Requiem von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Sonnentage. ---------------------- Es war Illium der den intensiven Körperkontakt unterbrach und sich mit zwei unsicheren Schritten zurückzog. Noch bebte sein Körper unter den Anstrengungen des zurückliegenden Fluges und dünne Rinnsale aus Schweiß rannen über seine Flanken. Sein feuchtes Haar schimmerte im Licht der Mittagssonne in sanften Schwarz- und Blautönen und klebte an einigen Stellen an der honigfarbenen Haut. „Das war knapp.“, murmelte der blaue Engel mit einem unsicheren Lächeln und versuchte seine Flügel ein wenig von dem kühlen Boden zu erheben. Es schmerzte, aber es gelang. Aodhan nickte stumm und kämpfte gegen das brennende Verlangen in seinem Körper an. Der Verlust von Illiums erhitzter Haut auf der Seinen wog schwer und er ballte seine Hände zu Fäusten um sie nicht im seidigen Schopf des Jüngeren zu vergraben. Mit einem breiten Lächeln, als wüsste er welche Mächte in Aodhans Körper miteinander rangen, beugte sich Illium über die Brüstung und riskierte einen kurzen Blick in die Tiefe. „Ganz schön tief.“, kommentierte er und in seiner Stimme schwang noch immer die Aufregung der zurückliegenden Minuten. Dann schlug er die Augen nieder und wandte sich wieder dem weißen Engel zu. „Danke.“, murmelte er leise und ein herzzerreißend betroffener Ausdruck machte sich auf seinen Zügen breit. „Ich wollte dich nicht auch noch in Gefahr bringen.“ Aodhan stutzte ob des leisen Geständnisses und runzelte dann die Stirn. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er sein eigenes Leben für das des blauen Engels riskiert hatte. Der unbedingte Wunsch zu helfen, dem Jüngeren die Hand zu reichen und ihn vor dem sicheren Tod zu bewahren, war stärker gewesen, als jeglicher Selbsterhaltungstrieb und kein Abgrund der Welt hätte ihn von Illiums hitziger Körperwärme trennen können. Ohne sich seine heftigen Gefühlsregungen anmerken zu lassen nickte der weiße Engel und strich mit einem erleichterten Seufzer die wirren Strähnen aus dem Gesicht. Langsam verschwand das dumpfe Hämmern in Schultern und Flügeln und er stieß sich von der rauen Außenwand der Zuflucht ab. Illiums Gesicht zeigte noch immer Scham und er hielt den Blick zu Boden gesenkt. Die Sonne tanzte auf seinen einzigartigen Wimpern und ließ die blauen Haarspitzen glänzen, seine azurblauen Flügel schimmerten himmel- und meerfarben im gleißenden Licht. Schöne, stolze Traurigkeit lag in den goldenen Augen, die Aodhan so mochte, und es reizte den weißen Engel, dass die feurige Glut in ihnen selbst jetzt noch wie geschmolzenes Gold und Bernstein strahlte. „Du bist zu leichtsinnig und bringst damit dich und andere in Gefahr.“, sagte Aodhan betont und ordnete seine Kleider mit geschickter Hand. „Das hätte ich nicht von dir erwartet.“ Illiums Gesichtsausdruck wandelte sich von betroffen zu verletzt und er wirkte mehr denn je wie ein Schuljunge unter den strengen Augen seines Lehrmeisters. Mitleid wallte in der Brust des weißen Engels auf und er bereute seine harten Worte. Reue. Etwas bereuen. Aodhan erinnerte sich nicht, wann ihm diese Gefühle zuletzt untergekommen waren. Es war so lange her, dass er über so tiefe Empfindungen nachgedacht hatte, dass sie ihm nun alt und unendlich tief verschüttet vorkamen. „Lass mich dir einen Trick zeigen.