Requiem von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Endlich. ------------------- Als der nächste Morgen nach einer quälenden Nacht endlich über der Zuflucht hereinbrach stöhnte Aodhan erleichtert auf. Stunde um Stunde hatte er sich in seinem großen Bett umher geworfen, sich von einer Seite auf die andere gewälzt und weder Schlaf noch Ruhe gefunden. Schwer hatten Stille und Einsamkeit auf dem weißen Engel gelegen und nach Illiums Fortgang waren Fragen um Fragen zurückgeblieben. Nun kämpfte sich die Sonne durch die dichte Wolkendecke und vertrieb die düsteren Gedanken des Mannes. Entschlossen schob er Zweifel und Einsamkeit beiseite, ließ sich auf der Balustrade seines Balkons nieder und vertiefte sich endlich in das am Abend zuvor begonnene Buch. Der Tag verging wie im Flug. Aodhan verließ seinen Platz in der warmen Sonne nur selten und nahm kaum etwas zu sich. Die alten Schriften fesselten seine gesamte Aufmerksamkeit und er war froh darum. Hin und wieder sank das Buch in seinen Schoß und der weiße Engel ließ seinen Blick über das Gebirge streichen. Grübelnd rekapitulierte er Gelesenes, kombinierte es in Gedanken mit bereits Erforschtem und kämpfte tapfer gegen das aufkommende Fernweh. Seine Flügel, gebändigt und nutzlos, lagen eng an seinem Rücken und schmerzten heute mehr denn je. Als sich die Sonne bereits dem Horizont entgegen neigte und ihr goldenes Licht zunehmend rot erstrahlte war Aodhan am Ende der letzten Seite angekommen und legte das Buch behutsam zur Seite. Mit einem Seufzer streckte er sich, strich sich das lange Haar aus dem Gesicht und atmete tief ein. Die klare Luft war angenehm erfrischend und obwohl seine unterschlagenen Beine schmerzten und seine Glieder steif waren vom Sitzen, fühlte der Engel einen innerlichen Triumph ob des vergangenen Tages. Er hatte nicht nur sein Arbeitspensum erfolgreich gemeistert, sondern auch keinen einzigen unnützen Gedanken an die vergangene Nacht verschwendet. Die Leere, die der blaugeflügelte Engel nach seinem Fortgang hinterlassen hatte, war angefüllt mit Wissen und kein Zweifel, keine ziellosen Fragen quälten Aodhan. Gut gelaunt und hungrig beschloss er, statt sich das Essen bringen zu lassen, einen kleinen Spaziergang einzulegen um das Gelesene zu sortieren. Ein kleiner Abstecher in den Speisesaal würde seine körperlichen Gelüste befriedigen und er würde sich noch heute Abend dem nächsten Buch widmen können. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte den weißen Engel bei dem Gedanken und er verließ seine Räumlichkeiten mit schnellem Schritt. Ruhig und verlassen lag die Zuflucht vor Aodhan und er war froh, dass die meisten Engel das schöne Wetter für berauschende Flüge nutzten. Der Kinderhort war weit entfernt und nur vereinzelt drangen helle Stimmen in das feine Gehör des Engels. Mit einem Stirnrunzeln erinnerte sich Aodhan an das Geschenk, die winzige Feder von Malin, und für einen Moment drohte seine sorgsam gefestigte Fassade rissig zu werden. Illiums Augen, die feurige Glut, die ihnen innewohnte, fesselte den Engel über alle Maßen und die Erinnerung daran war wie ein Schock. „Reiß dich zusammen.“, murmelte Aodhan leise und ballte seine Hände unwillkürlich zu harten Fäusten. Er bog um die Ecke und betrat den hohen Freikorridor der an die Gemeinschaftsräume angrenzte. Die hohen, ionischen Säulen waren aus schimmerndem Marmor und eine leichte Brise flüsterte durch den luftigen Gang. Aodhans Blick strich über die angrenzenden Gärten, die kleinen grünen Inseln inmitten der steinernen Zuflucht und blieb an einer einzelnen Gestalt inmitten der blühenden Pracht hängen. Illium. Der Engel stand mit dem Rücken zu ihm, die großen blauen Flügel weit ausgestreckt und balancierte auf einem Bein. Sein Oberkörper lag, wie zumeist, frei und Abermillionen winziger Schweißtropfen glitzerten auf der karamellfarbenen Haut. Jeder Muskel an Armen und Beinen, Rücken und Bauch schien gespannt und die langsamen Bewegungen waren konzentriert und zeugten von großer Kraft. Anders als sonst