Requiem von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Illium. ------------------ Mit großen Schritten hetzte Illium durch die verzweigten Gänge der Zuflucht und versuchte verzweifelt Aodhans traurige Augen aus seinem Gedächtnis zu löschen. Diese hellen Sterne, funkelnd wie zersplittertes Glas – noch nie in seinem bisherigen Leben hatte der blaue Engel etwas Derartiges gesehen. Aodhans Augen vereinten absolute Leere und das wohl innigste Bitten, dass Illium jemals gespürt hatte. Und seine Flügel – Himmel waren die schön. Weiß wie die Unschuld, wie frischer Schnee am Morgen und glänzend wie das edelste Perlmutt. „Reiß dich zusammen Illium.“, murmelte sich der blaugeflügelte Engel zu und war froh, endlich seine einstweilige Unterkunft in der Zuflucht zu erreichen. Was er brauchte war jetzt Ruhe um seine trudelnden Gedanken zu ordnen und ein paar Übungen um die Verspannungen sämtlicher Muskeln in seinem Körper zu lösen. Als Aodhan am nächsten Morgen erwachte kroch gerade die Sonne über die gezackten Bergspitzen des Gebirges. Nur wenige Wolken waren am Himmel zu sehen und es schien ein heißer Tag zu werden. Mit einem leisen Stöhnen erhob sich der weiße Engel und wartete einen Moment, ehe sich der Schwindel gelegt hatte. Ein üppiges Frühstück erwartete ihn bereits auf dem niedrigen Tischchen und nur wenige Minuten nach Aodhans Erwachen betrat Keir das Krankenzimmer. „Guten Morgen.“, grüßte er mit einem Lächeln und sein offener Blick strich prüfend über den Körper des weißen Engels. Aodhan nickte zur Begrüßung und setzte sich vollständig auf. Mit koordinierten Bewegungen schwang er die Beine aus dem Bett und ließ seine nackten Zehen über den kühlen Fußboden streichen. „Wie fühlst du dich?“, fragte der Erzengel seinen Patienten und näherte sich dem Bett. Das Klemmbrett in seiner Hand war dicht beschrieben und Aodhan konnte nur wenig entziffern. „Gut.“, antwortete der Verletzte einsilbig und bewegte seine schmerzende Schulter. „Ich nehme nicht an, dass ich dazu überreden kann noch ein paar Nächte hier zu verbringen?“, fragte Keir und seine geübten Finger strichen federleicht über Bandagen und Wundverbände. „Oder mich zumindest nicht anzulügen?“ Aodhan hob die Augenbrauen und seufzte innerlich. Er wurde schwach, wurde durchschaubarer. „Ich fühle mich gut.“, wiederholte er und eine Spur Ungeduld lag in seiner tiefen Stimme. Keir nickte beschwichtigend und notierte sich weitere Zahlen auf dem Klemmbrett. „Du darfst gehen Aodhan, aber vorher musst du mir gestatten dich noch einmal gründlich zu untersuchen.“ Keirs Stimme war schneidender Stahl und Aodhan war klar, dass er den Heiler nicht davon abbringen würde können. Ergeben senkte er den Kopf, biss die Zähne zusammen und erwartete die unvermeidliche Berührung mit geschlossenen Augen. Auch noch Stunden nach der Entlassung rebellierte Aodhans Magen gegen die Untersuchung. Lähmende, ätzende Übelkeit schmeckte bitter in seiner Kehle und er fühlte sich so unendlich bloßgestellt. Vorsichtig waren Keirs Gedanken in seinen Kopf eingedrungen, hatten Hirnströme analysiert, Morphologie und Funktionalität überprüft und waren dann durch sein Nervensystem gerast. Blitzschnell ritten sie auf Aktionspotenzialen durch Muskeln, Knochen und Fleisch, funkten wie Echos durch Aodhans Inneres und verbanden sich mit Herz und Nieren. Wie kleine Stromstöße hatten sie minimale Reaktionen ausgelöst, jedes noch so winzige Axon, jeden lebenden Dendriten überprüft und sich schließlich, endlich, zurückgezogen. Aodhans Seele, dass einzige unangetastete das ihm noch blieb, war völlig überlastet zurückgeblieben. Nun, im Licht der blendenden Mittagssonne versuchte er die Erinnerung abzuschütteln, schluckte ein paar