“, hörte er sich selbst wie durch dichten Nebel sagen und er ging einen Schritt auf den blauen Engel zu. Illiums Erleichterung und das zarte Lächeln, dass sich auf seine vollen Lippen malte, rieselten wie ein warmer Schauer durch den Körper des weißen Engels und er schauderte lautlos. „Wenn du deine Flügel aufgestellt hast – etwa so-“, begann Aodhan und richtete seine eigenen bandagierten Flügel so gut es eben ging hinter seinem Rücken auf. „solltest du den Winkel zum Körper so klein wie möglich halten.“ Er zog sie ran. „So kannst du auch in schwierigen Situationen optimal auf Fallwinde und Thermikveränderungen reagieren. Deine Schultern sind dabei immer leicht herangezogen.“ Aodhan bog seinen Rücken durch und spürte die Anspannung in Sehnen und Muskeln wie kleine elektrische Schläge. „Werde ich dadurch nicht eingeschränkt?“, entgegnete Illium und versuchte ungelenk das Gesagte umzusetzen. Voller Bewunderung glitt sein Blick über die aufgestellten Flügel des Älteren und er konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken. Tiefe, brennende Sehnsucht lauerte in seinem Körper und hieß ihn die schimmernden Perlmuttfedern zu berühren. Zärtlich wollte die starken Schwungfedern streicheln, sie durch seine Finger gleiten lassen und den weichen Flaum am Schulteransatz auf seiner Haut spüren. „Nicht, wenn du es richtig machst.“, antwortete Aodhan ruhig und war mit wenigen Schritten hinter Illium. Groß und wunderschön ragten die Mitternachtsflügel vor ihm auf und seine Hände bebten vor Verlangen. „Stell deine Flügel auf.“, befahl er rau und genoss das leise Flüstern der azurfarbenen Federn. „Und jetzt versuch sie so nah wie möglich an deinen Körper zu legen, ohne das die Tragflächen an Größe einbüßen.“ Illium gehorchte ohne Widerworte und faltete seine Flügel anmutig an den breiten Rücken. Ein Ächzen erklang und wenige Sekunden später sackte die verfluchte rechte Schwinge nach unten. Aodhan schüttelte den Kopf. „Du bist nicht bei der Sache.“, tadelte er und versuchte den betörenden Duft nach Feuer und exotischem Honig aus seiner Nase zu vertreiben. Heiß schoss sein Blut durch Adern und Venen und rauschte unnatürlich laut in seinen Ohren. „Du solltest...du musst...wenn ich...“ Dann wurde es für einen Moment ganz still. Eine leichte Brise kam auf und zauste weißes und schwarzes Haar. Zwei Spatzen schimpften am Steilhang und das leise Glucksen des Flusses tief unten im Tal drang herauf. Beide Engel hielten die Luft an und es vergingen einige atemlose, zeitlose Sekunden ehe Illiums raue, schwere Stimme erklang. „Tu es.“ Zwei Worte in denen die gesamte Verletzlichkeit des blauen Engels lag. Erregung und Verlangen. Angst und Trauer. Die noch immer verwundete Seele des jungen Mannes. Schweiß brach auf Aodhans Stirn aus und er ballte seine Hände zu harten, kantigen Fäusten. Das gefangene Raubtier in ihm, dass nimmermüde, rastlose Ungeheuer, entließ seinen Verstand und kauerte sich wie eine harmlose Hauskatze zusammen. Endlich herrschte Stille und die endlose Leere in ihm füllte sich in rasender Geschwindigkeit mit der alles verzehrenden Sehnsucht nach Berührung. „Bist du dir sicher?