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Fremde Welten: Das Schloss am Meer (#2)

Crimsons eigene Serie, yay!
von

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Jetzt schreibe ich die Tagesangabe immer in die Autorenbemerkung. Dann sieht das Initial schöner aus, weil es sonst immer ein K ist...

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Am Morgen 18 (ein Tag nach dem Ende des Letzten Kapitels) Komplett anzeigen
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Tag 18.
Dieses Kapitel ist im Prinzip völlig belanglos... aber hoffentlich etwas informativ und lustig. :) Komplett anzeigen
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Nach einer recht langen Pause endlich ein neues Kapitel! Wenn nicht Weihnachten gewesen wäre und Sylvester, wäre das sicher schneller gegangen, aber ich finde diese Zeit immer stressig.

Wir haben immer noch Tag 21. Am Abend. Komplett anzeigen
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Tag 22.

Ich bin im Moment ein bisschen langsam... Zahnarzt, stressiges Leben... naja das passiert manchmal. Ich habe inzwischen die Kunst der Cliffhanger gemeistert und muss nächsten Monat unbedingt wieder was an BT4W machen... also hoffen wir doch mal, dass ich irgendwann diese Woche nochmal Zeit habe für "Parasitenbekämpfung zweiter Teil". *g* Komplett anzeigen
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Kapitel beginnt früh an Tag 23. Komplett anzeigen
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Anfangs noch Abend 29, dann Tag 30 - der große, lang erwartete Tag des Erfolges oder des Versagens!

Das ist noch nicht das letzte Kapitel. :) Komplett anzeigen

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Nächtlicher Besuch

Hallo mal wieder...!

Alle Fans von Fremde Welten werden sich vielleicht hierfür erwärmen. Ich hoffe sehr, dass es damit nicht so läuft wie mit anderen meiner Fanfictions, die über Jahre hinweg pausierten...

Eigentlich wollte ich mich erstmal um ein anderes Projekt kümmern, aber wie das eben so ist... manchmal drängt sich einem eine Idee so lange auf, bis man sie bearbeitet, und eigentlich hatte ich sie ja schon lange vor dem Ende von Fremde Welten.

Wenn ihr das hier lest, solltet ihr Fremde Welten vorher gelesen haben, denn dann versteht man die Zusammenhänge besser und die Charaktere sind bekannt.
 


 

Prolog: Nächtlicher Besuch
 

Ich schlug abrupt die Augen auf und wusste zunächst nicht, was mich geweckt hatte. Natürlich war in der Dunkelheit nichts zu sehen, was darauf schließen ließ, dass es noch mitten in der Nacht war, und wahrscheinlich war es bewölkt. Ich lauschte und vernahm lediglich tief unterhalb meines Turmes das vertraute, ruhige Rauschen des Meeres. Es roch leicht nach Salz.

In letzter Zeit hatte ich mir angewöhnt, mich schlafend zu stellen, wenn ich gerade aufgewacht war, denn im Schloss gingen seltsame Dinge vor sich. Anscheinend wollte mich jemand zermürben. Es gab keinen direkten Angriff, aber Dinge verschwanden und tauchten ganz woanders wieder auf, meine Gefäße mit kostbaren Substanzen fielen des Nachts herunter, obwohl ich sie ganz sicher weggestellt hatte... mittlerweile war ich soweit, dass ich manchmal daran zweifelte, ob ich es nicht vergessen hatte, aber selbst wenn... es war unmöglich, dass so viel passierte, und dann war da die Sache mit dem Trank, an dem ich wochenlang gearbeitet hatte und der eines Morgens auf dem Boden des Labors die Fliesen aufgelöst hatte... aber das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Wer auch immer mich so ärgern konnte, musste sich in dem Gebäude gut auskennen und war vermutlich auch ein Magier. Und wenn mich nicht alles täuschte, hielt er oder sie sich gerade jetzt in meinem Schlafzimmer auf. Ich fühlte mich beobachtet, obwohl man nicht die Hand vor Augen sah. Aber das hielt einige von uns ja nicht auf, und ich für meinen Teil fand mich in diesem Raum blind zurecht. Heimlich, langsam, griff ich unter mein Kopfkissen, denn ich wagte es vorsichtshalber nicht, etwas Magisches zu versuchen. Mein Athame – ein Ritualmesser – war nicht da, wo ich es gestern Abend noch gefühlt hatte. Sollte mich das jetzt überraschen? Mein Feind kannte mich offensichtlich wirklich gut.

Ich konnte jetzt warten, bis etwas geschah. In Anbetracht der Tatsache, dass seit Wochen jemand meine Nerven strapazierte und offensichtlich Freude daran hatte, fehlte mir dafür allerdings momentan die Geduld. Also entschied ich mich für einen Angriff nach vorn und bereitete gerade einen Lichtzauber vor, um meinen Gegner zu blenden, als sich meine eigene Klinge von hinten an meinen Hals legte.

"Das würde ich nicht tun, Jungchen."

Das also hatte mich geweckt... jemand saß bereits hinter mir auf meinem Bett! Mist. Es gab nur einen Kerl im ganzen Schattenreich, der mich Jungchen nannte.

Ich rührte mich nicht, hielt den Atem an und schwieg. Die Situation war... bescheiden. Ich schlief unbekleidet, weil ich das einfach so gewohnt war und bequem fand. Aber natürlich fühlte man sich auch ausgeliefert, wenn es dann so kam wie jetzt. Ich lag auf der linken Seite, den Feind im Rücken, zwischen uns nur die Bettdecke. Ich hasste es, jemandem den ungeschützten Rücken zuzukehren.

Seine für sein Alter sehr starke Hand packte fest meine Haare und zog mir den Kopf nach hinten, so dass mein Hals noch mehr dem Messer ausgeliefert war. Ich keuchte und biss die Zähne zusammen. "Dir hat es wohl die Sprache verschlagen. Aber was soll's, so bleibt mir dein Gewäsch erspart!"

"Olvin... was willst du hier?" presste ich nun doch hervor, denn ich konnte nicht länger an mich halten. "Bist du für diese... Vorfälle verantwortlich?"

"Vorfälle?" Der Alte kicherte. "Oh gewiss, also hast du es bemerkt!"

"Als ob man das ignorieren könnte! Hgnnn!" Ich war ein bisschen zu impulsiv geworden, und er erinnerte mich an meine Position, indem er stärker an meinen Haaren zog und die Messerklinge flach an meinen Hals drückte. Niemand wusste besser als ich, dass die Schneide viel schärfer war, als sie aussah. Gut, ich sollte wohl langsam vernünftig werden. "Dann bist du jetzt hier, um es... zu beenden?"

"Aber nicht doch, Jungchen," murmelte Olvin dicht an meinem Ohr. "Das wäre zu einfach. Ich hab dir ordentlich Angst eingejagt, indem ich immer wieder angedeutet habe, dass ich im Schloss bin... ein Unbekannter, der dir auflauert. Aber das reicht mir nicht. Wenn das Siegel seine Wirkung behalten hätte, wäre ich wohl zufrieden, denn dann wäre dein Leben jetzt zerstört... so wie meines."

Ah, wir kamen wohl der Sache näher. "Wovon... redest du?"

"Du hast mich mit falschen Anschuldigungen aus der Akademie werfen lassen! Auch wenn letztendlich niemand so recht glaubte, was du sagtest, waren die Sorgen der Eltern doch zu gravierend, als dass ich hätte dableiben können! Meine Familie hat sich von mir angewandt, meine Freunde wollten nichts mehr mit mir zu tun haben, und generell ist mein Ruf in der Magiergesellschaft ruiniert! Seit zehn Jahren finde ich keinen vernünftigen Job mehr, habe keinen festen Wohnsitz und muss mich von irgendwelchen Emporkömmlingen als Totenbeschwörer anheuern lassen. Und nachdem ich gezwungen war, für diesen Idioten Sorc zu arbeiten, hast du ihn zusammen mit deinen Freunden besiegt und ich bin wieder arbeitslos! Du hingegen hast das Glück, dass deine Magie wiederhergestellt wurde und das Siegel, das dich als Magier völlig disqualifizieren sollte, dir jetzt auch noch zum Vorteil gereicht! Oh, ich habe dir die Schmerzen so gegönnt, weißt du... aber vor allem befriedigte es mich, zu wissen, dass du nie mehr zaubern wirst. Und nun das! Während meine Gesundheit mehr und mehr verfällt, weil Necromantie nunmal nicht gut für den Körper ist, wenn man sie in solchen Maßen betreibt..."

Das Messer drückte gefährlich gegen meinen Hals, doch er saß so dicht hinter mir, dass es kein Zurückweichen mehr gab. Mein Leben befand sich in seiner Hand. Keine gute Sache.

"Doch ich werde dafür sorgen, dass auch du das Leid kennen lernst, verlass dich drauf! Ich werde alles vernichten, was du erreicht hast, und dir nehmen, was dir lieb ist: Deinen Job, dein schnuckeliges neues Zuhause, deinen Ruf, deine Familie, Freunde... einfach alles. Du wirst keine ruhige Nacht mehr haben, verlass dich drauf! Denn du weißt nie, was ich als nächstes tun werde! Ich werde dir zeigen, wie es mir deinetwegen ergangen ist, Jungchen! Und wenn ich deine Gesundheit ordentlich angeknackst und dich in den Wahnsinn getrieben habe, werde ich dich vielleicht von deinem Leiden erlösen... um dich dann als dienstbaren Zombie wiederauferstehen zu lassen!"

Er ließ mich ganz plötzlich los und verschwand aus meinem Bett. Das Messer fiel vor mir auf die Matratze, ich konnte sein von unserer Haut erwärmtes Metall an meiner Schulter spüren.

"Warte!" rief ich ihm nach, streckte im Dunkeln die Hand aus. "Lass uns darüber reden, wir können sicher eine Lösung..." Ich brach ab. Er schien schon weg zu sein. Alles war mit einem Mal totenstill... bis auf das stetig rauschende Meer. Doch es beruhigte mich nicht. Schlaf kam für mich diese Nacht logischerweise nicht mehr.

Ein Anschlag auf die Gesundheit

Jemand schüttelte ihn gereizt. „Meister! Wach auf! Was ist denn mit dir, bist du unter Narkose oder was?“

„Uh...“ Crimson stöhnte auf und rieb sich die Augen. „Hab nen Schlaftrunk genommen...“

Eria blinzelte ihn überrascht an. „Das sieht dir ja gar nicht ähnlich, hast du das nicht in letzter Zeit immer abgelehnt? Wirst du endlich vernünftig? Ich weiß ja, dass man nicht dauernd auf solche Hilfsmittel zurückgreifen soll, aber wenn man immer schlecht schläft...“

Crimson hatte niemandem von den seltsamen Vorfällen erzählt, die ihn so zermürbten, denn sie betrafen immer nur ihn und konnten stets mit eigener Schusseligkeit erklärt werden, verursacht durch Stress. Das kam nunmal vor, wenn man eine Schule gründete. Er hatte oft keinen oder nur wenig Schlaf bekommen in letzter Zeit, aber diese Nacht hatte er sich ein Mittelchen gegönnt. Schließlich hatte Olvin ihn besucht und ihm seinen Standpunkt dargelegt, also war nicht damit zu rechnen, dass sofort noch etwas passierte. Das hatte er ausgenutzt, zumal er sonst heute völlig übernächtigt gewesen wäre vom vielen Grübeln.

„Wie spät ist es... ich muss das Frühstück machen, oder?“

„Darum haben wir anderen uns schon gekümmert,“ verkündete seine Schülerin stolz. „Meinst du, niemand hat bemerkt, wie erschöpft du in letzter Zeit warst? Du solltest dir mehr Ruhe gönnen, Meister. Aber bald fängt der Unterricht an.“

Crimson dachte darüber nach, während er die Beine aus dem Bett schwang, darauf achtend, dass die Decke ihm nicht wegrutschte. Jetzt, wo er wieder wach war, kamen auch die Sorgen zurück. Konnte er sein Schicksal irgendwie abwenden?

„Eria... wenn jemand dir etwas Schlimmes angetan hätte, etwas... das dein Leben verändert, und du willst dafür Rache... was müsste geschehen, damit du deine Meinung änderst und... denjenigen verschonst?“ fragte er vorsichtig.

Sie sah ihn erstaunt an. „Warum fragst du? Hast du Probleme?“

„Versuch einfach, mir zu antworten.“

„Uhm... erstmal müsste derjenige sich entschuldigen, und zwar richtig, also nicht nur so wischi-waschi. Dann wäre eine Entschädigung fällig, soweit das möglich ist. Und vielleicht noch etwas mehr, denn normalerweise gibt es ja dann immer Schaden, der nicht mehr wiedergutgemacht werden kann, nicht wahr?“

„Hm... ja.“ Ihre Worte waren logisch und bestätigten eigentlich seine eigene Meinung. Nur, war das auch die von Olvin? Der Alte wollte ihm schaden, aber Crimson hatte natürlich kein Interesse daran, sich alles nehmen zu lassen, was er in den letzten Monaten erreicht hatte. Hätte er doch nur eher gewusst, dass es Olvin war... dann hätte er längst etwas unternehmen können. In so einer Situation hatte man grundsätzlich die Wahl, den Feind gewaltsam zu entfernen oder ihm entgegen zu kommen. Crimson fand ersteres zu gefährlich für die Schüler, auch wenn das alte Gemäuer momentan nicht viele beherbergte.

Er hatte nie so recht über Olvin nachgedacht, nicht einmal nach den Geschehnissen mit Sorc und Malice. Doch nachdem der Alte ihm letzte Nacht gesagt hatte, was sein Streich damals für Folgen für ihn gehabt hatte, war er sehr nachdenklich geworden. Und jetzt versank er schon wieder dermaßen in Grübeleien, dass Eria sich Sorgen machte.

„Meister? geht es dir gut?“

Crimson schreckte hoch. „Ah! Ja, ja... Nein. Eria, ich lasse den Unterricht heute ausfallen, es gibt da etwas... also, ich muss ein paar Dinge überdenken.“

„Klar doch... ich hab ja selber gerade gesagt, dass du dich mehr ausruhen sollst, also nimm dir ruhig mal einen Tag Zeit... Mava und ich schaffen das schon. Und in der zusätzlichen freien Zeit können die Schüler Kuro im Garten helfen und dann---“

„Ja, mach es so,“ unterbrach er sie, da seine Gedanken eh schon wieder woanders waren. Arme Eria. Er vermutete, dass sie in letzter Zeit glaubte, ihm zur Last zu fallen. Deshalb bemühte er sich um ein Lächeln. „Ich werde dir und Paladia bald alles erklären. Ihr beide sollt auf jeden Fall wissen, was los ist, ja?“

Eria nickte mit besorgter Mine. „Ich sag den anderen, dass du... krank bist. Ähm... nein, dass du dich nicht gut fühlst.“

Sie huschte aus dem Zimmer. „Ich bring dir gleich etwas Frühstück,“ rief sie noch über die Schulter.

Crimson sah ihr nach und seufzte. Er befand sich zum ersten Mal in einer dermaßen unangenehmen Lage... insofern, als dass er seine eigenen Missetaten eingestehen musste. Als die seltsamen Missgeschicke angefangen hatten, hatte er zunächst an Überarbeitung geglaubt. Doch bald hatte er vermutet, dass ihm jemand übel mitspielte... nur wäre er da nie auf Olvin gekommen. Und selbst wenn, hätte er bis gestern nur bedingt verstanden, was der Alte für ein Problem hatte.

Der Weißhaarige zog sich einen Morgenmantel über und trat auf seinen Balkon. Er bewohnte das oberste Turmzimmer im höchsten Turm des Schlosses – desselben Schlosses, in dessen Kerker er einige Tage lang gefangen gewesen war. Nach dem Sieg über Sorc hatte sein erster Weg ihn hierher geführt, um es sich unter den Nagel zu reißen. Schließlich war es durchaus ein hübsches Gebäude in erstklassiger Lage.

Direkt unter Crimson schäumte das Meer gegen eine Steilküste. Er wusste inzwischen, dass hier früher ein anderer Magier gelebt hatte, doch Sorc hatte ihm das Schloss abgejagt. Jedoch hatte Sorc offenbar nicht gewusst (oder sich nicht dafür interessiert), dass Schlösser von Magiern, oder magiehaltige Gebäude generell, einen Energiekern hatten, ein eigenständiges Bewusstsein, das den Mauern ein gewisses Leben verlieh, wenn man es denn so nennen wollte. Es wurde oft das Herz des Schlosses, der Burg oder des Turms genannt, je nachdem, und befand sich meistens in Form einer Kugel aus kristallinem Material in den Grundfesten, also noch unter den Kellergewölben oder in ihnen. Es gab sie verschieden mächtig, abhängig davon, welchen Zweck sie erfüllen sollten. Der Sinn der Sache war, dass sich ein Schlossherr mit diesem Herz verband und somit von der Magie des Gebäudes als Herrscher angesehen wurde. Ihm standen dann alle Türen und Möglichkeiten offen, während Eindringlinge aktiv abgewehrt werden konnten.

Crimson wusste darüber Bescheid, weil sein Vater Shiro der Herr des Kristallschlosses war und es ihm des Öfteren erklärt hatte. Nur hatte das Kristallschloss aufgrund seiner speziellen Aufgabe, Geheimnisse zu hüten und Bewohnern Schutz zu bieten, ein Zwillingsherz aus zwei Energiekernen, und zwei Schlossherren, denn Shiro war nur mit einem von ihnen verbunden. Wer der zweite war, wusste Crimson nicht mit Sicherheit, doch er nahm an, dass es Kuro war. Da der Halunke sich dauernd in der Weltgeschichte herumtrieb, musste Shiro auch die meiste Zeit daheim bleiben, denn ein Turmherz brauchte die Nähe seines Beherrschers. Wahrscheinlich kam Kuro deswegen mindestens einmal im Jahr zu Besuch, dann aber meistens auch für mehrere Wochen.

Nun hatte Crimson immer gerne im Kristallschloss gelebt, doch hatte er auch immer das ganze Gebäude mehr oder weniger für sich gehabt, wobei sein Vater nicht als störend zählte, schließlich gehörte er zu seiner Welt. Sogar Kuro war als Gast stets willkommen, jedoch...

Als es dazu kam, dass Dark mit seiner Magiertruppe das Schloss beziehen sollte, schien das eine gute Idee zu sein, zumal das Schloss erstarkte, wenn mehr Magier darin lebten. Aber Crimson wollte nicht gerne teilen. Vielleicht auch nur nicht mit Dark. Auf jeden Fall hatte ihn bei näherer Überlegung der Gedanke gestört, dort dann nicht mehr das Sagen zu haben. Er würde seinen Kräutergarten anderen zur Verfügung stellen müssen, und andere Köche in die Küche lassen. Das Alchemielabor wäre nicht mehr nur für ihn da, und das passte ihm erst recht nicht. Wahrscheinlich würde ständig jemand seine Lagerbestände durcheinander bringen, oder schlimmer noch, sich an seinen geheiligten, mühsam beschafften Sonderzutaten vergreifen. Und er selbst wäre nur noch ein Bewohner von vielen, selbst als Sohn des Schlossherrn.

Insofern war es ein wahrer Geistesblitz gewesen, sich Sorcs Schloss anzueignen. Direkt nach der finalen Schlacht war er hierher geflogen, begleitet nur von Eria, und hatte sich Zutritt verschafft. Denn Sorc hatte sein Schlossherz nicht erweckt – man merkte es, wenn man wusste, wie sich so etwas anfühlte, und Crimson hatte genug Zeit im Kerker verbracht, um zu festzustellen, dass es kein aktives Schlossherz gab, eventuell sogar überhaupt keines. Insofern war er auch nicht abgewehrt worden, bestenfalls von ein paar übrig gebliebenen Wächtern von Sorc, die aber kein großes Problem dargestellt hatten.

In solchen Fällen musste man schnell handeln, ehe jemand anderes auf die Idee kam. Crimson und Eria hatten das Schlossherz ausfindig gemacht und er hatte sich mit ihm verbunden. Er war ganz zufrieden damit, obwohl es nur eines der Stufe 2 war. Das reichte aber im Grunde völlig aus, wenn man keine Monster unter dem Fundament versiegeln oder ein Hochsicherheitsgefängnis einrichten wollte. Das mächtigste Festungsherz, von dem Crimson gehört hatte, war ein Stufe 6, und das gehörte zur Zuflucht im Himmel und musste sehr viel mehr leisten als seines. Dazu kam noch, dass höhere Stufen schwer einen Meister fanden, weil es einfach zu schwierig war, sich mit ihm zu verbinden. Bei dem Vorgang wurde die Magie des Magiers angezapft und das Schlossherz darauf abgestimmt, dazu musste man das Herz berühren und den Vorgang bewusst zulassen. Es war nicht das, was Crimson täglich machen wollte, um es mal vorsichtig auszudrücken, denn es war für sein Ego unangenehm und für seinen Körper schmerzhaft gewesen.

Doch Opfer waren nötig, um Macht zu erhalten, das war fast immer so. Die Vorteile eines Schlossherzes überwogen da eindeutig.

„Cathy.“

Es dauerte kaum eine Sekunde, ehe sich die Gestalt eines schönen Jünglings durchscheinend und wenige Zentimeter über dem Boden schwebend neben ihm materialisierte. Er war hochgewachsen und schlank, fast schon so sehr, dass sein Körper in die Länge gezogen aussah. Als Kleidung diente ihm nur eine Rosenranke, die ihn dekorativ umwickelte und dabei den Brustbereich und den Unterkörper insbesondere bedeckte. Die Haut zeigte eine gesunde Bräune, etwas dunkler als Crimsons eigene. Sein rotes Haar war wirbelförmig um seinen Kopf gestylt und sah entfernt aus wie eine Rosenblüte, vermutlich ein Aussehen, das die ursprünglichen Erschaffer so festgelegt hatten, genau wie den Namen. Eigentlich hieß er nämlich Catherine, was ja normalerweise ein Frauenname war. Doch das Geschlecht, in der ein Schlossherz erschien, ließ sich nicht hundertprozentig festlegen, selbst dann nicht, wenn man ihm ein weibliches Design und einen weiblichen Namen verlieh und es nur von Frauen herstellen ließ.

„Ihr habt gerufen, Meister,“ sagte Catherine und verneigte sich ansatzweise. Als er aufsah, funkelten seine Augen blattgrün.

„Cathy, ich möchte, dass du nach einem Eindringling suchst, einem alten Magier. Er muss seit einer Weile hier ein und aus gehen oder sich im Schloss versteckt halten. Wieso ist dir das nicht aufgefallen, hm?“

„Ihr habt nicht gefragt.“

„Du hättest mich trotzdem darauf hinweisen können!“

„Meister, wenn Ihr es wünscht, werde ich Euch solche Dinge melden, aber dann müsst Ihr mir das vorher auftragen.“

„Sei etwas selbstständiger!“

„Verzeiht, aber mein früherer Meister bestand darauf, alles genauestens festzulegen. Solange ich keine anderen Anweisungen erhalte, bleiben diese Befehle für mich bestehen. Auch darauf hat er stets Wert gelegt.“

„Und ich dachte, mit dir verbunden zu sein, hat dir Einblicke in meinen Charakter verschafft, so dass ich nicht alles extra sagen muss.“

„Nein, Herr. Während des Fusionsvorgangs habt Ihr mir Zugang zu Eurem innersten Geist verweigert. Das ist vollkommen akzeptabel, hat aber den Nachteil, dass Ihr mir stets Anweisungen geben müsst und...“

„Ja, schon gut.“ Crimson dachte darüber nach, diese Sache nachzuholen, aber rückgängig machen ließ es sich dann nicht, ohne Cathy ganz aufzugeben und damit möglicherweise das Schloss zu verlieren. Deshalb hatte er zunächst auch nicht zugestimmt, obwohl es zu jenem Zeitpunkt einfacher gewesen wäre, als sich später erneut einer Verbindungsprozedur zu unterziehen.

„Der erwähnte Magier muss sich im Schloss aufhalten. Versuch, ihn zu finden.“

„Gern, Herr. Aber ich kann immer nur einen kleinen Bereich zur gleichen Zeit überprüfen. Soll ich in den Abwehrmodus gehen? Ich weise darauf hin, dass dies in Anbetracht der geringen Bewohnerzahl des Schlosses nicht ratsam ist, es würde Euch zu viel Energie kosten. Erst, wenn mehr Magier anwesend sind, die mit ihrer Kraft meine Reserven aufladen...“

„Schon gut. Sei einfach so wachsam wie möglich. Achte darauf, wer meine Räume oder mein Labor betritt. Und sag mir Bescheid, wenn jemand auftaucht, der hier nicht sein sollte. Oder an einem Ort, wo keiner etwas zu suchen hat.“

„Sehr wohl.“ Cathy verneigte sich erneut. „Noch etwas?“

Der Geist klang leicht genervt. Crimson hatte stets das Gefühl, dass sein Schlossherz ihn noch nicht ganz respektierte. Vielleicht betrachtete es ihn als Eroberer, weil der letzte Meister ja gewaltsam entfernt worden war. Ein Schlossherz verlor seine Verbindung zu seinem Meister, wenn dieser zu lange weg war oder geistig nicht mehr daran festhalten konnte, wie zum Beispiel, wenn es sicherer für den Geist war, in den Ruhezustand zu gehen.

„Du kannst gehen,“ gestattete Crimson, und Cathys Gestalt löste sich auf. Er schaute wieder nach unten. Wenn Olvin wollte, konnte er ihn hier hinunter stoßen... aber vermutlich wäre ihm das nicht genug.

Crimson hatte heute keine Lust, sein Zimmer zu verlassen. Er zog sich nichtmal richtig an, sondern grübelte einfach nur die ganze Zeit, wobei er meistens auf das Meer starrte. Doch seine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie sollte er denn auch eine Lösung finden, wenn er gar nicht wusste, womit er seinen Gegner besänftigen konnte?

Eria brachte ihm Frühstück, das sie auf seinem Schreibtisch abstellte. „Meister, ich mache mir wirklich Sorgen. Es ist so gar nicht deine Art, dich so zu verhalten... Ach ja, die Lieferung von der Feenburg ist angekommen.“ Eine kleine Truhe schwebte hinter dem Mädchen herein. Sie dirigierte das gute Stück an die Seite und ließ es dort landen.

Das erweckte Crimsons Interesse. „Die Heilkräuter? Sehr gut...“ Sein eigener Schlossgarten war noch nicht so gut ausgestattet wie der beim Kristallschloss. Hoffentlich kümmerte sich um den jemand... er mochte gar nicht daran denken.

„Erst isst du was!“ beharrte Eria und setzte sich auf die Kiste. „Die Brühe wird sonst kalt, und es gibt Nussbrot. Dharc hat es gebacken.“

„Ah ja... er hat mir ja schon zweimal dabei zugesehen, als er Küchendienst hatte...“ lächelte Crimson. Dharc war ein eifriger Junge, es störte nur ein bisschen, dass sein Name so ausgesprochen wurde wie der eines gewissen anderen Magiers. Aber da konnte ja der ärmste nichts dafür.

Crimson nahm das halbe Brot unter die Lupe, das zu seinem Frühstück gehörte. Es war ein bisschen unförmig und innen nicht luftig genug, aber... nicht ganz verkehrt. Sicherlich gut gemeint. Der Geschmack war OK, nur hätte es gerne ein bisschen crosser gebacken sein können. Ach, er war schon wieder zu kritisch.

Zum Brot gab es Marmelade. Die Brühe war vermutlich zur Besserung seines Befindens gedacht, wie lieb. Nur passte sie nicht so ganz zu dem Süßen. Crimson verzehrte alles systematisch und ohne große Umschweife. „So und jetzt lass mich an die Kiste!“

„Du wirst immer so seltsam, wenn du eine Kräuterlieferung bekommst,“ neckte Eria ihn und machte Platz. „Aber willst du dir nicht erst was Anständiges anziehen? Schließlich musst du das ja im Lager einräumen...“

„Ach, Klamotten werden überbewertet. Ich kann dich schicken oder es bis morgen stehen lassen.“

Eria fasste ihm an die Stirn. „Hast du Fieber? Noch nie hast du jemandem erlaubt, dein Lager einzuordnen, und sonst machst du das auch immer sofort.“

„Nun, du bist meine Schülerin, nicht wahr? Also sollte ich dir das wohl langsam zutrauen.“

Eria lächelte beglückt. „Ja! Ich mache das schon!“

Crimson kniete sich auf den Boden, klappte den Deckel hoch und betrachtete die Lieferung. „Ah, dieser Duft! Bloß schade, dass ich sie nicht ganz frisch kriege. Hoffentlich hat Weaver daran gedacht, mir Samen dafür zu schicken.“ Er packte die Kräuterbündel vorsichtig aus, betrachtete alles und war dabei ganz in seinem Element. Es handelte sich größtenteils um getrocknete Kräuter, aber ein paar waren mit Wurzel und nur etwas verwelkt, wie er mit Begeisterung feststellte. „Sieh nur! Sie brauchen etwas Wasser, aber dann kann Kuro sie im Garten einpflanzen... nein, das mach ich morgen, stell sie erstmal in ein Gefäß, und dann... aaah!“ Er hatte wieder in die Truhe gegriffen, aber nur mit einem Auge hingesehen.

„Meister, was...“ Eria ging erschrocken neben ihm in die Hocke.

„Etwas... au... hat mich gebissen oder gestochen... schließ den Deckel, damit es nicht... hngh!“ Crimson hielt krampfhaft seine rechte Hand.

Eria reagierte: Sie schlug den Deckel der Truhe mit einem Knall zu, dann griff sie an Crimsons Finger und zog den Ring ab, den er immer trug, denn die Hand schwoll an, und sie wusste nicht, ob der Ring dann noch vom Finger ab ging. „Cathy!“ rief sie. „Cathy, schnell, hol Lily! Crimson hat wahrscheinlich eine Vergiftung!“

Das Schlossherz war neben ihr erschienen. „Wie unhöflich, du könntest mich wenigstens angemessen begrüßen!“ Doch er verschwand gleich wieder, um den Auftrag ohne weitere Diskussion auszuführen.

Crimson indessen war völlig am Boden, im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Hand brannte wie Feuer und auch alle anderen Arten von Schmerz schienen sich darin zu vereinen. Er hörte sich selbst jammern. Was immer in der Kiste gewesen war, hatte jemand anscheinend sorgfältig ausgewählt. Bestimmt stammte es nicht von den Feen, es musste eine Schlange oder so etwas sein. Aber er hatte jetzt keinen Nerv dafür, seine Hand nach Bissspuren zu untersuchen, denn die Schmerzen waren viel zu gruselig.

„Trink das!“ Eria reichte ihm eine kleine Phiole, die er ohne nachzufragen annahm und austrank. Dem Geschmack nach zu urteilen war es ein allgemeines Antiserum für Vergiftungen, die man noch nicht näher bestimmen konnte, aber erstmal aufhalten musste. Wäre er nicht so abgelenkt gewesen, hätte er seine Schülerin für ihre Geistesgegenwart gelobt.

Wenige Minuten später tauchte Lily auf. Die Fee flog einfach zum Fenster herein, in der Hand eine Tasche mit Ausrüstung. Wie immer war sie in einen weiß-rosanen Kittel gekleidet. Schnell erfasste sie die Situation und zwang Crimson, seine Hand loszulassen. Sie war erstaunlich kräftig, manchmal... oder er war schwach geworden.

Lily betrachtete seine angeschwollene und bläulich verfärbte Hand. Die Symptome wanderten langsam den Arm hoch. „Ah ja... da ist eine kleine Bissstelle zwischen Daumen und Zeigefinger...“

Eria nickte. „Winzig... sieht eigentlich ganz harmlos aus...“

„Hast du ihm schon was gegeben?“

„Ja, einen Gegengift-Trank.“

„Gut... dann verfrachten wir ihn erstmal aufs Bett... Hilf mir!“

Crimson sagte nichts mehr dazu, als die beiden sich über seinen Kopf hinweg über ihn unterhielten, und schon gar nicht wehrte er sich, als sie ihn gemeinschaftlich auf die Füße zogen und zum Bett führten. Irgendwie schwebte er in einer anderen Sphäre. Als er lag, bekam er noch bewusst mit, wie Lily in ihrer Tasche kramte und eine Spritze aufzog. Das hatte er befürchtet! „Warte... der Trank wirkt, die Schmerzen haben ein wenig nachgelassen...“ log er. In Wahrheit tat sein ganzer Arm so weh, dass er ihn kaum noch spürte. Das hatten Schmerzen so an sich, das Gehirn verweigert irgendwann die Aufnahme. Gelegentlich wusste er das zu schätzen.

Lily lächelte zuckersüß. „Crimson, ich weiß, dass du meine Behandlungsmethoden ablehnst, aber solange ich für dich arbeite, wirst du dich fügen!“ Sie schnippte gegen die Spritze und drückte ein bisschen von dem Medikament heraus, um Luftblasen zu vermeiden. „Das hier lässt dich schlafen, so dass ich dich in Ruhe behandeln kann. Ich weiß doch, was für ein schlechter Patient du bist. Eria, halt ihn fest.“

„Ist gut!“ Eria lehnte sich mit dem Ellenbogen auf seine Brust und packte sein linkes Handgelenk, so dass der gesunde Arm Lilys Zuwendungen ausgesetzt war.