wirkte Illium sehr ernsthaft in seinem Training, folgte mit jedem Schritt, jedem Atemzug einer strengen Abfolge und bewies sowohl Durchhaltevermögen als auch Disziplin. Die Flügel, majestätisch und wunderschön, schimmerten im Licht der untergehenden Sonne mitternachtsblau und indigo, jede Feder einzigartig und von perlendem Silber gekrönt. Es war Aodhan, als könne er sich am Farbenspiel nicht sattsehen, als würde ihn das dunkle Blau, von Sternensplittern durchsetzt, magisch anziehen. In sich spürte er den unstillbaren Wunsch diese weiche Pracht berühren zu dürfen und seine Fingerspitzen kribbelten beim Gedanken das Gesicht in den weichen Flaum zu drücken. Illium streckte seine Arme aus, machte einige fließende Bewegungen und dehnte seinen breiten Rücken durch. Die leichte Brise zerzauste das blauschwarze Haar, lief wie eine Welle durch das dunkle Federmeer und brachte den Duft von Erde, Sonne und Schweiß zu Aodhan. Schwer und männlich roch Illium, nach den Anstrengungen des Trainings und der kindlichen Leichtfüßigkeit seines fröhlichen Gemüts. Aodhan zitterte unmerklich und zog sich tiefer in den Schatten der Säulen zurück, wollte nicht entdeckt werden, sondern mehr, soviel mehr noch von der goldenen Haut sehen. Mehr von Mitternachtsflügeln, von glitzerndem Schweiß auf perfekter Haut, von glühenden, hypnotisch schönen Augen. Nach einigen weiteren Dehnungsübungen senkte Illium mit einem tiefen Atemzug die Flügel, legte seine Hände auf die breite Brust und verharrte eine ganze Weile so. Er brachte sich mit dem Wind in Einklang und riss dann mit einem dunklen Rauschen die Flügel in die Höhe. Je fuhr die Abendluft unter die Tragflächen, wirbelte an den Schwungfedern entlang, gewann an Schnelligkeit und drückte den Engel nach oben. Für einen Augenblick schien die Erde stillzustehen und Illium schwebte. Seine nackten Füße verließen den weichen Rasen, die Muskeln am Rücken waren zum Zerreißen gespannt und die Welt hielt den Atem an. Dann zerriss ein leiser Schrei die Stille und er Blaugeflügelte stürzte zu Boden. Seine Knie knickten unter der Wucht ein und die schönen, einzigartigen Flügel fielen kraftlos nach unten. Einen winzigen Moment war Aodhan versucht hervorzuspringen, dann besann er sich. In ihm tobte das ungezügelte Verlangen dem anderen Mann ins Gesicht zu sehen, den Schmerz, die Enttäuschung in seinen erstaunlichen Augen zu lesen und von der goldenen Glut in die Tiefe gezogen zu werden. Er wollte sich in Illium verlieren, auf den Grund seiner Seele tauchen und den Mann hinter der fröhlichen Fassade kennenlernen. Als das Leben in Illium zurückkehrte wurde sich der weiße Engel seiner Gedanken bewusst und keuchte. Mit einem Ruck wandte er sich ab und presste seinen Körper gegen den kalten Marmor. Übelkeit kroch seine Speiseröhre hinauf und einen Moment glaubte er, dass seine Beine ihren Dienst versagen würden. Dann fing sich Aodhan wieder, brachte mit einigen Atemzügen sein rasendes Herz unter Kontrolle und biss sich auf die Lippen bis Blut hervorquoll. Der Schmerz, bekannt und rational, half ihm sich zu erden und nach einer Minute hatte er sich wieder soweit unter Kontrolle, dass er den Weg, auf dem er hergefunden hatte, wieder zurück verfolgen konnte. Kurz vor seinem Quartier bog er nach rechts in einen der abgehenden Nebengänge und nach wenigen großen Schritten trat er aus dem riesigen Gebäude. Hier auf der Nordseite wehte ein scharfer Wind und die Schatten waren schon lang. Der Abendhauch hatte hier schon eine deutlichere Schärfe als im milden Sonnenuntergang und ein Schauder rieselte Aodhans Rücken hinab. Schweiß, ölig und ungewohnt schwer, stand auf der weißen Haut des Engels, überzog seinen gesamten Körper und sickerte durch das dünne Sweatshirt. Wut und Verwirrung rang in dem weißen Engel um die Oberhand und er wusste, dass er raus musste. Raus. Einfach woanders hin. Da, wo er allein sein konnte. Allein sein hatte ihn immer beschützt. Nur dann konnte er er selbst sein. Niemand verstand ihn. Raphael akzeptierte ihn. Dmitri mied