Mal schwer und langsam kehrten Ruhe und Disziplin zu ihm zurück. Mit großer Anstrengung kämpfte er die Übelkeit nieder, spülte den kupfernen Geschmack in seinem Mund mit einem Glas Wasser hinunter und ließ seinen Blick durch den lichtdurchfluteten Raum gleiten. Der weiße Engel war mehr als froh wieder in seinen Räumlichkeiten sein zu können, da wo er sich auskannte, wo ihm die Dinge vertraut waren. Es stand ihm nicht gut unsicher zu sein. Oder begehrend. Unwillkürlich dachte er an den nächtlichen Besuch Illiums und ein leises Schaudern rieselte seinen Nacken hinab. Der blaugeflügelte Engel hatte für einen Moment die Sehnsucht in seiner Brust gestillt und das immerwährende Chaos in seinem Kopf geordnet. Beim Anblick von Illiums ausgebreiteten Flügeln war das Wispern im Kopf des weißen Engels verschwunden und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er Frieden gefühlt. „Reiß dich zusammen.“, schnaubte Aodhan dann laut und unterbrach seine Überlegungen ruckartig. Das hier, das konnte er nicht steuern. Er hatte keine Erfahrung darin, was passieren konnte wenn man sich treiben ließ und, zum Teufel, er würde es nicht rausfinden. Er konnte nicht. Um sich weitere Reisen in sein Unterbewusstsein zu ersparen beschloss Aodhan zu duschen und dann die Bibliothek zu besuchen. Keir hatte ihm beim Abschied mitgeteilt, dass er noch mindestens für einen Monat hier gefangen sein würde und Bücher waren die beste Waffe gegen lange Weile. Er ging ins Bad. Illium versuchte die Enttäuschung, die sich beim Anblick des leeren Bettes aufkam, niederzuringen und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Wann wurde er entlassen?“, fragte er eine der vorbei eilenden Helferinnen und erntete nur ein Schulterzucken. Der blaue Engel machte unwillkürlich einen Schmollmund und versuchte zu ergründen, warum ihm Aodhans Anblick plötzlich so fehlte. Er hatte in dem verschlossenen Mann immer nur den unbeugsamen Willen und die eiserne Disziplin gesehen, doch ihre gestrige Begegnung hatte ihm einen anderen, verletzlichen Aodhan gezeigt. Einen, der sich bei Weitem nicht so gut im Griff hatte wie er selbst zu glauben schien. „Ich hab es gesehen.“, murmelte Illium leise und erinnerte sich nur allzu lebhaft an Aodhans Blick, den Ausdruck in seinen zerbrochenen Augen. „Kann ich Euch helfen?“, unterbrach ihn eine piepsige Stimme und Illium wurde einer schlanken Frau zu seiner Rechten gewahr. Sie trug, wie alle Mitarbeiter der Krankenstation, eine weiße Uniform ihre dunkelbraunen Flügel lagen anmutig gefaltet an dem schmalen Rücken. Illium blinzelte ein paar Mal, vertrieb seine Gedanken mit einer lässigen Handbewegung und lächelte dann herzlich. „Nein Danke, ich habe mich nur verlaufen.“, log er ohne rot zu werden und schenkte seinem Gegenüber einen charmanten Blick. „Ich bitte das zu entschuldigen.“ Und mit einem Augenzwinkern verschwand er nach draußen. Gleißende Mittagssonne empfing Aodhan in den meterhohen Räumlichkeiten der Bibliothek. Feiner Staub badete in dem goldenen Licht und der unverkennbare Duft Jahrhunderte alten Wissens lag in der Luft. Djesseri, die Bibliothekarin mit den sturmgrauen Augen, lächelte beim Anblick ihres Gastes und neigte den Kopf nahezu unmerklich. „Aodhan, wie schön Euch wieder einmal begrüßen zu dürfen.“, sagte sie leise und ihre Stimme rieselte angenehm warm über die Haut des weißen Engels. „Wie geht es Euch?“ Aodhan nickte zur Begrüßung und ließ seinen Blick durch den großen Raum schweifen. Stille, wohlbekannt und tröstlich empfing ihn und nur ab und zu war das hölzerne Knacken der völlig überladenen Regale zu hören. „Gut, danke der Nachfrage.“, antwortete er abwesend und in gewohnt höflicher Form und runzelte die Stirn. „Ich werde heute nach oben gehen.