Crimson gab einen wimmernden Laut von sich und wandte das Gesicht ab. Er fand es irgendwie ziemlich warm im Zimmer, direkt unangenehm. Aber in seinem Kopf war alles schön leicht, und dann wurde ihm ganz schummerig und schließlich...
 

„Ah, wachst du endlich auf.“

Crimson konnte sich gerade noch beherrschen, verspürte aber das Bedürfnis, entsetzt aufzuschreien. Er wandte ahnungsvoll den Kopf nach links und blickte in Olvins schadenfroh grinsendes Gesicht. Hinter dem Alten war ein Vorhang zu sehen, und es roch nach Desinfektionsmitteln. Also hatte man ihn in den Krankenflügel gebracht. Es war ruhig und dunkel in der Umgebung, nur eine kleine Lampe diente als Notbeleuchtung, so dass man gerade noch etwas sehen konnte.

„Du warst das...“ stellte er mühsam fest. „Du hast... irgendein Tier in die Truhe getan...“ Warum überraschte ihn das nicht? Olvins Anwesenheit beunruhigte ihn nicht einmal besonders. Wahrscheinlich war er noch zu benommen. Crimson sah an sich hinunter. Seine verletzte Hand war anscheinend bis zum Ellenbogen bandagiert. Aber der pochende Schmerz in ihr war es wohl, was ihn geweckt hatte, wenn nicht der ungebetene Besuch. Der schien ja schon etwas länger da zu sein.

Olvin kicherte leise. „Armer, armer Junge. Ich sagte doch, ich werde dir alles nehmen, was dir wichtig ist.“ Er hielt ein Klemmbrett vor sich und strich demonstrativ etwas durch. „Ich hatte ja nicht zu hoffen gewagt, dass es die linke Hand erwischt... wo dein Siegel des Schlossherzens ist. Aber die rechte Hand wird dir viel mehr fehlen. Du bist doch Rechtshänder, oder?“

„W-Was? Wieso...?“ Crimson runzelte die Stirn. Eine schreckliche Ahnung beschlich ihn.

Olvin grinste freudig und sprach mit leichtem Spott. „Deine kleine Ärztin hat dich wohl erstmal vor dem Schlimmsten bewahrt, aber wenn ihre Mittelchen ihre Wirkung verlieren, kann sich das Gift der gelben Sumpfnatter ungehindert weiter ausbreiten. Diese kleinen Schlangen sind wirklich erstaunlich, aber sehr selten. Also sei so gut und lass sie einfach irgendwo frei, vorzugsweise in einem geeigneten Lebensraum, schließlich kann sie nichts dafür, dass du deine Hand einbüßen wirst.“

„Ich werde... WAS?“ Crimon wollte sich aufsetzen, aber sein Kopf fühlte sich dafür zu schummerig an. Er stand wohl tatsächlich noch ein wenig unter Drogen.

Der alte Magier beobachtete ihn ganz genau. „Ich weiß, dass du deine Lieferungen an alchemistischen Zutaten immer persönlich auspackst. Also musste ich nur die Schlange in die Kiste schmuggeln und konnte davon ausgehen, dass sie sich bei den noch feuchten, lebenden Pflanzen verbergen würde. Sie sind scheu, aber wenn sie keinen anderen Ausweg sehen...“ Er simulierte mit den Fingern eine Beißbewegung. „Wenn Lily und Eria die Schlange inzwischen identifiziert haben, werden sie es wohl schon wissen... verabschiede dich schonmal von deiner rechten Hand, Jungchen. Zweifellos werden sie es dir bald schonend beibringen...“

Crimson überlief es heiß und kalt. Sollte das heißen, dass die Hand amputiert werden musste, um sein Leben zu retten? Das konnte nicht wahr sein. Aber die Schmerzen in der Hand fühlten sich ungesund an und strahlten den Ellenbogen hoch. Sein Herz schlug panikartig schneller und er fühlte sich schwindelig. „Das... das kannst du doch nicht ernsthaft...“

Doch der Alte blickte mit glühenden, hasserfüllten Augen auf ihn herab. „Ohne deine Hand wirst du kein Alchemist mehr sein können, höchstens einer, der auf Hilfe angewiesen ist. Da schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe! Deine körperliche Unversehrtheit und deine größte Leidenschaft, die Alchemie, sind für dich Geschichte! Hier, sieh her!“ Olvin hielt ihm seine knochigen Hände vor die Nase. Die Haut war von einem ungesunden Grau und man sah violette Adern darunter. Die Fingernägel waren brüchig und teilweise dunkel verfärbt. Sogar im Halbdunkel war das alles für einen Finsternismagier gut zu erkennen. „Hast du in Necromantie auch nur einmal aufgepasst? Was habe ich euch immer gesagt, über die Folgen dieser Kunst? Und das schon im Grundkurs, so dass selbst du es mitbekommen haben musst?“

Crimson schwieg, während sein Hirn automatisch die Erinnerung aufrief. Dann gab er einen auswendig gelernten Text wieder: „Necromantie muss in Maßen betrieben werden, sonst... zehrt sie am Körper des Necromanten. Intensiver Gebrauch von Magie, die Leichen auferstehen lässt, schädigt lebendes Gewebe, tötet den Anwender jedoch nicht... er wird statt dessen zu einem Leben mit unangenehmen und schmerzvollen Nebenwirkungen verdammt, bis er fast selber eine wandelnde Leiche ist...“

„Volle Punktzahl.“ Olvin war nun beängstigend ruhig. Es war, als fehlte ihm die Kraft, um sich weiter heftig aufzuregen. „Ich war gezwungen, für meine Arbeitgeber ganze Armeen von Leichen auszuheben. Oder was glaubst du, für was jemand einen Necromanten einstellt? Für eine Umschulung war ich schon zu alt. Hätte ich Lehrer bleiben können, wäre mir das Elend der letzten zehn Jahre erspart geblieben. Zehn Jahre! Die stelle ich dir in Rechnung, und zwar mit Zinsen! Meine Familie wollte mich nicht aufnehmen, keine Schule mich einstellen... es ist unglaublich, wie schnell sich Nachrichten verbreiten, erst recht so unsinnige Gerüchte. Nur die dunklen Herrscher nehmen einen dann noch, oder all jene, die sich dafür halten.“

Unter anderen Umständen hätte Crimson sich gefreut, denn er hatte sich gewünscht, noch einmal mit seinem ehemaligen Lehrer reden zu können. Aber momentan konnte er sich auf nichts konzentrieren, zumal ihn der Gedanke, seine Hand zu verlieren, ziemlich ablenkte. Vor allem aber fühlte er sich noch immer fiebrig.

Da er schwieg, fuhr sein Besucher fort: „Vielleicht kannst du dich damit arrangieren, denn du warst schon immer zu arrogant, um dich geschlagen zu geben. Dir bleibt noch dein Schloss und diese Schule. Doch das werde ich dir auch beides nehmen! Und was wird deine Frau – kann man das so ausdrücken? – dazu sagen, wenn sie erfährt, was du in Wahrheit für ein Typ bist? Aber halt... das muss sie nicht. Sie muss nur denken, was ich sie denken lassen will. So wie du es mit mir gemacht hast. Wenn erst dein Ruf dahin ist, werden sich deine Freunde ganz allein von dir abwenden. Ob dein Vater wohl dann noch zu dir hält? Gewiss hat auch seine Liebe Grenzen...“

Crimson fühlte, wie sich ein Abgrund unter ihm auftat. Er wollte etwas sagen, sich verteidigen, doch das Fieber griff nach ihm und die Umgebung verschwamm zusehends. Das hatte sein Gutes, denn so konnte er nicht betteln, was auch eine Option war, über die er nachdachte.

„Tjaaaa... sieht ganz so aus, als müsste deine Ärztin bald eine Entscheidung treffen,“ bemerkte Olvin. „Was wirst du antworten, solltest du dazu in der Lage sein, hm? Deine Hand oder dein Leben?“

Die Aufregung tat Crimson nicht gut, denn sein Kreislauf transportierte natürlich auch Giftstoffe schneller, wenn sein Puls sich beschleunigte. Ihm wurde schummerig zumute, und schließlich verlor er wieder das Bewusstsein.
 

Notiz: Die Idee mit dem Schlossherz ist ein bisschen von „Overlord“ (glaub ich) abgekupfert. Aber in dem Spiel hatte es keinen Geist.

Krankenbesuch

Als er das nächste Mal erwachte, fühlte er sich deutlich besser. Es war Tag. Crimson hoffte inständig, dass er die Begegnung mit Olvin nur geträumt hatte.

Schmerzen hatte er keine mehr. Das Fieber musste auch nachgelassen haben, doch er fühlte sich so erschöpft, dass er die Augen am liebsten wieder schließen und einfach weiter schlafen wollte. Doch jemand stand neben dem Bett und sprach, das hatte ihn wohl geweckt. Er suchte mit den Augen die Quelle der Stimme und erkannte Lily.

Sie lächelte niedlich, als sie seine Reaktion bemerkte. „Endlich bist du wieder bei uns, Crimson! Du kannst gleich noch etwas weiter schlafen, aber ich möchte, dass du etwas isst. Du hast seit sechs Tagen kaum etwas zu dir genommen. Wahrscheinlich weißt du nicht mehr, dass ich dir des Öfteren Tee eingetrichtert habe?“

„Sechs... Tage?“ Seine Stimme klang kratzig. Aber jetzt wusste er, warum er so schwach war.

Lily bestätigte seine Vermutungen. „Ja, du hattest Fieber, die meiste Zeit warst du ohne Bewusstsein. Nach zwei Tagen hast du angefangen zu fantasieren und immer wieder gejammert, dass du deine Hand doch noch brauchst und so... also wirklich, als ob ich sie dir abhacken würde! Aber zugegeben, es sah ernst aus...“ Sie half ihm, sich hinzusetzen, und nahm eine Schale mit einem gelblichen Brei zur Hand. „Wer ist eigentlich Olvin?“

Doch Crimson zog es vor, darauf jetzt nicht zu antworten. Obwohl es gänzlich gegen seine Ehre ging, ließ er sich von ihr füttern und starrte auf seine rechte Hand, wann immer er konnte. Sie war nur noch so weit verbunden, dass die Bissstelle bedeckt war, und ließ sich mit etwas Mühe bewegen. Er hatte eigentlich keinen Appetit, aber als er erst einmal anfing zu essen, wurde er regelrecht gierig. Dabei schmeckte das Zeug nicht einmal besonders.

„Ich habe geträumt, dass die Hand amputiert werden muss,“ murmelte er schließlich. „Olvin ist ein alter Magier, gegen den ich letztens gekämpft habe... jemand aus meiner Vergangenheit. Er kam auch in dem Traum vor. Er... war derjenige, der es mir gesagt hat.“

„So ein Unsinn,“ lachte Lily. „Der Biss verursachte eine schmerzende Schwellung, aber eine Amputation hätte nichts mehr genützt, dazu war das Gift viel zu schnell in deinem Kreislauf. Die Patienten sterben manchmal an den Folgen des Fiebers, das durch das eigene Immunsystem ausgelöst wird. Es ist wie ein allergischer Schock, aber lass mich dir die Einzelheiten ersparen. Das Gift selbst ist für Menschen jedenfalls nicht tödlich.“

Die Erleichterung war unbeschreiblich. Da musste Olvin wohl gelogen haben, um ihm Angst zu machen, denn jemand wie er konnte sich nicht so irren. Crimson konnte sich allerdings vorstellen, dass es durchaus eine gewisse Befriedigung für den Alten war, wenn er wusste, dass er sein Opfer in Panik versetzt hatte.

„Ich behalte dich noch ein paar Tage hier,“ fuhr Lily fort. „Und keine Widerrede! Ich sag jetzt den anderen, dass du wach bist.“ Sie sorgte dafür, dass er sich wieder hinlegte, was er sich widerspruchslos gefallen ließ, und verschwand dann mit dem Essenstablett hinter dem Vorhang.

Crimson hatte eine Sorge weniger, aber auf der anderen Seite quälten ihn noch viele weitere... nämlich darüber, was Olvin wohl noch alles anstellen würde...
 

Nachdem Lily angekündigt hatte, den anderen Bescheid zu sagen, war es für Crimson ganz schnell mit der Ruhe vorbei. Eine halbe Stunde etwa döste er noch, dann aber wurde es laut auf dem Gang. Er hatte nicht viele Schüler an der noch jungen Schule, aber alle sechs wollten sich gleichzeitig in das Krankenzimmer quetschen. Das war im Grunde kein Problem, aber Lily war empört.

„Wo gibt es denn sowas, dass ganze Schulklassen bei einem Patienten einfallen! Ich lasse euch nur in Dreiergruppen rein! Maximal!“

Crimson konnte wegen des Vorhanges niemanden sehen, aber er hörte, wie sie sich berieten. Schließlich kamen zuerst Saambell, Dharc und die kleine Rosi. Die drei traten etwas schüchtern an Crimsons Bett.

„Direktor, ich wollte Euch ein besseres Nussbrot backen als das letzte, aber ich hatte nicht genug Zeit,“ ließ Dharc ihn wissen und senkte geradezu ehrfürchtig den Kopf. „Eins mussten wir aufessen, weil Ihr einfach nicht erwacht seid, und danach habe ich lieber gewartet...“

Der fünfzehnjährige Junge vergötterte ihn geradezu, das wusste Crimson, deshalb passte er in der Küche auch immer gut auf und kam manchmal auch, wenn er gar keinen Dienst hatte. Er war ansonsten eher ein Wildfang, der meistens grummelig guckte. Wie Eria hatte er einen kleinen Tierpartner.

„Das macht doch nichts, ich kann eh noch nicht so gut essen,“ tröstete Crimson ihn. Momentan war er ja noch nicht einmal in der Lage, lange zu sitzen, daher musste er seinen Besuch im Liegen empfangen. Es war schon erbärmlich, aber nicht zu ändern.

„Ich hab Euch Blumen gepflückt!“ rief Rosi. Die Sechsjährige redete eigentlich nie leise, und man hatte den Eindruck, dass sie ihre türkisfarbenen Augen immer weit aufriss, aber das war ihr natürliches Aussehen. Vermutlich kam ihre laute Sprechweise davon, dass sie mit mehreren Geschwistern aufgewachsen war, nahm Crimson an.

„Das ist lieb,“ sagte er. „Suchst du bitte eine Vase aus? Lily hilft dir bestimmt dabei.“

„Ist gut...“ Rosi sprang vom Stuhl, auf den sie sich gestellt hatte, und verschwand in einem Wirbel violetter Locken außer Sicht.

Saambell schwieg und stand nur still dabei, wobei sie aber nicht eingeschüchtert wirkte. Vermutlich wusste sie nur nicht, was sie in dieser Situation sagen sollte. Sie war neun Jahre alt, schwarzhaarig und dunkeläugig. Sie war in allem, was sie machte, sehr entschlossen, so sehr, dass manche sie als frech zu bezeichnen pflegten – natürlich nur auf gewissen Schulen, wo man auf brave Schüler Wert legte. Sie hatte ein geradezu unheimliches Talent dafür, kleine Wesen zu beschwören. Soweit Crimson wusste, hatte das nicht nur ihre Eltern, sondern auch die meisten ihrer Lehrer überfordert, denn bei der Aka--- halt, keine Namen nennen. Gewisse Schulen waren eher unflexibel, wenn ein Kind von der Norm abwich. Aber dafür war Crimsons Schule ja jetzt da.

„Ist eigentlich der Unterricht schon aus?“ fragte Crimson seine Besucher.

Dharc grinste breit. „Fällt aus, unser Lehrer ist krank.“

„Ach was... sowas,“ seufzte Crimson.

Indessen kam Rosi mit einer Vase zurück, in der die Blumen auf kindliche Art recht hübsch drapiert waren, und stellte sie auf den Nachttisch. Manche stammten aus dem Kräutergarten. Ob sie ihm damit eine Freude machen wollte oder einfach nur die Blüten schön gefunden hatte, wusste er nicht.

„Wir durften die ganzen Tage nicht zu Euch,“ murmelte Dharc. „Habt Ihr wirklich ständig geschlafen?“

„Uhm... so ähnlich. Ich kann mich kaum erinnern, wie Tage kommt es mir gar nicht vor.“

„Ich werde später richtig lecker für Euch kochen, wie Ihr es mir beigebracht habt!“ versprach Dharc. „Etwas, das nicht so schwer im Magen liegt.“

„Hmmm...“ Crimson stellte fest, dass seine Augenlider sich schwer anfühlten. „Danke ihr Lieben... schickt jetzt die anderen rein, sonst kann ich mit ihnen nicht mehr reden, ehe ich wieder einschlafe.“

„Ihr habt's gehört,“ griff Lily ein. „Er darf sich noch nicht anstrengen. Raus mit euch! Morgen ist auch noch ein Tag.“

Crimson schämte sich für seine Schwäche, aber das bisschen Reden hatte ihn fertig gemacht. Lily ließ die zweite Gruppe nicht mehr zu ihm, und das war wohl auch besser.
 

Als er das nächste Mal die Augen aufschlug, dachte er, es wäre wenig Zeit vergangen, aber es war dunkel, offenbar Nacht. Der Raum wurde nur von der Nachtlampe erhellt. Aber es reichte.

Crimson ärgerte sich, schon wieder so lange geschlafen zu haben. Er setzte sich etwas unbeholfen auf und sah sich um. Oh – auf dem Nachttisch befand sich eine abgedeckte Schale mit Essen. Sein Magierauge erkannte den Schimmer eines Wärmezaubers, was ihn zum Lächeln brachte. Das musste dann wohl Dharcs Gericht sein. Dabei lag ein Stück Brot, eingewickelt in ein Tuch. Crimson machte sich über beides her, als sein Magen reagierte.

Das Essen war gut gemacht – auch das Brot. Es war kein Nussbrotteig, sondern nur ein einfacher weißer Brotteig, den Dharc wohl verwendet hatte, weil dieser leicht verdaulich war. Sogar ein paar Kräuter waren darin. So hatte Crimson es ihm selber gezeigt. Der Junge lernte wirklich gut. Der Wärmezauber hatte die Suppe warm gehalten, aber es hätte ruhig etwas heißer sein können.

Einen Moment überlegte Crimson, ob das Essen vergiftet sein könnte. Aber das würde Olvin nicht machen, nachdem er ihn ja schon mit der Schlange vergiftet hatte. Er wollte ihn ja noch quälen, außerdem bestand ja in diesem speziellen Fall auch die Gefahr, dass jemand anderes davon aß. Nein, da musste er sich wohl keine Sorgen machen.

Crimson hatte keine Probleme mit seiner Hand feststellen können. Er bewegte sie probeweise und überprüfte ganz bewusst die Funktion der Finger – alles in Ordnung. Hatte Olvin ihn wirklich besucht? Oder war das nur eine Fieberfantasie gewesen?

„Cathy,“ rief er nach seinem Schlossherz.

Das holographische Bewusstsein des Schlosses erschien sogleich. „Ja, Meister?“

„Cathy, ist in den letzten Tagen... oder besser, Nächten... ein Besucher hier gewesen? Ein alter Mann?“

„Meister, normalerweise überwache ich das Schloss nicht, ich bin ja, wie Ihr wisst, nicht im Abwehrmodus. Aber nach Eurer letzten Anweisung hielt ich nach diesem Mann Ausschau, konzentrierte mich dann jedoch auf die Überwachung des Krankenflügels, um Euch zu schützen. Ich hoffe, das war in Eurem Sinne – so war ich zuletzt angewiesen worden zu handeln, wenn mein Meister krank wäre.“

„Hm, schon gut. Was ist nun mit dem Mann?“

„Er war hier, vor vier Tagen.“

„Warum hast du mich nicht gewarnt?“

„Wie denn? Ihr habt fast immer geschlafen. Außerdem habt Ihr mich nicht angewiesen, die Krankenstation als verbotenen Bereich zu betrachten. Er ist ein Heiler, und als solcher kann ich ihn doch nicht von hier fern halten!“

Crimson runzelte die Stirn. „Heiler? Hat er das gesagt? So ein Lügner, er ist...“ Oh, halt. Er hatte etwas vergessen. „Doch. Necromanten sind Heiler der extremen Art. Um totes Material in Bewegung zu setzen, braucht es abgewandelte Heilzauber. Deshalb muss auf der Akademie jeder künftige Necromant einen Grundkurs in Heilkunde belegt haben. Besser noch den für Fortgeschrittene...“

„Warum regt Ihr Euch auf? Wenn er, wie Ihr selbst sagt, wirklich ein Heiler ist, wird er Euch hier auf der Krankenstation nichts antun und auch keine Medikamente gegen Euch einsetzen. Das widerspricht der Ehre eines Heilers,“ meinte Catherine.

In diesem speziellen Fall war sich Crimson nicht so sicher, immerhin war sich der Alte nicht zu fein gewesen, eine giftige Schlange in seine Heilkräuter zu mischen. Allerdings störte ihn gerade einmal mehr, dass sein Schlossherz ein gewisses Maß an Zickigkeit an sich hatte. Gewiss war es besser, die Verbindung zu ihm zu vertiefen, aber das ging momentan nicht – Crimson konnte seine Situation realistisch genug einschätzen und wusste, dass er zu schwach war.

Außerdem – was sollte er wegen Olvin unternehmen? Ihn rausschmeißen lassen? Das würde den Groll, den der Alte gegen ihn hegte, nicht lindern. Crimson entließ sein Schlossherz und grübelte mal wieder für den Rest der Nacht.
 

Gegen Morgen war er etwas eingenickt, doch als Lily ihren Dienst antrat, weckte ihn ihre emsige Betriebsamkeit, und nach dem Frühstück kam Besuch für ihn. Es waren seine drei anderen Schüler, die nun auch ihr Recht einforderten, ihn mit ihrer Anwesenheit zu beglücken. Lily hatte ihm ein paar zusätzliche Kissen besorgt, damit er tagsüber mehr oder weniger sitzen konnte.

Zunächst erblickte er Veiler, einen androgynen Sechzehnjährigen mit türkisblauem Haar, das im Nacken zum Zopf gebunden war. Er hatte die Figur einer Fee und verboten lange Beine für einen Jungen, fand Crimson.

Auch Milla war schon fünfzehn. Sie hatte weißes Haar, dass sie modisch kurz trug, allerdings mit längeren Strähnen an den Seiten. Sie schaute oft etwas grimmig, insofern passte sie ja gut zu Dharc.

Zuletzt schließlich trat Legend hinter den Vorhang. Als der junge Mann zu ihm gekommen war, hatte Crimson gedacht, er wolle sich als Angestellter bewerben. Jedoch war Legend eine dieser berühmten gescheiterten Existenzen, zu denen manche wohl auch einmal Crimson gezählt hatten. Der Blonde hatte die Akademie mit vierzehn abgebrochen, um von zu Hause abzuhauen. Seitdem hatte er sich auf verschiedene Weise durchgeschlagen und unter anderem zahlreiche Spielertricks gelernt, um Geld zu verdienen. Jetzt war er achtzehn und auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf hier gelandet.

Insofern hatte Crimson nun insgesamt sechs Schüler in unterschiedlichen Altersklassen auf seiner Schule. Eria zählte er dabei nicht mit, weil sie zwar seine Schülerin war, aber nicht auf seine Schule ging – leider gab es kein Wort, um beides voneinander zu unterscheiden. Lehrer an Schulen nahmen eigentlich keine eigenen Schüler an. Aber das war ihm egal, und außerdem hatte er sie schon vorher gehabt.

„Herr Direktor, stellt Euch vor: Meine kleine Schwester will auch zu Euch kommen. Sie hat mir gestern geschrieben. Unsere Eltern sind sauer auf mich, weil ich einen schlechten Einfluss auf Lyna habe,“ berichtete Milla. „Ich hoffe sehr, dass Lyna nicht wirklich herkommt, ich bin extra auf diese Schule gegangen, weil ich es satt hatte, ihr ein Vorbild sein zu müssen und dabei nicht die Erwartungen zu erfüllen.“

„Sieht sie dir ähnlich?“ fragte Legend mit einem gewinnenden Lächeln. „Zwei so wunderschöne Ladys...“

„Ach, Klappe!“ motzte Milla. „Sie ist dreizehn, also vergiss es.“

Veiler hielt sich zurück, während die beiden anderen redeten. Er hatte die Post dabei, was Crimsons Interesse erregte. Also überließ er Milla und Legend ihrem Geplänkel und wandte sich an den Jungen. „Was bringst du mir, Veiler?“

Der feenhafte Schüler trat vor. „In den letzten Tagen erreichten Euch einige Nachrichten. Ein Brief von Direktorin Silentia von der Akademie. Vier Bewerbungen für Anstellungen in Eurem Schloss. Eine Lieferung von Büchern für Eure Bibliothek von Lord Genesis – diese Nachricht war dabei. Und dann das hier... ich weiß nicht, woher das ist, aber es kam ebenfalls mit Lord Genesis' Sendung.“ Veiler reichte ihm einen Briefumschlag.

Dieses Format einer Nachricht war im Schattenreich und in seinen Kreisen eher unüblich, daher erhellte sich Crimsons Mine auch gleich. „Das muss von Yugi sein!“

Post von Yugi war immer lange unterwegs, denn er schickte alles zuerst an Lord Genesis, und der brachte es dann ins Schattenreich und verteilte die Nachrichten an die verschiedenen Empfänger. Es ging schneller, wenn Yugi einfach nur Botschaften schickte, denn dann benutzte er ein Gerät Namens Computer, um sie zu Genesis zu übermitteln. Das Übermitteln dauerte angeblich nur Sekunden oder Minuten – sowas wie Telepathie, nur dass eine Maschine es machte. Aber oft schickte Yugi kleine Geschenke mit, und die mussten natürlich erst von Japan, wo er wohnte, nach England, wo Genesis wohnte, gebracht werden. Je nach Größe dauerte das ein paar Tage. Dann dauerte es wieder ein paar Tage, bis der Lord sein Portal öffnete – das konnte man nicht beliebig oft machen, denn das wäre unvernünftige Energieverschwendung.

Doch er legte den Umschlag aus der anderen Welt erstmal beiseite, wobei er die Enttäuschung seiner Schüler fast körperlich spürte. Sie wussten, dass er manchmal merkwürdige Post bekam, und platzten fast vor Neugier.

„Gib mir die Post von Silentia und Genesis. Ihr dürft die Bewerbungen aufmachen.“

Veiler tat wie geheißen, und die drei machten sich neugierig über die Bewerbungen her. Crimson hatte nicht direkt Stellen ausgeschrieben, da er eh noch nicht viel zu bieten hatte, aber so etwas sprach sich schnell herum... oft bekam er Anfragen von irgendwelchen zwielichtigen Gestalten, die einfach nur irgendwo wohnen wollten.

Er las zuerst die Nachricht von Lord Genesis – es war nur eine eher kurze Notiz: „Ich hätte dir die Bücher ja gerne persönlich überreicht, aber du hättest sie eh nicht allein tragen können. Weitere sind noch in Arbeit. Komm ruhig mal wieder zum Essen!“ Dahinter war doch glatt ein kleines Herzchen gemalt. Es folgte eine Liste der gelieferten Bücher, alles Kopien der Originale, die der Vampir in seiner Privatbibliothek hatte. Für eine Schule waren Kopien auch völlig ausreichend und Originale zu schade, wie Crimson fand. Immerhin wussten naive Schüler ein altes Buch oft kaum zu schätzen. Selbstredend hatte er da stets eine Ausnahme gebildet – war er doch bei einem Bibliothekar aufgewachsen.

Silentia hatte er ebenfalls um Kopien von Büchern gebeten, doch in ihrem Brief verwies sie ihn freundlich an verschiedene Stellen, wo die Originale aufbewahrt wurden, denn die Akademie hatte auch größtenteils Kopien und verfügte nicht über die Möglichkeiten, Bücher im großen Stil zu vervielfältigen. Des weiteren sprach sie ihm noch einmal ihr Bedauern darüber aus, dass er seine Stelle als Gastdozent nicht fortführte, aber freilich hatte er nun wichtigere Verpflichtungen. Die sechs Monate hatten ihm großen Spaß gemacht, auch wenn es ziemlich stressig gewesen war, eine Schule aufzubauen und zugleich an einer anderen zu unterrichten. Aber seit einigen Wochen war er nur noch hier... und da hatten dann auch die Probleme angefangen, die, wie er nun wusste, auf Olvins Konto gingen.

Als er fertig war, wurde Crimson auch wieder auf seine Schüler aufmerksam, die seine Bewerbungspost durchgesehen hatten.

„Schau dir die an! Können wir die einstellen, Direktor?“ Legend hielt ein Bild von einer schönen Frau hoch, das aber aussah, als wäre es bei ungünstigen Lichtverhältnissen angefertigt worden, denn alles sah so finster aus. „Vielleicht als Lehrerin für... Leibeserziehung?“

Crimson warf ihm einen giftigen Blick zu.

„Diese hier sieht auch recht interessant aus,“ fand Milla. „Jedenfalls von der Beschreibung her. Sie möchte Ritualkunde lehren und nennt sich selbst Schattenpriesterin. Huh...“

„Dieser hier möchte Schutzzauber unterrichten. Haben wir das als Fach?“ fragte Veiler.

Ein Schreiben war noch nicht geöffnet, weil sie sich wohl nicht darauf geeinigt hatten, wem das Privileg zukam. Crimson kümmerte sich selbst darum. Er faltete das Pergament auf, das zu seiner Verwunderung mit Genesis' Siegel versehen gewesen war, und bekam große Augen.

Die Bewerbung war von Sorc. „Das glaube ich einfach nicht...“ Zumal man von einem Chaosmagier eh nicht erwarten konnte, dass er geordneten Unterricht abhielt. Der Mann befand sich noch immer im Gewahrsam des Vampirlords, am besten war wohl, er besuchte Genesis wirklich mal wieder. Momentan konnte er das auch gut gebrauchen.

Crimson hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt, und er hatte ein paar Entscheidungen getroffen, vor deren Ausführung er sich fürchtete, aber er war kein Feigling. Andererseits hatte er sich bisher eigentlich nicht zu „den Guten“ gezählt und tat das auch jetzt nicht so direkt, aber er hatte sowas wie eine Vorbildfunktion angenommen, als er diese Schule gründete. Wer hätte das gedacht? Er und Lehrer! Wäre das nicht so gekommen, hätte er mit Olvin wohl kurzen Prozess gemacht, sobald dieser sich in sein Leben einmischte. Zugleich wäre er nie auf die Idee gekommen, Lehrer zu werden, wenn er nicht Sorcs Gefangener gewesen wäre, was ihm eine eigene Schülerin beschert hatte. Dieses Erlebnis hatte ihn nachhaltig verändert. Wäre das nicht geschehen, wäre er zweifellos noch immer ein eigenbrödlerischer Alchemist im Kristallschloss. Was war damals nur in ihn gefahren, die Magier von Dark ins Kristallschloss einzuladen? Würde er dort noch immer wohnen, wäre er womöglich schon irre geworden durch die ungewohnte Betriebsamkeit, die ihm sein Vater in seinen Briefen so oft schilderte. Jedoch fand Shiro diesen Zustand eher erfrischend als belastend.

Manchmal dachte er, dass es sowas wie Schicksal gewesen war und er durch sein Treffen mit Yugi auf der Duellinsel etwas in Gang gesetzt hatte. Immerhin hätte er ja auch beschließen können, sich dem Jungen nicht zu zeigen. Hätte er so entschieden, hätte er auch nicht angeboten, Darks Magier im Kristallschloss aufzunehmen, dann wäre Kuro nicht dagewesen und ihm wären vermutlich all diese Qualen erspart geblieben. Aber wenn Crimson gefragt wurde, ob er sich anders entscheiden würde, wenn er noch einmal dorthin zurück könnte, verneinte er das. Das Siegel auf seinem Rücken hatte ihn verändert, nicht nur im Bezug auf die Effektfähigkeit, die er jetzt hatte.

Rückblickend war er noch immer erstaunt, dass er den Mut gefunden hatte, sich der Hand seines Cousins und Rivalen auszusetzen, um das Bannsiegel zu einem Effektsiegel abändern zu lassen. Und noch mehr erstaunte ihn Dark, der sich das zugetraut hatte, weil er mit einer altägyptischen Seele verschmolzen war, Dank der er so etwas konnte. Dark, der Appi als Schüler angenommen hatte, obwohl der Junge als hoffnungsloser Fall galt. Dark, der das Chaos in Gestalt von Kayos, dem Sohn Sorcs, um den kleinen Finger wickeln konnte. Der schon lange eine eigene Burg besessen und geleitet hatte, und durch ihren Verlust nur vorwärts getrieben wurde. Der Crimson in einem Kartenduell gegenübergestanden und gesiegt hatte, weil er einfach den besseren Meister hatte. Dark, der immer tat, was getan werden musste, und sich dabei nicht von Furcht und Zweifeln aufhalten ließ.

