Zurück in die Heimat
Ein allgemeines Seufzen und Stöhnen ging durch den Raum, als der Wecker um halb vier klingelte. Mimi wusste im ersten Moment gar nicht, wie ihr geschah und versuchte herauszufinden, woher dieses nervige Piepen kam.
Sie schlurften alle drei gleichzeitig ins Badezimmer, um sich frisch zu machen. Mimi erschrak kurz, als sie ihr Spiegelbild sah. Blass, verquollen, müde. Aber Sora und Kari sahen auch nicht besser aus.
„Ich bin müde“, murmelte Kari mit der Zahnbürste im Mund.
„Und mir ist schlecht“, sagte Sora und fuhr sich durch ihr Haar, das zu allen Seiten abstand.
„Und ich bin müde und mir ist schlecht“, berichtete Mimi und warf ihren beiden Freundinnen im Spiegel ein müdes Lächeln zu. Dann jedoch wandte sie sich an Sora. „Glaubst du, es wird gehen?“
„Muss ja“, murrte diese und begann, sich die Zähne zu putzen.
Mimi seufzte mitleidig und machte sich ebenfalls fertig. Sie brauchte länger als gewöhnlich, um sich so herzurichten, dass sie einigermaßen zufrieden das Haus verlassen konnte, doch schließlich ging sie die Treppe nach unten, um bei der Vorbereitung des Frühstücks zu helfen. Dort waren Joe und Matt gerade dabei, den Tisch zu decken.
„Morgen“, begrüßte Joe sie und wirkte nicht wirklich schlechter gelaunt als an anderen Tagen. Matt jedoch hatte nur ein Brummen für sie übrig.
Mimi nickte ihnen zu und machte sich daran, Kakao zu kochen, um die restliche Milch aufzubrauchen.
Nach und nach trudelten die anderen ein, bis auf Tai. Mal wieder. Der Letzte, der erschien, war T.K. und er wirkte überaus zerknirscht. Die rechte Hälfte seines Gesichts war rot.
„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Izzy, der ihn stirnrunzelnd musterte.
„Ich habe gerade versucht, Tai zu wecken“, antwortete er grimmig und setzte sich an den Tisch. Ein Grinsen machte sich unter den Freunden breit und Kari setzte sich mit einem Kühlakku bewaffnet kichernd neben T.K.
„Du Armer“, sagte sie leise und drückte behutsam den Kühlakku gegen T.K.s Gesicht. Mimi entging der warme Blick nicht, den er ihr daraufhin zuwarf und sie musste ein schmachtendes Seufzen unterdrücken. Die beiden waren aber auch zu süß.
„Na gut“, rief sie und stemmte die Händen in die Hüften. „Der soll mich mal kennen lernen.“ Mit diesen Worten stiefelte sie die Treppe nach oben und ging ohne anzuklopfen in das Zimmer, das Tai, Matt und T.K. eine Woche lang bewohnt hatten.
„Yagami!“, schrie sie mit hoher Stimme. „Wir verpassen wegen dir bestimmt nicht den Flug, also steh sofort auf!“
Tai gab ein brummendes Geräusch von sich, bewegte sich aber nicht.
Mimi wurde wütend, obwohl sie sich das schon gedacht hatte. Unsanft stieß sie ihn mit dem Fuß an. „Ich mein's ernst. Ich lass' dich hier“, drohte sie.
Tai brummte erneut. Am liebsten würde sie ihm kaltes Wasser ins Gesicht gießen, aber das ließ sie aufgrund seiner Verletzung lieber sein.
„Ich fahre nie wieder mit dir in den Urlaub“, fluchte sie laut. „Jedes Mal das gleiche Theater. Kannst du dich nicht endlich mal benehmen wie ein Erwachsener und nicht wie ein bockiges Kind? Ich habe keine Lust mehr, dich jeden Morgen zu wecken. Wie machst du das eigentlich in der Schulzeit? Lässt du dich da immer von Mami mit Essen wecken? Das kannst du hier schön vergessen. Und ich kann dir gleich sagen, wenn sich das nicht ändert, kannst du von mir was erleben. Ich hätte nämlich gern einen Mann und kein Baby, das nicht mal allein morgens aufstehen kann. Du bist wirklich dermaßen...“
„Boah, Mimi!“ Tai richtete sich auf und starrte sie genervt an. „Kannst du mal die Klappe halten? Das hält ja kein Mensch aus. Mir klingeln schon die Ohren.“ Er schwang sich aus dem Bett und trottete an ihr vorbei aus dem Raum, nicht ohne ihr noch giftigen Blick zuzuwerfen.