“, fügte er hinzu und ohne einen weiteren Blick auf die junge Frau stieg er mit langsamen Schritten die breite Treppe empor. Leise knarzte das polierte Eichenholz unter seinem Gewicht und die Schatten zwischen den Regalen lockten verheißungsvoll. Umgeben von Papier und Leder, Tinte und uraltem Wissen fühlte sich Aodhan zuhause und sein angespannter Geist kam für einen Moment zur Ruhe. All seine Sinne konzentrierten sich auf die unzähligen Bücher und Pergamente, Schriftrollen, Hefte und losen Seiten in den Regalfächern. Im Kopf ging er diejenigen Stücke durch, die er schon ausgelesen hatte, strich die unwichtigen oder uninteressanten und traf erst dann eine sorgfältige Auswahl. Jedes Buch war für ihn ein Tor zu einer anderen Welt, eröffnete neue Möglichkeiten und Schlüssel zu Erkenntnissen und Wissen. Bücher gaben bedingungslos ohne je eine Gegenreaktion zu erwarten. Sie redeten nicht dazwischen, wollten nicht berührt werden oder forderten ihr Recht im Herzen seines Besitzers. Sie drangen nicht in Aodhans Privatsphäre ein, nahmen ihm Luft und Raum zum Atmen und niemals hatten sie ihn betrogen. Oder zurückgelassen. Oder vergessen. Als der weiße Engel die Bibliothek verließ, einen Stapel in Leder gebundener Bücher in den Armen, waren die Schatten des hohen Säulenganges bereits lang geworden und eine kühle Brise strich durch die Zuflucht. Der Himmel war ein Meer aus feuerrot und orange, von feinen goldenen Linien durchzogen und flirrendes Licht tanzte auf Aodhans weißem Haar. Die Stunden zwischen knisterndem Papier hatten, wie immer, eine beruhigende Wirkung auf ihn gehabt und nach dem übelkeiterregenden Erlebnissen des Morgens fühlte er sich nun wesentlich besser. Er war schon auf halbem Weg zu seinen Gemächern als er erneut Illium begegnete. Der blaue Engel bog eben um die Ecke, ein kleines Mädchen auf dem Arm. Es hatte die winzigen Flügel vertrauensvoll um die breiten Schultern ihres Beschützers geschoben und vergrub ihre rechte Hand in Illiums blauschwarzer Mähne. „Aodhan, schön dich zu sehen.“, grüßte der Blaugeflügelte lächelnd und schenkte seinem Gegenüber einen langen Blick. Fast zärtlich strichen seine goldenen Augen über den weißen Engel, betrachteten prüfend die bandagierten Flügel und zwinkerten schließlich schalkhaft. „Keir hat dich schon gehen lassen?“ Aodhan versuchte der offensichtlichen Musterung durch Illium zu entgehen und konzentrierte seinen Blick auf das Engelskind. Blondes Haar lag wie ein goldener Helm um dessen Kopf und auch die Federn zeigten einen ersten, goldenen Schimmer. „Wer ist das Illium?“, fragte sie mit nahezu flüsternder Stimme und ihre Augen hafteten in schamloser Offenheit an Aodhans schneeweißen Flügeln. Ihre Finger spielten gedankenverloren mit einer seidigen Haarsträhne des blauen Engels und sie wirkte verschüchtert und fasziniert zugleich. „Frag ihn doch, Malin.“, antwortete Illium und in seinen erstaunlichen Augen blitzte der Schalk auf. Mit großer Mühe riss sich das Mädchen von Aodhans Anblick los und sie drückte ihr Gesicht in die warme Halsbeuge des blauen Engels. Sie flüsterte ein paar Worte, dann lächelte Illium. „Ich fürchte sie traut sich nicht.“, erklärte er dem Weißgeflügelten und legte seiner kleinen Last eine Hand auf den Rücken. Aodhan, der weder wusste was er sagen, noch wie er sich verhalten sollte, ließ seinen Blick auf Illiums schönem, hartem Gesicht ruhen und wartete ab. „Vielleicht ein anderes Mal.“, fuhr der Blaugeflügelte dann fort und er neigte den Kopf ein wenig.“Malin sollte auch schon längst im Bett sein.“ „Aber ich bin noch gar nicht müde, Illium.