Crimson seufzte und gestand sich ein, dass er Dark fast schon mehr als Vorbild sah statt als Rivalen. Konnte er mit ihm denn überhaupt mithalten oder bildete er sich das nur ein? „Es wird wohl Zeit, dass wir getrennte Wege gehen, statt dass ich dir nachlaufe...“ murmelte er.

„Direktor?“ Milla sah ihn verwundert an.

„Oh... nichts, ich war in Gedanken.“

„Vielleicht seid ihr noch nicht ganz fit,“ überlegte Legend. „Wir sollten lieber gehen. Diese Amazone wollte Euch auch noch besuchen, und wir wollen nicht Eure ganze Kraft aufbrauchen.“

Alle drei kicherten und stahlen sich davon.

Als Crimson alleine war, kam Lily und schüttelte seine Kissen auf. Dann drückte sie ihn nach hinten. „Ruh dich ruhig noch weiter aus. Wie ich sehe, geht es dir endlich besser, aber das kann täuschen. Du hattest hohes Fieber und musst langsam wieder auf die Beine kommen, also überstürze nichts.“

Crimson bewegte seine Füße. „Ich könnte doch mal kurz aufstehen und aufs Klo gehen!“

„Sag mir Bescheid, wenn es dringend wird, damit ich dir helfe.“

„Sei nicht albern!“

„Was denkst du, wer in den letzten Tagen dafür gesorgt hat, dass du ein sauberes Bett hast?“

Crimson merkte, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss. Es war wohl eine Gnade, dass er bewusstlos gewesen war, als Lily... was auch immer für ihn getan hatte.

„Außerdem muss ich deinen Zustand noch beobachten,“ fuhr die Fee fort. „Ich weiß ganz genau, dass du gleich wieder arbeiten willst, aber das kommt nicht in Frage. Also bleib brav liegen und kurier sich aus. Nach dem Mittagessen lasse ich dich eventuell etwas umherlaufen, damit deine Beine nicht einrosten.“ Sie wickelte den Verband von seiner Hand, begutachtete die verheilte Bisstelle und verzichtete auf einen neuen. „Beweg die Finger.“

Crimson machte eine Faust und öffnete sie wieder, dann wackelte er mit den Fingern einzeln hin und her. „Ganz normal. Vielleicht etwas kribbelig.“ Er runzelte die Stirn. „Es strengt ungewöhnlich an, wenn ich es länger mache...“ Und damit meinte er zehn Sekunden.

Doch Lily nickte, als wäre das ganz normal. „Die Entzündung steckt noch drin. Das gibt sich.“

„Was habt ihr mit der Schlange gemacht?“ fragte Crimson.

Lily sah ihn überrascht an. „Woher weißt du, dass es eine Schlange war? Hat Eria es dir gesagt? Ich jedenfalls war es nicht.“

„Das beantwortet nicht meine Frage!“ wich er ihrer aus.

„Wir haben sie behalten. Für den Fall, dass wir ihr Gift zur Gewinnung eines Gegenmittels brauchen. Aber anscheinend war das nicht nötig. Wir haben einen Spezialisten kommen lassen, der uns geholfen hat. Er hat auch ein passendes Terrarium gebaut.“

„Ihr habt die Schlange in einem Terrarium?“ Crimson grinste erfreut. Schlangengift war für einen Alchemisten immer schwer zu bekommen, wenn die Art nicht gerade vor der Haustür heimisch war. „Vielleicht sollte ich einen Raum nur mit Terrarien anlegen!“ überlegte er sogleich. „Ich könnte verschiedene Schlangen---“

„Ja, ja, aber jetzt wird geruht!“ beharrte Lily. „Überleg dir, ob du mir abhauen willst, du trägst nämlich nur ein Hemdchen. Üb Lichtzauber, wenn dir langweilig ist. Vergiss nicht, viel zu trinken.“ Damit zupfte sie seine Decke zurecht, füllte seinen Teebecher neu und ließ ihn hinter dem Vorhang alleine.

Crimson schloss die Augen und döste noch etwas, doch er schlief nicht mehr so richtig ein, und das war ihm auch ganz recht.

Geständnisse

Kurz vor dem Mittagessen bekam er wieder Besuch, und auf diese Person hatte er eigentlich schon länger gewartet. Es war Paladia, die inzwischen schwer an ihrem Bauch zu schleppen hatte. Zwar dauerte es noch ein, zwei Wochen, aber es hätte niemanden gewundert, wenn das Kind ungeduldig geworden wäre. Sie machten oft darüber Witze, dass es dann ja nach ihm käme.

„Hallo,“ begrüßte er sie und bemühte sich rasch, eine sitzende Pose einzunehmen.

Paladia lächelte. „Mein tapferer Magier. Ich wollte schon eher kommen, aber im Moment mache ich mir nur die Mühe eines Weges, wenn ich genau weiß, dass es sich lohnt. Gestern warst du noch so schläfrig, berichtete man mir.“

„Ja, das ist wohl wahr.“ Er betrachtete sie voller Zuneigung, hütete sich jedoch, sich zu sehr zu verlieben. Freilich konnte man das letzten Endes nicht bestimmen, aber sie würde nach der Geburt zu den Amazonen gehen, mit ihrer Tochter, wenn es denn eine wurde. Amazonen blieben oft bei dem Mann, der ihr Kind gezeugt hatte, bis klar war, wer es aufziehen würde. Zumindest verbrachten viele die letzten Wochen bei ihm, was auch den Vorteil hatte, dass er sie in diesem Zustand beschützen konnte. Sie wählten niemals einen, der dieser Pflicht nicht gewachsen war.

„Ich glaube, sie will nicht mehr lange warten,“ meinte Paladia. Sie redete immer von ihrem ungeborenen Baby, als wäre es ganz gewiss ein Mädchen, weil das Amazonenorakel es so gesagt hatte.

„Vielleicht wird es eine Magierin,“ neckte Crimson sie. „Kann ich sie dann behalten?“

Paladia warf ihm einen schiefen Blick zu. „Vorsicht mit deinen Wünschen... sie könnte bei der Schamanin lernen, wenn sie dein Talent geerbt hat. Du hast ja bereits Amazonenblut. Das ist eine gute Voraussetzung für eine zukünftige Schamanin.“

Die Kriegerin hatte wirklich für alle Fälle schon eine Lösung parat. Sie setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett, um ihre Last angenehmer zu machen. „Ich werde dafür sorgen, dass die Kleine dich stolz macht. Sieh du zu, dass ich ihr stolz von ihrem Vater berichten kann!“

Crimson lachte, wurde dann aber wieder ernst. „Über das Thema wollte ich mit dir und Eria noch reden... doch mir kam eine Schlange dazwischen.“

„Nun, dann sollten wir es auf eine andere Gelegenheit verschieben, damit du es nicht zweimal sagen musst, oder?“

„Nein... ist vielleicht ganz gut so. Vielleicht hast du eine andere Meinung dazu als sie...“ Crimson schaute die Frau, die sein Kind in sich trug, nachdenklich an. Konnte er ihr die Wahrheit sagen, in ihrem Zustand? Nachher regte sie sich noch zu sehr auf!

Doch Paladia war bereits ganz gespannt und wartete auf seine Erläuterungen.

„Also...“ Er faltete die Hände fest vor sich und starrte konzentriert darauf. Nie zuvor hatte er auf solche Art ein Geständnis über etwas abgelegt, das er wirklich ernsthaft verbockt hatte, das wurde ihm jetzt klar. „Ich habe jemandes Leben ruiniert.“

Was immer Paladia erwartet hatte, das war es nicht. Sie sagte zwar nichts, aber das bedeutete bei ihr immer, dass sie total erschrocken, überrascht, entgeistert oder alles auf einmal war.

„Als ich auf die Akademie ging, hatte ich Necromantie bei Professor Vindictus. Wir hassten ihn alle, denn er war ein hässlicher alter Zausel und sehr streng. Ich war ein bekannter Schulrüpel, oder besser gesagt, ich war ziemlich vorlaut, wusste alles besser und scherte mich wenig um Regeln – und ich war stolz drauf. Meine Freunde und ich wollten, dass Vindictus verschwand oder zumindest für einige Wochen weg blieb, doch unsere Streiche beeindruckten ihn wenig. Also dachte ich mir etwas aus, das klappen musste... Ich verbreitete das Gerücht, Vindictus würde auf kleine Kinder stehen. Soweit ich wusste, macht einen das ziemlich unbeliebt.“

Schweigen. Paladia kommentierte seine Ausführungen nicht. Ein Blick aus den Augenwinkeln zeigte ihm, dass sie gespannt lauschte, jedoch noch kein Urteil gefällt hatte.

„Es war ganz einfach,“ fuhr Crimson fort. „Ich tat natürlich so, als hätte ich das auch nur irgendwo gehört. Doch wenn man es an genug Stellen nebenbei erwähnt oder laut drüber nachdenkt, finden die Fäden zusammen und ergeben ein Ganzes, so dass es schließlich eine Untersuchung gab. Vindictus wurde beurlaubt, und mein Ziel war erreicht. Ich konnte kaum ein wissendes Grinsen im Kreis meiner Freunde verhindern. Es kam heraus, dass ich dafür verantwortlich war, weil ich meine Klappe nicht halten konnte und verpfiffen wurde. Ich machte einen auf reumütig und behauptete, dass ich wohl etwas falsch verstanden hatte, was ich auch nur gehört hatte. So als wäre das eigentlich gar nicht mein Verschulden. Ich entschuldigte mich bei Professor Vindictus und er wurde freigesprochen. Aber er gab dann doch sein Amt auf. Ich dachte mir nichts weiter dabei und war einfach froh darüber. Allerdings hatte er seinen Posten aufgeben müssen, weil die Eltern die Schulleitung bedrängt hatten, auch nachdem er von dem Verdacht befreit worden war. Dennoch... ich dachte nicht weiter darüber nach. Ich war ein Kind, das seinen Willen bekommen hatte, und ich dachte, dass er halt woanders anfangen würde.“

„Aber... das hat er nicht?“ stellte Paladia zum ersten Mal eine Frage.

Crimson schüttelte den Kopf, weiterhin seine Hände anstarrend. „Inzwischen weiß ich, dass ihm seither ein schlechter Ruf vorauseilt und er nirgends mehr als Lehrer arbeiten konnte. Und nun ist er hier, irgendwo im Schloss, um sich an mir zu rächen.“

Paladia packte seine Schulter. „Was? Er ist hier im Schloss?“

Crimson nickte deprimiert. „Schon seit einer Weile. Er hat mich mit kleinen fingierten Missgeschicken geärgert, aber ich wollte niemanden beunruhigen und habe es mit Stress erklärt, wenn mal ein Trank in der Nacht heruntergefallen ist oder so. Paladia, es wäre mir eigentlich lieber, wenn du...“

Sie hielt ihm einen Finger vor den Mund. „Du willst mich wegschicken. Aber das kannst du vergessen. Ich kann mich eh kaum bewegen, und davon abgesehen hast du Verpflichtungen mir gegenüber. Du willst mich doch nicht loswerden, hm?“

Das hatte er ja schon befürchtet. „Schon gut. Ich glaube nicht, dass er dir etwas tun will, aber... er hat angedroht, mir alles zu nehmen, was mir wichtig ist. Angefangen mit meiner Hand und meinem größten Hobby. Aber entweder hat er keinen Erfolg gehabt oder er hat geblufft. Jedenfalls hatte ich ganz schön Schiss, als er mir erzählte, dass---“

„Was?!“ Paladia unterbrach ihn schon wieder. „Er hat mit dir gesprochen?“

„Ja... woher, meinst du, weiß ich das sonst alles? Ich hab erst gedacht, ich hätte nur geträumt...“

„Ja... und nun?“

„Ich muss reagieren.“ Crimson schloss kurz die Augen, da er eine schwere Entscheidung getroffen hatte, doch noch schwerer war es, sie wirklich auszusprechen und anzugehen. „Olvin – so nennt sich Vindictus jetzt – wirft mir vor, dass ich sein Leben ruiniert habe. Seinen Ruf, seine Familie, seinen Beruf, seine Freunde, seine Gesundheit. Ich muss ihm das alles irgendwie zurückgeben und ihn für die zehn Jahre entschädigen.“

„Aber wie soll das denn gehen?“ zweifelte Paladia. „Du kannst deinen, hm... Fehler von damals nicht wieder rückgängig machen.“

„Stimmt. Also muss ich dafür zahlen, so dass Olvin zufrieden ist. Zuerst werde ich an die Akademie schreiben, vielleicht auch selber hinfliegen, und... die Sache aufklären. Dann sage ich es meinem Vater, ehe er es von woanders erfährt, und... aber sag mal, bist du gar nicht enttäuscht von mir?“

Paladia strahlte ihn an und setzte sich sehr gerade hin. „Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin sehr stolz auf dich, weil du dich dieser Sache stellst. Wir Amazonen suchen uns einen Mann aus, indem wir bewerten, was er heute ist... nicht, was er einmal in einem Anflug von kindlicher Dummheit getan hat. Kann ich dir denn irgendwie helfen?“

„Nicht so wirklich. Ich möchte lieber, dass du auf dich aufpasst.“

„Nun gut... Aber ich verlasse das Schloss nicht.“

Damit musste Crimson sich dann wohl abfinden. Vielleicht war es auch nicht nötig, sich um sie Sorgen zu machen. Jedenfalls hätte er so empfunden, wenn sie nicht schwanger gewesen wäre, so aber sorgte er sich quasi doppelt.

„Ich veranlasse, dass dir Schreibzeug gebracht wird,“ entschied die Amazone schließlich. „Dann kannst du während deines Aufenthaltes hier etwas Sinnvolles tun.“

Der Weißhaarige grummelte vor sich hin, schließlich wäre er lieber entlassen worden. „Lass mir auch vernünftige Klamotten bringen.“

„Du besitzt doch eh keine Nachtgewänder.“

„Hey, du weißt genau, was ich meine!“

Doch die Amazone gab ihm galant einen Kuss auf die Stirn und entfernte sich, wobei sie ihren Bauch festhielt. „Ich besuche dich bald wieder. Hoffentlich ist dieser Zustand bald vorbei, ich hab das Gefühl, ich würde immer einen Rucksack vor mir her tragen! Dein Balg ist wirklich schwierig - jetzt schon, haha!“

Crimson sah ihr nach und lächelte. Momentan war er sehr zufrieden mit seinem Leben – es wäre bedauerlich, sollte sich daran etwas ändern.

Er ruhte noch ein wenig und nickte kurz ein, und als er wieder aufwachte, hatte ihm jemand das versprochene Schreibzeug gebracht. Da hatte er wohl den Besucher verpasst, aber er machte sich nicht weiter Gedanken darüber, sondern setzte sich an den Rand des Bettes und schrieb auf dem Nachttisch. Es wurde der geplante Brief an Silentia. Nur musste er mehrmals von vorne beginnen oder sich korrigieren, bis er alles in der gewünschten Form hatte. Er wollte sachlich klingen und keine Ausreden auftischen, zugleich aber irgendeine Erklärung liefern... Letztendlich entschied er, sich auf die Fakten zu konzentrieren und sein Bedauern auszudrücken. Vermutlich würde eine Bitte um Erklärung von selbst kommen.

Im Anschluss schrieb er noch eine kurze Notiz an seinen Vater, den er lediglich bat, schnellstmöglich zu Besuch zu kommen. Mit ihm wollte er lieber selbst reden und ihm die Angelegenheit erklären. Darauf freute er sich nicht, doch er wusste, dass er sich auf seinen Vater verlassen konnte. Bestimmt würde er so ähnlich reagieren wie Paladia – hoffte Crimson wenigstens.

Er rollte seine beiden Schreiben zusammen, versiegelte sie und wartete auf jemanden, dem er sie geben konnte. Indessen fiel sein Blick wieder auf den Brief von Yugi. Der war unbeachtet liegen geblieben, er hatte ihn sich quasi als Belohnung aufgehoben, und nachdem er jetzt die unangenehmere Aufgabe erledigt hatte, widmete er sich dem Schriftstück.

Crimson riss den Umschlag auf. Eine Duel Monsters Karte fiel heraus. Sie zeigte den „Crimson Magician“, Crimsons Effektvariante. Er hob staunend die Augenbrauen. Darum würde man ihn sicherlich beneiden! Welches Duel Monster konnte schon von sich behaupten, seine eigene Karte zu besitzen? Er wollte den dazugehörigen Brief lesen, aber er wurde unterbrochen.

„Crimson! Crimson, kannst du aufstehen? Du musst schnell kommen!“ Eria kam hinter den Vorhang gehuscht. „Da ist ein Typ, der sein Schloss zurückhaben will!“

Er blinzelte verwirrt. „Wie... zurückhaben...?“

„Geh lieber gleich hin,“ beharrte seine Schülerin. „Hier... ich hab dir Kleidung mitgebracht.“

Crimson ließ sich vorsichtig vom Bett auf die Füße rutschen. Schien kein Problem zu sein, doch kaum hatte er das Bett verlassen, kam Lily wie ein Taifun über ihn.

„Was denkst du, was du da tust? Du kannst noch nicht aufstehen, das ist zu riskant!“

„Du kannst ja mitkommen und über meine Gesundheit wachen.“

„Ich warne dich, ich werde dir eine Injektion verpassen, die dich für drei Tage kaltstellt!“

„Das wäre Missbrauch deines Amtes. Ich gehe auf eigenen Wunsch, Lily, also kannst du nicht verantwortlich gemacht werden, wenn etwas passiert.“ Crimson hatte sich die rote Robe übergezogen, die Erya ihm gebracht hatte, und trug einen passenden Spitzhut dazu, der vorteilhafterweise verbarg, dass sein Haar ganz strähnig war. Die Kleidung sah sehr viel schulmeistermäßiger aus als sein Kartenoutfit. Er fühlte sich ausgelaugt, obwohl er die ganze Zeit geruht hatte, aber das lag wohl daran, dass sein Körper sich noch von dem Gift erholte. Da Eria das auch wissen musste, nahm er ihr Drängen ernst. Sie würde ihn nicht aufscheuchen, wenn es nicht notwendig wäre.
 

Seine Schülerin führte ihn zum Haupttor. Dort befand sich Mava in einem Gespräch mit zwei Herrschaften, denen er höflich den Einlass verweigerte.

„... weswegen ich erst den Direktor fragen muss, ob das... oh! Da ist er ja. Crimson, komm doch mal eben...“ Mava hatte sich ihm zugewandt und musterte ihn kurz von oben bis unten. Wahrscheinlich fragte er sich gerade, ob sein Boss dem Anlass gewachsen war. Vor den Fremden ließ er sich aber nichts anmerken, ebenso wenig wie Crimson selbst.

Der Magier begrüßte die Besucher. „Willkommen. Ich bin Crimson, der Direktor dieser Schule. Wie kann ich---“

„Dies ist ein Ort der Ruhe und Entspannung, keine Schule!“ fiel ihm die junge Frau ins Wort. Sie war weißhaarig und wirkte würdevoll... wenn auch etwas zickig. „Ich fordere Euch auf, meinem Vater sein Eigentum zurück zu geben!“

Crimsons Blick wanderte zu dem älteren Herren, der ebenfalls weißhaarig war, in seinem Fall lag das aber wohl am Alter.

„Verzeiht meiner Tochter, sie ist etwas übereifrig, weil sie sich um mich sorgt. Ist es wohl möglich, dass wir diese Sache drinnen klären?“ Der Mann sprach mit der ruhigen Besonnenheit eines lebenserfahrenen Menschen.

Crimson nickte respektvoll und trat symbolisch zur Seite, denn eigentlich war die Toröffnung so breit, dass er sie kaum mit seinem Körper versperren konnte.

„Catherine!“ rief der Mann plötzlich.

„Hey!“ Crimson war überrumpelt und fand das außerdem ziemlich unhöflich, denn sein Gast hatte sich noch nicht einmal vorgestellt.

Zu seinem Verdruss erschien der Geist des Schlossherzens sogleich. Doch Catherines Worte schlugen dem Fass den Boden aus: „Meister! Endlich kehrt Ihr zurück! Oh, ich war so lange ohne Eure Führung! Dieser Rüpel, der mit seiner Meute hier eingefallen ist...“

„Ähem.“

Der Geist hörte auf, auf den Besucher einzuplappern, und wandte sich ihm zu. „Oh... ja natürlich, ähm... Meister,“ sagte er deutlich widerstrebend zu Crimson.

„Mein Vater ist der rechtmäßige Besitzer! Verlasst diesen Ort!“ rief die Frau.

Crimson hob die linke Hand, auf deren Fläche man ein sternförmiges Muster erkennen konnte, das eine stilisierte Blüte darstellte. „Ich glaube, ich habe da die aktuelleren Rechte!“

Der Mann zeigte ebenfalls seine linke Handfläche, wo, etwas verblasst vielleicht, eben dieses Zeichen zu sehen war. „Aber ich die älteren.“

„Bei Schlossherzen kommt es aber nicht darauf an, wer zuerst da war, sondern wer zuletzt!“

„Übrigens, ich bin Mava, Lehrer für Effektmagie,“ mischte der andere Magier sich in diesem Moment ein. „Wollen wir nicht alle höflich zueinander sein?“

Der ältere Herr räusperte sich. „Verzeihung. Ich bin Sirius, bekannt als Weiser der Stille. Dies ist meine Tochter Barbarella.“

Crimson hatte seinen Namen schon gesagt und gedachte das nicht zu wiederholen. „Und Euch hat einst dieses Schloss gehört. Fein, aber die Dinge ändern sich. Ich habe einen legalen Anspruch erhoben!“

„Meister Sirius hat sich im Gegensatz zu Euch nicht davor gescheut, mir völlig zu vertrauen!“ bemerkte Catherine. „Er hat jahrelang gut für mich gesorgt. Ich habe Euch ja so vermisst, Meister...“

„Cathy, wen nennst du hier Meister?“ motzte Crimson. „Ich bin jetzt dein Meister. Also benimm dich auch so!“

Der Geist seufzte theatralisch. „Jaaaa, *Meister*. Sollten wir den Gästen nicht Quartiere für die Nacht zuweisen?“

Welch auffälliger Eifer. Crimson nickte jedoch. „Ja, sollten wir wohl, nachdem sie so einen langen Weg gekommen sind. Mava, würdest du dich bitte darum kümmern?“

„Aber ich könnte auch...“ begann Catherine, doch Crimson brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

„Hier entlang, bitte,“ forderte Mava die Gäste auf.

Sirius bedankte sich und folgte, doch Barbarella warf Crimson noch einen ziemlich grimmigen Blick zu. Schade um das hübsche Gesicht, solch ein Ausdruck sah nicht schön darin aus.

Als die drei außer Sichtweite waren, schloss der Weißhaarige das Tor von innen und lehnte sich dagegen. Wie kam das nur, dass diese Leute gerade jetzt hier auftauchten? Schließlich wohnte er hier seit gut acht Monaten, warum also jetzt erst? Andererseits... das konnte schon sein, immerhin verbreiteten sich Informationen ja nicht immer schnell im Schattenreich. Aber dennoch, warum hatten sie das Schloss nicht von Sorc zurückgefordert?

Cathy war noch da. Crimson überlegte, ihn zu fragen, doch er wollte nicht neugierig erscheinen und ließ es deshalb sein. „Danke, Cathy, das war dann alles,“ entließ Crimson den Geist, der dann auch sofort verschwand. Crimson fühlte sich noch ausgelaugter als zuvor. Zweifellos hatte Olvin etwas mit der Sache zu tun. Aber nun konnte er auch gleich die Situation nutzen und mit Eria reden, die von den Besuchern gar nicht beachtet worden war. „Komm, gehen wir in meinen Turm. Ich muss dir etwas sagen.“

„Ja, Meister... aber du siehst schlecht aus, wäre es nicht besser, zurück auf die Krankenstation zu gehen? Lily wollte dich eh noch nicht gehen lassen...“

Er zog das ernstlich in Erwägung. Schließlich musste er zu seinem Turm etliche Stufen erklimmen, und dafür fühlte er sich irgendwie nicht so recht in der Lage. Um sich diese Verlegenheit zu ersparen, stimmte er ihr seufzend zu. „Na gut, aber ich schlafe heute nicht mehr da! Das wäre ja auch ein gefundenes Fressen für diese Besucher, wenn der Schlossherr bettlägerig wäre! Mist, wir müssen denen auch noch ein vernünftiges Essen anbieten...“

„Müssen wir gar nicht,“ beruhigte Eria ihn. „Sie werden essen, was wir alle essen, und zwar in dem Esszimmer, das wir alle benutzen. Deine Schüler und Lehrer kümmern sich schon darum, mach dir mal keine Sorgen. Hat doch in den letzten Tagen auch alles geklappt.“

Also ließ er sich wieder bei Lily abliefern, die sofort um ihn herumflatterte, als hätte er gerade einen Ohnmachtsanfall oder so etwas gehabt. Er musste sich wieder ein Hemdchen anziehen und in sein Bett kriechen, da ließ sie sich nicht erweichen. Da er sich noch an ihre Drohung erinnerte, ihm ein lange anhaltendes Schlafmittel zu injizieren, fügte er sich auch brav.

„Ich muss nachher aber unbedingt am Abendessen teilnehmen,“ wagte er dann doch noch einzuwenden.

„Ja, ja, aber erstmal gibt es Mittag. Du musst essen,“ wandte Lily ein. Das Essen war auch schon da und stand an seinem Nachttisch bereit.

„Mava wird dem Besuch sicherlich eine Kleinigkeit geben, aber davon abgesehen kennen die sich doch hier aus und wissen, wo die Küche ist,“ meinte Eria.

„Verdammt, jemand muss Dharc und die anderen warnen!“ fiel es Crimson ein.

„Ich gehe schnell und komme dann gleich wieder,“ erbot sich Eria. „Du wolltest mir ja noch etwas sagen.“

„Ja...“ Crimson nickte, ließ sich von Lily das Mittagessen aufdrängen und fügte sich fürs Erste. Der Nachteil, wenn man alleine mit seinem Vater in einem Schloss lebte, war, dass man fast alles alleine machen musste. Das war auch kein Problem, schließlich waren dann ja nicht viele Leute zu versorgen. So war Crimson es sein ganzes Leben lang gewöhnt gewesen, und es fiel ihm deshalb immer noch schwer, einfach mal andere machen zu lassen. Er hatte das Gefühl, dass nichts klappte, wenn er es nicht selbst tat, dabei hatte er in den letzten Monaten durchaus gemerkt, dass er kompetente Leute um sich hatte. Er rief sich das wieder in Erinnerung und zwang sich, für den Moment einmal loszulassen.
 

Eria kehrte bald zurück, blieb an seiner Seite und wartete, bis er fertig war mit Essen, bis Lily außer Hörweite war und bis er bereit war, ihr zu erzählen, was er auf dem Herzen hatte. Er berichtete es so, wie er es auch Paladia gesagt hatte.

Anders als die Amazone schien das Mädchen diese Informationen nicht so einfach wegzustecken. Sie hatte immer zu ihm aufgesehen und sogar seine Streiche aus der Schulzeit bewundert. Doch nun... Crimson vermutete, dass sie von ihm enttäuscht war, weil sie in ihm einen mysteriösen Rebellen gesehen hatte, jemanden, den andere sich zum Vorbild nahmen, um gegen die allzu strengen Regeln zu protestieren. Er war ihr Held aus dem Kerker, der Anführer des Kettenbundes und ihr ganz persönlicher Lehrmeister. Und nun hatte er einen schlimmen Makel. Sie schwieg lange, während sie darüber nachdachte.

„Dieser alte Magier ist also hier im Schloss und will Rache?“ hakte sie schließlich nach.

„Ja, aber du und die anderen seid nicht in Gefahr,“ versicherte er ihr schnell und war überrascht, wie überzeugt er davon war. Olvin wollte ihn ruinieren, aber die Kinder hatten nichts damit zu tun.

„Glaubst du, dass er auch diesen ehemaligen Besitzer von Cathy gegen dich aufgewiegelt hat?“

„Kann gut sein.“

„Und er hat die Schlange in deine Kräuterlieferung getan.“

Crimson nickte. „Er besuchte mich in der einen Nacht und spottete über mich. Behauptete, ich würde meine Hand verlieren. Aber wahrscheinlich wollte er mir damit nur Angst machen.“

„Deshalb hast du mich an dem Morgen gefragt... du hast mich gefragt, was nötig wäre, damit ich jemandem verzeihe, der mir etwas Schlimmes angetan hat...“ Eria hielt sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Schluchzen. Sie hatte Tränen in den Augen, und Crimson zerriss der Anblick fast das Herz. „Deshalb warst du immer so zerstreut... das war kein Stress wegen der Schulgründung, sondern wegen ihm!“

„Ich weiß erst seit kurzem, dass er es war. Eria, es... es tut mir Leid, ich wollte nicht... Ich wollte dir keine Angst machen, aber du solltest es auch nicht von jemand anderem erfahren. Diese Geschichte ist die Folge eines schweren Fehlers aus meiner Jugend... ich werde die Sache irgendwie klären, mach dir keine Sorgen...“

„Mache ich mir aber!“ rief sie und erschreckte den Weißhaarigen damit richtig. „Meinst du, ich sorge mich nicht um dich? Ich habe in den letzten Wochen gesehen, wie schlecht es dir ging, und konnte gar nichts machen. Jetzt erfahre ich, dass dich so ein Typ ruinieren will und damit anscheinend ganz gut voran kommt. Da soll ich mir keine Sorgen machen? Selbst wenn du das in Ordnung bringen willst, wer weiß, was er dir bis dahin noch alles antut! Und vor allem... wie stellst du dir das vor? Was willst du denn machen, damit er zufrieden ist?“

Crimson starrte entgeistert in ihre großen Augen, die keineswegs abweisend waren. Zumindest das musste er positiv sehen. Sie war nicht wütend auf ihn oder enttäuscht von ihm, jedenfalls nicht vorrangig. Statt dessen machte sie sich Sorgen. „Ich, uhm, hab mir schon was überlegt,“ wich er ihrer Frage und ihrem Blick aus.

„Aber... aber was denn bloß? Crimson... du... hast keine Dummheiten vor, oder? Ich meine... du hast sein Leben ruiniert, wie in aller Welt willst du *das* klären?“ Das Mädchen legte ihre Hände an beide Seiten seines Gesichts und nötigte ihn, ihr in die Augen zu sehen. „Sag mir, dass du nichts Dummes vorhast!“

„Etwas Dummes? Das ist Ansichtssache, wie du weißt.“

„Das beantwortet nicht meine Frage!“ Sie stampfte unwirsch mit dem Fuß auf. Die kleinen Tränen, die zuvor nur in ihren Augen geglitzert hatten, rannen nun ihre Wangen herab. „Ich will nicht, dass er... dass er dir alles kaputt macht! Und ich bin auch voll enttäuscht...“

Ah, jetzt kam es. Crimson war nicht sicher, ob er damit klarkam. „Ähm... das verstehe ich, Eria. Ich bin kein besonders gutes Vorbild, und vielleicht---“

„Nein!“ unterbrach sie ihn. „Das meine ich nicht. Ich bin von mir selbst enttäuscht. Weil, naja, weil... ich dich immer so cool fand, als ich erfahren habe, was du alles angestellt hast. Aber das war falsch, glaube ich...“ Ihre Hände hatten inzwischen von seinem Gesicht abgelassen, ruhten dafür auf seinen Schultern.

„Ja, war es wohl,“ entgegnete er zögerlich. „Doch es wäre an mir gewesen, dich zu ermahnen. Naja... im Prinzip war alles, was ich gemacht habe, ganz witzig... nur habe ich es in dieser einen Sache übertrieben. Wenn man jemanden wirklich so nachhaltig schädigt, hört der Spaß auf. Zu meiner Schande begreife ich das erst jetzt.“

Eria runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich finde das andere aber immer noch cool. Schließlich sind die auf der Akademie ganz schöne Spießer.“

Crimson setzte eine strenge Mine auf. „Du darfst solchen Rüpeln nicht nacheifern, hörst du?“

„Wer sagt denn, dass ich jemandem nacheifern will... ich finde es nur cool,“ grinste sie.

Doch sogleich wurden beide wieder ernst. Crimson nahm die Schriftrollen vom Nachttisch. „Jemand müsste diese beiden Botschaften überbringen. Kannst du dich darum kümmern?“

Das Mädchen nahm die Briefe stolz entgegen. „Du kannst dich auf mich verlassen! Oh, an die Akademie? Und an deinen Vater...“

„Ja... es wird Zeit, die Wahrheit bekannt zu machen.“

„Aber... das könnte deinen Ruf ruinieren! Deine Schule...“

„Olvin möchte sowieso meinen Ruf ruinieren. Da mache ich es lieber selbst. Ich habe mich nie mit Kleinkram zufrieden gegeben, Eria. Also werde ich diese Sache auf Gedeih und Verderb durchziehen. Auf diese Weise bestimme wenigstens ich die Regeln.“ Naja, bis zu einem gewissen Grad zumindest, fügte er in Gedanken hinzu.