ihn. Jason respektierte ihn. Aber niemand verstand ihn. Niemand konnte die Last tragen, die er mit sich trug. Niemand. Schon gar nicht Illium. Die Sonne war schon längst hinter dem Horizont verschwunden und schwarze Wolken türmten sich am Nachthimmel auf. Kein Mond war zu sehen und auch die Sterne waren verhangen. Seit nunmehr Stunden strich Aodhan ziellos umher, wanderte unter dem donnernden Himmel und versuchte sein Innerstes zu beruhigen. Wie oft war er schon an dieser Weggabelung gewesen? Wie lange hatte er grübelnd auf diesem Felsen gesessen? Hatten seine Finger die tiefen Spuren in das weiche Moos gegraben? Er wusste es nicht. Wollte es nicht wissen. Noch immer wirbelten Gefühle und Gedanken in dem weißen Engel durcheinander, rangen miteinander und zerbrachen ihn fast. Die schwarze Wut darüber, dass er der Lage nicht Herr wurde war ebenso schlimm, wie das Rasen seines Herzens, die Unsicherheit, das Verlangen, der Zweifel, die Lust. Niemals zu vor war Aodhan so empfänglich, so verletzlich gewesen. Er fühlte sich wehrlos gegen all die Emotionen und war ihnen schutzlos ausgeliefert. In all den Jahren, all den Jahrhunderten hatte er verlernt Gefühle zu händeln, vergessen wie man mit der Flut in seinem Herzen klarkam. So viele Menschenleben lang war er taub gewesen, abgestumpft gegenüber all dem Erlebten und nun, da seine Fassade nach und nach zerbrach, die sorgsam gepflegte Mauer zwischen sich und der Außenwelt bröckelte, konnte er sich den heranbrandenden Emotionen nicht erwehren. Regen vermischte sich mit dem Schweiß auf Aodhans Körper, durchnässte Kleidung und Flügel. Schwer strömten die großen Tropfen auf den Engel nieder, schwemmten das Erdreich um ihn herum auf und ließen die kleinen Rinnsale aus seinen Augen zu Sturzbächen werden. Im Nu war die Welt schwarz und man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Mit einem unheilvollen Rauschen peitschte der Wind durch die dichten Baumkronen und zog unbarmherzig an Haar und Flügeln. Kein Tier war mehr zu sehen und selbst die Nachtigall im weit entfernten Tal sang nicht mehr. Es war, als würde die Welt ausatmen und nur noch Sturm und Regen hervorbringen. Und noch immer rührte sich Aodhan nicht. Es schien, als wollten ihn seine Beine plötzlich nicht mehr tragen, als wären sie, nach Stunden des Herumirrens, nun müde. Regungslos saß er zu Füßen einer uralten Eiche, lauschte dem tiefen Knarzen ihrer rissigen Borke und wünschte sich die Leere in seinem Inneren zurück. Nein, er wollte nicht mehr kämpfen, hatte keine Kraft mehr. Wer konnte sich schon ewig gegen einen solchen Ansturm wehren, wer konnte schon sein ganzes, ewiges Leben tapfer sein? Sein Blick irrte zwischen den dunklen Stämmen umher, suchte nach Worten, nach Hilfe, nach einem Moment der Ruhe in all dem herrschenden Chaos. Tosend rollte nun Donner über das regennasse Land und immer wieder erhellten gleißende Blitze den finsteren Horizont. Wolkenmassen türmten sich auf und schlugen krachend aufeinander, wurden vom Sturm zerrissen und davon getrieben. Aodhans Glieder waren schwer, so unendlich schwer und jeder Muskel schmerzte. Selbst seine sonst so strahlendweißen Flügel lagen am Boden, wurden von Schlamm und Waldboden überspült und die grauen Bandagen sogen sich mit Regen voll. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe er sich erhoben hatte und auf unsicheren Beinen zwei, drei Schritte nach vorn machte. Wütend peitschte ihm der Sturm den Regen entgegen und wollte ihn zur Umkehr zwingen. Aber die Vernunft, eine kleine Flamme, war in Aodhan zurückgekehrt und er wusste, dass er hier nicht bleiben konnte. Nach vorn gebeugt, die Arme um den Körper geschlungen und die Flügel so fest es eben ging an den schmalen Rücken gepresst, stemmte er sich gegen die Naturgewalten, kämpfte sich tapfer nach vorn und erreichte nach einigen Minuten den Waldausgang. Hatte er das Unwetter im Schutz der Bäume bereits als unbarmherzig bezeichnet, tobte es hier nahezu unerträglich. Donnernd fegte der Sturm über den vor ihm liegenden Pfad, brach