch die Angst in ihren fernen, allgegenwärtigen Unterschlupf zurück und nur noch der eine oder andere gekonnt überschminkte Augenring erinnerte an die scheinbar so weit zurückliegenden Ereignisse. Die Show musste weitergehen - und sie tat es, um ein kleines Fingerpüppchen ärmer, aber nicht weniger strahlend, funkelnd und mitreißend wie zuvor. Die Zeitschriften jedoch schwiegen. Ravin hatte sich seit jenem nächtlichen Drama auf der Frauentoilette des Evershine Theater Utopia Builidings (von Attrayas zahllosen Bewohnern kurz, bequem und wenig liebevoll ETU genannt) angewöhnt, in den frühen Morgenstunden die kostbare Zeit zwischen Frühstück, Styling, Interviews und Fotoshootings sinnvoll zu nutzen. Er verließ ihr Hotel durch den dezent lackschwarzen Hinterausgang, folgte der breiten Wasserader des Atalic Rivers und kreuzte den Valonia Square. Dieser kleine viereckige Platz, der schon in den ersten Minuten des Tages einen lebendig bunten Rahmen für eine im alten Stil errichtete Kirche bildete, sollte eigentlich an die tapferen Opfer eines Studentenaufstandes im Jahre 6998 erinnern, die damals mit Friedensbannern und lautstarken Parolen gegen die skrupellose Militärs- und Kolonialpolitik der Carfeld-Regierung und die MG-Salven der örtlichen Polizeitruppen angerannt war. Von besinnlicher Feierlichkeit war auf dem Viereck im Schatten der rötlichen Backsteinkirche namens Victoria Church jedoch nicht viel zu spüren, denn immer noch lag das angrenzende Viertel fest in der Hand der Lakeside University Studenten, die reges Treiben zwischen die Häuserfassaden brachte, welche irgendein nostalgischer Künstler vor langer Zeit mit teils klassischen, teils bunten, teils in den absurdesten Formen gewundenen Fachwerkmustern verziert hatte. Es war jedoch nicht die ganz besondere Atmosphäre zwischen liebevoller, leicht melancholischer Tradition und dem Puls einer neuen Generation, vielleicht noch ein bisschen fortschrittlicher als die vorangegangene, die Ravin Morgen für Morgen auf das hier und dort mit feinem Sand bedeckte Kopfsteinpflaster des Valonia Square führte. Er schlängelte sich eher desinteressiert zwischen den Straßenkünstlern und allgegenwärtigen Flohmarktständen hindurch, die vom dicken juristischen Wälzer bis hin zu altgermanischer Tempeltracht so ziemlich alles zu bieten hatte, was man in sämtlichen Quadranten des Universums an Schulbüchern, Haushaltshelfern und Kuriositäten erstehen konnte. Nur allzu oft rief ihm einer der jungen, in Latzhosen oder ausgetragene Anzüge gehüllten Minutenzeichner zu, ihm doch für ein Kohleportrait Modell zu stehen - zum einmaligen Sonderpreis! Format A2, bestes Papier, für läppische 7,60 Credits! Statt der morgendlichen Tasse Kaffee mit Kuchen eine bleibende Erinnerung, in nur 10 Minuten, jetzt zuschlagen oder sein Leben lang bereuen! - doch Ravin hatte keine Schwierigkeiten damit, derartige Störenfriede schlichtweg zu ignorieren. Er steuerte zielsicher und unbeirrbar auf den kleinen sechseckigen Zeitungskiosk zu, hinter dessen gläsernen Scheiben eine ganze Armada von grinsenden Semiprominenten, kreischenden Rockstars und vollbusigen, lasziv in die Kamera schmachtenden Schönheiten, gefangen auf 210x297 Millimetern Hochglanzpapiers, auf einen nahenden Befreier und Käufer wartete. Rechts und Links des Verkaufsschalters ragten weißgraue Türme aktueller Tageszeitungen dem morgendlichen Rotschimmer des weiten Himmels entgegen, deren wirre sprachliche Vielfalt gut und gern ihrem babylonischen Verwandten