„Das ist... sehr mutig,“ musste seine Schülerin zugeben. „Ich werde gleich aufbrechen, aber eventuell übernachte ich im Kristallschloss. Schon weil ich da jede Menge Bekannte wiedersehen kann, und außerdem wird es sonst zu spät.“

„Ja, das ist mir Recht. Sei vorsichtig.“

Eria nickte, drehte sich um und schritt rasch hinaus, nicht ohne ihm vorher noch ein ermutigendes Lächeln zu schenken.

Kernfusion auf Schattenreichart

Ob und wie Sirius und Barbarella etwas zu essen bekamen, ehe es Abendbrot gab, erfuhr Crimson nicht. Er fragte auch nicht, aber zweifellos hatte sich Cathy darum gekümmert. Vielleicht hatten die zwei auch vor ihrer Ankunft noch etwas gegessen – schließlich konnte man nicht mit höflicher Bewirtung rechnen, wenn man jemandem sein Heim abspenstig machen will. Wessen Heim das nun letztendlich war, blieb noch zu klären.

Die Schüler deckten für das Abendessen den Tisch in einem Klassenraum nahe der Küche, den sie als Esszimmer umfunktioniert hatten. Eigentlich waren es mehrere Tische, aber sie hatten alle zu einer Fläche zusammen geschoben, und mit einer Tischdecke darauf sah es aus wie eine große Tafel. Dennoch war es natürlich nichts Besonderes, jedoch sehr praktisch weil nahe bei der Küche.

Crimson hatte sich ein Bad gegönnt und fühlte sich gleich viel besser. Auch hatte er sich etwas Beeindruckenderes angezogen, nämlich sein Standard-Kartenkostüm ohne die Schulterpolster und den Hut. Darin kam er sich immer selbstsicherer vor als in den lockeren Roben, die er manchmal bevorzugte, wenn kein Besuch da war. Amüsiert stellte er fest, dass auch die Schüler sich etwas zurechtgemacht hatten. Alle Haare waren ordentlich frisiert und die Kleidung sauber und dem Anlass angemessen, also nicht zu schluderig. Wenn niemand sonst im Schloss war, verlangte er normalerweise keine besondere Kleidung, schließlich war das alles hier noch sehr familiär.

Lily trug ein nettes rosa Kleidchen und keinen Kittel, so dass sie wesentlich freundlicher wirkte. Sie stellte ihre Notfalltasche hinter ihren Stuhl. Außerdem saß sie neben Paladia, die im Moment ein Umstandskleid trug und nur bedingt als Amazone zu erkennen war.

Mava hatte seine dunkle Robe an und trug deutlich sichtbar den Armreif „Kraft der Magie“ sowie einen Schwarzen Anhänger. Er hatte sein blondes Haar streng in einen Zopf gebunden und die Punkte auf seiner Stirn sahen dunkel aus wie Blutstropfen. Man konnte glatt Angst kriegen.

Nur Onkel Kuro scherte sich nicht um die Gäste. Er trug eine alte Robe, die aussah, als hätte er sie seit seiner Jugend besessen: ausgeblichen, mehrfach geflickt und trotzdem an ein paar Stellen zerschlissen. Aus seinem Nackenzopf hingen zahlreiche dünne Strähnen heraus, und sein Bart war mindestens drei Tage alt.

Die Gäste kamen zuletzt dazu. Crimson hatte Cathy geschickt, nur um zu zeigen, dass er es konnte. Natürlich ergab sich dadurch die Möglichkeit für Sirius, sich eingehender mit dem Schlossherz zu unterhalten, aber das kam ja nicht darauf an, schließlich befolgte der Geist eifrig jeden seiner Rufe.

Sirius und Barbarella hatten sich in protzige Seidengewänder geworfen, er in Blau, sie in Blassrosa. Die Zicke warf Kuro abwertende Blicke zu, die der Magier gekonnt ignorierte. Die Schüler betrachtete sie hochnäsig, und als das Essen gebracht wurde, rümpfte sie die Nase.

Ihr Vater gab sich höflich und zurückhaltend, jedoch fand Crimson ihn auf diese Weise trotzdem arrogant, was aber seine Einbildung sein mochte, weil er den Kerl nicht leiden konnte. Man hatte immer den Eindruck, als stünde der alte Mann über den Dingen, während seine Tochter keinen Hehl daraus machte, was sie dachte.

Dharc hatte ein Brot gebacken und hatte die Ehre, es zu zerteilen und jedem ein Stück zu geben. Davon waren auch die Gäste nicht ausgenommen.

„Ich hoffe, der Bengel hat sich die Hände gewaschen,“ flüsterte Barbarella Sirius zu, jedoch hatte man nicht den Eindruck, dass sie sich bemühte, besonders leise zu sein.

Dharc beachtete sie nicht, und auch sonst ging niemand darauf ein. Aber er lief leicht rot an.

„Das Brot ist dir heute gut gelungen,“ sagte Crimson in die entstehende Stille. „Wer hat den Eintopf gekocht?“

„Das war ich,“ meldete sich Legend. „Das Rezept stammt von einem Wüstenvolk, das ich kenne. Aber ich musste ein paar Zutaten abändern.“

„Ich maaaag keine Suppe!“ plärrte Rosi.

„Kann ich verstehen,“ murmelte Barbarella. „Hast du sie zum ersten Mal gekocht, junger Mann?“ Sie stocherte mit dem Löffel verächtlich in ihrer Schale herum.

Doch Legend setzte sein schmalzigstes Macho-Lächeln auf. „Gewiss doch, extra für Euch. Aber es ist Eintopf, keine Suppe. Der Mann, von dem ich das Rezept habe, besteht darauf. Er schärfte mir ein, dass die Palmwurzeln nur dann richtig zur Geltung kommen, wenn sie zuvor durch den Verdauungstrakt eines Feuerdrachen geschleust wurden. Das mag sich unappetitlich anhören, aber es gibt keine kostbarere Delikatesse! Sie kommen in einem durchgegarten Zustand wieder heraus, der leicht vergoren schmeckt, ähnlich wie Wurzelbier. Man muss sie nicht einmal waschen!In Kombination mit getrockneten Kamelhoden und gemahlenem Skorpionpanzer ergibt sich eine sämige Konsistenz und ein würziger... Oh, Mylady, ist Euch nicht gut?“

Barbarella war aufgesprungen und strebte eiligst zur Tür, die sie dann hinter sich zuschlug. Man konnte auf die Schnelle nicht erkennen, ob sie einfach nur beleidigt oder angewidert war.

Kuro leerte schlürfend seine Schale, die er gerade an den Mund gesetzt hatte. Paladia nahm sich Nachschub und hielt sich aus der Diskussion heraus, verfolgte sie aber aufmerksam.

„Was sind Kamelhoden?“ fragte Rosi. „Und darf ich gleich den Nachtisch haben?“

„Öhm... ein besonderes Stück Fleisch,“ erklärte Veiler ausweichend und stellte der Kleinen schnell etwas Pudding hin, worauf sie das Thema auch gleich vergas.

Sirius hatte beim Essen innegehalten. „Das war gewiss nicht Euer Ernst... nicht wahr?“

„Oh... natürlich nicht,“ lächelte Legend. „Entschuldigt, ich habe mich vertan. Selbstredend bekommen wir hier keine Kamelhoden, nicht einmal getrocknet. Statt dessen habe ich gemahlene Hörner des Siebenfarbigen Fisches genommen. Die kommen hier häufig vor.“

Sirius blickte auf seine Suppe, dann wieder zu Legend, als überlegte er, ob er das alles glauben sollte. Alle sahen ihn gespannt an. Er wirkte jedoch nicht so, als würde ihm demnächst schlecht werden, nur so, als hätte er keinen Hunger mehr.

„Noch Brot?“ fragte Dharc.

Sirius erhob sich. „Danke, aber ich sehe lieber mal nach Barbarella.“

Das tat er. Die Gruppe wartete, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte. Mava machte eine Geste für einen Stillezauber, und die Anwesenden brachen kollektiv in lautes Gelächter aus. Sogar Rosi, die nicht ganz hatte folgen können, freute sich, weil sie die beiden vertrieben hatten.

„Psst, seid mal still!“ mahnte Kuro sie und schlich zur Tür, die er leise und vorsichtig ein paar Zentimeter öffnete.

Crimson, Mava, Legend und Veiler quetschten sich zu ihm an den Türspalt.

Die Besucher waren nicht mehr in Sichtweite, aber die Gänge trugen ihre Worte schallend herbei.

„Kind, die haben dich garantiert veralbert. Ich war in Wüstengegenden, aber nirgends kam mir solch ein Gericht unter. Bestimmt ist es nur Gemüsesuppe,“ war Sirius' Stimme zu vernehmen.

Die von Barbarella war noch höher als sonst. „Diese unappetitlichen Leute! Von Gastfreundschaft keine Spur! Sieh bloß zu, dass du die loswirst! Wenn das eine Schule sein soll, dann für Penner, die nichts anderes finden!“

„Beruhige dich bitte. Schon bald ist alles wieder wie früher, aber bis dahin müssen wir uns unauffällig verhalten.“

„Ui, das hätte er ihr eher sagen sollen,“ kicherte Mava im Flüsterton. „Was bitte ist an dem Verhalten denn unauffällig?“

„Wenn das ihr unauffälliges Verhalten ist, frage ich mich, was dann bei ihr normal ist,“ lästerte Legend. „Aber auf jeden Fall ist sie wohl auch nicht gerne zur Schule gegangen.“

„Ach naja, nur weil sie *diese* Schule nicht mag, heißt das nicht, dass sie ungerne zur Schule ging. Bestimmt war sie ne Streberin!“ entgegnete Veiler.

„Sie haben hier alles runtergewirtschaftet!“ beschwerte Barbarella sich jetzt weinerlich. „Schon allein die Grünanlagen...!“

„Die hätte sie mal sehen sollen, *bevor* wir sie instandgesetzt haben,“ murmelte Kuro verärgert.

„Echt mal, das war doch alles Sorc!“ beschwerte sich auch Crimson.

Sirius beschwichtigte seine Tochter erneut. „Liebes, hab noch etwas Geduld. Schon morgen sieht das alles ganz anders aus.“

„Morgen? Was soll sich denn bis dahin ändern?“ zischte Crimson.

„Schließ lieber dein Zimmer ab,“ schlug Mava vor. „Vorsichtshalber.“

Sie hörten Schritte, die sich entfernten, dann erschien Sirius' Schatten auf dem Gang und sie sprangen von der Tür weg und zu ihren Plätzen. Der Mann gesellte sich wieder zu ihnen, entschuldigte sich vielmals für seine Tochter und aß auch noch etwas – aber nicht von der Suppe.

Das Gespräch wurde dann recht merkwürdig, jedenfalls wenn man bedachte, was sie vorher mit angehört hatten. Sirius fing nämlich an, höfliche Konversation zu betreiben.

„Direktor Crimson...“ wandte er sich an den Magier. „Wie seid Ihr auf den Gedanken gekommen, eine Schule zu eröffnen? Ich dachte immer, es gäbe bereits eine Magierschule, die Akademie...“

Sofort hagelte es vielstimmige, abwertende Kommentare von allen Seiten.

„Sie bereiten einen nicht richtig auf das Leben vor!“ schimpfte Dharc. „Man lernt da nur ungefährliche Sachen, als ob ein eventueller Feind später mal darauf Rücksicht nimmt...“

„Viel zu theoretisch alles,“ nickte Legend eifrig. „Und sie fördern den Einzelnen nicht genug.“

„Die Regeln sind nicht nur streng, sondern richtig spießig,“ grummelte Milla.

„Ein bisschen mehr Toleranz wäre auch nicht schlecht, Feen scheinen da nicht gerne gesehen zu werden. Jedenfalls ließen manche Lehrer das durchblicken, finde ich,“ sagte Veiler.

„Naja, du siehst schon sehr wie eine Fee aus,“ stellte Sirius freundlich fest. „Das ist natürlich noch lange kein Grund, dich zu diskriminieren! Und ich würde sagen, Regeln sind notwendig, das werdet ihr hier auch noch merken, wenn es mehr Schüler werden. Dann kann man sich auch nicht um jeden einzeln kümmern, dafür ist ja ein persönlicher Lehrmeister da. Der kann euch dann auch die gefährlichen Sachen lehren. In einer Schule mit vielen Kindern ist das schwierig zu schaffen, einfach zu riskant...“

Seine Argumentation war ganz schlüssig, und zweifellos waren die Einwände der Schüler auch auf ihre eigenen schlechten Erfahrungen und persönlichen Meinungen zurückzuführen. Und er verpackte seine Entgegnung sehr geschickt, deutete an, dass es hier bald auch nicht besser sein würde... ob nun absichtlich oder zufällig.

„Ich hab's aus Trotz gemacht,“ beantwortete Crimson die Frage ganz ehrlich. „Und ich nehme alle, die an der Akademie nicht klarkommen, gar nicht erst dort aufgenommen werden oder von dort verwiesen werden.“ Sollte der Typ doch gleich wissen, woran er war. Manchmal war Ehrlichkeit nicht der geschickteste Weg, aber er wollte Sirius zu verstehen geben, dass er nicht so einfach einzuschüchtern sein würde.

Für einen Moment war der alte Herr wohl sprachlos, doch das ging schnell vorbei. „So, aus Trotz. Aber ist das ein guter Grund? Habt Ihr Euch nicht vielleicht übernommen? Ihr seid noch ziemlich jung. Anscheinend mangelt es Euch noch an Lehrern...“ Sein Blick schweifte am Tisch umher, als wäre er unschlüssig, wen er alles zum Kollegium zählen sollte. Kuro wurde von ihm kaum beachtet, vermutlich hielt er ihn für den Gärtner. Mava hatte er ja schon bei seiner Ankunft kennen gelernt. Da Paladia nicht neben Crimson saß, sondern neben Lily und Milla, war auch nicht zu erkennen, welche Funktion sie hier hatte oder zu wem sie gehörte.

„Dass nicht viele Lehrer da sind, ist in diesem Stadium noch ganz normal,“ blockte Crimson den Einwand ab. „Aber es sind auch noch nicht viele Schüler, somit kommen wir noch gut klar. Wieso fragt Ihr, Sirius, wollt Ihr Euch bewerben?“

„Nein, nein,“ winkte der Mann sofort ab. „Ich bin zwar auch ein Magier, aber unterrichten wäre in meinem Alter nichts mehr für mich.“

„Oder gefallen Euch die Schüler nicht?“ wollte Mava wissen. „Es sind schließlich alles Kinder, die man vielleicht als Problemfälle bezeichnen könnte.“

„Das müsste er ja von seiner Tochter kennen,“ gab Paladia erstmals ihren Kommentar dazu, und alle unterdrückten ein Lachen.

Sirius nahm es gelassen. „Nun... sie ist nicht ganz einfach, aber Barbarella ist eben eine ehrgeizige Frau. Sie ist in diesem Schloss aufgewachsen und hat eigentlich schon Pläne dafür gehabt. Wir haben beide so viele Erinnerungen an früher... und nun ist sie natürlich enttäuscht, weil sich hier einiges verändert hat, dass müsst Ihr ihr verzeihen.“

„Ach... naja, das verstehe ich natürlich.“ Crimson hatte einen ganz leicht ironischen Unterton in der Stimme. Was gab es daran zu verzeihen, dass das Frauenzimmer sich erinnerte? Sollte sie doch. Jedenfalls ließ sich Crimson nicht weichkochen. Er vermutete, dass Sirius ein bisschen an sein Mitgefühl appellierte, um sein Schloss zurück zu bekommen, aber da war er bei ihm falsch. Ganz im Gegenteil, er redete sich praktisch um Kopf und Kragen, denn Crimson fand es unverzeihlich, dass die zwei für ein Schloss, an dem sie angeblich so sehr hingen, nicht heftiger gekämpft hatten.

Kuro hatte aufgegessen und erhob sich. „Also mir hat's geschmeckt. Kinder, wenn ihr auch fertig seid, räumt ihr bitte ab?“

„Milla und ich machen das,“ sagte Legend und tat ausnahmsweise mal nicht so, als wollte er sie dabei vernaschen. Alle fingen an, die Schalen und Teller zu stapeln.

Kuro wandte sich nun an Sirius. „Mein lieber Kollege,“ sprach er ihn ernst an. „Wie es scheint, ist mein Neffe zu höflich, um Euch seine Meinung zu sagen. Aber merkt Euch meine Worte: Wenn Euch dieses Schloss so viel bedeuten würde, wie Ihr behauptet, wäre es nicht in die Hände eines Eroberers gefallen. Wenn Ihr glaubt, dass Ihr es von Crimson einfach wieder zurückfordern könnt, dann täuscht Ihr Euch. Er hat Verantwortung für diese jungen Leute und kann nicht einfach davon zurücktreten.“

Sirius erhob sich ebenfalls, um mit Kuro auf einer Höhe zu sein. Er hatte anfangs etwas überrascht gewirkt, dass ausgerechnet der scheinbare Penner ihn so anging. „Aber dafür habe ich doch Verständnis,“ sagte er. „Ich werde gewiss niemanden rauswerfen.“

„Wir haben unsere Schule verlassen, um hier zu lernen!“ mischte sich Dharc ein. „Wenn diese Schule zumacht, nehmen die uns auf der Akademie nicht mehr – oder sie lachen uns aus, wenn wir zurückgekrochen kommen.“

„Wenn jetzt jemand kommt und uns erobern will, wird er es nicht schaffen!“ rief Saambell.

„Hört jetzt auf.“ Crimson saß noch ganz ruhig auf seinem Stuhl. Zwar rührte es ihn, dass die anderen sich so für ihn einsetzten, aber er wollte auch nicht, dass sie zu unverschämt wurden, und die Stimmung schaukelte sich gerade ziemlich hoch. Er lächelte in die Runde. „Lieb von euch. Danke, Onkel Kuro. Aber lasst uns jetzt aufräumen und dann schlafen gehen. Sirius, Ihr solltet vielleicht zum Kristallschloss reisen. Dort wird jeder aufgenommen, der noch ein Zuhause sucht.“

„Wo habt Ihr eigentlich in der Zwischenzeit gewohnt?“ erkundigte Lily sich.

„Wir waren nicht sesshaft,“ erklärte der Ältere. „Auf der Suche nach einer neuen Bleibe reisten wir umher. Und dann hörten wir, dass hier jemand Neues wohnt.“

„Und Ihr dachtet, den könnt Ihr leichter verjagen als seinen Vorgänger,“ stellte Crimson fest. „Wer hat Euch das erzählt?“

„So ein älterer Zausel, der es von einem anderen wusste...“ meinte Sirius schulterzuckend.

Aha, vermutlich meinte er Olvin. Crimson hatte sich ja schon gedacht, dass der dahinter steckte. Wären Sirius und Barbarella auch sonst hergekommen? Oder hatte Olvin sie aufgehetzt? Hatte der rachsüchtige alte Magier noch mehr Leute gegen ihn aufgebracht?
 

Es war schon spät am Abend, als Crimson endlich zur Ruhe kam. Er war auch noch einmal bei Lily gewesen, damit sie ihm nicht auf die Nerven ging. Ihr traute er zu, dass sie über den Balkon in sein Zimmer platzte, um ihre Untersuchungen auszuführen, und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit. Davon abgesehen wollte er ihr schon etwas entgegenkommen, wo sie doch seine Hand so gut gepflegt hatte. Eigentlich hatte sie ihn ja noch dabehalten wollen, doch so hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie ihn bald besuchte.

Der Weg hatte ihn ziemlich erschöpft, aber das hatte er ihr nicht gesagt. Zweifellos lag das daran, dass er eine Woche nur herumgelegen hatte. An seinem Krankenbett hatte er noch die Post sichergestellt und überlegte, dass er ja jetzt endlich Yugis Brief lesen konnte. Doch er wollte dem Brief alle Aufmerksamkeit schenken können, und gerade jetzt fühlte er sich zu unkonzentriert, zumal er immer an diesen Typen und seine Tochter denken musste.

Der frühere Besitzer des Schlosses – Cathys früherer Herr. Ein Teil von Crimson wollte nett sein und auf seine Forderung eingehen, aber der seiner Meinung nach vernünftigere Teil lehnte das ab. Wer sich sein Schloss abjagen ließ und nichts unternahm, um das Schlossherz zu sichern, hatte es nicht anders verdient. Dann musste man damit rechnen, dass der Eroberer erneut vertrieben und das Schloss beansprucht wurde. Sirius hatte selber Schuld daran.

Crimson wollte endlich wieder einmal friedlich in seinem Bett schlafen und dachte eigentlich, dass dem nichts im Weg stünde. Doch auf einmal beschlich ihn ein ganz merkwürdiges Gefühl, das ihn sich aufsetzen und gehetzt um sich blicken ließ. Er erhellte den Raum mit einem kleinen Zauber, doch niemand war hier. Dennoch... irgendetwas beunruhigte ihn, so als hätte er etwas vergessen.

Dann kam ihm quasi die Erleuchtung. Wie leichtsinnig von ihm! Er schnappte sich seinen Morgenmantel, zog ihn im Rennen über und stürzte aus dem Zimmer, überwand die Turmtreppen geradezu im Fluge, dann eine Reihe von Gängen, Fluren und Hallen. Und natürlich immer wieder Treppen, bis tief hinunter in den Keller, vorbei an den Kerkern und noch tiefer. Dorthin, wo sich das Schlossherz befand, der Energiekern, der das Gebäude magisch überwachte und instand hielt.

Crimson hatte nur eine leichte Verbindung zu Catherine. Der Grund dafür entzog sich ihm. Schließlich wollte er sein Schloss doch auf jeden Fall behalten, selbst wenn er mit seiner Schule scheiterte. Vielleicht war es einfach nur ein Moment der Schwäche gewesen, und der Wunsch, seine Gedanken frei von Einmischung zu halten. In dem Fall hätte er aber zu einem Kompromiss bereit sein müssen. Musste man nicht manchmal etwas opfern, um ans Ziel zu kommen?

Crimsons linke Hand brannte leicht, eigentlich war es eher ein Kribbeln.

Jemand anderes wusste noch um diese Gänge.

Crimson keuchte, als er tief unter dem Schloss eine Kammer betrat, die von einem sachten, pfirsichgelben Leuchten erfüllt war. Er blieb nicht stehen, um die Situation zu analysieren, denn er wusste, dass jeder Moment entscheidend sein konnte. Jedoch hatte er nie gedacht, sein theoretisches Wissen einmal anwenden zu müssen. Mit der ausgestreckten Linken stürmte er auf die Energiekugel zu, die sich in einer Fassung aus Metall halb im Boden eingelassen befand, denn Cathy war ein irdenes Schlossherz mit Thermalenergiequelle, sprich, unter ihm brodelte ein Lavasee, welcher mit seiner Hitze einen Großteil der Energie für das Schloss erzeugte.

Aus dem Augenwinkel glaubte der Weißhaarige, eine andere Person wahrzunehmen, doch er war darauf bedacht, so schnell wie möglich Kontakt zu dem Energiekern herzustellen. Seine linke Handfläche stieß auf die leuchtende, glatte Oberfläche. Sofort spürte er das Brennen des lotusförmigen Siegels auf seiner Haut und merkte, dass er die Hand nicht mehr wegnehmen konnte.

Es war schwer zu beschreiben, wie sich der Energiekern anfühlte, denn eigentlich war er ja nur Energie, dennoch hatte er eine Oberfläche. Doch wer diese berührte, verbrannte sich die Finger, außer er war der Schlossherr. Crimson hatte hiermit seinen Anspruch erneuert und fand nun Zeit, sich umzuschauen. Und er musste feststellen, dass Sirius tatsächlich da war, und zwar anscheinend schon länger. Er versuchte, Crimsons Verbindung zu unterwandern, denn das war einem Vorgänger möglich. Jedoch nur, wenn er genug Willenskraft besaß.

„Ihr seid hinterhältig,“ stellte Crimson fest. „Euch so herzuschleichen!“

Sirius' Hand war ebenfalls in Kontakt mit dem Kern. „Ich wusste, dass Diplomatie hier nichts bringen würde, obgleich das Schlossherz auf meiner Seite ist. Nicht wahr, Catherine?“

Der Geist materialisierte sich zwischen ihnen, antwortete jedoch nicht. Die Situation war vermutlich zwiespältig für ihn.

„Ich bin der wahre Herrscher hier!" bestimmte Sirius. „Ich habe all meine Gedanken und mein ganzes Herz geöffnet, als ich mich mit dem Schloss verband! Ich muss das nur erneuern.“

„Ihr hab es Euch nehmen lassen, jetzt habt Ihr es verwirkt.“ Crimson spürte seine Verbindung zu Cathy schwinden wie ein verlöschendes Feuer, doch das ließ er nicht zu! Ohne sein Einverständnis würde Sirius keinen Erfolg haben, er musste Crimson schon zwingen. „Cathy, stoß den Eindringling von dir. Dein Herr bin jetzt ich!“

Die Jünglingsgestalt wandte sich ihm zögerlich zu. „Aber Meister, er... er hat sich mir geöffnet, doch Ihr habt das abgelehnt... warum? Wolltet Ihr mich nicht wirklich?“

„Doch. Aber ich war wohl zu vorsichtig. Ich habe nicht gewusst, wie wichtig dir das ist, und dich nicht ausreichend als Person eingeschätzt. Entschuldige.“ Crimson senkte seine gedankliche Abwehr für den Geist, und dabei spürte er auch Sirius – sie waren alle zusammen auf einer Art Astralebene.

Mit der dritten anwesenden Person war es schwieriger, denn er wollte sich vor ihm abschirmen, nicht aber für Cathy. Sirius drängte sich förmlich auf in seinem Versuch, Catherine für sich zurück zu gewinnen. Der Geist war unschlüssig.

„Ihr habt keine Chance!“ teilte Crimson dem Älteren entschieden mit. „Ich bin stärker als Ihr... schont Euch lieber!“ In dem Fall kam es nicht auf die Angriffstärke an, sondern auf die Willenskraft. Doch auch da traute sich Crimson allerhand zu. Seine Handfläche schien zu glühen, aber er versuchte nicht, sie von dem Energiekern wegzunehmen. Zweifellos ging es auch Sirius so.

„Ihr habt dieses Schloss doch nur aus einer Laune heraus an Euch gebracht, gebt es nur zu!“ schimpfte der alte Mann. „Ich räume Euch gerne Wohnrecht ein, wenn Ihr es mir einfach wieder übergebt. Vielleicht gefällt Euch ja sogar meine Tochter...“

„Was impliziert Ihr da?“ entgeisterte Crimson sich. Sollte er Barbarella womöglich noch heiraten? Nie im Leben!

„Crimson, ich... ich würde gerne...“ stammelte Cathy und verstummte dann doch wieder.

Crimson konnte sich denken, was er meinte. Er wollte gerne seinen alten Meister wiederhaben. Aber wie lange konnte der noch das Schloss führen? Er gehörte immerhin nicht mehr zu den Jüngsten! Und Crimson war nicht bereit, all seine Arbeit der letzten Wochen aufzugeben.

Sirius hatte wohl seine Gedanken zum Teil mitbekommen, denn er kommentierte: „Sicher, ich bin schon älter, aber ich habe viel mehr Erfahrung als Ihr! Außerdem sorgt Ihr Euch unnötig. Barbarella ist meine Erbin. Ich werde Catherine ihr überlassen, wenn---“

„Was?!“ Das Schlossherz schrie in Crimsons Geist auf. Es war ein Laut des puren Entsetzens und klang verhasst. „Diese Zicke? Nie werde ich ihr dienen! Sie war schon als Kind unausstehlich!“

„Catherine, was soll denn die Aufregung? Willst du dich denn nicht meinen Wünschen fügen?“

„Mitnichten! Ihr, Sirius, seid nicht mehr mein Meister, sondern er ist es, deshalb habt Ihr mir gar nichts mehr zu sagen!“ Und er kehrte ihm den Rücken zu.

Augenblicke später, als Crimson sich gerade in Schadenfreude ergehen wollte, spürte er den Geist des Schlosses in seinen Gedanken, wo er fast brutal einfiel. Er musste sich beherrschen, nicht automatisch auf Abwehr zu gehen. Statt dessen gewährte er Cathy Zugriff auf alles, was er begehrte... in der Hoffnung, dass es nicht zu peinlich wurde.

[Ihr wollt das Schloss haben... also erduldet!] sprach die telepathische Stimme zu ihm. [Oder denkt Ihr vielleicht, ich sage irgendwem, was ich erfahre? Nein, das ist nur für mich...]

Crimson war auf die Knie gesunken und presste die Augen zu, die Zähne zusammen. Es war ein unangenehmer Vorgang, wie er es befürchtet hatte, aber lediglich deswegen, weil seine gesamte Persönlichkeit, all seine Geheimnisse und seine komplette Privatsphäre bloßlagen. Wer wollte das schon? Vielleicht war das der Grund, warum er sich zuvor davor gesträubt hatte.

Trotz allem war Crimson froh, diesen zusätzlichen Schritt jetzt gegangen zu sein, denn so konnte sich niemand mehr ereifern, ihm Cathy abspenstig machen zu wollen. Er hoffte sehr, dass sein Verhältnis zu seinem Schlossherz jetzt besser wurde. Eine Veränderung war schon zu bemerken: Cathy schien ihn mehr zu respektieren. Des weiteren fühlte Crimson sich... größer. Nein, sein Körper hatte sich verändert. Er konnte es zuerst nicht ganz genau beschreiben. Stimmen drangen zu ihm vor, seltsame Sinneswahrnehmungen... es dauerte eine Weile, bis er herausfand, dass es das Schloss war. Er konnte das Gemäuer spüren, als wäre es sein Körper!

Für einen doch recht beschränkten menschlichen Geist war das schwer zu erfassen. Zum Glück konnte er als Magier solche Sachen recht gut hinnehmen, aber dennoch musste er sich erst daran gewöhnen. Im Moment fühlte er sich mit Reizen überlastet, zugleich jedoch wurde ihm klar, dass Sirius dieses Gefühl vermissen musste... es war etwas, das man nicht mehr hergeben wollte, wenn man einmal in den Genuss gekommen war. So sehr Crimson auf seine Individualität Wert legte, so sehr gefiel es ihm auch, an etwas Größerem teilhaben zu können und dadurch den eigenen Horizont zu erweitern. Er nahm sich die Zeit, das neue Gefühl zu ergründen, doch bald darauf fiel ihm auf, dass er sich darin zu verlieren drohte, und er zwang sich zurück in seinen eigenen Leib. Dies kam ihm danach beinahe unbefriedigend vor.

Er zog die Hand von dem Energiekern zurück und fand sich auf dem Boden kniend wieder. Jemand stöhnte neben ihm: Sirius lag am Boden. Der alte Magier hatte seinen Versuch nicht so gut verkraftet. Aber ernstlich verletzt schien er nicht zu sein. Er versuchte schon wieder aufzustehen.

„Seid Ihr jetzt zufrieden? Jetzt habt Ihr das Schloss endgültig an Euch gerissen. Dass Ihr Euch nicht schämt, einem alten Mann---“

Doch Sirius wurde von Cathy unterbrochen, der zwischen den beiden erschien. „Schweigt, ehemaliger Meister! Es war meine Wahl. Beschwert Euch nicht bei Crimson. Außerdem ist er ein guter Kerl... meistens.“ Der Geist warf seinem neuen Meister einen verschmitzten Blick zu.

Crimson erhob sich und klopfte sich imaginären Staub vom Morgenmantel. Es war schwierig, sich auf sich selbst zu konzentrieren, wenn so viele Eindrücke des Schlosses beachtet werden wollten. „Ihr könnt als mein Gast hier bleiben, so lange Ihr wollt,“ gestattete er Sirius, weil er fand, dass er ihm zumindest das schuldete. „Und, uhm... Eure Tochter auch.“ Er reichte dem Älteren die Hand und half ihm hoch, was dieser sich geradezu schicksalsergeben gefallen ließ.

Die letzte Bemerkung gefiel Cathy nicht, das konnte er spüren, aber der Geist wusste andererseits von ihm, dass er schlecht die Gastfreundschaft auf den Vater beschränken konnte. Vor anderen stritten sie nicht darüber, zumal es jetzt auch ausreichte, ein paar Gedanken auszutauschen, um dem anderen den eigenen Standpunkt klarzumachen. Sehr praktisch.

„Nein, danke, wir... werden wohl bald abreisen. Morgen früh oder so,“ überlegte Sirius betrübt. „Vielleicht schon in der Nacht... Ich könnte Ruhe brauchen, aber hier hält mich nichts mehr.“ Er wandte sich ohne ein weiteres Wort zur Tür und ging hinaus.

Crimson hielt ihn nicht auf. Er konnte Sirius' Schritte verfolgen, wenn er wollte, doch im Moment waren solche gezielten Aktionen noch zu anstrengend für ihn. Er war einfach nur froh, dass diese Sache jetzt erledigt war, und wenn die Besucher über Nacht verschwanden, umso besser. Schließlich hatte er noch einen anderen ungebetenen Gast im Schloss, mit dem er sich befassen musste.