sich heulend an den vielgezackten Berggraden und gewann dadurch zusätzlich an Stärke. Blätter, Wurzelgehölz, Erdklumpen und herausgerissene Grasbüschel wirbelten in einem wilden Durcheinander durch die Luft und immer wieder züngelten vielgegabelte Blitze über den finsteren Horizont. Regenschleier, dicht und undurchdringlich, vernebelten die Sicht und erschwerten das Vorankommen zusätzlich. Als Aodhan die ersten unsicheren Schritte aus dem Windschatten der mächtigen Laubbäume getan hatte, bekam er sogleich die volle Wucht des Unwetters zu spüren. Wie ein Orkan fuhr der Sturm unter die empfindlichen Flügel, zog an den Bandagen und bescherte dem weißen Engel unsägliche Schmerzen. Feder rissen aus, wurden in die Tiefen des Gebirges getragen und Aodhan strauchelte. In diesem Sturm boten Flügel eine große Angriffsfläche und wurden den Engeln zum Verhängnis, dass hatte er schon als kleiner Junge gelernt. Mit einem Keuchen zog er die schmerzenden Flügel noch näher an sich, ignorierte die weißen Federn, die voller Hohn um seinen Kopf tanzten, und drückte sich so gut es eben ging gegen die schroffe Felswand linker Hand. Der schmale Pfad vor ihm war völlig überflutet und immer wieder glitt er aus, rappelte sich wieder auf und kämpfte sich weiter voran. Das Tosen des Windes war mittlerweile zu einer schier unerträglichen Geräuschkulisse angeschwollen und donnerte in den empfindsamen Ohren des Engels. Hilfe. Er braucht Hilfe. Mit einem ohrenbetäubenden Knall schlug der Blitz irgendwo im Gebirge ein, brachte Erdmassen und Geröll ins Rutschen und nach wenigen Sekunden ging donnernd eine Lawine zu Tal. Der Boden unter Aodhans Füßen vibrierte und noch während er sich darauf konzentrierte, den kleinen Rinnsalen aus Regen, Schlamm und Eisbrocken auszuweichen, jagte eine weitere Sturmböe heulend heran. Mit der Wucht von hundert Fäusten erfasste sie den weißen Engel, riss ihn zu Boden und schleuderte ihn meterweit durch die Luft. Regen prasselte auf Aodhans Gesicht und er schloss die hellen Augen. Er hatte keine Chance dem eisernen Griff der Natur zu entkommen, war flügellahm wie ein junges Küken und in seinem Körper war kein Funken Kraft mehr. Wie eine Stoffpuppe wirbelte er durch den Sturm, sank schließlich hinab und landete mit einem schmerzhaften Krachen auf einem steinernen Vorsprung. Geröll bohrte sich in Rücken und Flügel und ein rotes Rinnsal schoss unter seinem Körper hervor. Noch immer hielt der weiße Engel seine Augen geschlossen und lauschte in die Nacht. Regen. Wind. Das Donnern der Wolken und irgendwo, ganz in der Nähe, eine Stimme die ihn rief. Mit einem Ruck versuchte Aodhan sich aufzusetzen, zischte schmerzvoll auf und ließ sich wieder zurückfallen. „Hier.“, schrie er so laut er konnte und kämpfte den falschen Stolz nieder. Dies war nicht der richtige Moment um heldenhaft zu sein. „Hier!“, schrie er noch einmal gegen das Tosen, zog die Beine an und drückte sich ein wenig nach oben, der Stimme entgegen. Sein nächster Ruf ging in einem weiteren Krachen unter und der Geruch von verbrannter Erde stieg in Aodhans Nase. Erneut hatte der Blitz eingeschlagen, ganz in der Nähe, über ihm. Erdbrocken und kleine Steine prasselten auf ihn herab, trafen schmerzlich Gesicht, Hände und Brust. Endlich riss Aodhan die Augen auf, starrte in den Regen, sah das heraubsausende Geröll auf sich zufliegen und mit dem grauen Granit auch mitternachtsblau und indigo. Eine Sekunde später war Illium über ihm. Er presste seinen heißen Körper an Aodhans, breitete die dunkelblauen Flügel wie ein schützendes Tuch über ihrer beider Leiber aus und fing Geröll, Steinsplitter und Erdbrocken ab. Seine goldenen, flammenden Augen bohrten sich in Aodhans und ein Ausdruck unendlicher Erleichterung lag in ihnen. „Hab ich dich.“, flüsterte er über das Tosen des Sturms hinweg und für einen kurzen Augenblick drückte er sein erhitztes Gesicht gegen den Hals des weißen Engels. „Endlich.“, formten Aodhans Lippen und er lächelte leise. Endlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)