„Dich hält auch kein Mensch aus!“, fauchte sie und stolzierte wieder nach unten zu den anderen. Kari sah sie fragend an und Mimi streckte beide Daumen in die Höhe. „Hat geklappt.“
Kari grinste. „Bei Tai braucht man immer seine eigenen Methoden.“
„Das kannst du laut sagen“, stimmte Mimi zu.
Sie frühstückten gemeinsam, wobei keiner von ihnen viel redete. Tai kam irgendwann dazu, murmelte einen Gruß und sah aus, als würde er eigentlich noch schlafen.
Nach dem Frühstück verbrachten sie noch eine knappe Stunde damit, ihre restlichen Sachen zu packen, das Haus auszufegen und noch einmal zu kontrollieren, ob auch wirklich niemand etwas vergessen hatte. So standen sie schon alle mit Sack und Pack frierend draußen bereit, als der bestellte Kleinbus sie gegen sechs abholte.
Die Fahrt zurück zum Flughafen ging aus irgendeinem Grund schneller vorbei als die Hinfahrt. Keiner sagte etwas, wahrscheinlich, weil alle müde waren und ihren Gedanken nachhingen. Mimi betrachtete verschlafen die Landschaft, während Tai neben ihr tief in seinen Sitz gesunken saß und mit geschlossenen Augen der Musik aus seinem MP3-Player lauschte. Sie beobachtete die blinkenden Lichter, die die Pistenraupen beim Glätten der Pisten für den bevorstehenden Skitag aussendeten. Man konnte noch nicht erkennen, wo die Berge aufhörten und der Himmel anfing, da es noch stockdunkel war. Der Schnee glitzerte im Licht der Straßenlampen, wenn sie mal durch ein Dorf oder eine Stadt fuhren.
Mimi rieb sich mit den Händen die Arme und lehnte den Kopf gegen Tais Schulter. Sie griff mit den Händen nach seiner rechten Hand, die er in der Tasche seines Pullovers vergraben hatte, zog sie heraus und verschränkte ihre Finger mit seinen. Seine Hand war angenehm warm und vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit.
Er zog mit der freien Hand einen der Kopfhörer aus dem Ohr und sah sie an.
„Hast du dich wieder beruhigt, du Tyrannin?“, fragte er leise.
„Ich habe gerade keine Lust, gemein zu sein“, antwortete Mimi nur ohne aufzublicken.
„Wie bitte? Den Tag muss ich mir im Kalender anstreichen“, spottete Tai.
„Du könntest zur Abwechslung auch mal nett sein“, murrte Mimi und schloss die Augen.
„Im Gegensatz zu dir bin ich immer nett“, erwiderte Tai trocken.
Mimi zwickte ihn in den Unterarm. „Mir werden unsere nächtlichen Gespräche irgendwie fehlen.“
„Wenn du willst, komme ich dich ab jetzt immer nachts besuchen und dann können wir stundenlang reden“, bot Tai großzügig an.
„Ich glaube, das finden meine Eltern weniger toll“, erwiderte Mimi.
„Denkst du, ihnen könnte das nicht passen?“, fragte Tai nach kurzem Zögern.
„Dass du mich jede Nacht besuchen kommst?“ Mimi hob den Kopf und sah ihn skeptisch an.
„Nein, ich meine... denkst du, ich könnte ihnen nicht passen?“ Tai erwiderte ihren Blick und wirkte ein wenig verlegen.
Mimi dachte eine Weile nach. Ihre Eltern waren beide überfürsorglich und vermutlich wären sie Tai gegenüber erst einmal ziemlich misstrauisch, obwohl sie ihn schon flüchtig kannten. Aber wenn sie ihn dann kennen lernten, dann würden sie ihn mögen, da war Mimi sich sicher.
„Ich glaube, darüber brauchst du dir nicht den Kopf zerbrechen“, antwortete sie überzeugt. „Das tut deinem kleinen Hirn sowieso nicht gut.“
„So viel zum nicht gemein sein“, grummelte Tai.
Während sie auf dem Flughafen eincheckten und ihr Gepäck abgaben, wurde es allmählich hell draußen. Der Morgen versprach einen sonnigen Tag und trotzdem war Mimi froh, heute nicht mehr Ski fahren zu müssen.
Die acht Freunde lungerten auf ein paar Sitzen herum oder erkundeten die Touristenshops des Flughafens, während sie darauf warteten, dass ihr Abfluggate angezeigt wurde. Gegen zwölf Uhr mittags konnten sie dann endlich ins Flugzeug steigen.