“, murmelte Aodhan dennoch und verharrte, die Augen geschlossen, hinter dem blauen Engel. Ohne zu zögern nickte Illium. Tief durchatmend löste der Ältere seine verkrampften Fäuste, hielt noch einmal inne und legte dann seine rechte Hand auf die azurblauen Federn. Er keuchte. Unendlich weich und nachgiebig schmiegten sie sich an Aodhans Finger, rannen wie Wasser über seine Haut und streichelten jeden empfindsamen Zentimeter. Kühl und glatt wie Seide waren die Schwungfedern, von silbernen Spitzen gekrönt. Ihre Beschaffenheit war einzigartig und die Sanftheit einer jeder einzelnen Feder unter Aodhans Fingern war wie eine zärtliche Liebkosung. Illium seufzte. Er hatte die Augen geschlossen und lauschte tief in seinen bebenden Körper. Eine Welle aus Verlangen schlug über seinem Kopf zusammen und er drohte darin zu ertrinken. Lust und Gier rangen in ihm, gespeist durch die herrlichen Empfindungen die von der Berührung seiner Flügel durch Aodhan ausging. Die Zärtlichkeit mit der der weiße Engel Illiums Flügel erkundete war von atemloser Sinnlichkeit, neu und doch so unendlich vertraut. „Hier siehst du.“, murmelte Aodhan und sein heißer Atem fegte über die empfindliche Haut in Illiums Nacken. Seine Hände schoben sich unter die Flügel des blauen Engels, eine legte sich auf die feuchte Haut, die andere unter die bebenden Federn der rechten Schwinge. Mit einer leichten Hebelbewegung brachte Aodhan Illiums Flügel in die richtige Position, fand dann den sensiblen Nerv am Schulteransatz und übte ein wenig Druck aus. Der Jüngere seufzte leise und lehnte sich gegen die erholsame Berührung. Die Welt verschwamm vor Illiums Augen und er spürte Aodhans Nähe überdeutlich. Der Duft nach Schnee und wildem Wasser umgab ihn und er hielt sich daran fest wie ein Ertrinkender. „Nicht aufhören.“, gurrte er leise, als er spürte wie die Hände des weißen Engels erneut auf Wanderschaft gingen und sich über die nachgiebigen Federn schoben. Die Stille in Aodhan war vollkommen und es fiel ihm nicht schwer, der Bitte des Jüngeren Folge zu leisten. Vorsichtig strich er über den unerträglich weichen Flaum an den Flügelansätzen, ließ Azurblau und Mitternacht durch seine Finger gleiten und verlor sich in der Betrachtung silberner Federspitzen. Eingehüllt von der warmen Mittagssonne und dem Duft von verglimmenden Lagerfeuern, Sommernächten und süßem Honig genoss der weiße Engel den vollendeten Moment und stillte seine Sehnsucht nach Berührung. Kitzelnd glitten Illiums Haare über den Handrücken des Älteren und er schob seine Finger noch etwas höher, tauchte tiefer in den seidigen Schopf und dessen feuchte Schwere. Der blaugeflügelte Engel seufzte und bog seinen Kopf weit nach hinten, bot Aodhan wie automatisch mehr Platz zum Erforschen und Liebkosen. Schauer jagten seinen Rücken hinab und er spreizte seine Flügel mit einem leisem Rascheln zu voller Größe auf. Ohne auf eine Aufforderung zu warten schloss Aodhan die entstehende Lücke, drückte seinen großen, schweren Körper gegen den Rücken des jüngeren Engels und genoss die reine Hitze, die von Illium auf ihn überschwappte. „Du bestäubst mich.“, flüsterte er am Ohr des Blaugeflügelten und betrachtete interessiert den feinen, glitzernden Staub in seinem eigenen Haar. Dunkelblau wie Gewitterwolken war er und hob sich deutlich von den weißen Strähnen ab. „Ach ja?“, murmelte Illium und rieb seinen schwarzen Schopf an Aodhans Kinn. Er fühlte sich so wohl wie nie und es war nur natürlich, dass seine Flügel an der Erregung, die durch seinen Körper jagte, beteiligt waren. Heiß und schwer fühlten sie sich an, waren hochsensibel und jede Berührung Aodhans kribbelte wie ein feuriger Kuss. „Ich werde mich tagelang Niemandem zeigen können.