Konkurrenz machen konnte. Diese geballte Mischung aus Multikulturalität, Blut und sachlichen Neuigkeiten war Ravins Ziel. Morgen für Morgen studierte der junge Weißhaarige sämtliche Billigpapier-Cover, die sich eng an ihren weißen Metallständer schmiegten, hier und dort bereits verbleicht, zerfleddert, vom Regen mit druckerschwarzen Mustern gezeichnet - doch auf keinem einzigen wurde dem jüngsten Mord in der Welt der Reichen und Schönen auch nur eine einzige Silbe, geschweige denn eines der sicherlich zahlreichen Bilder gewidmet, die der finstere Fremde in jener finsteren Nacht geschossen haben musste. Ravin war verwirrt. Und als schließlich eine ganze Woche den Atalic River hinabgeflossen war, ohne auch nur die Andeutung jener schockierenden Nachricht mit sich zu bringen, hielt er all die ungewisse Verwirrung schlicht und einfach nicht mehr aus. Ravin wusste, was zu tun war. Er hatte es eiliger als jemals zuvor, in die trügerische kleine Glitzerwelt zurückzukehren, die er momentan seine Heimat nennen musste. Allerdings interessierten ihn weder das spärliche Frühstück, noch die pseudointelligent-unterhaltsamen Gespräche seiner Konkurrenten oder gar die rosarote, wolkenweiche Daunendecke des Vergessens, die irgendeine gnädige höhere Macht über die große, einträchtige Familie der Magersüchtigen und Geldgierigen ausgebreitet hatte - alles, was ihm in diesem Augenblick helfen konnte, waren eine ruhige Ecke und sein grauer Portable Transmitter, auf dessen Display ihm nun in großen, andächtigen Zahlen die Nummer seiner Vorgesetzten entgegenstrahlte. "Ja, hier Mitsuyuki Aya, wie kann ich helfen?" flötete eine fast schon ausgelassen fröhliche Stimme in den kleinen Plastikapparat. Zum ersten Mal wurde Ravin bewusst, dass es lange her war, seit er das letzte Mal wahre, offene Fröhlichkeit gehört hatte, die nicht einfach nur dem unheiligen Zweck dienen sollte, krampfhaft und aufgesetzt in die große, dunkle Welt hinauszustrahlen, um jedem hilflosen Passanten mit einem Faustschlag mitzuteilen, wie unglaublich nett und glücklich man doch war... Vielleicht war es genau dieser kurze, unbedeutende Augenblick, in dem Ravin mehr denn je klar wurde, wie sehr ihn diese ganze entzückende Plastikgesellschaft, die Models, die Modeberater, die Make-up-Artists und stilvollen Hotelflure abstießen. "Aya, hier ist Ravin", entgegnete er in gewohnt kaltem Tonfall. "Ravin? Ah, was für ein Zufall! Ich wollte dich heute nämlich auch anrufen." "Wieso? Neuigkeiten?" erkundigte sich Ravin kurz. Die kurze Sprechpause am anderen Ende der Leitung zeigte dem Weißhaarigen, dass er Recht behalten hatte und Aya wieder einmal ihrer fast schon zwanghaften Unart nachging, eine am Telefon gestellte Frage mit einem eifrigen Nicken zu beantworten. "Das kann man wohl sagen!" Ein leichtes Beben lag in ihrer Stimme, das wahre Bände von dem euphorischen Lächeln sprach, das in diesem Augenblick auf dem Gesicht der Wissenschaftlerin liegen musste. "Wie du vielleicht mitgekriegt hast - der gute Venelle hat mir ein nettes kleines Geschenk zukommen lassen, nämlich eure letzte Leiche. Und ich hab's natürlich gleich ausgepackt, sprich: obduziert. Dann hab ich ein paar Proben genommen und im Labor hier untersuchen lassen. Jetzt rate doch mal, was deine liebe kleine Chefin bei der Gelegenheit herausgefunden hat?" "Gift?" vermutete Ravin. Wieder folgte eine kurze Pause seitens seiner Vorgesetzten. "Ja, aber nicht irgendein Gift! Halt dich fest - also, mich hat's echt aus den