Rufmord-Versuch

Am Morgen konnte Crimson sich nicht daran erinnern, wie er wieder in seinen Turm gekommen war, aber zumindest wachte er ordentlich in seinem Bett auf und nicht irgendwo unterwegs. Der Morgen war schon etwas älter, zu erkennen an den Schatten draußen, denn eine Sonne sah man ja nicht. Also hatte er wohl verschlafen. Und Lily stand neben ihm.

„Schön, dass du langsam aufwachst, ich rede schon seit mindestens einer Minute auf dich ein.“

Er fuhr sich mit beiden Händen stöhnend durchs Gesicht und zuckte zusammen. Die linke schmerzte. „Uh...“ Er schaute hin und musste feststellen, dass das lotusförmige Zeichen wieder frisch gebrannt war. Ach ja... da war ja was.

„Was ist passiert?“ Lily schnappte sich die Hand und starrte darauf, dann in Crimsons Gesicht. „Was hast du gemacht? Warst du heute Nacht bei Catherine unten?“

„Ja,“ gähnte er. „Sirius war auch da... aber ich hab ihn aus dem Rennen geworfen...“ Er erzählte in kurzen Stichworten, was da passiert war und wie es dazu gekommen war, dass er nun eine viel engere Verbindung zu dem Schlossherz hatte.

Zu seiner Erleichterung lächelte Lily dann. „Ja, das ist gut. Aber du hättest warten sollen, in deinem Zustand war es ungünstig.“

„Das konnte ich mir nicht aussuchen, beschwer dich bei Sirius.“

„Den habe ich heute allerdings noch gar nicht gesehen. Naja, was soll's. Du siehst mitgenommen aus. Schone dich heute noch, und morgen solltest du auch noch nicht unterrichten. Fang langsam an, deine Arbeit wieder aufzunehmen.“

„Ja, Frau Doktor.“

Lily knuffte ihn gespielt verstimmt an die Schulter. „Halte dich daran – übertreib es nicht gleich. Und ich will dich dann morgen im Laufe des Tages mal in meiner Krankenstation sehen. Nein, ich komme zu dir. Ja, das ist besser.“

Crimson nickte brav – so lange sie ihn nicht mit ihren Injektionen traktierte, war es für ihn in Ordnung, wenn sie ihn untersuchen wollte. Es fiel ihm allerdings etwas schwer, ihr zuzuhören, denn zu viele Dinge gingen ihm durch den Kopf. Er wusste, wie der Schattenfall draußen war, obwohl er es nicht durchs Fenster sehen konnte. Es war recht angenehm warm. Das Meer war eher ruhig und es ging ein kühler Wind zum Wasser hin. Im Garten war Kuro dabei, die Küchenkräuter von Schädlingen zu befreien, und auf der Landeplattform, die zum Meer hin zeigte, ruhte sich ein kleiner Drache aus. Die Lava unter dem Schloss floss heute etwas hitziger als sonst, aber das war nichts Beunruhigendes.

„Alles klar? Hörst du mir zu?“

Hatte Lily was gesagt, das er verpasst hatte? „Uh, tut mir Leid, was ist los?“

Lily lächelte geduldig. „Du warst wie weggetreten.“ Sie hatte eine Brandsalbe auf seine Hand aufgetragen und einen einfachen Verband angelegt.

Irgendwie hatte er es wohl im Moment mit verbundenen Händen, was kam als nächstes?„Ich glaube, es liegt an dem Schloss... ich kann es spüren... all die Eindrücke sind überwältigend.“

„Ein Grund mehr, dich zu schonen, daran musst du dich erst gewöhnen. Aber das sollte dir nicht schwerfallen, gewiss kriegst du es nach ein, zwei Tagen hin. Cathy kann sich vielleicht auch von dir abschirmen, wenn du es von deiner Seite aus noch nicht schaffst. Soweit ich weiß, erwartet man ja eine stille Zusammenarbeit zwischen Schlossherz und Meister. So dass Cathy immer im Hintergrund darauf achtet, ob du ihn brauchst. Halt mich auf dem Laufenden, ich bin neugierig, ob es dir bald gelingt.“ Sie tätschelte seine Schulter und wandte sich zum Gehen. „Schick dein Schlossherzchen in die Küche, wenn du etwas brauchst,“ sagte sie noch, ehe sich die Balkontür hinter ihr schloss.
 

Crimson hörte auf Lily und ruhte sich heute aus, was ihm auch sehr recht war. Durch die neue Verbundenheit mit Cathy war er oft abgelenkt, doch es hatte auch gute Seiten. Die Wahrnehmung war sensationell. Außerdem wusste das Schlossherz noch vor ihm, wann er etwas zu trinken brauchte oder Hunger bekam, und sorgte dafür, dass die Küche es erfuhr und ihm etwas herauf gebracht wurde. Seine Schüler rissen sich darum und wechselten sich ab, oft erschienen sie aber in Gruppen bei ihm und zeigten ihm stolz, was sie gekocht, gebacken oder anderweitig hergestellt hatten. Auch Crimsons Lehrer kamen ab und zu vorbei, das waren ja bisher nur Mava und Kuro. Lily stattete ihm abends noch einen Besuch ab. Nur Eria blieb fort. Sie war noch nicht von ihrem Botenflug zurück und er vermutete, dass sie wie angekündigt im Kristallschloss übernachtete, wo sie ja auch viele Freunde treffen würde.

Im Laufe des Tages döste Crimson ab und zu ein und träumte dann von Orten innerhalb des Schlosses oder in der näheren Umgebung. Aber vielleicht sah er auch einfach durch Catherines Augen. Er bereute nun, nicht schon früher dem Geist des Schlosses ausreichend vertraut zu haben. Doch man lernte eben nie aus...

In der Nacht war Crimson entweder vom Ruhen am Tage zu ausgeschlafen oder aus irgendeinem anderen Grunde unruhig, jedenfalls konnte er nicht gut schlafen. Cathy schien sehr beschäftigt zu sein bei Nacht. Aber das war vermutlich kein Wunder. Wahrscheinlich tat er dann Sachen, denen er sich während der Hektik des Tages nicht widmen konnte.

Crimson seufzte, zog sich etwas über und machte einen nächtlichen Spaziergang durch sein neues Heim. Es kam ihm jetzt mehr denn je so vor. Dieses Schloss war jetzt seines. Von Sirius und Barbarella hatte er nichts mehr gehört.

Damit konnte er an sich ganz zufrieden sein, doch im Moment war es noch zu ungewohnt, und er kam damit nicht klar. Nicht dass es ihn beunruhigte. Er musste sich eben erst daran gewöhnen, dass er fühlen konnte, als wäre er ein altes Gemäuer.

Da er nun nicht schlafen konnte, nutzte er die Zeit für Nachforschungen in seiner Bibliothek. Für das, was er sich überlegt hatte, brauchte er ein Buch. Er hatte einige ungewöhnliche in seiner Sammlung, und da er jedes zumindest mal durchgesehen hatte, wusste er auch, welche Möglichkeiten sich ihm boten. Zielstrebig fand er das gesuchte Buch, suchte die Seite heraus und las. Es war anspruchsvoll, was er plante. Eine Herausforderung, die eines Alchemisten wie ihm würdig war, wie er fand. Doch sie verlangte auch ein persönliches Opfer von ihm, und davor fürchtete er sich ein bisschen.

Crimson hatte lange überlegt, ob es nicht eine andere Methode gab, oder ob er sich schlicht und einfach irgendwie Olvins Fängen entwinden konnte. Das wäre wohl eine Möglichkeit gewesen, die er hätte realisieren können. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er Verantwortung übernehmen und entsprechend handeln musste. Alles andere wäre unehrenhaft und ein schlechtes Beispiel für seine Schüler gewesen. Aber er musste erreichen, dass er von Olvin für eine Weile nicht behelligt wurde, sonst war sein Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Aber wie? Olvin zeigte sich ihm schließlich nicht regelmäßig.

Es blieb ihm folglich nichts anderes übrig, als zu warten, bis der Alte mal wieder auftauchte, und in der Zwischenzeit so viel wie möglich vorzubereiten. Er brachte das Buch in eines seiner Labore, das sich in einem Turm befand und schwer zugänglich war. Als er gerade beschloss, Catherine zu sagen, dass dieser Raum besonders geschützt und versiegelt werden sollte, erhielt er schon die Bestätigung in seinen Gedanken und musste schmunzeln. Das war sehr praktisch.
 

Am folgenden Morgen verschlief Crimson, weil er in der Nacht herumgewandert war und ihn auch niemand weckte. Das war seltsam, eigentlich hatte er seine Schüler schon erwartet, die ja am Tag davor auch gekommen waren, um ihm Frühstück zu bringen. Aber vielleicht waren sie mit Unterricht beschäftigt. Sie hatten noch keinen richtigen Stundenplan, daher wurde manchmal spontan etwas veranstaltet, wenn sich eine Gelegenheit zur Forschung oder Beobachtung bot.

Crimson wollte sich auch gar nicht zu sehr bedienen lassen, daher raffte er sich auf und ging selber in die Küche. Mal wieder zu kochen würde ihm bestimmt guttun. Und vielleicht traf er seine Schüler ja unterwegs.

In der Tat begegnete ihm Milla. Jedoch anders als erwartet. Das Mädel lungerte in einem Gang herum – nur in einen kurzen Morgenmantel gehüllt, bei dem das Band locker war, und sie schien benommen zu sein, als hätte sie Drogen genommen. Als er sich ihr näherte, um ihr behilflich zu sein, lallte sie nur vor sich hin, taumelte gegen ihn und krallte sich an seinem Haar fest. „Directoooor... Hihi... ich glaub ich bin... wie sagt man... high?“

Crimson sah sich nach einer Sitzgelegenheit um und fand ein paar Meter weiter eine Nische, die eigentlich dafür gedacht war, dass die Schüler sich dort aufhalten konnten, wenn sie frei hatten. Es gab dort einige Tische mit Stühlen und Bänken. Er trug Milla zu einer solchen Sitzgruppe, packte sie auf eine Bank und zog erstmal ihren Gürtel fest, damit der Morgenmaltel nicht noch wirklich aufging. Sie kicherte die ganze Zeit.

„Was hast du genommen? Wart ihr an einem der Schränke im Klassenraum für Alchemie?“ versuchte Crimson an Informationen zu kommen, um ein Gegenmittel finden zu können. Andererseits... wenn es nichts Giftiges war, schadete es vielleicht auch nicht, sie in den Genuss der Folgen kommen zu lassen, damit sie was daraus lernte.

„Weisch nisch...“ brabbelte sie, und weiter kam er an keine verständliche Antwort, so dass er schließlich aufgab und das Mädchen in den Krankenflügel trug, wo Lily – verständigt von Cathy – schon wartete und bereits mögliche Mittelchen bereitstehen hatte. Er ließ Milla in ihrer Obhut und setzte kopfschüttelnd seinen Weg fort. Generell konnte er ja nicht schimpfen – er hätte in Millas Alter wohl auch irgendwelche Drogen genommen, wenn es eine Wette oder jugendlicher Leichtsinn von ihm gefordert hätte. Am besten ließ man sie alles ausprobieren und sorgte dafür, dass die Erfahrung unangenehm genug war, um es ihr ein für allemal zu verderben.

Crimson begab sich danach in die geräumige Küche seines Schlosses. Im Kristallschloss hatte er auch immer die Küche für sich gehabt (sein Vater zählte nicht), doch nun hausten da wahrscheinlich drei oder mehr verschiedene Köche drin, die sich alle gegenseitig auf die Füße traten, da wollte er nicht auch noch dazwischen sein. Freilich kam das hier auch noch auf ihn zu, aber hier war immer noch er der Boss und konnte die Leute rausschmeißen. Das Kristallschloss dagegen gehörte ihm nicht, auch wenn sein Vater es verwaltete.

Crimson hätte den Vorfall mit Milla wohl vergessen, wäre nicht eine gute Stunde später Dharc in ganz ähnlichem Zustand vor ihm aufgetaucht. Er hatte nur ein Badehandtuch an und taumelte durch den Gang in der Nähe von Crimsons Privatzimmer, das der Magier eben wieder aufsuchen wollte, nachdem er sich ein Frühstücksomelett gegönnt hatte. Da er nicht einsah, wieder umzukehren, wo er doch eine geflügelte Ärztin hatte, rief er Cathy und ließ ihn Lily Bescheid geben, damit sie Dharc abholte. Also wirklich... was war denn heute los? Drogenpartys?

Lily holte den Jungen aus seinem Zimmer ab, wo er ihn aufs Bett gelegt und zugedeckt hatte. Die Fee war empört über zwei solche Vorfälle in so kurzer Zeit und versprach, die Kinder so richtig mit ekliger Medizin zu quälen – wobei sie Crimson mehr Ruhe verordnete.
 

Der Magier nutzte die Ruhezeit, um ein paar Recherchen anzustellen und sich auf seinen Plan vorzubereiten. Nebenbei ließ er überall Notizen herumliegen, auf denen er Olvin aufforderte, sich bei ihm zu melden, denn umgekehrt ging es nicht – es nervte Crimson ungemein, dass er quasi darauf angewiesen war, dass der Alte sich bei ihm zeigte. Von der Gnade eines anderen abhängig zu sein, hatte ihm noch nie gefallen.

Das Problem war, dass Catherine Olvin nicht finden konnte. Crimson hielt es für sinnlos, selber die Räume abzusuchen, denn mit Sicherheit steckte der Necromant in irgendeinem Geheimzimmer oder so. Er überließ es also seinem Schlossherz, all diese Stellen abzusuchen, und folgte ihm dabei manchmal in Gedanken. Der Magier übte dadurch auch seine neuen Möglichkeiten und musste ebenso oft erkennen, wie begrenzt seine Kenntnisse noch waren. Es bedurfte einfach einiger Übung, der Herr eines Schlossherzes zu sein.

Gegen Abend brütete er unkonzentriert im Alchemieturm über seinem Buch, denn er war in Gedanken bei dem Geist. Cathy meldete ihm telepathisch, dass auch die Kerker leer waren.

„Kannst du nicht mal diesen Abwehrmodus ausprobieren, von dem du ab und zu gesprochen hast? Da müsstest du ihn doch finden können!“ versuchte er es erneut.

[Es ist im Moment zu schwierig, Meister,] meldete sich Cathy in seinem Kopf. [Es sind zu wenig Bewohner im Schloss, es würde Euch zu sehr schwächen.]

„Aber du könntest ihn dadurch finden?“ beharrte Crimson. Wenn ihn gerade jemand sehen könnte, würde derjenige sich wohl schon ziemlich wundern, mit wem er redete.

[Ja, falls er sich tatsächlich im Schloss befindet. Aber der Abwehrmodus ist sehr erschöpfend für den Schlossherrn, wenn nur so wenige Leute im Schloss wohnen.]

„Ja, das sagtest du bereits.“

[Ihr seid noch erschöpft, Meister. Ihr habt Euch noch immer nicht von dem Schlangenbiss vollständig erholt und die Fusion mit mir war auch anstrengend. Habt etwas Geduld. Vielleicht befindet sich der Necromant wirklich nicht mehr im Schloss.]

„Oder er weiß, wie er sich der Entdeckung entzieht.“ Crimson hatte es ja nicht wahrhaben wollen, aber anscheinend hatte Olvin eine Möglichkeit, im Gebäude unentdeckt zu bleiben, er konnte sich nicht vorstellen, dass der Alte im Freien kampierte. „In Ordnung, Cathy. Brich die Suche ab. Ich muss einfach hoffen, dass er wieder mich findet... was ihm ja anscheinend nicht schwerfällt.“

Das Schlossherz tauchte neben Crimson auf. „Ihr seid Euch dessen sicher?“

Er nickte. „Lass ihn durch, wenn er in mein Zimmer will. Ich glaube, dass er mich nicht töten will, also halt ihn nicht auf.“

„Wie Ihr... oh, es kommt Besuch.“

Crimson empfing ein Bild in seinen Gedanken und erkannte einen schwarzen Drachen vor seinen Toren. Jemand ritt auf ihm. „Es ist Paps! Öffne das Tor, Cathy!“

Der Weißhaarige klappte sein Buch zu und verließ den Turm, nicht ohne sein Buch vorher korrekt wegzuräumen. Es gab Dinge, die man besser nicht offen herumliegen ließ.
 

Dies war das erste Mal, dass Crimson sich nicht einfach freuen konnte, seinen Vater zu sehen. Normalerweise hatten sie ein inniges Verhältnis zueinander. Shiro hielt immer zu seinem Sohn, stand ihm bei und unterstützte ihn. So war es gewesen, nachdem Malice das Siegel in seinen Rücken geschnitten hatte. Nachdem er von der Akademie verwiesen worden war. Und als es hieß, er habe Professor Vindictus fälschlich eines Verbrechens beschuldigt – ein Missverständnis, weil er damals noch zu klein gewesen war.

Doch das stimmte nicht. Crimson war mit allen Wassern gewaschen, und das nicht erst, seit er erwachsen war. Es gab nur eine Gelegenheit in seinem Leben, bei der er seinem Vater die volle Wahrheit verschwiegen hatte. Zwar hatte er sich bemüht, ihn nicht anzulügen, indem er einfach nicht mit ihm darüber gesprochen hatte. Andere hatten Shiro gesagt, sein Sohn habe sich geirrt und leider Professor Vindictus' Entlassung bewirkt. Crimson hatte das nicht berichtigt, sondern seinen Vater in dem Glauben gelassen. Er hatte sich nie wieder Gedanken wegen dieser Sache gemacht, aber rückblickend vermutete er, dass er tief im Inneren gewusst hatte, dass es ein großer Fehler gewesen war, Gerüchte über seinen Lehrer zu verbreiten. Sonst hätte er ja kein Problem damit gehabt, mit seinem Vater darüber zu reden.

Da Crimson den schwarzen Drachen von weitem gesehen hatte, war er schon vor dem Tor, als er landete und sein Reiter zu Boden sprang. „Paps! Wie schön, dass du so schnell kommen konntest!“

Shiro kam schnellen Schrittes auf ihn zu. „Crimson, ist alles in Ordnung mit dir?“ Er legte beide Hände auf seine Schultern und betrachtete ihn von oben bis unten. „Eria hat angedeutet, dass du Probleme hast...“ Sein Blick blieb besorgt auf der verbundenen Hand seines Sohnes hängen.

„Hallo, Paps.“ Crimson umarmte den Lichtmagier herzlich. „Komm bitte herein. Ich, ähm... muss dir was sagen, und es wird dir nicht gefallen.“

Hinter ihnen verwandelte sich Schattensturm in einen Minidrachen und kam beleidigt fiepend angeflogen, worauf er auf Crimsons Schulter landete und ihn ins Ohr kniff.

„Au! Jaaa, ich freue mich auch, *dich* wiederzusehen,“ sagte Crimson versöhnlich und streichelte ihm den Kopf.

„Was immer es ist, Crimson...“ begann Shiro. „Eria sagte mir schon, dass es nicht um den Fortbestand deiner Schule geht, oder jedenfalls nicht direkt. Sie rückte nicht so recht mit der Sprache heraus, also denke ich mal, dass es sehr persönlich ist?“

„Uhm... ja, kann man sagen. Wollen wir in mein Turmzimmer gehen? Dort können wir in Ruhe reden. Oder in die Küche – hast du Hunger?“

Shiro sah sich gehetzt um und schob Crimson auf das Tor zu, ohne auf die Fragen einzugehen. „Ich komme nicht allein, fürchte ich. Sie waren dicht hinter mir. Normalerweise bin ich ja dafür, dass du dich stellst, das weißt du, aber in diesem Fall...“

Der Weißhaarige runzelte verwirrt die Stirn. „Paps... was ist los?“

In der Ferne war das Brüllen eines Drachen zu hören, dann eine Antwort und noch eine. Schattensturm krallte sich in Crimsons Schulter, starrte in den Himmel und zischte bedrohlich.

„Flieh mit Schattensturm!“ drängte Shiro. „Ich lenke sie hier ab, während du einen anderen Ausgang nimmst...“

Er hatte seinen Vater nie so erlebt, und das weckte seine Besorgnis. „Paps... ich bin der Stärkere von uns. Was immer das ist, was da kommt, dagegen habe ich mehr Chancen als du.“ Crimson schickte einen kurzen Gedanken an Catherine, damit er die anderen warnte. Das Schloss hatte noch keine gute Verteidigung und zu wenige Bewohner, um einem mächtigen Feind standhalten zu können. Eventuell war Flucht angebracht, jedenfalls für die Kinder und Paladia.

Nun tauchten die Drachen, die er gehört hatte, auch in seinem Blickfeld auf. Es waren vier, und sie sahen groß und imposant aus. Anscheinend ritt jemand auf ihnen, aber mehr war auf die Entfernung noch nicht zu erkennen. Sie näherten sich jedoch schnell.

„Endymion und seine Begleiter,“ erklärte Shiro hastig. „Crimson, bitte... mach, dass du weg kommst! Die werden nicht mit sich reden lassen!“

„Aber Paps, ich kenne gar keinen Endymion, und überhaupt, was sollten sie gegen mich haben? Sind das etwa Freunde von Sirius, dem das Schloss früher gehört hat?“

„Endymion ist der Vater von Dharc, der bei dir zur Schule geht. Außerdem sind die Eltern von Milla bei ihm und einer seiner Ritter. Jemand hat ihnen gesagt, du würdest auf Kinder stehen und sie zum Geschlechtsverkehr zwingen,“ sagte Shiro mit erschreckender Sachlichkeit.

Crimson wandte sich völlig entgeistert zu ihm um. Sein Vater hatte einen Ausdruck in den Augen, den er noch nie gesehen hatte. So als ob er sich verzweifelt wünschte, sich zu irren. Und wer konnte es ihm verdenken? Gerade hatte Crimson ihm mitgeteilt, er müsse ihm etwas sagen, das ihm nicht gefallen würde. Konnte man da als Vater nicht Angst bekommen?

Erneut erklang das Drachengebrüll, und als Crimson wieder hinsah, befanden sich die gigantischen Wesen im Anflug auf seinen Standort, mit glühenden Mäulern und Reitern, die Magiegeschosse feuerbereit hatten. An der Stelle hätte ihn wohl das blanke Entsetzen packen sollen, doch statt dessen kam ein Gefühl des Unwirklichen über ihn. Das konnte nicht sein... er hatte es hier mit vernünftigen Magiern zu tun, sollte man meinen, es konnte einfach nicht wahr sein, dass sie sich auf einen ernsthaften Angriff vorbereiteten, um jemanden auszulöschen, den sie nicht einmal angehört hatten.

„Paps, geh bitte ins Schloss,“ sagte er, ohne den Blick von den Drachen abzuwenden. „Sorg dafür, dass sich niemand in Gefahr bringt.“

„Aber Crimson---“

„Die wollen mir nur Angst machen.“ Dessen war er sich zwar keineswegs so sicher, wie er tat, aber die Situation erschien ihm wie ein alberner Traum, völlig irreal. Vielleicht war er zu gestresst gewesen in letzter Zeit. Vielleicht ließ ihn seine Verbindung mit dem Schlossherz ruhig bleiben. Jedenfalls wich er keinen Zentimeter.

Shiro ging jedoch nicht. Statt dessen stellte er sich so dicht neben seinen Sohn, dass sich ihre Schultern und Oberarme berührten. Diese schlichte Geste bedurfte keiner Worte mehr, und sowieso hätte er nichts gehört in dem Lärm, der nun folgte... als vier Feuerbälle aus Drachenmäulern und diverse Magierangriffe niedergingen und mit ohrenbetäubendem Getöse in unmittelbarer Nähe einschlugen.

Eindringlinge im Schloss

Kapitel 6: Eindringlinge im Schloss
 

Die schlimmste Verletzung, die Crimson davontrug, als um ihn herum Feuer und Magie in den Boden einschlug, kam durch Schattensturms Krallen, mit denen der schwarze Drache im Kleinformat sich an seiner Schulter festklammerte.

Ansonsten flogen ihm Steine und Erde um die Ohren, Funken stoben aus den Einschlagstellen und elektrische Querschläger von Lichtmagie kribbelten auf seiner Haut. Seine Kleidung wurde nicht zerfetzt, aber genug beschädigt, dass er sie vergessen konnte. Sein Haar wurde herumgewirbelt und zerzaust. Seinem Vater ging es ähnlich. Wie dieser sich dabei fühlte, wusste Crimson freilich nicht, aber er selbst bekam einen Kick wie beim Sprung von einer hohen Klippe, bei dem man sich erst spät Flügel wachsen ließ, um sich abzufangen. Das Gefühl war sogar noch aufregender. Ihm blieb regelrecht die Luft weg bei all den niederprasselnden Angriffen, doch es ging alles ganz schnell. Hätten er oder Shiro sich nur ein wenig vom Fleck bewegt, wären sie vermutlich gegrillt worden.

Als der Staub sich legte, waren die riesigen Drachen in der Nähe gelandet, und vier menschliche Magier kamen auf sie zu, drei Männer und eine Frau. Der auffälligste von ihnen trug eine imposante, dunkle Magierrobe mit einem wehenden Umhang und einem Helm, der sein halbes Gesicht verdeckte. Teile seiner Kleidung wirkten wie protzige Rüstungselemente, etwa der Gürtel. Hinter ihm verblassten die anderen regelrecht.

Auf Crimsons Schulter versuchte Schattensturm, sich aus den langen weißen Haaren zu befreien. Shiro half ihm und ließ den Drachen dann auf seinem linken Arm sitzen wie einen Jagdvogel. Er trat zwei Schritte vor und sprach den Mann mit dem Helm an. „Endymion, ich hatte dich gebeten, nichts zu überstürzen.“

Der Angesprochene schnaubte verächtlich. „In solchen Fällen verstehe ich keinen Spaß, White Skill. Ich muss schon sagen, dein Junge ist entweder sehr mutig oder sehr töricht... auf jeden Fall aber sehr arrogant, dass er uns so die Stirn bietet!“

Er schob Shiro einfach aus dem Weg und nahm sich Crimson vor, indem er ihn direkt am Gewand packte. „Ich will meinen Sohn sehen, und er sollte besser in einwandfreiem Zustand sein!“ Er hatte einen sehr festen Griff – die Fingerknöchel drückten unangenehm auf Crimsons Brust. „Solltest du ihm auch nur ein Haar gekrümmt haben, breche ich dir alle Rippen einzeln, das schwöre ich! Kein Heiler wird dich je wieder vollständig wiederherstellen können, sollte ich rausfinden, dass du ihn ungebührlich berührt hast, und wenn du dich gar an ihm vergangen hast, wird dein Tod sich über Jahre hinziehen, darauf kannst du wetten! Ich werde dich um die Erlösung betteln lassen, bevor... Hey! Wartet auf mich!“

Seine zwei Begleiter waren bereits ins Schloss vorgedrungen. Endymion warf Crimson einen letzten, finsteren Blick durch die Augenschlitze im Helm zu, dann folgte er ihnen mit wehendem Mantel. Auch Crimson wollte ihm nach, doch der vierte Magier hielt ihn auf, indem er ihn an der Schulter packte. Nicht grob, aber bestimmt. Er war anscheinend ein Gefolgsmann Endymions, der Ritter, den Shiro erwähnt hatte. Teile seiner Rüstung wurden freischwebend durch Magie an Ort und Stelle gehalten, so dass er auf den ersten Blick viel bedrohlicher aussah, doch darunter befand sich ein drahtiger, schlanker, sehr durchtrainierter Magier.

„Leiste besser keinen Widerstand,“ sagte er. „Ich bin Cross, Endymions Kreuzritter. Du wirst in meiner Obhut bleiben, bis mein Herr weitere Befehle zu deiner Person hat. Wenn sich alles als Irrtum herausstellt, hast du nichts zu befürchten, ich befolge lediglich ein Protokoll, das der allgemeinen Sicherheit dient. Streck deine Hände vor.“

„Das wird doch wohl nicht nötig sein, oder? Meinen Sohn wie einen Verbrecher zu behandeln...“ Shiro schob sich zwischen den Ritter und Crimson. „Er wird nicht fliehen, dafür verbürge ich mich!“

Fast hätte Crimson angefangen zu lachen, denn eben noch hatte sein Vater ihn zur Flucht gedrängt. Aber da hatten die Typen auch noch gar nicht gewusst, dass er überhaupt zu Hause war. Jetzt, da er entschieden hatte zu bleiben, durfte er sich nicht mehr drücken. „Ist schon gut, Paps. Das wird sich bald alles aufklären, keine Sorge.“

Cross besaß keine sichtbare Waffe, auch fühlte sich seine Aura nicht übermäßig stark an, doch das musste bei einem Magier nichts heißen. Er wirkte jedenfalls einschüchternd genug, dass Crimson sich fügte. Während sein Vater schweigend zusah und von dem Wächter wohl nicht als Bedrohung eingestuft wurde, ließ er sich die Handgelenke mit einem speziellen Band fesseln, das sich in ein nahtloses Stück Materie verwandelte, sobald Cross fertig war. Sich von so etwas allein zu befreien, war fast unmöglich. Die Fessel sah aus wie Metall, in das überall magische Symbole eingearbeitet waren.

„Dies mag harmlos aussehen, aber sieh dich vor... es kann effektiv verhindern, dass du fliehst,“ warnte Cross. „Es absorbiert außerdem deine Magie und wendet sie gegen dich. Also verzichte lieber auf ihren Einsatz. Die Folgen eines Fluchtversuches können unangenehm bis tödlich sein.“

Entzückend. Crimson nahm es gelassen, bis ihm einfiel, in welchem Zustand er nicht nur Dharc, sondern auch Milla heute gefunden hatte... Bei der Erkenntnis wurde ihm heiß und kalt, und er konnte nur hoffen, dass man ihm seine Gefühle nicht ansah. Der Boden zu seinen Füßen war aufgerissen und voll frischer Löcher. Er tat so, als beschäftigte er sich mit den Schäden, doch insgeheim versuchte er zu sehen, was im Schloss geschah. Der Schlossgeist ließ ihn bereitwillig alles mit ansehen. Dabei entging ihm nicht, wie verärgert Cathy über den ramponierten Weg war.
 

Das Schlossherz hatte die Gäste zur Krankenstation geführt, da er die gesuchten Kinder dort wusste. Lily war überrascht und empört über den ungebetenen Besuch. „Ihr könnt hier nicht so reinplatzen! Seid leise und regt Euch nicht auf. Könnt Ihr nicht diese bedrohliche Rüstung ablegen?“

Nein, konnte er nicht. „Das ist nur meine offizielle Magierrobe, keine Rüstung, und mein Junge hat dafor keine Angst,“ sagte Endymion.

Von den dreien war es Millas Vater, der sich am ruhigsten und sachlichsten über den Zustand der beiden Kinder erkundigte, während seine Frau zu Milla eilte und sie entsetzt überall berührte und streichelte, wie um sicher zu gehen, dass sie noch ganz war. Sie trug ein schlichtes, edel aussehendes Gewand und hatte glattes, blondes Haar. Ihre Züge wirkten fast elfenhaft, was ja eher nicht auf ihre Tochter zutraf.

Endymion indessen stand sekundenlang neben seinem schlafenden Sohn und starrte ihn nur an. „Wer ist dafür verantwortlich?“ fragte er gefährlich ruhig.

„Wir wissen es nicht, der Junge konnte sich noch nicht dazu äußern,“ sagte Lily, wobei sie bei dem anderen Mann stand und halb mit ihm, halb mit Endymion sprach. „Der Direktor fand ihn allein auf dem Gang, so gut wie nackt und ganz benommen.“

„Der Direktor fand ihn?“ wiederholte Endymion.

„Wir sollten vielleicht keine voreiligen Schlüsse ziehen,“ schlug der Vater von Milla leise vor.

„Cybernec. Sieh dir deine Tochter an, denkst du, ihr ging es besser?“

„Sie würde doch nie Drogen nehmen! Dieser Magier muss sie betäubt haben, um ihren Willen zu brechen!“ schluchzte die Frau.

Lily wirkte verstört. „Was, Ihr denkt, Crimson hätte... Aber nein, nicht er.“

„Aber Ihr habt nur seine Aussage, nicht wahr?“ hakte Endymion nach.

Das konnte die Fee nicht leugnen. „Dennoch... er könnte ein Mittel, das er benutzt hat, ganz einfach neutralisieren, ohne mich auf sich aufmerksam zu machen, also warum sollte ich glauben, dass er am Zustand der Kinder schuldig ist?“
 

„Crimson, ist alles in Ordnung?“ Shiros Hand lag sachte auf seinem Arm, was Cross auch nicht verhinderte.

Der Weißhaarige konzentrierte sich auf seinen Vater, doch die Krankenstation blieb in seinem Hinterkopf, als stünde er direkt auf dem Gang davor.