“, fuhr Aodhan fort und seine Stimme klang rau und verlangend. Er schien wie ausgewechselt und doch mehr denn je er selbst zu sein. „Dann werden wir...“ Ein schrilles Piepsen unterbrach Illiums forsche Antwort und beide Männer stöhnten auf. Das Handy auf dem Tisch schrillte noch einmal und vertrieb die sinnliche Stimmung, die enge Vertrautheit, auf dem Balkon mit unbarmherziger Härte. „Ich muss da rangehen.“, erklärte Aodhan und es klang nach einer Entschuldigung. Illium nickte verstehend und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Wehmütig brach Aodhan den Körperkontakt, ging voll Widerwillen zum Tisch und nahm unwirsch ab. „Ja?“ Es war Raphael. Ein kurzes Gespräch entspann sich, dann legte der weiße Engel auf. Illium war währenddessen zur Brüstung gegangen, lehnte sich auf die steinerne Balustrade und ließ sich von den aufsteigenden Talwinden die Haare zausen. Seine Flügel lagen wieder anmutig gefaltet an seinem Rücken und schimmerten in hundert Blaunuancen in der Mittagssonne. „Hast du Lust morgen mich morgen auf einem Ausflug mit den Kindern zu begleiten?“, fragte er leise und spielte mit einer glänzenden Strähne seines Haares. Sorgfältig Abstand wahrend stellte sich Aodhan neben ihn und ließ seinen Blick durch das Gebirge streifen. „Hältst du das für eine gute Idee?“, entgegnete er und in seiner Stimme lagen deutliche Zweifel. Illium nickte und schenkte dem Älteren ein strahlendes Lächeln. „Aber ja.“, antwortete er schlicht und richtete sich auf. Er war nahezu einen ganzen Kopf kleiner als Aodhan und musste sich strecken, als er dem weißen Engel mit dem Daumen über die Wange rieb. „Sonst hätte ich nicht gefragt.“ Aodhan wollte widersprechen und sich entziehen, aber die intime Berührung beruhigte seinen aufgewühlten Geist und er schlug die Augen nieder. „Dann komme ich mit.“, beschloss er und ihm wurde leicht ums Herz. Ein Tag mit den Engelskindern, dem größten Schatz der Engel, würde ihn erfreuen und von der Tatsache, dass er noch immer an den Boden gefesselt war, ablenken. Früh am nächsten Morgen brachen Illium, Aodhan und eine Schar aufgeregter Engelskinder auf. Es war noch kühl und eine Gänsehaut eroberte die Haut des weißen Engels als er aus dem großen Portal der Zuflucht trat. Der Herbst kündigte sich in seiner ganzen prachtvollen Schönheit an und brachte neben bunten Blättern und dem Duft von Schnee auch stetig kälter werdende Nächte mit sich. Aodhan genoss den sanften Wind um die Nase und während er die schwatzenden Nachzügler antrieb blieb sein Blick an Illium kleben. Er trug heute ein Sweatshirt über der Honighaut und wehrte gerade lachend zwei der kleineren Jungs ab, die versuchten seine Schultern im Sturm zu erobern. Sein Haar lag wie ein Helm aus tiefschwarzem Saphir um sein schönes Gesicht und seine erstaunlichen Augen sprühten vor Vorfreude. „Sind alle da?