Latschen gehauen, als ich das gehört habe! Unser Sweet Slaughter hat offensichtlich Stil oder einen Hang zum Außergewöhnlichen oder Beides." "Wieso?" "Er verwendet ein Pflanzengift!" "Ein Pflanzengift?" Ravin ließ eine seiner Augenbrauen langsam in die Höhe wandern. "Wer verwendet Pflanzengifte?" "Das ist es ja! Heutzutage werden die meisten Pflanzen ja eh nur noch künstlich aufgezüchtet. Euer süßer kleiner Schlachter muss einen ganzen Privatgarten betreiben, sozusagen Giftanbau aus eigener Hand und mit viel Liebe zubereitet. Und, mal ganz nebenbei bemerkt, auch noch sündteuer." Ravin nickte - und hätte sich noch in derselben Sekunde am liebsten eine kräftige Ohrfeige versetzt. Ayas Unarten waren ganz offensichtlich nicht nur nervig, sondern auch noch unheimlich ansteckend. "Äh-ja", fügte er hastig hinzu. "Er ist also wohlhabend?" "Das ist anzunehmen. Und... also, es ist vielleicht anmaßend, aber... ich hab da so eine Vermutung... nein. Dazu später. Erstmal zu den Fakten. Du brennst doch bestimmt darauf, endlich zu erfahren, an welchem Gift die gute Chastity - hast du jemals bemerkt, wie wenig der Name zu ihr passt? - denn nun eigentlich gestorben ist!" "Ja", antwortete Ravin ganz automatisch, ohne überhaupt darüber nachzudenken, ob er das wirklich tat. "Also gut, hör zu. Wir haben es nämlich mit einem wahren Schmuckstück zu tun. Besagtes Juwel hört auf den schönen Namen Epipremnum, oder, trivial ausgedrückt: Efeutute. Die Efeutute gehört zu den Araceae, den Aronstabgewächsen. Wird dir nichts mehr sagen, aber früher waren das recht beliebte Zierpflanzen und somit in vielen, vielen Wohnzimmern vertreten." "Aber..." "Halt - ich weiß, was du sagen willst! Dass eine Zierpflanze tötet, ist ungewöhnlich, nicht? Und normalerweise laufen, oder besser gesagt, liefen Vergiftungen mit Araceae auch meist eher glimpflich ab. Hautreizungen und so weiter, bestenfalls Reizungen der Mundschleimhaut und gefährlich eigentlich nur bei Kontakt mit den Augen." "Ich glaube nicht, dass Chastity an Reizungen der Mundschleimhaut gestorben ist." "Natürlich nicht! Aber unser Sweet Slaughter hat das Gift auch in verdammt konzentrierter Form und hoher Dosis eingesetzt. In dem Fall ist die Efeutute weniger harmlos und... glimpflich, wenn du weißt, was ich meine. Immerhin hören deine reizbaren Membranen ja nicht bei der Mundschleimhaut auf. Wenn das Zeug sich im Magen sammelt, ich meine, richtig viel von dem Zeug, dann es zu Krämpfen, Erbrechen und schlimmstenfalls zu inneren Blutungen führen. Wenn die entsprechend stark sind... Exitus." "Exitus", echote Ravin, den Blick starr auf das Marmormuster der Kacheln zu seinen Füßen gerichtet. Irgendetwas rumorte in seinem Verstand, seinen Erinnerungen, suchte jedoch vergeblich nach einem Weg an die lichte Oberfläche. War es ein Verdacht? Hatte er bei dem Fest... bei einem der Feste davor... irgendetwas Wichtiges gesehen, es damals mangels der nötigen Informationen aber noch nicht als wichtig erkannt? Und warum kehrte dann ausgerechnet jetzt, während diesem mehr oder minder erbaulichen Gespräch, langsam und schleichend diese hohle Andeutung einer Erkenntnis zurück? "Genau. Und lass mich raten - schon seit dem ersten Wort dieses wissenschaftlich fundierten Vortrags brennst du förmlich darauf, mich endlich fragen zu können, was denn nun meine gewagte, anmaßende Vermutung ist! Hab ich Recht?" "Was für eine Ver- achso. Ja, natürlich." "Wusst ich's doch!" strahlte die Wissenschaftlerin in ihren Portable