Endymion stürzte sich gerade auf Lilys Aussage. „Ach ja? Dann könnte er das schon öfter getan haben. Vielleicht hat er ihnen sogar etwas gegeben, das ihre Erinnerungen löscht. Soweit ich weiß, ist Shiros Sohn ein begabter Alchemist! Vielleicht ist dieses Mal irgendwas schiefgegangen, so dass er Eure Hilfe brauchte...“

„Ja, alles ist gut, Paps,“ log Crimson.

Shiro glaubte ihm nicht, das war ihm deutlich anzusehen, doch er sagte nichts.

So langsam realisierte Crimson, dass er nicht träumte, und die Furcht kroch in seine Eingeweide. Wie mochte diese Situation auf einen besorgten Vater wirken, der vielleicht eh nicht ganz glücklich mit der Schulwahl seines Sohnes gewesen war?

Doch Cathy konnte ihn beruhigen. [Seid unbesorgt, Meister. Niemand wird Euch verletzen, denn ich weiß, dass Ihr den Kindern nichts angetan habt. Vermutlich wird man meiner Aussage jedoch nicht glauben, denn ich bin Euer Schlossherz. Euer Wille ist immer auch der meine, und ich würde mich Euch fügen, selbst wenn ich anderer Meinung wäre. Ich lüge, töte oder sterbe für Euch, wenn Ihr es wünscht.]

Ob der Geist die Fähigkeit hatte, ihm bestimmte Gefühle zu vermitteln, wusste Crimson bisher nicht, aber die Worte halfen zumindest. Er hätte es gehasst, wegen eines Gerüchts umgebracht zu werden. [Ich werde darauf bestehen, dass sie den Weg reparieren, bevor sie gehen, Cathy.]

[Ja doch, ich bitte darum!] Cathy befand sich für alle sichtbar neben Lily, die im Moment die einzige anwesende Schlossbewohnerin auf der Krankenstation war, wenn man von den schlafenden Kindern absah. Das Schloss war in leichter Alarmbereitschaft und nahm bewusster als sonst die anderen Magier wahr. Am auffälligsten war wohl Mava, der sich gerade mit einer Auswahl von Ausrüstungsgegenständen bewaffnete und auf den Weg zu den Gästen machte, nur für den Fall.

Crimson interessierte sich vorrangig für die Sicherheit der Kinder, obwohl er sich um die wohl keine Sorgen machen musste. Er konnte Saambell und Rosi in ihrem Zimmer entdecken, wo sie sich im Schrank versteckt hatten. Legend und Veiler jedoch rannten gerade durch das Schloss, trafen unterwegs auf Mava und eilten mit ihm zur Krankenstation.

Mava hielt die Jungen zurück. „Wartet, wir wissen nicht, wer die sind.“ Er hatte geschickterweise keine Waffe als Ausrüstung gewählt, um nicht gleich als Bedrohung zu gelten, aber Crimson konnte seine Kraft in jeder Mauerritze spüren, die er passierte.

Legend und Veiler blieben hinter ihm, als der blonde Magier die Tür leise öffnete und in den Raum trat. „Gibt es hier ein Problem, Lily?“

„Ich... ich weiß nicht so recht. Diese Leute sind die Eltern der Kinder... Sie denken, Crimson hätte ihnen etwas angetan!“

„Ausgeschlossen. Crimson mag ein arroganter Kotzbrocken sein, manchmal, aber er hat es nicht nötig, Kindern Leid zuzufügen. Ich bin Maha Vailo, Lehrer an dieser Schule. Wir sollten am besten woanders darüber reden, findet Ihr nicht?“ Und Mava gelang es tatsächlich, die drei Besucher davon zu überzeugen, das Thema nicht am Krankenbett ihrer Kinder zu erörtern. Cathy folgte ihm, als er die Gruppe auf den Gang lotste.

„Ich will eine Erklärung! Warum ist mein Sohn in diesem Zustand?“ brauste Endymion sogleich auf.

Einem Gedankenimpuls seines Herrn folgend, mischte sich das Schlossherz in das Gespräch ein, bevor Mava antworten konnte. „Erstmal solltet Ihr mir erklären, warum Ihr den Weg vor dem Eingang total ramponiert habt! Ihr kommt mit Drachen und greift mit Magie an, als wolltet Ihr das Schloss stürmen! Seid bloß froh, dass mein Meister sich nicht gewehrt hat, sonst hättet Ihr keinen Fuß auf dieses Grundstück setzen können!“

Tatsache war, dass die magische Verteidigung noch nicht auf der Höhe war, aber das musste man ja nicht verraten.

„Ich mache keine halben Sachen, wenn es um meinen Jungen geht!“ erklärte Endymion energisch.

Der andere Magier konnte sich besser zusammenreißen. Sein Kleidungsstil wich vom üblichen Magierstil ab und sah technologisch aus. Er hatte blasse, bläuliche Haut und blondes Haar. „Ich bin Cybernec, und dies ist meine Frau Creata. Milla ist unsere Tochter. Mein Freund Endymion hier ist der Vater von Dharc. Die beiden gingen zusammen auf die Akademie, daher kennen wir uns. Wir beschlossen gemeinsam, einem Gerücht nachzugehen, das uns zu Ohren gekommen ist. Demnach soll Crimson, Sohn des Hüters des Kristallschlosses und neuerdings Leiter dieser Schule, sich mit Vorliebe Kinder ins Bett holen. Das Kristallschloss lag auf dem Weg, daher landeten wir dort, um mit White Skill zu reden. Er stritt natürlich alles ab, wie es ein Vater nun einmal tut. Dann wollte er sich heimlich davonmachen, um seinen Sohn zu warnen, also folgten wir ihm und fackelten nicht lange... schließlich wollten wir nicht riskieren, dass der Kerl abhaut.“

Crimson stöhnte innerlich, als er diese Szene beobachtete. Dann war es gewissermaßen die Schuld seines Vaters, dass die Gruppe so aggressiv gehandelt hatte! Aber das musste er ihm nicht unter die Nase reiben – schon gar nicht im Moment.

„Euch ist ein Gerücht zu Ohren gekommen, und das ist alles?“ hakte Mava nach. „Hätte man da nicht diplomatischer vorgehen können?“

„Wie gesagt... wir wollten nicht, dass er abhaut,“ betonte Cybernec. „Schließlich hat Crimson nicht gerade den besten Ruf, wenn auch bisher keinen schlechten...“

„Ähm... wenn wir was dazu sagen dürften...“ meldete sich Veiler zu Wort.

„Halten ihr euch mal da raus, Jungs,“ ermahnte Endymion die Schüler.

„Wir sollen uns raushalten, ja?“ meinte Legend verärgert. „Dabei wissen wir, was mit Milla und Dharc ist!“

„Er steht nicht auf Kinder, wir haben es getestet!“ rief Veiler, als Endymion schon zu einer Erwiderung ansetzte.

Alle starrten die beiden Jungen schweigend an. Legend nutzte die Gelegenheit und zog einen Bogen Papier aus seiner Tasche. „Hier... diesen Brief hat Milla gekriegt. Darin schreiben ihre Eltern, dass sie sofort die Schule verlassen soll, weil der Lehrer pädophil sein könnte. Milla mochte das aber nicht glauben. Sie war ein oder zwei Tage ganz komisch, bis sie es uns schließlich sagte. Uhm... wir haben sie und Dharc überredet, das hilflose Opfer zu spielen, an dem sich jemand vergreifen würde, der auf Kinder steht.“

„Das musst du uns erklären,“ verlangte Creata. „Was habt ihr mit Milla gemacht? Warum ist sie bewusstlos? Sie soll irgendein Mittel genommen haben!“

Legend war offensichtlich peinlich berührt. „Äh, ja... das ist ein Zeug gewesen, das ich besorgt habe, ich meine... ich hatte es schon länger. Ist eigentlich harmlos, wenn man alt genug ist und Erfahrung damit hat, aber bei Kindern in Millas Alter, die das noch nie genommen haben, wirkt es wie zuviel Alkohol. Wahrscheinlich erinnern sie sich später nicht. Wir haben dafür gesorgt, dass Milla Crimson über den Weg lief, als er ganz alleine mit ihr war, sie sich nicht wehren konnte und kaum was anhatte. Natürlich haben wir auf sie aufgepasst. Wir haben uns hinter der nächsten Ecke im Gang versteckt. Der Direktor hat Milla einfach nur zu Lily gebracht. Zur Sicherheit versuchten wir es dann nochmal mit einem Jungen, also Dharc, da ist auch nichts passiert.“

Die drei Eltern starrten Legend entgeistert an. Auch Mava wusste nichts dazu zu sagen.

„Vielleicht hat er gewusst, dass ihr da wart,“ meinte Endymion schließlich. „Er ist der Schlossherr, oder? Sein Schlossherz könnte ihn gewarnt haben.“

„Ich habe meine Augen nicht überall!“ zischte Cathy ihn an.

„Aber vielleicht, wenn er nicht erwischt werden will,“ beharrte der Magier.

„Er hat ihnen nichts getan,“ wiederholte Legend, und Veiler nickte dazu. „Wir alle verehren Direktor Crimson, und er hat uns nie enttäuscht. Wer hat überhaupt dieses blöde Gerücht verbreitet?“

Die drei sahen einander fragend an. Cybernec sagte: „Nun... es wurde uns von einem unserer Bekannten erzählt, einem Magier, der es von seinem Sohn gehört hat, der wiederum... naja ihr wisst doch, wie sich sowas verbreitet.“

Crimson konnte sich seinen Teil dazu schon denken, entschied jedoch, dieses Argument nicht anzuführen, denn alles konnte ihm als Ausrede ausgelegt werden. Olvin hatte anscheinend schon eifrig daran gearbeitet, sein Leben zu ruinieren. Und wenn es sehr schlecht lief, wurde er dieses Gerücht nie wieder ganz los. Manche Sachen hafteten einem ewig an.

„Ja, sowas verbreitet sich viel zu schnell,“ bemerkte Mava. „Und hinterher weiß keiner mehr, wo es herkommt. Vielleicht hat ganz am Anfang mal einer was missverstanden.“

„Was ist das hier für eine Versammlung mitten auf dem Gang?“ schaltete sich plötzlich eine weitere Stimme ein. Niemand hatte Paladia bemerkt, bis sie fast bei ihnen war. Sie stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, mit der anderen hielt sie ihren Bauch. „Der Vater meines Kindes soll herkommen. Danach könnt ihr mit ihm klären, was immer es zu klären gibt. Aus dem Weg.“

Die hochschwangere Amazone hatte eine solche Autorität an sich, dass niemand sich ihr in den Weg stellte. Aber vielleicht lag es auch an ihrem mühsam beherrschten Gesichtsausdruck und der generellen Art, wie sie sich verhielt. Creata eilte an ihre Seite und stützte sie. Endymion hielt die Tür auf, und drinnen nahm Lily sie in Empfang. Da sie seit Tagen darauf vorbereitet war, gab es kein Problem.

„Jemand muss meinen Meister herholen!“ erinnerte Cathy die Gruppe.

Besagter Meister regte sich nämlich draußen plötzlich sehr auf. „Meine Tochter wird geboren!“ rief Crimson, an Cross gewandt. „Nimm mir das ab! Ich muss zu Paladia!“

Der Ritter schaute verständnislos von ihm zu Shiro. „Ist das eine neue Masche?“

„Paladia ist eine Amazone,“ erklärte der Lichtmagier. „Sie ist hochschwanger. Anscheinend bekommt sie gerade ihre Wehen – mein Sohn müsste es wissen, er ist der Schlossherr.“

Cross wurde es sichtlich unbehaglich zumute. Er musste eigentlich auf einen Befehl warten, doch wollte im Schattenreich auch niemand den Zorn einer Amazone auf sich ziehen, die gerade Mutter wurde. Was ihre Kinder betraf, nahmen Amazonen alles sehr ernst.

„In Paladias Stamm ist es Brauch, dass sie den Kindsvater bei der Geburt bei sich haben wollen. Ich muss zu ihr, doch ich muss zuvor etwas aus meinem Turm holen,“ drängte Crimson.

Shiro, der das bestätigen konnte, nickte zustimmend. „Crimsons Mutter ist auch eine Amazone, deshalb weiß ich, dass er die Wahrheit sagt. Es ist eine Art Ritual. Ein Junge wird nach der Geburt direkt dem Vater übergeben. Die Mutter bleibt zwar noch ein paar Tage oder Wochen, um das Kind zu stillen, doch alle anderen Aufgaben übernimmt der Mann, während sie sich von Anfang an distanziert. Vermutlich fällt es auch einer Amazone nicht leicht, ihren Sohn zu verlassen. Ist es eine Tochter, dann darf der Vater einige Tage lang für Mutter und Kind sorgen, ehe die Amazone von ihm geht und ihr Kind mitnimmt. Traditionsgemäß bekommt das Kind von dem Elternteil, das es verlässt, ein Schmuckstück zur Erinnerung geschenkt.“

„Eine Geburt kann Stunden dauern. Ich warte auf meine Befehle,“ entschied Cross.

Crimson wäre am liebsten einfach vor ihm geflüchtet, aber er war in keiner Position dafür. Wenn er sich nicht fügte, wurde alles nur noch schlimmer. Doch unter diesen Umständen fiel es ihm schwer, sich zu beherrschen. Er bekam mit, dass drinnen alles gut verlief. Lily kommandierte alle herum. Sie brachten Paladia zu einem Bett in einem abgeteilten Bereich der Krankenstation, und Creata half mit, als hätte sie das schon oft getan. Die Männer indessen standen schweigend irgendwo herum und führten gelegentlich eine Anweisung aus. Auf Cathys Drängen hin und nach Paladias dritter, diesmal sehr energischer Aufforderung machte sich Endymion schließlich auf den Weg, um seinem Ritter weitere Befehle zu geben. Crimson verfolgte seinen Weg, ließ Cathy jedoch bei Paladia bleiben, damit er dort alles mitbekam.

Als wäre die ganze Aufregung jetzt nicht schon genug, kam es natürlich noch dicker. Ein weiterer Drache befand sich im Anflug. Er kreiste zweimal über dem Schloss, da er wohl unschlüssig war, wo er landen sollte. Crimson erkannte den Berserkerdrachen von Lord Genesis und fragte sich, ob es jetzt etwa auch noch Schelte von dem Vampir gab, doch als der Drache einmal in eine Kurve ging, sah er, dass drei Reiter auf ihm saßen, die allesamt gewiss nicht Genesis selbst waren. Er war jedenfalls auch gesehen worden, und so entschieden die Ankömmlinge wohl, in seiner Nähe zu landen. Der Berserkerdrache setzte zwischen den vier bereits anwesenden Drachen und den drei Menschen auf, und von seinem Rücken sprang...

„Yugi?!“

Der kleine Magier kam auf ihn zu gerannt, das Gesicht ganz besorgt. „Hey, Crimson! Hast du Probleme?“

„Könnte man sagen.“

Cross verhinderte nicht, dass Yugi sich näherte, anscheinend hatte er keine Befürchtung, dass sein Gefangener floh, solange dieser die Fessel trug. Yugi hatte eine schwarze Lederkombination an, die sehr nach der Welt des Blauen Lichts aussah, aber seine Haare waren zu einem strengen Zopf gebunden und ganz platt. Furchtlos betrat er die Szene, und kurz nach ihm tauchte noch ein Yugi auf, der nur etwas größer war, aber ansonsten kaum anders aussah, bis auf die härteren Gesichszüge. Das war dann wohl Yami, auch bekannt als der Pharao.

„Shiro, hallo!“ begrüßte Yugi nun auch seinen Vater. „Ihr beide kennt Yami, nehme ich an, so mehr oder weniger?“

Yami nickte beiden zu. „Ich konnte es kaum erwarten, euch persönlich kennen zu lernen. Wir sind uns einmal im Duell begegnet, Crimson.“

„Oh, ja... das.“ Crimson lächelte schief. „Willkommen auf Schloss Lotusblüte.“

Dann betrat noch jemand die Szene, und mit ihm hatte Crimson jetzt nicht gerechnet. Erst hielt er ihn für Blacky, den Magier des Schwarzen Chaos, doch er war muskulöser und hatte keine sichtbaren Pupillen. Seine Kleidung sah nach den vornehmen Sachen aus, die Genesis immer seinem Besuch aufdrängte, doch er schien sich entweder erfolgreich gegen einen Zopf gewehrt zu haben, oder er hatte ihn schon wieder gelöst. Er bewegte sich etwas zurückhaltend, jedoch nicht etwa ängstlich. Als er einen Arm seitlich ausstreckte, schrumpfte der Berserkerdrache auf Vogelgröße und landete darauf.

Crimson konnte es kaum glauben. „Sorc.“

Der Nutzen des Chaos

Kapitel 7: Der Nutzen des Chaos
 

Crimson hatte schon schlimmere Tage erlebt. Zum Beispiel, als man ihm den Rücken aufgeschnitten hatte, oder als er für eine große Drachenbeschwörung geopfert worden war. Das beides ging auf Sorcs Rechnung, und der stand jetzt gerade neben ihm, als wäre das ganz normal, zusammen mit Yugi, Yami und dem Berserkerdrachen von Lord Genesis.

Nun war es an sich nicht schlimm, Besuch zu bekommen, auch wenn es dabei um einen Feind ging – Crimson war noch nicht bereit, zu ehemaliger Feind überzugehen. Schlimm fand er, dass er selbst dabei recht ramponiert aussah, eine magische Fessel trug und von einem Magier-Ritter bewacht wurde, der für jemanden arbeitete, der gehört hatte, dass Crimson Kinder vernaschte. Genau genommen, die Kinder an seiner Schule, von denen zwei heute früh unter Drogen stehend aufgegriffen worden waren, und dafür machten die Eltern jetzt ihn verantwortlich. Und ganz nebenbei bekam Paladia da drinnen gerade ihr Kind, während Crimson vor den Toren seines eigenen Schlosses warten musste. Alles kein Problem, oder?

Crimson versuchte, Ordnung in seine sarkastischen Gedanken zu bringen und atmete einmal tief durch. „Paps. Du darfst ja wohl hinein, nicht? Bitte hol die kleine Schachtel von meinem Schreibtisch... eine schwarze mit meinem Zeichen drauf.“ Er hatte sein Siegel-Tattoo in vereinfachter Form zu seinem Zeichen gemacht, für gewöhnlich rot auf weißem oder schwarzen Grund. Er malte es auf alles, was sein privates Eigentum war, und überlegte schon, seine Schulflagge entsprechend zu gestalten.

Shiro blickte zweifelnd in die Runde, denn er ließ seinen Sohn augenscheinlich nur ungern in dieser Situation allein. Doch andererseits vertraute er Yugi... sie beide taten das. Und sie vertrauten Genesis. Crimson wusste zwar nicht, was Sorc hier zu suchen hatte, aber das Problem konnte er sich für später aufheben, denn ihn konnte nur Genesis geschickt haben, und Yugi sah auch nicht so aus, als wäre er eine Geisel des Chaoshexers.

„Ich gehe, aber mach keine Dummheiten,“ sagte Shiro und strich sich die Haare glatt. „Wir treffen uns bei ihr...“

Crimson nickte. Er musste nur noch auf Endymion warten... und das schien ewig zu dauern. Aber wenigstens musste er sich dann nicht mehr damit aufhalten, die Schachtel zu holen. Paladia würde ihm nie verzeihen, wenn er nicht bei der Geburt ihrer Tochter anwesend war. Fast hoffte er, es wurde ein Sohn, gerade weil sie so von einer Tochter überzeugt war.

Während er wartete, hatte er Gelegenheit, mit den Neuankömmlingen zu reden. „Was, ähm... hat das zu bedeuten, Yugi?“ Er blickte von einem zum anderen.

„Na... wir sind auf Urlaub hier. Hab ich dir doch geschrieben!“

„Hast du? Oh...“ Ja, der Brief... der noch immer ungelesen in seinem Turmzimmer lag. Mist!

Yugi schien die Situation zum Glück schnell zu erfassen. „Du erinnerst dich sicher, dass ich dir wegen Sorc geschrieben habe,“ half er ihm auf die Sprünge. „Er hat eine Bewerbung an dich geschickt, und Genesis meinte, wir sollten ihn gleich mitbringen. Da du nicht widersprochen hast, haben wir es so gemacht. So hatte ich es ja im Brief vorgeschlagen. Uhm... du hast nicht etwa deine Meinung geändert? Ich meine... sieht aus, als hättest du inzwischen andere Sorgen.“

„Oh, ahahaha... ja, ich meine, nein, schon gut. Ich könnte hier wirklich mehr Leute gebrauchen.“ Was er ausgerechnet mit Sorc anfangen sollte, war ihm freilich schleierhaft, aber er benötigte mehr Energiequellen für sein Schloss. Und Chaosmagier waren diesbezüglich immer recht ergiebig.

Der Berserkerdrache war auf Sorcs Schulter geklettert und kuschelte sich an seinen Kopf. Das musste man sich mal vorstellen. Er kuschelte sich an seinen Kopf! Der Magier musste sich in letzter Zeit gut mit Genesis' Haustier angefreundet haben. Nun, wie lange war es jetzt her? Neun Monate?

„Kommen wir vielleicht ungelegen?“ fragte Yugi weiter.

Über diese Frage musste Crimson nachdenken. Einerseits freute er sich über das Wiedersehen, aber zur Zeit hatte er so viel anderes im Kopf, dass er es wohl kaum genießen konnte. „Ich werde dieses kleine Problem hier...“ Er hob die gefesselten Hände. „sicher bald los sein. Aber ich muss zu Paladia und kann mich im Moment nicht um euch kümmern. Ähm...“ Eine Lösung für dieses Problem bot sich eigentlich an. „Sorc kennt sich hier aus.“

Der Chaosmagier nickte zur Bestätigung. Er schien es kein bisschen unangenehm zu finden, dass er jetzt wieder hier war. Nur war er jetzt nicht mehr der Schlossherr. Aber das schien ihn nicht weiter zu kümmern. Leute wie er zeichneten sich eben durch ihre extreme Anpassungsfähigkeit aus.

Doch inzwischen war wohl auch bei Cathy die Information angelangt, wer hier zu Besuch kam. Der Schlossgeist verließ seinen Posten an Paladias Bett nicht, doch sein Zorn schwappte in Crimsons Geist wie ein Hammerschlag. [DU! GEH BLOSS WEG!]

„Uh... Cathy, nicht doch!“ Crimson griff sich an den schmerzenden Kopf.

[Ihr wollt ihn nicht wirklich reinlassen, Meister! Nein, das wollt ihr nicht!]

„Was ist denn los mit dir, Cathy...“ Crimsons Knie drohten nachzugeben. Yugi und Yami standen besorgt neben ihm, als er seine Umgebung wieder bewusst wahrnahm.

„Du bist noch nicht so lange mit dem Geist verbunden, nicht wahr?“ erkundigte Sorc sich.

[Was weiß er denn schon!]

„Doch... seit fast neun Monaten, aber... oh. Nun, in gewisser Weise...“ Crimson wollte seinem Feind nicht zu viel erzählen, schon gar nicht in Gegenwart des Ritters. Warum fühlte er sich überhaupt gemüßigt, dem Kerl zu antworten? Dieses Schloss ging ihn nichts mehr an. Er hatte es bewohnt, ohne sich um das Schlossherz zu kümmern, und es dann einfach wieder verlassen... Moment, das kam von Cathy. Crimsons Gedanken drehten sich eher um andere Dinge, andere Gründe, aus denen er Sorc unsympathisch fand.

„Verbindungen einzugehen hat Vorteile,“ sinnierte der Blauhäutige, scheinbar an die Allgemeinheit gewandt. „Aber man muss aufpassen, dass man sich selbst dabei nicht verliert.“

Zu seinem Verdruss musste Crimson ihm Recht geben. Vielleicht hatte er das auch instinktiv gewusst und sich deshalb dem Schlossgeist zunächst verweigert. Aber nun war es zu spät, und im Großen und Ganzen war es gut, so wie es war. Klar, er hatte etwas von seiner Individualität geopfert, aber dafür war er auch daran gewachsen. Fast wörtlich. Es war, als würde er jemandes Hand halten, so dass er nicht mehr allein bestimmen konnte, wohin er ging. Aber gleichzeitig hielt diese Hand auch ihn. Immer. Auch, wenn er fiel.

„Das Herz ist wütend, hm?“ Sorc lächelte amüsiert. Es war gruselig. „Sie können recht eigensinnig sein, die Schlossgeister, besonders, wenn sie eigensinnige Herren hatten. Ich frage mich, was die Verbindung mit dir aus ihm macht. Dein Nachfolger wird sich einer Herausforderung zu stellen haben.“

Cathy versuchte, Sorcs Energie anzuzapfen, um ihm eins auszuwischen – vielleicht mit einem schmerzhaften Energieschlag. „Lass das,“ ermahnte er den Geist. „Sei nicht unhöflich...“

Doch Cathy hatte keinen Erfolg. Sorc war nicht als Energiequelle nutzbar, anders als Yami und Yugi, die mit dem Betreten des Geländes automatisch dafür zur Verfügung standen, ob sie es nun wussten oder nicht. Crimson nahm dieses Wissen zur Kenntnis, als hätte er es selbst herausgefunden. Das war es wohl, was Sorc gemeint hatte... man dachte irgendwann nicht mehr darüber nach, dass man nicht mehr nur für sich war.

„Er redet mit dem Schlossherz,“ hörte er Sorc sagen, da die beiden Jungen sich ziemlich wunderten, mit wem Crimson sprach. „Eine Wesenheit, die im Schloss haust und ihm ein gewisses Leben einhaucht. Mauern mit einem Herz sind viel gefährlicher als bloßer Stein. Crimson ist mit ihm fusioniert, so dass er wirklich und wahrhaftig der Herr dieses Schlosses ist. Aber anscheinend ist das noch etwas neu für ihn. Die Energie fließt unstetig.“

Das ließ Crimson aufhorchen. „Hey! Woher willst du das wissen?“

Sorc lächelte hintergründig. „Das sieht man doch.“

Während Crimson sich noch darüber wunderte, konnte Cathy nicht länger an sich halten und erschien vor der Gruppe. Er wirkte blasser als sonst, aber das mochte an der Lichtintensität im Freien liegen. „Du!“ fauchte er Sorc an. „Unwürdiger! Hast meine Mauern mit deiner Anwesenheit beschmutzt, es aber nicht für nötig befunden, dich um mich zu scheren!“

„Ah, daher weht der Wind,“ meinte der schwarzhaarige Magier belustigt. „Aber denk mal nach: Wolltest du wirklich einen Chaosmagier als Herrn haben? Wir gelten allgemein als instabil und risikoreich für ein Schlossherz. Unsere Entscheidungen sind nicht immer das, was andere rational nennen würden. Eine Fusion mit mir hätte dich ruiniert.“

„Wer behauptet das?“ empörte Cathy sich. „Ich bin doch nicht so ein hirnloses Stufe Eins!“

„Eben. Die haben kein eigenes Bewusstsein, deshalb würden sie mit meinesgleichen klarkommen. Aber sie sind zu schwach für das Chaos. Stell dir ein ganzes Schloss vor, beherrscht von den Gedanken eines irrationalen Gehirns...“ Sorc machte eine Geste mit den Händen, die deutlich eine Explosion darstellen sollte. „Und jetzt sei mal bloß froh, dass ich Malice nichts von dir erzählt habe.“

Wenn Geister erröten konnten, dann tat Cathy es gerade, und zwar in einer Mischung aus Abscheu, Wut und der Verlegenheit, diesen Aspekt nicht bedacht zu haben.

„Sorc, du öffnest dich ihm nicht. Wenn du in diesem Schloss lebst, musst du deine Reserven zur Verfügung stellen.“ Crimson verschwieg, wie sehr sie jeden Mann brauchten, hatte aber das Gefühl, dass er daraus eh kein Geheimnis machen konnte.

„Genau, also kannst du gleich wieder gehen, du Geizkragen,“ zischte Cathy Sorc an.

„Ach, daran soll es nicht scheitern,“ meinte der Chaosmagier leichthin, und dann musste Crimson erneut alle seine Willenskraft aufbringen, um sich vor einer Flut neuer Eindrücke zu schützen, die durch Cathy auf ihn einströmte.

Sorc war unglaublich, seine Kraft gewaltig. Aber das Gute – in dem Fall – war, dass seinesgleichen sich sehr schwer damit tat, all diese Macht in geordnete Bahnen zu lenken. Er hatte seine magischen Barrieren von einer Sekunde auf die andere gesenkt, ein Vorgang, den man normalerweise etwas vorsichtiger und langsamer anging, erst recht, wenn jemand in der Nähe war, der einem feindlich gesonnen war.

Cathy wollte sich sofort auf Sorc stürzen und seine Energiereserven plündern, doch Crimson hielt ihn auf. Er musste den Befehl gar nicht aussprechen, es war, als hielt er sich selbst davon ab, es dem Chaosmagier heimzuzahlen. Cathy und er wollten es beide, aber Crimson beherrschte den Impuls, zumal es sehr unfreundlich gewesen wäre, Sorcs Vertrauen derartig zu hintergehen. Und es war Vertrauen, was Sorc hier demonstrierte. Wenn ein Magier sich so entblößte, war er entweder in einer akuten Zwangslage, oder er vertraute darauf, dass er es überlebte. Oder er war verrückt.

Ehe Crimson weiter darüber nachdenken konnte, traf endlich Endymion ein. „Eure Frau wünscht Eure Anwesenheit,“ verkündete er. „Außerdem hat es hier wohl tatsächlich ein Missverständnis gegeben. Aber ich behalte Euch im Auge!“ Er gab Cross ein Zeichen, und daraufhin löste der Ritter die Fessel von Crimsons Handgelenken.

Der Weißhaarige gönnte sich den Luxus, sich mit Magie vom Staub zu reinigen und seine Haare zu ordnen, ehe er zu Paladia eilte. Er verzichtete angesichts der Eile darauf, sich noch etwas mit Endymion anzulegen – schließlich hätte dieser sich ja wenigstens mal entschuldigen können. Dummerweise war seine Kleidung immer noch rissig und seine Haut zerschrammt, aber immerhin sauber. Für solche Unwichtigkeiten fehlte ihm jetzt die Zeit und die Konzentration.

Yugi, Yami, Sorc, Endymion, Cross und Cathy blieben ihm auf den Fersen, betraten aber die Krankenstation nicht. Als Crimson eintraf, erhob sich Shiro von einem Stuhl neben Paladias Bett, wo er die Stellung gehalten hatte. Er machte jetzt aber Platz für seinen Sohn und steckte diesem im Vorbeigehen die Schachtel zu, die er geholt hatte. Crimson steckte sie in eine Tasche in seiner Robe.

„Ah, wir haben schon auf dich gewartet,“ begrüßte Lily ihn. „Hier!“ Sie warf ihm ein Haarband zu, das er gleich benutzte, um sich einen Nackenzopf zu binden.

„Du bist spät dran!“ keuchte Paladia.

„Du brauchtest mich nicht zum Händchenhalten, oder?“ erwiderte er neckisch.

„Du weißt, wo dein Platz ist, Magier,“ gab sie zurück.

Oh ja, darauf war er vorbereitet. Der Mann wurde an ihrer Seite nicht gebraucht, um bekräftigend ihre Hand zu halten, während sie von lieben Ärztinnen umsorgt wurde. Nein, er musste beweisen, wie hart er wirklich war. Manch einer kippte beim Anblick all des Blutes einfach um, auch wenn er Blut schon oft in der Schlacht gesehen hatte. Es war eben keine saubere Angelegenheit, beides. Crimson wusch sich die Hände in einer bereitstehenden Schüssel, während Lily und Creata sich taktvoll entfernten.

Paladia lächelte erleichtert, als er sich ihr zu wandte. Tränen traten in ihre Augen. Ihre tapfere Fassade fiel, und sie erlaubte ihm, ihre Schwäche zu sehen. „Crimson... ich habe noch nie ein Kind bekommen. Vermassel es ja nicht!“ flehte sie ihn an.

Er lachte leise. „Wie könnte ich das vermasseln? Du bist die Gebährende!“ Aber er machte das auch zum ersten Mal, da half es auch nicht, dass er bei Lily einen Lehrgang absolviert hatte. Nichts desto trotz musste er ihr jetzt Stärke vermitteln, denn in dieser Situation war auch eine Amazone völlig hilflos. Also tat er so, als wüsste er ganz genau, wie man Kinder auf die Welt brachte. Hätte er dies voraussehen können, hätte er damals im Heilkundeunterricht besser aufgepasst...
 

Das Amazonenorakel behielt Recht: Crimson und Paladia bekamen eine Tochter. Crimson zeigte sie der Mutter kurz, ehe er sich daran machte, das Kind zu baden. Er wickelte die Kleine in saubere Tücher und hielt sie auf dem Arm, genoss das Gefühl... doch nur kurz. Es war besser, sich gar nicht zu sehr auf seine Tochter einzulassen.