“, rief er und seine Stimme wurde vielfach von dem noch schlafenden Gebirge zurückgeworfen. Die Kinderschar antwortete im Kollektiv und ohne weitere Verzögerungen machte sich die Wandergruppe auf den langen Anstieg. Sie würden die Wasserfälle besuchen – jenes atemberaubend schöne Fleckchen Erde inmitten der schroffen Berglandschaft. Dort gab es ein kleines Sommerhaus, von Raphaels Vorfahren vor vielen Jahrhunderten erbaut, und die Engel zogen sich dorthin zurück, um zu meditieren, zu studieren oder um zur Ruhe zu kommen. Einmal im Jahr jedoch, war es das Ziel der Engelskinder, die dort nach Herzens Lust spielen und toben konnten. Die Sonne stand hoch und brannte mit unerhörter Stärke auf die Wandernden hinab als sie endlich den Rand des Talkessels erreichten und der Blick auf die tosenden Wasserfälle frei wurde. Wie riesige Ungeheuer stürzten sie brüllend von den steilen Felswänden zu Tal, ergossen sich in tiefgrüne Bergseen und speisten eine Landschaft aus aberhundert verzweigte Bächlein und Strömen. Glitzernd wie silberne Schlangen wanden sie sich durch das dunkelgrüne Gras und vereinten sich hier und da zu kleineren Teichen. Das Rauschen der umstehenden Bäumen ging im Lied der Fälle unter und auch Illium musste seine Stimme deutlich heben, als er Anweisungen für den gefährlichen Abstieg gab. Trotz der aufgedrehten Stimmung und dem sich bietenden Bild hörten alle Kinder aufmerksam zu und nickten anschließend zur Bestätigung. Langsam und mit vorsichtigen Schritten setzte die kleine Gruppe ihren Weg fort und als sie den Talkessel erreicht hatten und alle sicher festen Boden unter den Füßen hatten, erklomm die Sonne eben den Zenit. Gleißend ergossen sich ihre goldenen Strahlen auf das schimmernde und gurgelnde Nass und Regenbögen tanzten auf den millionenfach entstehenden Wassertröpfchen. Es war noch ein Fußmarsch von einer guten halben Stunde, den sie zurücklegen mussten, ehe sie den Kessel durchquert hatten und das Sommerhaus in Sicht kam. Uralt, gebeugt und unerschütterlich empfing es die erschöpfte Wandergruppe und noch einmal legten die kleinen Kinderfüße an Tempo zu. Das Lachen der Kleinen schwoll an und sie begannen, wie junge Hunde, ausgelassen durch das hüfthohe Gras zu tollen. Djesseri und ihre Helferin Anní erwarteten sie bereits mit einem Lächeln und begrüßten Illium mit überschwänglicher Freude. Sie hatten Decken im Schatten der Bäume ausgebreitet und ein üppiges Mahl vorbereitet. Salate, Fisch, Fleisch, Gemüse und Obstspieße stapelten sich auf Teller und Platten. Schüsselweise Pudding und Fruchtsorbets, köstliche Torten und süße Zuckerspeisen warteten auf die hungrigen Kinder und dufteten verführerisch. Aodhan suchte sich ein ruhiges Plätzchen am Rand der kleinsten Decke, ließ sich in eine bequeme Position fallen und lehnte seinen Rücken an einen der uralten Bäume. Er schloss die Augen und seufzte. Es schien Jahrhunderte her, dass er mit seinem Bruder hier gesessen und gespielt hatte. Welche Farbe hatten seine Augen nochmal gehabt? Ein leises Kichern ließ Aodhan zusammenfahren und er sah sich um. Malin, das blonde Mädchen mit den zartgoldenen Schwingen, saß ihm gegenüber und musterte ihn eingehend. „Was ist mit deinen Flügeln passiert?“, fragte sie ihn direkt und in ihrem offenen Gesichtchen stand pure Neugierde. Aodhan lächelte schmerzlich und seufzte leise. „Ich hatte einen Unfall.“, log er und zog die Beine unter seinen Körper. „War es deine Schuld?“ Eine weitere quälende Frage. Der weiße Engel versuchte sich zu erinnern, schüttelte dann schaudernd den Kopf und hoffte inständig, dass das hier bald vorbei wäre. „Dann war es jemand anders Schuld?“, bohrte Malin weiter und biss herzhaft in eine Scheibe weißen Milchbrotes. „Nein...ich...das ist nicht so einfach.