Transmitter. Sie machte eine bedeutsame Pause, nahm zwei tiefe Atemzüge und räusperte sich, bevor sie in feierlichem Tonfall fortfuhr. "Sag was du willst, aber meiner Meinung nach ist der Sweet Slaughter eine Frau!" "Eine Frau?" Bei aller Emotionslosigkeit konnte sich Ravin einen Anflug von ungläubigem Zweifel in der Stimme nicht ganz verkneifen. "Ja klar, warum nicht?" "Das ist einfach: Weil ich es mir nicht vorstellen kann, dass eine Frau jemanden mit einem Meter dicken Stahlkabeln durchbohrt und über einem Laufsteg aufhängt." "Warum denn nicht?!?" fragte Aya unwirsch. "Zweifelst du etwa an unserem psychopatischen Potential?" "Nein!" antwortete Ravin schnell, als er den empört-beleidigten Gesichtsausdruck seiner Vorgesetzten vor seinem inneren Auge vorbeischweben sah. "Aber dazu benötigt man Kraft. Hier gibt es nur Models und ein paar Maskenbildnerinnen und die sind alle magersüchtig. Oder von Natur aus dürr. Verstehst du?" "Ach, Kleinigkeiten!" stieß die junge Wissenschaftlerin abfällig hervor. "Psychopaten verfügen über Kräfte, von denen du und ich keine Ahnung haben. Außerdem spricht ansonsten alles für eine Frau." "Ansonsten?" "Ja. Denk doch mal nach! Der Mörder mordet offensichtlich nach einem Prinzip ganz eigener Ästhetik, also ist er entweder schwul, eine Frau oder eine begehrenswerte Ausnahme eures Geschlechtes. Aber gut, Mörder sind oft absonderlich. Soweit noch kein Beweis. Nur... ach, ich weiß nicht. Das sind vielleicht alles Klischees, aber welcher Mann arbeitet denn mit Gift? Gut, Gift, aber... ein Pflanzengift! So etwas seltenes, teures... außerdem noch in einer Menge und von einer Art, dass es auf jeden Fall bei einer Obduktion bemerkt werden muss. Das ist beinahe schon eine Botschaft! Eine Visitenkarte! So ein liebevoller Mord widerspricht jeglichen nüchtern-rationalen Denkweisen, auf die ihr Männer immer so stolz seid!" "Aya... das klingt, als ob dir dieser Mord gefallen würde!" "Gefallen? Mir? Ein Mord? Natürlich! Ich meine... nein! Natürlich nicht! Blödsinn!" Ein Schwall von Luft wurde entnervt in den Lautsprecher des Transmitters gestoßen. "Aber verstehst du nicht, was ich meine? Meiner Meinung nach hat diesen netten Giftmord hier eine Frau begannen, glaub es oder nicht. Dagegen sprechen würde nur, dass der reizende Sweet Slaughter eigentlich gar nicht konsequent genug ist für eine Frau." "Nicht - konsequent genug? Wie meinst du das?" Noch während er sprach musste Ravin feststellen, dass es ihn mit einem Mal keinerlei Überwindung mehr kostete, seine Vorgesetzte zu duzen. Ein bitterer Hauch des Entsetzens kroch seinen Hals hoch und ließ ihn kurz, nur für den Bruchteil einer Sekunde lang erschaudern. Ayas Theorie mochte unüberlegt sein, von einer dicken Zuckergussschicht aller handelsüblichen Klischees überzogen - dennoch war er heilfroh über jeden Hinweis, der sich als ein weiterer Pflasterstein in den langen, steilen Weg zu seiner blutrünstigen Beute führen sollte. Es wurde höchste Zeit, dass er aus diesem verfluchten Modelcontest entkam, bevor er noch gänzlich von all den Ekel erregend süßen Bräuchen und Konventionen dieser künstlichen Welt verschlungen wurde. "Ich habe dir doch von Venelles netten kleinen Geschichten erzählt, nicht wahr?" "Ja." "Und du hast es ja selber gesehen, wie dieses... also... gekreuzigte Model... wie sie gelächelt hat. Richtig?" "Richtig." "Weißt du, nach diesen ganzen Bildern und Horrorstorys war ich mir eigentlich fast schon sicher, dass der Sweet Slaughter ein Gift verwendet, um