Dann trat er mit ihr an das Bett und reichte der Mutter das Kind. „Ich übergebe dir die neue Schwester der Amazonen. Und damit sie immer weiß, dass ihr Vater ein hochmütiger Magier ist, schenke ich ihr dies...“ Er holte die Schachtel hervor und zeigte Paladia einen Armreif, der im Moment noch viel zu groß für die Kleine war. Ein undurchsichtiger, blutroter Stein zierte das Silber, und in das Metall eingearbeitet waren kleine magische Runen. Man konnte sich denken, dass dies nicht nur Schmuck war, sondern eine praktische, magische Wirkung entfalten würde, wenn die Zeit reif war.

Paladia kicherte. „Du konntest dich nicht mit einem einfachen Ohrring zufriedengeben, was?“

„Wozu, wenn ich in dieses Artefakt alle guten Wünsche eines Vaters an seine Tochter einweben kann?“ grinste er.

Die blonde Amazone streichelte gerührt seine Wange. Einen Moment noch betrachteten sie gemeinsam ihr Kind, doch dann half er ihr, sich etwas herzurichten, und entfernte sich, um die anderen zu ihr zu lassen. Sein Verhalten hatte auch eine symbolische Bedeutung – er gab das Kind her, ließ es in ihrer Obhut und verzichtete auf alle Rechte, die er als Vater haben mochte. Aus Sicht der Amazonen hatte er natürlich ohnehin keine Wahl, aber es war wichtig, dass man sich einig war.

Shiro tätschelte väterlich seine Schulter, als er an ihm vorbei ging, um einen Blick auf seine Enkelin zu werfen. Lily wollte das Baby auch mal halten. Veiler und Legend bestaunten es und eilten dann los, um Saambell und Rosi zu holen.

Mava hielt sich etwas zurück, denn er sorgte sich immer noch um die allgemeine Sicherheit und behielt die Besucher im Auge. Er hatte Yugi und Yami anscheinend schon begrüßt, denn die beiden standen bei ihm, während Sorc in der Nähe an der Wand lehnte.

Es war etwas ungünstig, dass jeder, der zu Paladia wollte, an den Betten von Dharc und Milla vorbei musste. Aber dies war ja auch nur eine Notfallstation und nicht für längeren Aufenthalt gedacht. Die Kinder regten sich murmelnd, so dass die Aufmerksamkeit der Eltern sich ihnen zu wandte. Nur Cross blieb wachsam und beobachtete Crimson unablässig.

Yugi in seiner aufgeschlossenen Art sprang den Magier regelrecht an und gratulierte ihm. „Hey, du bist Vater! Das ist so cool!“

„Lass uns nachher das Kind ansehen, Yugi,“ schlug Yami vor. „Jetzt ist da zu viel los.

Der Schlossherr bugsierte seine neuesten Gäste zurück auf den Flur, gefolgt von Mava und Cross. „Also, könnt ihr zwei länger bleiben?“ erkundigte er sich und fragte sich im selben Moment, ob er das wollte. Eigentlich ja, aber es war momentan ungünstig mit Olvin irgendwo auf der Lauer. Andererseits würde er ihnen gewiss nichts tun. „Seit wann seid ihr eigentlich im Schattenreich?“

„Oh, wir waren schon seit etwa einer Woche bei Genesis,“ erzählte Yugi. „Appi war auch mit. Ich habe ihm gezeigt, wie die Playstation funktioniert, er war gar nicht mehr vor dem Ding wegzukriegen.“

Crimson grinste schief. „Ah ja, *das* Ding. Es gibt Sachen, für die bin ich nicht gemacht.“

„Man kann ja nicht alles können,“ neckte Yugi ihn. „Also, was ist hier los? Und bezüglich Sorc müssten wir wissen, ob er hier bleiben kann.“

Der Berserkedrache saß jetzt auf Sorcs Armen und ließ sich kraulen wie eine Katze. Crimson wusste nicht, was gruseliger war: Dass der mächtige Drache sich so verhielt oder dass Sorc darauf einging. Denn der benahm sich wie ein Katzenbesitzer. Die Anwesenheit des Chaoten mochte durchaus etwas Unterhaltung in das Schloss bringen.

Cathy drängelte sich dazwischen. Er wollte protestieren, doch Crimson sah ihn streng an, und es bedurfte keiner Worte, um seine Botschaft zu vermitteln. Selbst der Geist musste zugeben, dass Sorc eine Bereicherung wäre... wenn auch nur aus energetischer Sicht.

„Ja, ich lasse ihn bleiben,“ teilte Crimson seine Entscheidung mit. „Ich verlasse mich auf Genesis' Urteilsvermögen. Wenn er meint, dass es gut geht, soll es so sein. Sorc, ich habe keine spezielle Aufgabe für dich im Moment. Du könntest dich etwas um die Sicherheit kümmern. Schließlich... kennst du dich hier aus. Vertrag dich wenn möglich mit Catherine.“

„Ich habe mit dem Schlossherz kein Problem,“ versicherte Sorc.

Anders herum konnte man nicht so sicher sein.

„Glaubst du wirklich, dass du ausgerechnet ihn mit der Sicherheit betrauen solltest?“ gab Mava zu bedenken. „Wir wohnen hier ja jetzt schon länger, als er es je getan hat.“

Crimson fand den Einwand berechtigt, er sollte vielleicht nicht zu leichtfertig handeln. „Ah, du hast Recht. Wie konnte ich sowas Wichtiges vergessen! Sorc, schwörst du, mir und dieser Schule zu dienen, dich meinen Befehlen zu unterwerfen und stets im Sinne unserer kleinen Gemeinschaft zu handeln?“

„In Ordnung, ich schwöre bei allen Mächten des Chaos,“ antwortete Sorc ohne große Umschweife. Seine sachliche Art vermittelte irgendwie einen Eindruck von Überlegenheit, fand Crimson. Sich groß zu zieren hätte schwach gewirkt.

„Dann an die Arbeit,“ nickte Crimson.

Sorc schritt davon, als wüsste er ganz genau, was zu tun war, dabei wusste das nicht einmal der Schlossher selbst. Aber Crimson war froh, eine Aufgabe abgegeben zu haben. Cathy behielt den Chaosmagier misstrauisch im Auge und überwachte ihn auch noch, als er schon außer Sicht war.

Shiro gesellte sich zu ihnen. „So... kehrt jetzt Ruhe ein? Du wolltest mir noch etwas erzählen, mein Sohn.“

„Ja, aber das hat noch Zeit, bis Endymion und seine Leute weg sind,“ entgegnete der Weißhaarige. Er versuchte, seine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen, damit Cross nicht auf die Idee kam, er hätte etwas zu verbergen.

Shiro verstand den Wink. „In Ordnung, ich gehe mal nach Kuro sehen. Der hat wahrscheinlich im Garten gearbeitet und nichts von alledem mitbekommen, der Schuft.“

„Ja, mach das, Paps... ich brauch jetzt ein Bad. Kommt ihr mit, Jungs?“

Yugis Augen wurden groß und er lächelte erwartungsvoll. „Hast du heiße Quellen?“

„Ja, sicher... allerdings im Keller, nicht unter freiem Himmel, wie's bei Dark war. Ist etwas finster da, aber ich habe es ganz gemütlich hingekriegt.“ Mit ein paar Badezimmermöbeln und Dekogegenständen... aber im Prinzip wirkte es dort immer noch wie in einem Kerker, das ließ sich wohl nicht wirklich ändern. Vielleicht assoziierte das auch nur er so aufgrund seiner Erfahrungen. „Ansonsten hätte ich auch noch ein Meer anzubieten.“

„Nein, der Keller klingt toll!“ freute Yami sich. „Wir könnten auch ein Bad vertragen nach der Reise. Aber wir haben gar keine Sachen zum Wechseln dabei, Genesis meinte, du hättest was. Er schickt unser Gepäck nach.“

Crimson musste lachen. „Ja, ich glaube, jedes Schloss im Schattenreich hat irgendwelche Kleidung für Gäste!“

Er zeigte ihnen das Bad, wobei der Weg dorthin teilweise derselbe war wie zu den Kerkern. In letzter Zeit hatte er vermutet, dass dies nicht immer Kerker gewesen waren. Vielleicht hatte Sorc sie einfach nur so benutzt. Warum sollte man sonst ein Entspannungsbad in der Nähe haben?

Yugi und Yami waren begeistert.

„Cool! So richtig... Gothic Style!“ rief Yugi.

„Vielleicht würde es noch mehr hermachen, wenn man die Wände sandfarben verkleidet, mit Darstellungen von Falken und Katzen...“ überlegte Yami. „Dann wäre es heller. Man könnte die Regale statt aus Holz aus hellen Sandsteinen machen, hier ein Feuerbecken als Lichtquelle...“

„Hm, das wäre ne Idee,“ stimmte Crimson zu. Er machte für gewöhnlich mit ein paar Leuchtkugeln Licht, um Fackeln zu sparen, zumal die auch immer die Wände vollrußten.

Wie auch in einem japanischen Bad wuschen sie sich erst und weichten sich dann in dem heißen Becken ein, insofern war es gar keine Umstellung für die beiden. Crimson band sich die Haare hoch und ließ sich wohlig seufzend bis zum Hals in das Wasser sinken.

„Ist uns eigentlich dieser Ritter noch gefolgt?“ fiel es Yugi dann ein.

„Wir könnten ihn einladen,“ witzelte der Magier. „Vielleicht wartet er vor der Tür, oder sie haben endlich gerafft, dass ich als Schlossherr nicht einfach abhauen werde.“ Er hatte jedenfalls nicht weiter auf Cross geachtet, wie er sich eingestehen musste.

„Erzählst du uns nachher, worum es hier eigentlich geht?“ fragte Yami. Beide Mutous sahen Crimson abwartend an.

Der Weißhaarige willigte zögernd ein. „Na gut... aber erst, wenn Paps dabei ist. Ich hätte gerne mit ihm allein geredet, aber es ist ja Blödsinn, alles zweimal zu sagen, wenn einmal reicht. Wollt ihr eigentlich ein Gästezimmer für zwei haben? Ich kann euch auch in einem der Schlafzimmer für Jungen unterbringen.“ Das wollten sie ganz bestimmt nicht. Crimson dachte da eher an eins der Zimmer in seinem Turm, aber vielleicht nicht direkt unter seinem. Schließlich wollte er ja noch schlafen können.

Das Gespräch wandte sich nun hauptsächlich der Planung für den Rest des Tages zu, was Crimson lieber war als irgendwelche heiklen Sachen. Einen Vorteil hatte all die Hektik aber immerhin... Zeitweise hatte er Olvin ganz vergessen.

Er musste unbedingt bald mal den Brief lesen, den Yugi geschickt hatte, nur um sich nicht ganz zu blamieren...

Unausgereifte Pläne

Kapitel 8: Unausgereifte Pläne
 

Nach dem Bad stattete Crimson sich und seine jungen Gäste mit Bademänteln aus und zeigte ihnen dann ein Zimmer, das nicht wirklich benutzt wurde, wo aber eine Menge an Kleidung lagerte. Cross folgte Crimson wie ein Schatten und wartete schweigend vor der Tür. Die Gruppe beachtete ihn kaum, sondern widmete sich den Kleiderbeständen. Alles roch etwas muffig.

„Tut mir Leid, wir sind noch nicht so gut organisiert,“ meinte er schulterzuckend. „Wir haben auch noch keinen, der die Wäsche wäscht, das macht im Moment immer der, der gerade Dienst hat.“ Er verschwieg mal, dass der passende Dienstplan auch nicht immer ganz klar war, meistens machte es halt irgendwer, manchmal auch jeder für sich.

„Ach, macht doch nichts,“ winkte Yugi ab. „Ich finde es aufregend, dass wir deine Schule in ihrer Entstehung sehen können. Ist doch klar, dass noch nicht alles perfekt läuft.“

Tatsächlich hatte Crimson sich manche Sachen einfacher vorgestellt, andere ganz vergessen oder auf später verschoben... aber er hatte nicht aufgegeben, auch wenn er manchmal schon alles hinschmeißen wollte.

Yugi und Yami suchten sich jeder etwas aus. Es gab schlichte Roben in interessanten Farben wie zum Beispiel Rosa oder Babyblau, aber auch in kräftigen Gelbtönen, Blütenweiß und Frühlingsgrün. Anscheinend war das noch ein Überbleibsel von Barbarella und ihrer geplanten Schönheitsfarm. Crimson und seine Bewohner nutzten diesen Vorrat selten. Sie bevorzugten Brauntöne, Schwarz, Violett, Dunkelblau oder – speziell er selbst – Rot.

„Hier Yami – das weiße Kleid!“ kicherte Yugi amüsiert. „Hattest du nicht auch früher, in deinem anderen Leben, Weiß an?“

„Mit Gold dazu würde es vielleicht gut wirken, aber guck dir nur den Schnitt an! Wie ein Bettbezug! Unmöglich!“

„Die Trompetenärmel sind doch toll!“

„Yugi!“

„Naja fein, dann das hier?“

„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen!“

Crimson beobachtete die beiden geduldig dabei, wie sie etwas aussuchten, das ihnen passte und zugleich ihren Geschmack traf. In der Welt des Blauen Lichts hatte man offenbar andere Vorstellungen davon, was ein Mann tragen sollte oder nicht. Ein bisschen jedenfalls. Er notierte sich im Hinterkopf, dass er Leute einstellen musste, die sich um diese Dinge kümmerten und eine eigene Modekollektion für Besucher entwerfen konnten.

Von den weißen Gewändern waren nicht mehr so viele übrig. Yami fand keines, in das er richtig hineinpasste, und musste sich deshalb für eine andere Farbe entscheiden – Goldgelb erschien ihm dann immer noch besser als Schweinchenrosa. Yugi wählte ein Hellgrün, denn es erinnerte ihn an Mava, der diese Farbe mochte, wenn er nicht sein dunkles Kartenkostüm trug. Sie banden sich Kordeln um die Hüften und zupften den Stoff etwas zurecht, so dass jeder am Ende ganz passabel aussah. Ihre Haare trockneten allmählich und wirkten jetzt nicht mehr so plattgegelt.

Crimson zeigte ihnen sein privates Zimmer und zog sich erst dort um. Seine Roben waren allerdings definitiv zu lang für die Jungs, aber Yami schaute sie sich trotzdem sehnsüchtig an, so dass der Magier glatt überlegte, ihm eine zur Verfügung zu stellen. Aber er hatte momentan nicht mehr so viele brauchbare. Heute zog er eine seiner ältesten an, nur für den Fall, dass damit wieder etwas passierte.

Yugi indessen erkundete den Balkon und schaute zum Meer hinunter, das direkt unter ihm gegen die Felsen schäumte. „Das ist voll cool, Crimson! Sorc hat erzählt, dass dies das Schloss ist, das er vorher hatte. Aber er hat bisher nicht erzählt, dass es einen Geist in dem Schloss gibt. Dafür scheint er aber viel darüber zu wissen.“

„Ja, hm... er ist etwas älter, vielleicht hat er einfach mal davon gehört...“ mutmaßte Crimson.

Yugi kam zurück ins Zimmer und verschloss die Balkontür, welche so gestaltet war wie die Fenster – aus Buntglas mit einem Muster aus Meeresmotiven, und wahlweise konnte man noch Holzläden außen davor verschließen. Wenn es zum Beispiel sehr stürmisch war. Der Junge betrachtete die Bilder neugierig und sah sich auch sonst interessiert um wie in einer Schatzkammer.

„Du hast Yugis Brief noch gar nicht gelesen, oder?“ bemerkte Yami schließlich, zumal der Brief auf dem Schreibtisch lag – geöffnet, aber ansonsten unberührt.

„Ähehehe... ich bin noch nicht dazu gekommen,“ gab Crimson zu. „Ihr glaubt nicht, was hier los war... aber das erzähle ich gleich, wenn Paps auch dabei ist.“

„Du könntest ihn ja jetzt lesen,“ schlug Yami vor. „Sonst kommst du dann wieder nicht dazu.“

Crimson nickte zögernd. Er kam sich etwas dumm vor, doch er setzte sich an seinen Schreibtisch und holte den Brief aus dem Umschlag. „Übrigens... danke für die Karte, Yugi. Wird sie jetzt eigentlich in Serie hergestellt oder wie das heißt?“

„Glaube schon,“ antwortete Yugi. „Aber ob Pegasus sie schon verkauft, weiß ich nicht.“

Crimson nickte und entfaltete das Papier.
 

Lieber Crimson,

ich habe gute Nachrichten – zumindest hoffe ich, dass du es gut findest! Yami und ich kommen dich besuchen. Wir werden mit Genesis ins Reich der Schatten reisen und ein paar Tage bei ihm bleiben. Im Moment sind wir in England auf seinem dortigen Landsitz und genießen unsere Ferien. Es regnet zwar ziemlich oft, aber das geht schon in Ordnung. Die Landschaft ist einfach super hier und wir können reiten! Yami bringt es mir bei. Er kann es anscheinend noch von früher, aber inzwischen hat er ja auch seine Erinnerungen zurück, wie du weißt.

Wir können uns ja dann noch persönlich miteinander unterhalten, daher will ich jetzt gar nicht so lange darum herum reden. Genesis hat vorgeschlagen, dass wir Sorc mit zu dir nehmen, wenn wir anreisen. Er meint, der Mann wäre bei dir besser aufgehoben als bei ihm, denn Sorc ist kein Vampir und sollte deshalb Zugang zu Tageslicht haben. Außerdem sind die Kerker der Villa nicht für längere Besuche eingerichtet und es ist zu mühsam, ein Gästezimmer dauerhaft abzuriegeln, deshalb kann sich Sorc seit einiger Zeit frei im Haus bewegen und wird von den Vampirladys immer sehr in Beschlag genommen, weil er ja eine mühelose Blutquelle darstellt. Er tut zwar so, als würde er das einfach wegstecken, aber auf die Dauer wird das nicht gehen. Genesis ist es auch lieber, wenn seine Ladys nicht so faul werden. :P

Ich muss zugeben, dass mir ein bisschen mulmig zumute ist, wenn Yami und ich dann womöglich ein Zimmer neben Sorc haben und mit ihm an einem Tisch sitzen, aber Genesis hat uns versichert, dass es kein Problem geben dürfte – solange man ihn nicht an die Playstation lässt. Genesis musste sich eine neue besorgen, weil Chaosmagie sich anscheinend nicht mit unserer Technologie verträgt. Ich habe daraufhin Großvater angerufen und ihn gebeten, meine Konsolen zu überprüfen, ich glaube nämlich, Blacky war da mal dran. Ich selbst hatte in all den Monaten, seit ich Besuch aus dem Schattenreich bei mir zu Hause hatte, gar keine Zeit mehr dafür, denn ich war voll damit beschäftigt, all die Formalitäten für Yami zu erledigen, und dann war ja da die Sache mit diesen Leuten aus Atlantis... Aber davon habe ich dir ja schon in meinen letzten Briefen berichtet.

Ich schlage vor, wir bringen Sorc einfach mit, wenn wir zu dir kommen. Sollte dir das nicht recht sein, schick uns bitte irgendeine Nachricht. In der Zwischenzeit solltest du auch eine Bewerbung von Sorc bekommen haben. Ich weiß zwar nicht als was, aber irgendwie wird er sich schon nützlich machen können. Genesis wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du ihn nimmst. Allerdings verstünde er auch, wenn du nicht willst.

Er lässt dir übrigens ausrichten, dass er die Angelegenheit sehr gerne mit dir persönlich *diskutieren* würde. Beim... Essen oder so. Irgendwie hab ich einen gewissen Verdacht, wie er das meint...

Also, wir freuen uns auf den Besuch bei dir!
 

Viele Grüße

Yugi & Yami
 

Crimson legte den Brief ohne einen weiteren Kommentar wieder weg, aber die beiden Jungs grinsten ihn vielsagend genug an. Also erzählte er ihnen ausführlich, was in letzter Zeit hier vorgefallen war, wobei er Olvins Identität aber noch nicht näher erläuterte. Im Anschluss verstanden Yami und Yugi sehr gut, dass er den Brief nicht gelesen hatte. Aber vielleicht war es ganz gut so, überlegte er. Vielleicht hätte er sich sonst dagegen gewehrt, dass Sorc herkam. Der Typ würde es aber ziemlich schwer haben, befürchtete er. Obwohl... befürchten war nicht das richtige Wort.

Seit Yugi, Yami und Sorc im Schloss waren, konnte Crimson durch Cathy spüren, dass mehr Energie zur Verfügung stand, wenn auch nicht in Unmengen. Bei den wenigen Bewohnern machten drei Personen aber schon einen Unterschied. Die anderen Gäste – Endymion und seine Truppe – wurden nicht angezapft. Cathy hatte es nicht übermäßig versucht, aber als Crimson daran dachte, erfuhr er, dass die Leute magische Sperren um sich hatten, wodurch sie geschützt wurden. Das war logisch, denn man begab sich nicht in ein Schloss mit Schlossherz, wenn man feindliche Absichten hatte oder zumindest befürchten musste, dass es zu einer Auseinandersetzung kommen könnte.

„Paps ist auf dem Weg,“ stellte er schließlich fest. „Jungs... das wird jetzt gleich etwas peinlich für mich, bitte haltet euch mit Fragen ein bisschen zurück, ja? Es fällt mir schwer genug, das meinem Vater zu erklären.“

Yugi und Yami tauschten einen Blick aus und nickten dann synchron. Sie setzten sich aufs Bett und warteten ab. Crimson blieb stehen, um seinem Vater den Stuhl am Schreibtisch anbieten zu können.

Shiro erschien kurz darauf. „Ich bin's echt nicht gewohnt, so viele Treppen zu steigen!“ schnaufte er. „Also, mein Junge, was ist los? Es hat nichts mit diesen Kindern zu tun, oder?“

„Nicht so direkt, aber jemand hat versucht, mir etwas anzuhängen. Das hat in gewisser Weise schon was mit meinem Problem zu tun... Äh, setz dich doch...“ Crimson wusste nicht recht, wie er beginnen sollte. Wenn sein Vater nun so enttäuscht von ihm war, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte?

„Crimson, du läufst sinnlos hin und her,“ bemerkte Shiro, der sich am Schreibtisch niederließ. Er verschränkte die Arme und lächelte auffordernd. „So... was hast du angestellt?“

Der Weißhaarige blickte unschlüssig auf den Fußboden. „Nun ja... Paps, du weißt, dass ich nie ein Musterschüler war...“

„Komm zur Sache.“

„Also... es ist wegen Olvin... also Professor Vindictus. Das war damals nicht ganz so, wie du es von den Lehrern gehört hast. Ich denke... nun, es ist an der Zeit, dass ich mich auch mal dazu äußere...“ Damals hatte er bequem darauf verzichtet, den Ausführungen des Kollegiums noch besonders viel hinzuzufügen, somit hatte er seinen Vater auch nicht anlügen müssen. Doch nun erzählte er die Wahrheit. Und zuletzt erwähnte er die Probleme, die Olvin ihm nun bereitete, um sich zu rächen. Er war sich vage bewusst, dass auch Yugi und Yami da waren, doch er drehte sich nicht zu ihnen um. Erst wollte er die Meinung seines Vaters hören.

„Also erzählst du mir das alles nur, weil seine Taten dich quasi dazu zwingen,“ stellte Shiro schließlich fest, nachdem er sich alles schweigend angehört hatte.

„Nun... ja.“ Das musste Crimson wohl zugeben. Unter anderen Umständen hätte er wohl für immer sein kleines, dunkles Geheimnis behalten.

„Theoretisch müsstest du dich jetzt besser fühlen, weil du dir das von der Seele geredet hast,“ sinnierte sein Vater. „Aber was gedenkst du jetzt zu tun?“ Shiro hatte den Tonfall eines ernsten Lehrers angenommen.

Crimson kannte diese Erziehungsmethode von ihm. Sein Vater schrie nicht herum, schimpfte nicht und regte sich nicht auf. Aber er verlangte, dass er seine Schuld eingestand und die Folgen trug. Das hatte er schon immer so gehalten. Er ging nicht hin und beseitigte das Problem für seinen Sohn. Doch wenn er es allein nicht schaffte, war Shiro für ihn da. Er stärkte ihm den Rücken, gab ihm Tipps, schob ihn in die richtige Richtung. Auch jetzt schien er darauf zu warten, dass Crimson ihm sagte, was er brauchte.

„Ich, uhm... ich hab da ein paar Ideen... Aber erstmal... hat Eria dir gesagt, ob sie schon bei der Akademie war? Ich habe nämlich auch dorthin einen Brief geschickt, in dem ich eine Erklärung abgebe...“ Fast hatte Crimson schon heute mit dem Besuch der Direktorin gerechnet, aber vielleicht war sein Schreiben noch auf dem Ablagestapel.

„Eria war schon dort, das hat sie mir erzählt, ja. Sie kommt aber erst morgen wieder her, weil sie beim Kristallschloss alte Freunde getroffen hat,“ antwortete Shiro. „Das ist doch in Ordnung, oder? Ich versprach ihr, dich schon zu überzeugen.“

Crimson machte eine wegwerfende Handbewegung. Er hatte damit kein Problem, schließlich war er im Moment eh kein guter Lehrer. „Du könntest mir helfen, indem du die Familie von Olvin ausfindig machst,“ überlegte er. „Soweit ich weiß, hat er einen Sohn, der sich von ihm abgewandt hat, als das damals bekannt wurde.“

Shiro hob die Augenbrauen. „So! Dann willst du ihn mit seinem Vater versöhnen.“

„Ja, so hab ich mir das gedacht. Du könntest ihn bitten, mir zu schreiben, oder mir mitteilen, wo ich ihn erreiche. Wenn du es für richtig hältst, kannst du ihm auch die Wahrheit schon erzählen. Ich werde ziemlich beschäftigt sein demnächst, denn ich muss generell Olvins Ruf aufbessern, und dann ist da noch die Sache mit seiner Gesundheit... er macht mich dafür verantwortlich, dass es ihm schlecht geht, denn das kommt daher, dass er für Sorc arbeiten musste, weil ihn sonst niemand eingestellt hat. Ich schulde ihm quasi zehn Jahre seines Lebens.“

„Naja, zumindest die wirst du kaum ersetzen können. Du kannst ihm höchstens für den Rest seines Lebens anbieten, hier zu wohnen oder so... oder auch zu unterrichten. Ich nehme an, das hast du dir überlegt?“

„Ja, aber ob ihm das reicht... Vater, ich hab da in einem Buch etwas gefunden...“

Shiro verspannte sich auf seinem Stuhl. „Wenn du mich Vater nennst, muss es sehr ernst sein.“

Das brachte Crimson zum Lächeln. „Nun ja... schon. Du wirst die Idee nicht mögen, aber ich bitte dich um deine Unterstützung. Ich will es eigentlich erstmal geheimhalten, aber dir als meinem Vater sollte ich es wohl erzählen...“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Sollen wir lieber raus gehen?“ schaltete sich nun doch Yugi aus dem Hintergrund ein.

Crimson hatte ihn und Yami fast vergessen. „Ist schon gut, Yugi, bleibt nur. Da ihr nun schonmal hier seid, werde ich auch eure Hilfe gebrauchen können.“

„Du kannst auf uns zählen!“ versprach Yami.

Also berichtete Crimson, was er plante. Er wollte sich Mühe geben mit Olvin... seinen Fehler so gut wie möglich ausbügeln. Zumal die Sache auf seinem Gewissen lastete, jetzt wo er wusste, was er mit seinem Streich damals bewirkt hatte.

Shiro hörte zu, bis sein Sohn fertig war. Es dauerte nicht wirklich lange, aber er war erst einmal sprachlos. Er schwieg eine Minute lang und murmelte dann: „Dass du so weit gehen würdest... bist du sicher, dass du das tun musst? Das Risiko, Crimson... ich will dich nicht verlieren!“

„Aber du verlierst mich doch nicht,“ protestierte der Weißhaarige.

„Du setzt dein Leben aufs Spiel,“ beharrte Shiro. „Auf eine Art, die ich nicht gutheißen kann... auch wenn der Zweck mir einleuchtet und alles. Dein Plan ist nobel. Aber als dein Vater kann ich das nicht gut finden, ebenso wie all deine Freunde es nicht gut finden werden.“

„Aber es ist richtig so, davon bin ich überzeugt.“

„Dann musst du es tun.“ Shiro seufzte unglücklich. „Ich habe dich immer tun lassen, was du für das Richtige hältst, damit du daraus lernst, wenn es sich als dumme Idee erweist. Aber in diesem Fall muss ich dich warnen und meine Bedenken äußern. Es wird kein Zurück geben!“

„Ich weiß, und ich habe gut darüber nachgedacht, Paps.“

„Nun gut. Wenn das deine Entscheidung ist, helfe ich dir dabei, auch wenn ich es nicht mag.“

Crimson war erleichtert. Dass sein Vater seine Idee gutheißen würde, hatte er nicht erwartet, umso mehr bedeutete ihm seine Unterstützung. Und er brauchte Hilfe, nicht nur von ihm. Zwar arbeitete Crimson am liebsten allein, um Fehler zu vermeiden, aber bei seinem Vorhaben musste er sich helfen lassen. „Bleibst du noch etwas?“ erkundigte er sich. „Ich werde noch einmal nachlesen, was ich von dir brauche. Noch weiß ich allerdings nicht, wann ich beginnen kann. Manche Sachen brauche ich dann erst ganz frisch.“

Shiro nickte. „Das kann ich wohl einrichten. Nachdem nun so viele Magier im Kristallschloss wohnen, kann ich auch leichter mal von dort weg. Übrigens, Dark lässt dich grüßen. Er ist damit beschäftigt, Burg Drachenfels neu zu errichten, und konnte sein Schlossherz bergen. Oder heißt das dann Burgherz?“

„Im Prinzip wohl schon, aber im Sprachgebrauch ist man nicht so pingelig,“ überlegte Crimson, der ganz froh über den Themenwechsel war. „Ich hab mir nie besonders viele Gedanken darüber gemacht, dass Dark überhaupt eins hat... Bah, vielleicht wollte ich das nicht wahrhaben, er war schließlich mein Rivale.“

„Ach, ist er das nicht mehr?“ grinste Shiro. „Mir ist durchaus schon aufgefallen, dass er für dich quasi ein Heiliger ist, seit er deine Magie freigelassen hat.“

„Uhm...“ Crimson blickte errötend zu Boden, fing sich aber gleich wieder. „Naja, ich schulde ihm was, und komischerweise macht es mir nichts aus.“ Normalerweise hasste er es, in jemandes Schuld zu stehen.

„Hm, naja, wie gesagt... Dark hat sein Schlossherz geborgen und arbeitet an seiner neuen Burg. Es ist etwas umständlich jetzt, denn es ist ja kein Monster mehr da, um für Energie zu sorgen, zugleich ist es dadurch natürlich ungefährlicher. Der Energiekern muss neu eingestellt werden, eventuell verliert er ein, zwei Stufen...“

„Öhm... was für ein Schlossherz war das denn vorher?“

„Stufe fünf, glaube ich.“

Crimson atmete scharf ein. Stufe fünf?! Ihm hatte es ja schon gereicht, sich mit einem Stufe zwei zu verbinden! Nun, es gab da verschiedene Klassifizierungsmethoden, aber eigentlich bezeichnete die Stufe, was dieses Schlossherz leisten konnte. „Ich nehme an, das braucht man, wenn Exodia unter einem versiegelt ist.“

„Genau,“ nickte Shiro, den das völlig kalt zu lassen schien. Seine beiden vom Kristallschloss waren vermutlich auch keine Zweier. „Der Energiekern wurde teilweise durch Exodia gespeist, andersherum hat die Energie des Schlossherzes Exodia gebannt. Naja und es gibt wohl auch noch eine Thermalenergiequelle, so wie hier.“

„Ja, Dark hatte heiße Quellen im Garten,“ überlegte Crimson. „Da muss etwas gewesen sein. Meine sind im Keller.“ Er war mit der Optik seines Baderaumes noch nicht so zufrieden. Dafür störten sich seine Schüler und Angestellten überhaupt nicht daran. Sie benutzten das Bad oft, wenn ihnen das Meer zu kalt war. Das galt sogar für Eria, die mit ihm Gefangene in den Kerkern gewesen war.