“, protestierte das Mädchen und schlug energisch mit ihren winzigen Flügeln. Goldener Staub, fein und nahezu unsichtbar, rieselte aus den Federn und legte sich auf Illiums honigfarbene Haut. Er lachte. „Ich weiß, ich weiß - das bist du nie.“ „Aber diesmal wirklich.“, versuchte Malin es erneut und gähnte herzhaft. Ihr Beschützer lachte nur noch lauter und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Gegenüber. „Bis zum nächsten Mal.“, sagte er leise und in seinen goldenen Augen erhob sich ein feuriger Tanz. Die langen Wimpern, samtschwarz und von blauen Spitzen gekrönt, glänzten im Abendlicht und die Haut über seine sehnigen Schultermuskeln schimmerte verführerisch. Aodhan musste sich in Gedanken mehrere Male zur Ordnung rufen ehe er Luft holen und zu einer Antwort ansetzen konnte. Seine Hände, fest um die ledernen Einbände der Bücher gelegt, zitterten leicht und es kostete so unendlich viel Kraft das Gesicht nicht in einem Anflug von Ärger zu verziehen. „Ich wünsche noch einen schönen Abend.“, antwortete er steif und machte mit einem Ruck auf dem Absatz kehrt. Große Schritte trugen Aodhan durch die Gänge der Zuflucht, entfernten ihn von Illium und dem verdammten Kind und erst, als seine Räumlichkeiten in Sicht kamen, verlangsamte der weiße Engel seinen schnellen Lauf. Schweiß stand auf seiner Stirn als er mit einer herrischen Geste die Bücher auf sein Bett warf und tiefe Falten erschienen über seine Nase. Die trügerische erhaltene Fassade, all die eiskalte Beherrschung fiel mit einem Mal von ihm ab und er fühlte Zorn in sich aufwallen. Dieses Kind, in all seiner lieblichen Unschuld, hatte in einer unbewussten Geste von Illium Besitz ergriffen und ihn ohne es zu ahnen für sich vereinnahmt. Die Angewohnheit der Engel, potenzielle Partner zu bestäuben, war dem Nachwuchs nur unzureichend bekannt, dass wusste Aodhan, und trotzdem knirschten seine Zähne laut in der abendlichen Stille. Es war einfach unmöglich nicht an Illiums goldene Haut, seine lodernden Augen und die glänzenden Haare zu denken. Immer wieder flackerte sein schönes Gesicht mit dem offenen Lächeln durch Aodhans Geist, da half auch ein wütendes Knurren nicht. „Reiß dich zusammen.“, versuchte der weiße Engel sich selbst zur Ordnung zu rufen. Vergebens. Weder verflog die Wut noch das seltsame Gefühl in seinem Magen. Keine Erklärung für all die unbekannten Emotionen in seinem Inneren tat sich auf und auch sein Körper schien sich nicht beruhigen zu wollen. Seine schmerzenden Flügel zogen an den engen Bandagen und die zu Fäusten geballten Hände zitterten. Er musste sich ablenken. Und das schnell. Aodhan atmete ein paar mal tief ein und aus, ging dann zum Fenster und lehnte seine erhitzte Stirn gegen das kühle Glas. Ein Schauer rann seinen Nacken herab und er starrte auf die abendliche Landschaft. Die Sonne war schon fast vollständig hinter dem rauen Gebirge verschwunden und das feurige Orangerot vermischte sich mehr und mehr mit einem samtenen Schwarz. Vielfarbige Wolken, azurblau und schlohweiß, trieben am Horizont und formten eine dichte Wand in der Ferne. Nur langsam kehrte die gewohnte Ruhe in Aodhans Körper zurück und obwohl sein Geist noch immer unruhig wie ein eingesperrtes Raubtier in einem Käfig hin- und her strich, ließ das Zittern seiner Hände nach und sein Atem normalisierte sich. Erschöpft wie nach einem langen Flug sanken seine Flügel zu Boden und blieben dort, waren plötzlich zu schwer um an Aodhans Rücken zu liegen. Als nach schier endlosen Minuten der blendende Zorn in dem weißen Engel langsam verblasste, blieben nur die Fragen zurück. Warum reagierte er derartig heftig auf Illiums Anwesenheit? Was war das in ihm, dass ihn fühlen ließ? Warum brachte ihn dieses Engelskind derart aus der Fassung? Und die Wichtigste von allen: Was musste