seine Opfer zu töten. Wie du siehst, hatte ich ganz offensichtlich Recht. Aber diesmal... also... entweder ist etwas schief gelaufen oder... kann es Absicht sein? Ich weiß es nicht. Aber gewundert habe ich mich doch." "Gewundert? Warum hast du dich gewundert?" Langsam, ganz langsam hatte Ravin keine Lust mehr, den zahllosen Andeutungen und unvollendeten Halbsätzen der Wissenschaftlerin nachzujagen. Sein kalter Tonfall klang schärfer, als er es eigentlich beabsichtigt hatte und als er es sich im Gespräch mit seiner Vorgesetzten leisten konnte. Trotzdem suchte er vergeblich nach einem Ausdruck von Vorwurf oder auch nur Tadel in Ayas finsterer Stimme, als sie seine Frage leise, beinahe ein wenig hilflos beantwortete. "Wir haben nur dieses eine Gift in Chastitys Körper gefunden. Und dieses Gift ruft definitiv nur die Symptome hervor, die ich dir vorher beschrieben habe. Nichts anderes und schon gar keine merkwürdige Lähmung oder Erstarrung... der Gesichtsmuskeln." "Aber... das ist nicht möglich. Irgendetwas muss doch diese unnatürliche Verzerrung der Gesichtszüge hervorgerufen haben!" Ein schwaches, kurzes und wenig überzeugtes Lachen drang durch den Lautsprecher des Portable Transmitters. "Unnatürliche Verzerrung der Gesichtszüge... so eine Beschreibung für ein Lächeln kann auch nur von dir kommen! Aber... nun ja... genau das ist es ja, was mich bei diesem Opfer... gestört hat. Ravin..." Aya machte erneut eine kurze Pause, doch diesmal wusste der junge Weißhaarige, dass sie nicht einfach nur die Spannung erhöhen oder eine überflüssige weil für ihn ohnehin nicht sichtbare Geste einbauen wollte, sondern schlicht und einfach Mühe damit hatte, die folgenden Worte über die Lippen zu bringen. Ihre Stimme klang ungewohnt ernst, als sie endlich ihren Satz zu Ende brachte. "Ravin, diese junge Frau hat überhaupt nicht gelächelt!!" Der Abend war finster. Das lag jedoch weniger an den äußeren Umständen - die Scheinwerfer leuchteten sanft wie eh und je, die Cocktailgläser auf der langen, silbernen Buffettafel perlten und glommen in gewohnt unnatürlichen, dafür aber umso intensiveren Farben, alles lachte, plauderte, schwatzte, sperrte die große, böse Welt gekonnt aus dem gigantischen ETU-Building aus und huldigte dem magersüchtigen Gott der anspruchslosen Unterhaltung, der sich wieder einmal rauchend und Prosecco saufend unter seinen treusten Jüngern niedergelassen hatte. Die schleichende Veränderung hatte sich vielmehr in Ravin selbst vollzogen, hatte sein inneres Bildnis ebenso vergiftet wie jene blonde junge Frau, die vor acht Tagen auf der Damentoilette ein jähes und unrühmliches Ende gefunden hatte. Irgendetwas stimmte nicht... Ausgerechnet seine optimistische, nur allzu oft schier unerträglich kindische Vorgesetzte war es gewesen, die - wahrscheinlich ohne es selbst zu bemerken - die Saat des Misstrauens tief in sein Bewusstsein eingepflanzt hatte, wo sie nun nach Herzenslust schmarotzte und wucherte. Möglicherweise hatten die Worte der jungen Wissenschaftler endlich die Pforten seiner Wahrnehmung geöffnet, für das wahre Ausmaß des allgegenwärtigen Übels empfänglich gemacht - möglicherweise hatten sie auch die Dämme für die teerschwarzen Fluten der Paranoia niedergerissen, die sein Bewusstsein überschwemmt und wie ätzende, klebrige Säure befallen hatte - möglicherweise auch beides. Jedenfalls sah, hörte, fühlte Ravin mit einem Mal Dinge, die ihm vorher bei aller Abscheu, bei allem Misstrauen niemals aufgefallen waren. Ein