“, stammelte Aodhan und fluchte innerlich. Gerade wollte er zu einer aberwitzigen Lüge ausholen, als Illium nach der jungen Dame rief und den weißen Engel damit erlöste. Malins Aufmerksamkeit wandte sich dem Rufenden zu und sie entfernte sich winkend von Aodhan, sprang mit wippendem Zopf über ihre Freunde hinweg und flog mit einem Juchzer in Illiums Arme. Der Atem des weißen Engels stockte für einen Moment und Eifersucht, hässlich und blendend, rann wie bittere Galle durch seine Brust. Goldener Staub flirrte um den blauen Engel, schimmerte im Sonnenschein und ließ Aodhan rot sehen. Dann lächelte Illium und sein glühender Blick richtete sich auf den Engel im Schatten – Begehren und Sehnsucht lauerten in den feurigen Tiefen aus Gold und sahnigem Karamell und Aodhans Körper fand zu der gewohnten Gelassenheit zurück. Den Nachmittag verbrachte die Wandergruppe im wärmenden Licht der Sonne. Träge lagen einige der Kinder im Gras und hielten sich die vollen, satten Bäuchlein, während der Rest ausgelassen mit Anní und Illium herumtollte. Der blaue Engel lachte immerfort und war abwechselnd Kletterburg, Flugzeug oder Pferdchen. Mädchen wie Jungen eroberten ihn gleichermaßen, hingen an seinen Lippen und bedankten sich mit glitzerndem Engelsstaub auf Arme, Brust und Flügel. Aodhan hatte sich auf einen der herumliegenden Findlinge verzogen und vergrub seine Zehen in dem dichten Moos, das den den rauen Fels umgab. Die großen Schwingen lagen schlaff auf dem harten Gestein genossen dessen Kühle. Mit gerunzelter Stirn beobachtete er die Spielenden, stellte fest, wie wenig er Anní doch eigentlich mochte und zuckte zusammen, als sie Illium voll glühender Leidenschaft mit dem Flügel berührte. Rostbrauner Staub landete in dem glänzendem Schopf des Blaugeflügelten und blieb daran haften. Aodhan knurrte. Mit der aufkommenden Dunkelheit begannen Djesseri und Aodhan die letzten Überreste des Picknicks zusammenzuräumen. Schüsseln, Teller und Becher wurden in Körben verstaut, was an Essbaren übrig war landete in einer Kühlbox. Es war kühl geworden und der Großteil der Engelskinder saß, müde und erschöpft vom Toben, auf der Veranda. Kleine Flügel, die keine Kraft mehr hatten, schliffen auf dem Holzboden und blieben auch nach der Ermahnung durch die Bibliothekarin wo sie waren. Illium war eben dabei die letzten Übermütigen aus dem nunmehr plattgedrückten Gras zu klauben, als unter dem Tosen der Wasserfälle ein neues, vertrautes Geräusch auftauchte. „Mami!“, rief einer der Jüngsten und einem Aufschrei stürzte er in die Arme der eben landenden Frau. Liebevoll barg sie den kleinen Körper ihres Sohnes an ihrer Brust und kam dann näher. Sie hatte taubengraue Flügel und lockiges Haar in derselben Farbe. „Hallo allerseits.“, grüßte sie mit angenehm tiefer Stimme und lächelte ob der vielstimmigen Antwort. Ihre nächsten Worte gingen in einem lauteren Rauschen unter und weitere Engel landeten sanft auf dem weichen Rasen. Nach und nach fand ein jedes Kind zu seinen Eltern, erkletterte Papas Rücken oder ließ sich von Mamas sanften Armen wiegen. Illium war herangekommen und unterhielt sich mit einigen Engeln angeregt und auch Djesseri und Anní waren gänzlich abgelenkt, als Aodhan sich lautlos abwandte. Der Tag war schön gewesen, zu schön, und das beklemmende Gefühl, dass