Genau wie auf dem Hinflug machten sie einen Zwischenstopp in Istanbul, wo sie glücklicherweise nicht allzu lang auf den Flug nach Tokio warten mussten. Mimi machte das Fliegen mittlerweile fast nichts mehr aus, obwohl sie trotzdem jedes Mal sehr froh war, wenn sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Der Mensch war einfach nicht dazu gemacht, sich länger in der Luft aufzuhalten.
„Ich bin froh, dass es dir so gut geht“, meinte Sora, kurz bevor sie in Tokio landeten. „Du wirkst gar nicht mehr aufgeregt.“
„Nein, ich bin es auch nicht mehr wirklich“, antwortete Mimi, die die meiste Zeit damit verbrachte, die Landschaft draußen zu beobachten. „Aber wie geht’s dir eigentlich?“
„Ich bin schon aufgeregt, aber nicht wegen des Fliegens“, murmelte Sora wehmütig.
Mimi sah sie mitleidig an. „Ihr bekommt das hin, glaub mir. Ihr habt doch beide nette Eltern, die euch unterstützen werden.“
Endlich begannen sie mit dem Landeanflug. Mimi freute sich auf ihre Eltern, die es sich nicht hatten nehmen lassen, sie persönlich vom Flughafen abzuholen. Mimi hätte auch einfach mit jemand anderem mitfahren können, aber ihre Eltern wollten sie so schnell wie möglich wieder haben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte das Flugzeug endlich seine endgültige Parkposition und die Leute machten sich langsam auf, das Flugzeug zu verlassen. Alle machten müde Gesichter, während sie ihr Handgepäck aus den Gepäckablagen holten. Mimi ließ sich ihre Tasche von Tai geben und drängte sich dann hinter ihm aus dem Flugzeug.
Die acht Freunde plauderten angeregt miteinander, als wären sie aus einem Schlaf erwacht, als sie gemeinsam mit den anderen Fluggästen auf dem Weg zum Ankunftsbereich und der Gepäckrückgabe waren. Ungeduldig warteten sie am Förderband darauf, dass jeder seinen Koffer zurück hatte und gingen anschließend durch die Absperrung in den Ankunftsbereich.
Mimi hörte ihre Eltern, noch bevor sie sie sah.
„Mimi!“, schrie eine Frau, zu der sich einige Leute umdrehten und plötzlich warf sie die Arme um Mimi und diese sog den vertrauten Duft ihrer Mutter ein. „Du bist wieder da und dir geht’s gut.“ Als sie sie endlich wieder losließ, löste ihr Vater sie sofort ab.
„Willkommen zurück. Wir haben dich sehr vermisst“, sagte er und Mimi konnte Tränen in seinen Augen erkennen. „Wollen wir gleich los? Mama hat gekocht.“
Mimi seufzte und schüttelte den Kopf. Typisch.
„Ich verabschiede mich nur noch schnell“, sagte sie, drückte ihren Eltern ihr Gepäck in die Hand und wandte sich zu ihren Freunden um. Auch die anderen standen alle bei ihren Eltern. Mimi ging zu jedem einzeln und umarmte alle zum Abschied. Zu Tai und Kari ging sie ganz bewusst zum Schluss. Zuerst drückte sie Kari an sich.
„Du wirst mir fehlen, Zimmergenossin“, sagte sie und grinste sie an.
Kari lachte. „Du mir auch. War schön.“
Dann wandte sie sich an Tai, wobei sie sich von seinen Eltern aber auch von ihren eigenen beobachtet fühlte. Tai zog die Augenbrauen hoch und sah sie erwartungsvoll an.
„Also dann“, sagte sie langsam. „Wir sehen uns, schätze ich.“
„Ich fürchte auch“, erwiderte er mit gespielt finsterer Miene.
Wütend öffnete Mimi den Mund, um ihm etwas entgegenzuschleudern, da legte er plötzlich die Hände an ihr Gesicht und presste seine Lippen auf ihre. Mimi hatte keine Zeit, den kurzen Kuss zu genießen. Sie starrte seine geschlossenen Augen an und spürte, dass sie rot wurde.
Als er den Kuss löste, schauten seine Eltern in eine andere Richtung und taten angestrengt so, als hätten sie nichts bemerkt. Tai grinste nur.
„Bis später“, sagte er lässig und Mimi drehte sich steif um und ging zurück zu ihren Eltern. Jetzt musste sie ihnen erklären, was sie da gerade gesehen hatten.