lautes Lachen peitschte über den reißenden Gedankenstrom, der hinter dem unbewegten Gesicht des jungen Weißhaarigen tobte. Noch in derselben Sekunden fixierten dessen kalte Augen die Quelle des unangenehmen Geräusches, richteten sich wie die automatische Zielfunktion einer Selbstschussanlage auf einen der dicklichen Manager oder Veranstalter oder vielleicht auch Modehausleiter, die sich stets in einer komprimierten Traube um ihr goldenes Kalb namens Venelle scharten. Sie lachten, rauchten, tranken, aber Ravin blickte hinter diese unerträgliche, aufdringlich-fröhliche Fassade. Sie hatten Angst. Alle, sogar - oder vielleicht sogar ganz besonders? - der große Marque Venelle, sie erschauderten, die Lippen bebend, die dumpfen Augen flackernd, die über und über mit goldenen Ringen gefesselten Finger krampfhaft an den viel zu dünnen Stiel ihrer Champagnergläser gepresst. Ravin deutete ein Kopfschütteln an und nahm einen Schluck von seinem blutroten Cocktail, den er aus der dezent angestaubten Ecke entführt hatte, welche die aussterbende Spezies alkoholfreier Partygetränke beheimatete. Wahrscheinlich, rauschte es durch sein gespanntes Bewusstsein, hatte Aya mit ihrer letzten Behauptung sogar Recht behalten. Ravin, dieser schwarze Mann ist ein Erpresser. Die junge Wissenschaftlerin hatte sich zunächst auch keinen Reim auf das Mysterium des finsteren Fotografen machen können, der sich im Dunkel der Nacht zu ihrem kleinen, 25-stöckigen Paradies geschlichen hatte (tatsächlich waren es nur 24 Stockwerke, aber Venelles doch nicht ganz zu verleugnender Aberglaube hatte das 13. Stockwerk bei der Nummerierung aussparen lassen), den Tatort unerbittlich auf Mikrofilm gebannt und diesen dann scheinbar lautlos, ohne Spuren zu hinterlassen wieder mit sich in das Reich der Schatten genommen hatte. Doch Aya wäre nicht Aya gewesen, wenn sie nicht hinter jeder noch so rätselhaften, scheinbar sinnlosen Tat einen Pfad hinab in die Abgründe der menschlichen Psyche gefunden hätte. Sie wusste um das Böse in der Welt, ja, mehr noch, sie konnte ihren eigenen Verstand mit diesem Bösen synchronisieren und jedes noch so abscheuliche Verbrechen mit nahezu kindlicher Heiterkeit rekonstruieren. Normal war dies sicher nicht - aber konnte man eine an und für sich erwachsene Frau, die sich mit größtem Vergnügen die Abendnachrichten ansah, Gummibärchen sezierte und dabei gut gelaunt die schrecklichsten Verbrechen verfolgte, um im Laufe der nächsten Wochen mitraten zu können, wer denn nun Täter und Opfer sei, überhaupt in irgendeiner Weise als normal bezeichnen? Ravin wusste es nicht. So oder so, er verstand seine Chefin nicht, er hatte sich damit abgefunden und nutzte lieber die guten Ideen, die der jungen Frau von Zeit zu Zeit in ihre merkwürdige Psyche flatterten. Der Gedanke lag nahe - war der erwartete und gefürchtete Artikel bislang ganz einfach deshalb noch nicht in den Zeitungen erschienen, weil der große Chef hier und dort ein paar tausend Credits locker machte? Kam daher diese Nervosität? Dieses Flackern, Beben, das vergebliche Suchen nach einem Halt, den es nicht gab in dieser kalten, schönen Welt... Aber warum griff das merkwürdige Verhalten dann auch auf die Models über? Was kümmerte es sie, ob irgendein reicher, unsympathischer Veranstalter um einen höchstwahrscheinlich sowieso nicht relevanten Teil seines erdrückenden Vermögens gebracht wurde? Oder spürten sie es? Spürten sie die lauernde Bedrohung so wie ein naives, unwissendes, hilfloses