die Anwesenheit der vielen Engel mit sich brachte, erinnerte ihn daran, wie wenig er hier zuhause war. Er hatte sich etwas vorgelogen. Er konnte das hier nicht: plaudern, umarmen, scherzen und ausgelassen sein. Nicht mit so vielen. Nicht mal, wenn Illium dabei war. Aodhan seufzte, ging um das Haus herum und kämpfte sich durch das hüfthohe Gestrüpp an der Außenmauer. Dornen und kleine Ranken zerrissen sein Shirt an einigen Stellen und er war erleichtert, als er die Terrasse an der Hinterseite der Hütte erreichte. Hier war es ruhig und nur das Rauschen der Bäume und des Wassers drang an das Ohr des weißen Engels. Es roch nach Wald und feuchter Erde, nach den Pilzen die hier und da aus dem Boden sprossen, und Tannennadeln. Der Engel stieg die knarzenden Stufen zur Veranda hoch, fuhr mit dem Finger über das rissige Holz der Balken, und ließ sich dann auf der Schaukel nieder. Die rauen Seile ächzten unheilvoll, aber sie hielten, und wie in Trance begann Aodhan sich langsam vor und zurück zu wiegen. Sacht strich der Abendwind über ihn hinweg, löste einzelne Strähnen aus dem geflochtenen Zopf und ließ sie kitzelnd über seinen Nacken tanzen. Ganz in der Nähe rief ein Käuzchen, läutete die Nacht ein und das erneute Rauschen vieler Flügel kündigte die Abreise der Engel an. Langsam beruhigte sie Aodhans aufgewühlter Geist und er lehnte seine Stirn mit einem Seufzer gegen das kratzende Seil der Schaukel. Die Fasern hatten sich im Laufe der Jahre dunkel gefärbt und rochen nach Staub und abgestandenem Wasser. Was Illium wohl gerade machte? Hatte er sich mit den Anderen auf den Rückweg begeben? Sich beim Start helfen lassen und glitt jetzt über die Felsklüfte hinweg? Beim Gedanken, dass Anní dem blauen Engel beim Fliegen stützend unter die Arme griff, wurde Aodhan schlecht und er versuchte seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Erfolglos. „Dachtest du, ich lasse dich hier allein?“, ertönte eine Stimme hinter dem weißen Engel und ließ ihn aufschrecken. Ohne sich zu erheben drehte er sich halb um und sein Herz hüpfte, als er Illium, lässig im Türrahmen stehend, erkannte. Aodhan zuckte mit den Schultern und wandte seinen Blick wieder dem dunkler werdenden Wald zu. „Dummkopf.“, tadelte ihn der Jüngere und seine Stimme klang weich und leidenschaftlich. Lautlos trat er hinter Aodhan und ließ seine Finger zärtlich über dessen lockeren Zopf gleiten. „Warum sollte ich denn ohne dich gehen?“, murmelte er und atmete tief Aodhans Duft nach Schnee und exotischen Gewürzen ein. „Weil du schon sehr bald wieder fliegen kannst, es jetzt schon versuchst, und ich...“, antwortete der Ältere tonlos und legte seinen Kopf in den Nacken. Die Blicke der beiden Männer trafen sich und Illium sah den Schmerz in Augen, die gesplittertem Glas glichen. Wie hypnotisiert beugte er sich herab, ließ sein Haar wie einen Vorhang um ihrer beider Gesichter fallen und rieb sanft seine Nasenspitze an Aodhans. Hitze und der süße Duft nach Honig schwappten über dem weißen Engel zusammen und ließen ihn in stummer Erwartung verharren. „Du willst fliegen?“, murmelte Illium rau und seine Stimme war atemlos. „Dann komm mit, ich zeig dir wo man auch ohne Flügel durch die Lüfte tanzen kann.“ Und ohne ein weiteres Wort zu verlieren packte er Aodhans Hand und zog ihn mit sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)