er tun um wieder zum Urzustand zurückzukehren? Blank wie ein Silberteller stand der Mond am nachtschwarzen Himmel. Es war windstill, als hole die Welt noch einmal tief Atem vor dem großen Sturm, und durch die geöffneten Türen auf Aodhans Terrasse drangen nur die Geräusche der Nacht herein. Das leise Flügelschlagen der Fledermäuse auf der Jagd, wenigen Grillen die ihr zirpendes Lied sangen und das verschlafene Gluckern des Flusses tief unten im Tal. Der weiße Engel saß mit einem der geliehen Bücher auf der Balustrade und versuchte sich auf die geschriebenen Worte zu konzentrieren. Er hatte die letzten Stunden lediglich damit verbracht, seinen Geist zu beruhigen und sich einzureden, dass seine plötzliche Empfindsamkeit mit den Erlebnissen der vergangenen Tage, mit dem Hinterhalt und nicht zuletzt der allzu unwillkommenen Untersuchung durch Keir zu tun hatte. Als es Mitternacht schlug hatte er seinem seltsam schweren und kraftlosen Körper ein langes Bad gegönnt und war dann ohne weitere Fragen aufkommen zu lassen zum Lesen übergegangen. Doch entgegen aller Hoffnung, Ablenkung und Müßiggang zu finden, verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen, tanzten in abstrusen Formen über die ausgeblichenen Seiten und wollten sich so gar nicht zu Worten und Sätzen formen. Resigniert atmete Aodhan aus, ließ das Buch sinken und starrte mit leerem Blick in die Nacht. Sein Haar und die Flügel waren noch feucht und er fröstelte ein wenig in der aufkommenden Kälte. Trotzdem wagte er es nicht, sich in die lockende Wärme des Schlafzimmers zurückzuziehen. Er fürchtete die Macht der Gedanken, die der quälenden Fragen, und das Verharren in lautloser Dunkelheit. Eine Eule, weiß wie der Schnee und mit großen gelben Augen, flog dicht an Aodhan vorbei. Sie schuhute leise, schlug lautlos mit ihren Schwingen und erinnerte den Engel an seine eigene, erbärmliche Flugunfähigkeit. Er wollte nicht an den Boden gefesselt sein, hier wo er ständig zugänglich und den Banalitäten des Lebens ausgeliefert war. Aber er war kein Dummkopf und bildete sich nicht ein, dass seine Verletzungen nur kleine Kratzer waren. Er würde wohl oder übel den Anweisungen des Heilers Folge leisten müssen. Aodhan seufzte, erhob sich von der steinernen Balustrade und besah sich die grauen Bandagen an seinen Flügeln. Fest lagen sie an den weißen Federn, spannten leicht und machten jede Bewegung zur Unannehmlichkeit. Wie Schandflecken verunzierten sie seine Flügel, beschmutzten ihn mit ihrer Vergänglichkeit und brandmarkten ihn als verletzlich. Als angreifbar. Als schwach. Aodhan widerstand dem Impuls die grauen Verbände mit Macht hinunter zu reißen, strich sich stattdessen das Haar aus der Stirn und hielt dann inne. Es klopfte. Leise aber vernehmlich schlug jemand gegen die große Flügeltür, die die Grenze zu Aodhans Räumlichkeiten darstellte. Es war ohnehin schon höchst ungewöhnlich, dass sich jemand in den entlegen Flügel der Zuflucht verlief um ihn aufzusuchen. Das es bereits weit nach Mitternacht war schien den Besucher keineswegs zu stören. Aodhan runzelte die Stirn und kniff angestrengt die Augen zusammen, dann durchquerte er das Zimmer mit großen Schritten und öffnete die Tür. „Guten Abend.“, sagte eine leise Stimme und eine schwarzblaue Silhouette löste sich aus den Schatten. Illium. Seine goldenen Augen glommen hell in der herrschenden Dunkelheit und er fixierte Aodhan mit unerhörter Intensität. „Was gibt es?“, fragte der weiße Engel und versuchte seine Stimme gefasst und unbewegt klingen zu lassen. Es gelang mehr schlecht als recht und die steile Falte zwischen seinen Augen vertiefte sich. Mit dem Auftauchen des Blaugeflügten war all die vorgespielte Ruhe, die eingeredete Normalität, mit einem mal wieder zunichte und Aodhan argwöhnte zu recht, dass er in dieser Nacht wohl keinen Schlaf mehr finden würde. „Ich hoffe ich habe dich nicht geweckt.