Beutetier? Erwachte ihr längst abgetöteter Fluchtinstinkt... oder vielleicht doch ihr Jagdinstinkt? Der Sweet Slaughter war unter ihnen, soviel stand ganz ohne jeden Zweifel fest, er lachte und plauderte inmitten dieser scheinbar so unbefangenen Gesellschaft, während irgendein Teil seiner Psyche analysierte und aussortierte, stets auf der Suche nach einem neuen Opfer... Ravin schüttelte erneut den Kopf. Was waren denn das für seltsame, wirre Gedanken? Diese ganze Situation war ohnehin viel zu makaber, um sie in Worte fassen zu können. Eine boshafte Version von Murder on the Dancefloor, Mord in der Disko, jenem uralten Kinderspiel, das er zwar niemals selbst miterlebt hatte, ihm aber noch vor wenigen Tagen bunt und lebhaft aus den Mündern von D und Aya geschildert worden war. Eigentlich war es doch eine bloße Laune des Schicksals, der Gene, eventuell sogar irgendeines größenwahnsinnig gütigen Wesens namens Gott - wahrscheinlich aber ganz einfach nur Zufall, wer nun ein Zettelchen mit der verdammenden Aufschrift ,Opfer' zog, wer als bloßer ,Gast' sein Leben fristete oder als ,Täter' selbiges viel zu früh beendete... Aber was, wenn genau in diesem Augenblick die alles entscheidenden Zettelchen neu gemischt wurden? Wenn eine Runde des mörderischen Spiels begann? Der junge Soldat strich sich durch sein langes, schneeweißes Haar, das ihm in schier endlosen, ausnahmsweise einmal von keinerlei Band oder Gummiringchen gebändigten Strähnen über die Schultern fiel. Während sein Blick, getrieben von einer unbestimmten Nervosität, weiter durch das fahle Halblicht des Raumes wanderte, nahm er geistesabwesend einen weiteren Schluck von der makabererweise tatsächlich blutroten Flüssigkeit in seinem Cocktailglas. Er spürte, wie ein ganzes atomares Strahlungsbündel von Blicken auf ihm ruhte, wie sie ihm folgten, ihn fixierten, schamlos und unverhohlen. Ravin ortete schnell, woher diese tödliche, alles vernichtende Waffe auf ihn abgefeuert wurde, einzig und allein zu dem Zweck bestimmt, ihn zu versengen... allerdings, wie das bei tödlichen Blicken meistens der Fall war, von wenig durchschlagendem Erfolg gekrönt. Ganz vorne an der Front erkannte der Weißhaarige ein gigantisches Schild perlweißer Zähne, begleitet von einer Schar junger Männer, einige interessant, andere attraktiv, die wenigsten wirklich schön im eigentlichen Sinne. Sie alle starrten ihn an. Ravin machte einige Schritte auf das Buffet zu, leerte sein Getränk in einem Zug, um unauffällig nach dem nächsten Glas greifen und so taktisch seinen Standort wechseln zu können - vergeblich. Die Blicke hefteten unbeirrt auf ihm, tauschten kurz Informationen aus, lachten und feixten dann und wann, ohne ihre Beute jemals entkommen zu lassen. Aus irgendeinem Grund, den er eigentlich nicht kannte, fühlte sich der junge Weißhaarige von dieser offenkundigen Observation unangenehm berührt. Was wollten sie von ihm? Für gewöhnlich konnte er selbst den kältesten Blicken ohne größere Probleme und notfalls auch etliche Minuten lang standhalten, ohne auch nur einen Anflug von Nervosität zu verspüren, aber nun... In seiner Brust machte sich ein unangenehmes Kribbeln breit. Ravin schlucke einige Male, was jedoch lediglich von dem überwältigenden Erfolg gekrönt war, dass sich zu der kollektiven Ameisenwallfahrt in seinem Inneren nun noch ein warmer Hauch leichter, aber dennoch ungemein störender Übelkeit gesellte. Er strich sich kurz mit dem Handrücken über die Stirn, schloss seine Augen, doch das beklemmende