“, überging Illium die Frage des weißen Engels und er ließ seinen Blick auf Aodhans breiter Brust ruhen. Selbst unter dem dünnen Stoff des Sweatshirts konnte man die geschmeidigen Muskeln erahnen. Als Aodhan den Kopf schüttelte fuhr Illium fort: „Ich habe etwas für dich.“, sagte er und wieder versenkte er seinen hypnotischen Blick in dem des Weißgeflügelten. Wilde, ungezähmte Neugier brannte in den erstaunlichen Iriden und ließ sie in vielfachen Facetten erglühen. Bernstein und Karamell verschmolzen in einer feurigen Glut zu dunklem Gold und einem winzigen kupferfarbenen Ring um die Pupille, jeder Millimeter ein Kunstwerk. „Ein Geschenk.“, setzte Illium fort und er konnte den übermächtigen Impuls, die feinen weißen Haare seines Gegenüber zu berühren, nur mit Macht unterdrücken. „Von wem?“, fragte Aodhan argwöhnisch und er räusperte sich ob seiner versagenden Stimme. „Malin.“, antwortete der Blaugeflügelte schlicht und zog ein winziges Etwas hinter seinem Ohr hervor. Neugierde beschlich Aodhan und er versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Keine Chance, das Geschenk war einfach zu klein. „Hand auf, Aodhan.“, dirigierte Illium leise und Angesprochener erschauderte. Die Stimme des blauen Engels kroch wie ein sanfter Hauch über seinen Körper und er wusste nicht, ob er je so eine Zuneigung bei der Nennung seines Namens verspürt hatte. Wie hypnotisiert, all seine Prinzipien außer Acht lassend, streckte er den Arm aus und bot Illium seine nackte Handfläche dar. Der blaue Engel lächelte ein wenig als er eine winzige Feder, weiß mit einem Hauch von Gold, hinein sinken ließ und er hätte zu gerne die ebenmäßige Haut an den schmalen Fingern des Weißgeflügelten berührt. Aber er wusste um Aodhans Scheu und zwang sich zum Rückzug. „Sie ist aus ihrem linken Flügel.“, kommentierte er leise und sein Herz hüpfte als Aodhans Lippen von einem unterdrückten Lächeln zuckten. „Warum schenkt sie mir etwas so Wertvolles? Sie kennt mich doch gar nicht.“, murmelte der weiße Engel leise und strich sanft über den weichen Flaum. Aller Ärger, all die Wut über das Mädchen waren verflogen – sie war doch nur ein Kind. „Weil du so traurig bist.“, wiederholte Illium wahrheitsgetreu Malins Worte und erschauderte. Mit einem Ruck hob Aodhan den Kopf, alle Alarmglocken in seinem Kopf begannen zu klingeln. „Was hast du ihr denn über mich erzählt?“, sagte er lauter als beabsichtigt und seine Stimme hallte weithin durch die verzweigten Gänge der Zuflucht. Illium hob seine Augenbrauen und straffte die Schultern unwillkürlich. Seine beeindruckenden Flügel stellten sich auf und die hellen Federspitzen schimmerten wie flüssiges Quecksilber. „Nichts.“ War seine schlichte Antwort und er wandte sich dem Gehen zu. Das plötzliche Umschlagen der Stimmung missfiel ihm und er kam sich plötzlich unglaublich dumm und überflüssig vor. Was hatte er sich eigentlich gedacht, hier mitten in der Nacht aufzukreuzen? Enttäuschung schwappte über seinem Kopf wie eine unheilvolle Welle zusammen und er schalt sich selbst lautlos einen Tölpel. Nach einigen Schritten wandte er sich um und betrachtete den weißen Engel in der Tür. Er stand noch immer so da wie er ihn zurückgelassen hatte: die zerbrochenen Schwingen in den hässlichen Bandagen, mit der ausgestreckten Handfläche nach oben, die schneeweißen Haare, die leise im Wind flüsterten. Seine Mimik war völlig leer und nur in seinen zerbrochenen Augen konnte Illium die Aodhan innewohnende Verwirrung lesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)