Gefühl schien sich in seinem Körper durchaus wohl zu fühlen und machte sich prompt sesshaft. Die bleichen Lippen des jungen Soldaten pressten sich ganz wie von selbst fester aufeinander. Für einen kurzen Moment verzog er sein kaltes, wunderschönes Gesicht. Was war denn nur los mit ihm? Die stickige Luft schien in seinen Lungen zu stagnieren. Ravin drehte sich um und ging, mit einem Mal ein leicht unsicheres Gefühl in den Beinen, die rechte Hand fest um den Griff seinen Glases geschlungen, auf das glänzend pechschwarze Viereck jener Pforte zu, die das Himmelreich der engelsgleichen Models mit der irdischen, dafür angenehm kühlen nächtlichen Welt verband. Er hatte kaum drei Schritte hinter sich gebracht, als mit einem Mal ein gleißender, glühend heißer Blitz in seinen Körper schlug. Die Reaktion war absurd. Obwohl der Schmerz vom ersten Augenblick an durch und durch unerträglich war, ihm schlagartig den Atem raubte, war Ravin zunächst wie erstarrt, wie eingefroren, so als stünde er neben sich, über sich, blicke auf seinen zerrissenen Körper hinab, spürte, ohne wirklich zu begreifen, regungslos, die Augen weit aufgerissen und vollkommen ausdruckslos. Dann begann er zu schreien. Ravin begriff nicht, was mit ihm geschah, was dieses brüllende Feuer mitten in seinem Inneren entzündet hatte, wer das rostige, über und über mit Widerhaken gespickte Messer führte, das ihn von innen heraus zu zerfetzen schien. Er schlang die Arme um seinen Bauch, ohne zu merken, wie sich seine Fingernägel in die eigene Haut krallten, das makellose Weiß blutig rissen. Er hörte nicht, wie sein Glas, eben noch krampfhaft umfasst, angesichts der plötzlichen Freiheit erschrocken zu Boden fiel, mit einem schrillen Todeskreischen zerbarst und eine rote, dickflüssige Pfütze auf das Schachbrettmuster des Fliesenbodens ergoss. Auch die erschrockenen Aufschreie seiner schockierten Umgebung realisierte er nicht mehr, nicht, wie eine Gruppe weiblicher Schönheiten entsetzt vor ihm zurückwich, als er blind und jeglicher Kontrolle über seinen Körper beraubt rückwärts taumelte. Nichts existierte mehr, nichts außer diesem rasenden, tobenden, alles verschlingenden Schmerz, der ihm beinahe den Verstand raubte, ohne jedoch seine Sinne in eine gnädige Finsternis entgleiten zu lassen. Eine Welle nicht mehr nur latenter, sondern regelrecht brachialer Übelkeit schien inmitten dieses Sturmes zu explodieren, breitete sich rasend schnell in seinem Inneren aus, und das einzige, was ihn wohl nun noch davor rettete, sich hier und auf der Stelle übergeben zu müssen, war wieder einmal der Schmerz, der unbezwingbare Schmerz, der sogar jeden körperlichen Reflex außer Kraft setzte. Erneut rammte sich das vernichtende Schlachtmesser in seinen Bauch, drehte und wand sich genüsslich und raubte Ravin endgültig die Stimme, die letzte Kraft zu schreien oder sich auf den Beinen zu halten. Ein letztes, abgehacktes Wimmern drang über seine Lippen, und obgleich er nicht mehr realisierte, wie er auf dem blutig rot befleckten Boden zusammenbrach, raste noch ein letzter, alles andere verwischender Gedanke durch das schwindende Bewusstsein des jungen Weißhaarigen, kreuzte das tödliche Meer unendlichen Schmerzes, durchtrennte in beängstigender Klarheit die Wogen der Übelkeit. Er hatte den falschen Zettel gezogen. Und als nun endlich die erlösende Nacht über Ravins Bewusstsein hereinbrach, wusste er nur noch eines: Es war vorbei. Akte 3a/ Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)