„Gegen so ein heißes Bad hätte ich jetzt auch nichts einzuwenden,“ sagte Shiro auf einmal. „Die Reise hoch in der Luft war doch recht kühl. Und morgen schwimme ich dann im Meer! Du hast hier wirklich eine malerische Lage, mein Sohn.“

Crimson lächelte. „Wir sind ja auch keine Festung, sondern nur eine Schule. Schöne Landschaft hilft, eine lockere Atmosphäre zu schaffen.“

„Das eine schließt das andere ja nicht aus,“ meinte der Lichtmagier. „Man kann es sich nicht leisten, die Verteidigung zu vernachlässigen. Aber das wird schon klappen.“

„Genau, zumal ich ja jetzt ganz mit Cathy verbunden bin.“ Crimson hob seine leicht verbundene Hand, was zugleich eine Erklärung für seinen Vater war, der vielleicht gedacht hatte, das wäre noch von dem Schlangenbiss. „Sag, Paps... wo hast du dein Zeichen des Schlossherzes?“

„Das wüsstest du gerne, hm?“ Shiro grinste. „Kuro und ich waren ganz jung. Wir versuchten, eine möglichst coole Stelle dafür zu kriegen. Mehr sage ich dazu nicht.“

Das überließ es Crimsons Vorstellungskraft, wie die Antwort lauten könnte. Aber zumindest wusste er jetzt sicher, dass Kuro der zweite Schlossherr war. Shiro bezeichnete sich meist als Schlosshüter, nicht Schlossherr, denn er hütete die Geheimnisse des Gebäudes. Crimson hatte immer damit gerechnet, einmal der Nachfolger zu werden, aber sein Vater beschwerte sich nicht darüber, dass das jetzt nicht mehr ging. Er dachte ja hoffentlich auch nicht daran, demnächst zu sterben! Vielleicht hatte Shiro auch schon immer eher seine Enkelkinder dafür eingeplant. Zumindest eins hatte er ja jetzt. Aber ob das dann in Frage kam? Nun... Crimson war noch nicht zu alt für weitere Kinder, aber er verbannte den Gedanken erstmal in weite Ferne.

Shiro verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zu seinem heißen Bad. Crimson konnte seinen Weg verfolgen, wandte seine Aufmerksamkeit aber wieder Yami und Yugi zu, die ihn mit großen Augen ansahen. Naja... zumindest Yugis waren besonders groß. Warum er die beiden ins Vertrauen gezogen hatte, wusste Crimson nicht genau, aber es spielte auch gar keine Rolle. Vermutlich wusste irgendwann ohnehin jeder Bescheid, es war im Grunde auch egal. Inzwischen hatte er gemerkt, dass seine Freunde zu ihm standen, daher hatte er auch keine Angst mehr davor, seine Vergangenheit und seine Pläne offenzulegen. Es war ein interessantes Gefühl für jemanden, der immer gerne alles alleine und heimlich gemacht hatte.

„Ich hab das mit dem Trank, den du planst, nicht ganz kapiert,“ sagte Yugi schließlich. „Also der dauert ungefähr einen Monat und besteht aus lauter komplizierten Zutaten, und er ist anscheinend gefährlich für den Anwender... aber warum macht sich dein Vater solche Sorgen um dich, wenn er doch Olvin helfen soll?“

Natürlich konnte Yugi das trotz seiner Magierausbildung nicht wissen, schließlich ging es hier um einen verbotenen Trank. Shiro hatte das anhand der Bezeichnung sofort gewusst, denn er verfügte über das theoretische Wissen eines Bibliothekars, der jedes seiner Bücher mindestens einmal gelesen hatte. Er wusste, wozu Crimson das Gebräu brauchte.

„Das Elixier von Sil-har'kahn wurde früher oft verwendet, dann aber häuften sich die Missbrauchsfälle, und es wurde auf die Liste der verbotenen Tränke gesetzt,“ erklärte er den beiden. „Es wurde früher gerne benutzt, um das eigene Leben künstlich zu verlängern, aber es gab dabei Opfer... und damit meine ich nicht den, der es getrunken hat. Das Elixier kann giftig sein, wenn es falsch zubereitet wird, aber es sind keine tödlichen Fälle bekannt. Doch es benötigt Blut.“

„Ach so, dann gab es Alchemisten, die jemanden dafür getötet haben?“ ging es Yami auf.

Crimson war dankbar für die Vorlage, denn so kam er um eine genauere Erklärung herum. „Ja, so kann man es sagen,“ bestätigte er. „Und es geschah nicht aus Unvorsichtigkeit, sondern einfach, weil es diesen Leuten egal war. Ich aber werde keine weitere Person hineinziehen und vorsichtig sein. Da passiert schon nichts.“

„Wie viel Blut braucht man denn?“ hakte Yugi nach.

Crimson winkte ab. „Ach, nur ein bisschen. Einige Tropfen reichen schon.“

„Dann regt dein Vater sich ziemlich umsonst auf, was?“

„Ja, genau!“ Crimson lächelte erleichtert, denn das Gespräch verließ die kritische Richtung. „Er ist eben mein Vater und hat einen starken Beschützerinstinkt mir gegenüber, das ist alles. Manchmal übertreibt er. Wahrscheinlich hat er auch einfach Angst, dass ich den Alchemieturm in die Luft sprenge und dabei zu Schaden komme oder so.“

Yami und Yugi lachten amüsiert. Keiner von beiden ritt auf Crimsons Jugendsünde herum, dafür fragte Yugi: „Können wir denn jetzt irgendetwas tun, um dir zu helfen?“

„Noch nicht sofort,“ antwortete Crimson zögerlich. „Ich könnte theoretisch jederzeit anfangen, aber die Gefahr, dass etwas schiefgeht, weil Olvin mich ärgert, ist mir zu groß. Wenn ich einen Tag ausfalle, weil ich mich verletze, kann ich den Trank vergessen. Er braucht ständige Zuwendung. Alle paar Stunden muss eine Zutat hinzugefügt werden. Dazwischen müssen die Sachen vorbereitet werden, und ich bin quasi darauf angewiesen, dass alles rechtzeitig hier eintrifft. Normalerweise kann ich improvisieren, denn es gibt immer Zutaten, die man durch andere ersetzen kann. Aber in diesem Fall würde ich es nicht wagen, dafür habe ich mit diesem Elixier einfach zu wenig Erfahrung.“ Nämlich überhaupt keine. „Ich muss erst mit Olvin reden, damit er mich eine Weile in Ruhe lässt.“

„Wissen deine Schüler davon?“ erkundigte Yugi sich weiter.

Crimson schüttelte den Kopf. „Bisher nicht, und ich... ich will ihnen auch nicht wirklich alles sagen... sie müssen ja eigentlich nur wissen, dass ich einen komplizierten Trank herstellen will.“

„Aber es könnte irgendwie herauskommen,“ gab Yugi zu bedenken. „Sie sind doch sicher neugierig. Sollten sie es nicht lieber von dir hören?“

Der Weißhaarige seufzte frustriert. So langsam stieß er an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung. Er hatte die Geschichte einigen Vertrauten erzählt, und dabei wollte er es eigentlich belassen, aber Yugis Argument war einleuchtend. Bevor seine Schüler irgendwelche Gerüchte hörten und sich dann von ihm abwandten, war es sicherlich besser, er sagte es ihnen selbst. Sie wussten, dass er kein Heiliger war. Trotzdem...

Yugi stand vom Bett auf und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Crimson, wenn du willst, überlass das mir. Ich werde dafür sorgen, dass deine Schüler und alle anderen Schlossbewohner hinter dir stehen, wenn es ernst wird. Kümmere du dich um deine Vorbereitungen, damit es einfach nur noch losgehen muss, wenn es soweit ist.“

Da war gar kein Zweifel in den großen Augen. Crimson fing an zu begreifen, was Dark an diesem Jungen fand. In einer Welt wie dem Schattenreich, wo Entschlossenheit und Glaube Berge versetzen konnten, gehörte der Kleine zu den ganz Großen. „In Ordnung,“ willigte er ein. „Ich schnappe mir mein Buch und arbeite die einzelnen Schritte aus. Du erklärst den anderen das Problem. Und Yugi... vielleicht solltest du dich auf Bannzauber, Schutzschilde und Beschwörungsmagie spezialisieren. Es braucht einen starken Geist wie deinen dafür.“

Der Junge schenkte ihm ein erstauntes Lächeln. „Ich merke mir das,“ versprach er. „Komm Yami, wir legen gleich los!“

Crimson schaute den beiden nach und fühlte sich besser als seit Wochen. Endlich ging es aufwärts. Oh... da lag sein Ring auf dem Schreibtisch. Gut dass er ihn jetzt fand, er hatte gar nicht bewusst gemerkt, dass er fehlte – hätte böse enden können...

Internes Problem

Kapitel 9: Internes Problem
 

Beim Abendessen war heute der Tisch ganz neu besetzt. Dharc und Milla kamen natürlich nicht – Lily versorgte sie zur Strafe für den Gebrauch von Drogen mit einem relativ geschmacklosen, aber vitaminreichen Gesundheitsbrei. Auch Paladia fehlte, aus nachvollziehbarem Anlass. Da Lily bei ihren Patienten blieb, war auch sie nicht beim allgemeinen Essen anwesend, sondern aß in ihrem Ärztezimmer, um ihre Schützlinge besser überwachen zu können.

Endymion, Creata, Cybernec und Cross waren Crimsons Gäste. Sie saßen alle nebeneinander an einer Seite des Tisches, wobei Cross pflichtbewusst am liebsten stehen geblieben wäre, aber auch er musste essen. Shiro und Kuro zeigten sich in trauter Brüderlichkeit, einer in vornehmer Schlosshüterkleidung, der andere in schlampiger, abgenutzter Landstreicherkluft. Legend, Veiler, Saambell und Rosi hockten ebenfalls nebeneinander und schwiegen die meiste Zeit angesichts der ernsthaften Besucher. Yami, Yugi, Mava und Crimson saßen zusammen an der verbleibenden Seite.

Sorc verspätete sich. Cathy teilte mit, dass er noch einen Moment brauchte, also fingen alle anderen schon an zu essen. Crimson hatte persönlich gekocht, was für ihn immer eine Entspannung war. Es gab Omelett mit Pilzen und Brot mit Wurst. Nichts Besonderes.

Der Magier hatte beschlossen, die allgemeine Bedrücktheit und bedrohliche Stimmung für den Rest des Tages zu ignorieren, schließlich waren ihm zuletzt auch ein paar gute Dinge passiert. Er quatschte ausgelassen mit Yugi und Yami, wobei manchmal auch die Skills ihren Kommentar dazugaben, und ließ sich dabei nicht von den anderen stören, die beharrlich still blieben.

Schließlich tauchte auch Sorc auf. Crimson unterbrach seinen Vortrag über Gartengestaltung unter alchemistischen Aspekten. „Sorc! Alles in Ordnung?“

„Ja doch. Ich bin... gestürzt.“

„Ähm... okay...“

Der Chaosmagier kam anscheinend gerade von der Krankenstation. Er trug einen frischen Verband am Kopf und einen am rechten Arm, außerdem humpelte er und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Ein Geruch nach Kräutersalbe haftete ihm an. Das linke Auge zeigte einen dunkelblauen Schimmer. Er trug eins von den Gastgewändern in weißer Bettbezugoptik.

„Ähm... wo bist du gestürzt, wenn ich fragen darf?“ erkundigte Crimson sich.

„Im Keller,“ war die ausweichende und ziemlich ungenaue Antwort. Sorcs leicht indignierter Blick ließ vermuten, dass mehr dahinter steckte, er das Problem aber nicht breittreten wollte.

Crimson ließ es im Augenblick dabei bewenden, wusste aber im gleichen Moment, dass ein gewisser Geist nicht ganz unbeteiligt war. Er konnte ein Gefühl der Schadenfreude wahrnehmen, das nicht seines war – jedenfalls nicht ganz. Außerdem beschäftigte sich Mava gerade auffällig unauffällig mit seinem Essen und konnte dabei ein ganz leichtes Lächeln nicht unterdrücken.

Sorc setzte sich neben Kuro und begann zu essen. Man hatte den Eindruck, dass er alles genau untersuchte, bevor er es zu sich nahm. Kuro ignorierte den Mann völlig, solange dieser ihn nicht ansprach, und das tat er nicht. Statt seinen eigenen Becher zu benutzen, nahm Sorc einen von einem leeren Platz. Niemand kommentierte das, aber Crimson dachte sich seinen Teil. Blackys Vater war nicht gerade beliebt, aber falls er Probleme hatte, zog er es im Moment wohl noch vor, sich damit nicht an den Schlossherren zu wenden.

„Danke für das Essen. Wir werden in Kürze abreisen,“ verkündete Endymion schließlich. „Cross wird jedoch hierbleiben und die Situation noch eine Weile im Auge behalten.“

Crimsons Augenbraue zuckte. „So, wird er das? In dem Fall muss er sich an die Regeln hier halten und seine Energie dem Schlossherz zur Verfügung stellen. Außerdem wäre es allgemein angebracht, wenn er sich irgendwie nützlich machen würde.“

„Selbstverständlich. Ich bin sicher, ihr einigt euch,“ sagte Endymion.

Die Gruppe hatte sich erhoben, und Cross verneigte sich zur Bestätigung vor Endymion auf eine militärische, kurze und knappe Art.

„Wir gehen noch kurz bei den Kindern vorbei. Den Weg finden wir dann schon, bemüh dich nicht,“ winkte Cybernec ab, als Crimson aufstehen und sie begleiten wollte.

Die drei Magier verließen den Speiseraum, Cross hingegen setzte sich wieder hin. Mit seiner eigentümlichen Rüstung wirkte er wie ein Soldat, der Pause hatte und gleich wieder zum Dienst musste. Er hatte zum Essen lediglich sein Helmvisier aufgeklappt, so dass man einigermaßen sein Gesicht sah. Für den Alltagsgebrauch fand Crimson die Rüstung etwas unpraktisch.

Die Schüler fingen an, das Geschirr wegzuräumen, das nicht mehr gebraucht wurde. Es gab heute keine Diskussion. Es war, als hätten sie ein schlechtes Gewissen.

„Es wäre sehr freundlich, wenn ich eine eigene Kammer oder eine sonstige bescheidene Unterkunft haben könnte,“ ließ Cross sich vernehmen.

Crimson nickte. „Mava, zeigst du ihm bitte den Flügel, in dem das Personal untergebracht ist?“

„Klar. Komm mit! Sorc kennt sich hier ja schon aus, der findet vermutlich selbst was.“

Täuschte es, oder war das ein gehässiger Ausdruck auf Mavas Gesicht, den er Sorc zuwarf? Das kannte man von dem Lichtmagier gar nicht. Aber irgendwie war es verständlich – Sorc hatte Mavas und Neos Tod in Kauf genommen, als er Mava gezwungen hatte, Exodia freizusetzen. Der Blonde trug deutlich sichtbar mehrere Artefakte, die wie Schmuck aussahen.

Sorc hatte anscheinend darauf gewartet, dass Mava hinaus ging, denn er vergewisserte sich, dass die Tür zu war, ehe er sprach. „Crimson. Gib mir bitte deinen Ring.“

„Hä? Was...“ Crimson griff automatisch nach dem kleinen Artefakt, das er sich vorhin angesteckt hatte. „Nein... warum sollte ich?“

Sorc sah ihn an – mit Augen, die viel zu sehr Blackys ähnelten. „Bist du sicher, dass es deiner ist? Hast du ihn überprüft?“

Crimson starrte zusammen mit Yugi auf den Ring. „Klar bin ich sicher... aber nein, überprüft habe ich ihn nicht, wieso...“

„Nicht! Nicht ausprobieren.“

Crimson hielt sich gerade noch zurück, als er versuchen wollte, seinen Typ in Krieger zu ändern. Er gab dem Drängen nach, nahm den Ring ab und legte ihn in die ausgestreckte blaue Hand.

Sorc drehte den Ring zwischen den Fingern seiner Linken und verpasste dem Ausrüstungsgegenstand einen kleinen magischen Impuls. Sofort schoss ein Schatten heraus und stürzte sich mit weit aufgerissenem Maul auf den Magier.

Kuro, der neben Sorc gesessen hatte, fiel vor Schreck vom Stuhl. Crimson wollte helfend eingreifen, doch Shiro hielt ihn mit einer Geste zurück.

Der Schatten beachtete niemanden außer Sorc, der den Ring hielt. Er hatte wenige Zentimeter vor dem Gesicht des Chaosmagiers gestoppt. Sorc hatte nichtmal gezuckt und wich auch jetzt nicht zurück, obwohl er den Mundgeruch voll abkriegen musste, falls das Wesen welchen hatte. Er und der Schatten starrten einander an, belauerten einander. Es sah aus, als würde so etwas wie ein geistiger Kampf zwischen ihnen stattfinden.

Plötzlich löste der Schatten sich mit einem zischenden Geräusch auf und war verschwunden. Alle Zeugen dieses Schauspiels atmeten erleichtert auf.

Sorc warf Crimson kommentarlos den Ring zu.

„Ähm...“ Dem Weißhaarigen fiel kein passender Kommentar ein außer: „Hattest du schon immer Pupillen, Sorc?“

„Ist dir das nie aufgefallen?“ Der Blauhäutige nahm sich von den Pilzen nach, und das waren dann auch die letzten. „Doch, war schon immer so. Mava weiß es.“ Nun gab es auch von ihm ein schadenfrohes Grinsen.

Kuro rappelte sich auf die Füße. „Was sollte das denn eben? Wolltest uns zeigen, dass wir froh sein können, dich hier zu haben, was? Aber darauf falle ich nicht rein!“

„Glaub doch, was du willst, Skill,“ kommentierte Sorc.

Crimson reichte den Ring seinem Vater. „Das ist wirklich nicht meiner. Da sind Runen innen eingraviert. Und der Stein hat ne leicht andere Färbung. Ich habe ihn vorhin einfach angesteckt, ohne darauf zu achten.“

Shiro drehte den Goldreif nachdenklich zwischen den Fingern und sah sich die besagten Runen an. „Also wenn du das nächste Mal versucht hättest, eine deiner akrobatischen Flugeinlagen zu machen, hättest du statt einem Paar Flügeln einen Schattendämon bekommen.“

„Vermutlich... und dann wäre ich entweder durch ihn oder beim Sturz gestorben.“ Crimson glaubte daran, dass nicht Sorc dafür verantwortlich war. Der Ring hatte auf seinem Schreibtisch gelegen, seit ihn die Schlange gebissen hatte, also offen zugänglich für jeden, der sich die Mühe machte, ihn zu suchen. Cathy hatte mehrere Tage das Turmzimmer nicht überwacht, sondern Crimsons Krankenbett. Es war ein weiterer Anschlag!

„Wer sagt uns denn, dass du nicht selber dafür verantwortlich bist?“ klagte Kuro den Chaosmagier beharrlich an. „Du willst uns nur in Sicherheit wiegen!“

Sorc wandte sich ihm mit einem liebenswürdigen Lächeln zu. „Und warum, bitte, sollte ich mir die Mühe machen? Hätte ich gewollt, dass Crimson stirbt, wäre er längst tot. Mal ganz davon abgesehen liegt mir die Artefaktmagie nicht.“

„Du hast es jemanden machen lassen!“

Sorc seufzte theatralisch und verdrehte dabei die Augen. „Das Schlossherz hat mich nicht aus den Augen gelassen, seit ich hier bin. Soviel zu deiner Theorie.“

Kuro ließ sich so schnell nicht überzeugen. „Dann hast du einen Helfer!“

„Wie du meinst. Ich gehe wieder an die Arbeit, sag Bescheid, wenn du mir was beweisen kannst.“ Sorc leerte seinen Becher und verließ den Raum. Er gab sich erneut offensichtliche Mühe, nicht zu humpeln, aber etwas stimmte nicht mit einem seiner Beine.

„Wir haben keinen Grund, Sorc zu misstrauen,“ sagte Yami zu Kuro. „Er hat auch bei Genesis mit niemand Außenstehendem Kontakt gehabt.“

„Unterschätze diese Sorte nicht, Junge!“ warnte Kuro. „Crimson, ich hätte eigentlich erwartet, dass du ihn hochkant rauswirfst! Nach allem, was er dir angetan hat...“

„Das war hauptsächlich Malice.“

„Nimmst du ihn jetzt auch noch in Schutz?“

„Nein, das wollte ich damit nicht sagen, aber ich vertraue auf Genesis' Urteil und...“

Crimson wurde unterbrochen, denn sie hörten draußen etwas poltern, dann jemanden fluchen. Um genau zu sein war es wohl Sorc.

„Scheint, er ist wieder gestürzt,“ murmelte Yami.
 

***
 

Olvin hatte sich also in Erinnerung gebracht, gerade als Crimson sich entspannt fühlte. Somit war es mit der Entspannung dann auch gleich wieder vorbei. Der Schlossherr achtete verstärkt auf jeden seiner Schritte, falls sich darunter ein Abgrund auftat oder dergleichen.

Zumindest besaß Schloss Lotusblüte für die unbestimmte Dauer von Cross' Aufenthalt einen Drachen, und zwar ein ziemlich großes, massiges Weibchen von ockerbrauner Farbe und mit zwei nach hinten zeigenden Hörnern. Sie hörte auf den Namen Tyra und sonnte sich gerne auf einem der Abflugtürme. Der war gerade groß genug für sie. Der Berserkerdrache war indessen wieder zu Lord Genesis zurückgekehrt.

Cross hatte sich ein Zimmer im Bereich der Lehrkräfte zuteilen lassen, das sich in der Nähe der Abflugplattformen befand, so dass er bei einem Ernstfall schnell zu seinem Drachen konnte. Er drehte oft seine Runden im Schloss, weil er noch keine andere Aufgabe hatte. Crimson überlegte, ihn als Lehrer für Selbstverteidigung oder so etwas einzusetzen. Auf jeden Fall lief Cross nicht mehr in seiner Rüstung herum. Er trug nur noch den Anzug, der darunter gehörte, und wirkte damit irgendwie wie ein Leistungssportler. Aber Crimson konnte das nicht bemängeln – seine eigene Magierkluft bestand zum Teil aus einem sehr engen Anzug. Ein bisschen gefiel ihm der Anblick durchaus, aber er war nicht grundsätzlich auf Männerhintern scharf. Davon abgesehen hatte Cross auch ein nettes Gesicht.

Crimson schlief unruhig, obwohl Cathy versprach, auf ihn aufzupassen. Doch in gewisser Weise wollte er ja, dass Olvin auftauchte, so dass er mit ihm reden konnte. Es war verzwickt. Die Ungewissheit nervte am meisten.

Tags darauf erwartete er Eria zurück, jedoch nicht besonders früh. Derweil erholten sich Milla und Dharc gut von ihrem kleinen Experiment, und es gab für alle Unterricht – auch für Yami und Yugi, wobei sich Yami im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Anfänger anstellte. Die Gruppe fragte sich, ob er wohl überhaupt Talent zum Magier hatte, schließlich besaß er einen Körper, der in der Welt des Blauen Lichts geboren worden war, während Yugis aus dem Schattenreich stammte.

Zur Mittagszeit gab es immer eine längere Pause von zwei Stunden, ehe der Nachmittagsunterricht anfing. Da nachmittags meistens die Konzentration schwächer wurde, setzte der Direktor für diese Zeit möglichst den praktischen Unterricht an. Dadurch, dass er so wenige Schüler hatte, kam er gut damit klar, es war wie eine Beschäftigung, die er mit den Kindern teilte. Sie gingen an den Strand und übten zaubern, und natürlich gab es körperliche Ertüchtigung. Zum Ende hin bestand diese immer daraus, dass sich alle die Kleider vom Leibe rissen und ins Meer rannten. Abgesehen von der Lehrkraft natürlich. Normalerweise hätte es aus Crimsons Sicht kein Problem gegeben, aber seit man ihm vorgeworfen hatte, pädophil zu sein, hielt er sich lieber etwas zurück, denn seine Schule hatte keine Vorschriften für Badekleidung. Normalerweise schwamm jeder nackt im Meer, und auch im Kellerbad waren immer alle nackt, wobei es auch niemanden störte, wenn die Geschlechter vermischt waren.

Crimson dachte darüber nach, dass er eines Tages wohl getrennte Badezeiten für Mädchen und Jungen einführen musste, wenn es mehr wurden, und beaufsichtigte dabei seine Schüler von weitem. Auch Yami und Yugi hatten sich der Gruppe angeschlossen.

Cross kam auf ihn zu, und zu Crimsons Verblüffung trug er eine klassische Magierrobe mit Gürtel und Ziermustern drauf. Hatte Endymion ihm Gepäck zukommen lassen? Der Kreuzritter verneigte sich grüßend. „Ich könnte den Unterricht für körperliche Ertüchtigung übernehmen. Dann könntest du dich auf die theoretischeren Sachen und Verwaltungsangelegenheiten konzentrieren. Ich kann die Schüler auch lehren, einen Drachen zu beschwören und zu pflegen.“

Irgendwie hatte Crimson eher mit Kritik gerechnet und war daher positiv überrascht. Ob Cross irgendwelche Hintergedanken hatte, etwa, die Kinder vor Crimson zu schützen, ließ er mal außen vor. „Ja... gerne. Danke, Cross.“

Als nächstes musste er jemanden dafür einstellen, die Stundenpläne auszuarbeiten, denn bisher hatten sie nur grob festgelegte Tagesabläufe. Aber damit musste Cross klarkommen – er ließ sich diesbezüglich nicht hetzen. Es war im Moment ohnehin eher unwahrscheinlich, dass neue Schüler kamen, wenn sich herumgesprochen hatte, dass der Direktor auf Kinder stand. Außerdem hatte Crimson noch andere Probleme, nämlich mit Olvin.

„Ach ja, Cross... kannst du bitte dafür sorgen, dass der Torweg wieder instandgesetzt wird?“ Crimson hatte das eigentlich den Eltern der Kinder sagen wollen, aber da Cross noch hier war, reichte das. Cathy hatte sich noch gar nicht bei ihm beschwert. Entweder hatten Endymion und seine Kollegen sich doch schon darum gekümmert, oder das Schlossherz war zu beschäftigt.

Cross verneigte sich knapp. „Ich werde persönlich für die Reparaturarbeiten sorgen.“ Er schritt energisch davon.
 

Als Crimson im Anschluss an seinen Unterricht nach Paladia und dem Baby schauen wollte, wurde er Zeuge einer eigentümlichen Szene: Sorc saß auf der ersten Behandlungsliege, an der man beim Betreten der Krankenstation vorbei kam. Lily nähte eine frische Platzwunde auf seiner linken Wange, während der Mann ein Tuch unter seine Nase hielt, die anscheinend auch etwas abbekommen hatte. Crimson bekam Fetzen des laufenden Gesprächs mit.

„... insofern kann ich es ja verstehen, aber das muss aufhören, wo kommen wir denn da hin? Sprich mit dem Direktor!“ sagte Lily drängend.

„Nein, das ist mein Problem,“ erwiderte Sorc. „Ich brauche niemanden, der es für mich löst.“

„Aber es trägt nicht zur Besserung deiner Arbeitsfähigkeit bei!“ beharrte die Fee. „Muss erst noch was richtig Schlimmes passieren? Immer ihr Männer mit eurem Stolz!“

Crimson huschte vorbei, ohne zu fragen, worum es ging. Er respektierte Sorcs Meinung zu dem Thema. Gerne sogar.

Paladia freute sich, ihn zu sehen, Aber sie hatte keine guten Nachrichten, jedenfalls aus seiner Sicht. „Meine Schwestern wissen, wann ungefähr der Geburtszeitpunkt ist, und vielleicht hat die Schamanin es inzwischen erfahren. Sie werden mich gewiss bald abholen kommen.“

Crimson seufzte. „Naja, das ist mir klar... aber ich hab's bisher immer verdrängt.“

Sie lächelte schalkhaft. „Aber es wird bei uns nicht so sein wie bei anderen amazonischen Müttern und ihren Kindsvätern. Wir sind noch auf andere Art verbunden, Crimson, also werden wir in Kontakt bleiben. Amazia wird sich darüber sicher auch freuen.“

Für die Amazonen, besonders für seine eigene Mutter, war Crimson ein großer Held, ein Inbegriff der Tapferkeit. Nun ja... vielleicht übertrieben sie etwas, aber er beschwerte sich gewiss nicht, denn es war schwer genug, als Mann bei den Amazonen einen guten Stand zu haben.

Das Baby lag neben Paladias Bett in einer Krippe, deren Unterbau so hoch war, dass die Mutter problemlos herankam. Dafür konnte das Ding nicht schaukeln, was eine Amazone auch eher kitschig fand. Für sie musste alles praktisch sein. Wenn das Kind schrie, nahm sie es in den Arm und beruhigte es. Schaukelnde Wiegen waren etwas für Mütter, die dafür zu bequem waren. Einerseits sollten die Kinder ja von Anfang an auf das harte Leben als Kriegerin vorbereitet werden, dennoch wurde viel Wert auf die Mutter-Tochter-Bindung gelegt.

Die Blonde bemerkte Crimsons nachdenklichen Blick. Die Wiege befand sich nicht auf derselben Seite wie sein Stuhl. „Nimm sie ruhig, Crimson,“ forderte sie ihn auf und war bereits dabei, ihm das Kind zu geben. „Yugi und Yami waren gestern Nachmittag hier. Wir haben darüber diskutiert, wie man eine Tochter von dir nennen könnte.“

Der Magier nahm das Baby an sich und hielt es vorsichtig. Der Flaum auf dem Kopf war grün, stellte er fasziniert fest. Aber bei weißhaarigen Elternteilen wusste man eh nie, mit was man zu rechnen hatte. „Du hast dir in all der Zeit keinen Namen überlegt?“

Paladia kicherte amüsiert. „So kann man es nicht sagen, ich habe mich einfach nicht entscheiden können. Es ist nicht so, dass der Name besonders ausgefallen sein soll... er muss nur irgendwie... besonders sein.“

„Ist das nicht das gleiche?“

„Ich kann's nicht so recht erklären, aber... selbst der ausgefallenste Name erschien mir nicht besonders genug.“

Im Schattenreich war es nicht unüblich, den Namen vorher festzulegen. Crimson wusste, dass man das in der Welt des Blauen Lichts auch gerne tat. Nur behielt man dort seinen Geburtsnamen meistens für das ganze Leben, während er hier nach Bedarf geändert wurde. Es kam auch oft vor, dass die Eltern noch den Geburtsnamen benutzten, während alle Welt nur den selbst gewählten Beinamen kannte.

„Also... zu welcher Entscheidung bist du gekommen?“ erkundigte Crimson sich.

„Scarlet.“

„Oh... das ist auch ein Rotton, genau wie mein Name!“

„Ja, genau, Yugi kam darauf. Er sagte, dein Name sei Englisch, und Scarlet auch, das ist sogar ein sehr ähnliches Rot. Ich finde die Idee gut, denn das verbindet sie mit dir.“

Crimson nickte gerührt. Damit konnte er sich gut abfinden, dagegen hätte es ihn schon gestört, wenn sie ihm den Namen gar nicht verraten hätte – auch das taten manche Amazonen. Insgeheim hoffte er, dass seine Tochter eine Magierin wurde. Aber selbst wenn... dann würde die Schamanin sie ausbilden, nicht er. Zu schade aber auch. Auf der anderen Seite hatte er gar keine Zeit für ein Baby. Es war also schon gut so, wie es war.

„Ich werde Lily den Gefallen tun, heute noch hier zu bleiben, aber morgen ziehe ich wieder in mein Zimmer, bis meine Schwestern kommen,“ teilte Paladia ihm mit. „Ich werde dich wieder besuchen, und du kannst jederzeit zu uns kommen.“

Es klang fast so, als würde sie bedauern, abreisen zu müssen. Ob es von ihrer Seite eine tiefe Liebe war, die ihre Beziehung zu ihm definierte, wusste er nicht, Crimson jedenfalls fühlte sich ihr freundschaftlich verbunden... eine Freundschaft, die durchaus an Liebe grenzte, aber er hatte sich bemüht, es nicht zu tief werden zu lassen. Doch vielleicht konnte man das nicht ganz verhindern, wenn man gemeinsam ein Kind hatte.

Als Crimson Paladia verließ, sprach Sorc ihn an, der an der Tür gewartet hatte. „Direktor, hast du einen Moment Zeit?“

Na wunderbar, jetzt musste er sich wohl doch mit dem Problem befassen. Der Chaosmagier hatte ein neues Pflaster im Gesicht kleben. Das linke Auge mit dem Veilchen war ein wenig geschwollen, wie nun aus der Nähe zu sehen war. Die Verfärbung war etwas dunkler geworden. Crimson hob auffordernd die Augenbrauen.

„Ich möchte einen Zauber im Schloss installieren, doch natürlich brauche ich dein Einverständnis dafür,“ sagte Sorc.

Crimson war überrascht, er hatte damit gerechnet zu erfahren, wer oder was für all die Verletzungen verantwortlich war. „Einen Zauber? Und was meinst du mit installieren?“

„Nun, ich denke, es wird zumindest eine hübsche Dekoration, wenn nicht sogar etwas Nützliches. Es ist etwas schwer vorherzusagen mit Chaosmagie. Ich muss etwas... an die Wände malen. Es wird aber gar nicht zu sehen sein, wenn ich fertig bin.“

„Ähm... du willst etwas mit Chaosmagie in meinem Schloss machen? Etwas Größeres?“

Sorc grinste breit, und es war das erste Mal, dass Crimson diesen Gesichtsausdruck nicht irgendwie spöttisch oder hämisch oder sonstwie fies fand. So sah jemand aus, der sich diebisch auf etwas freute. „Keine Sorge... ich habe geschworen, im Sinne der Gemeinschaft zu handeln. Du solltest jedoch dein Schlossherz davon in Kenntnis setzen, dass ich mit deiner Erlaubnis agiere... wenn du es denn gestattest.“

Crimson zögerte mit seiner Antwort. Er dachte kurz darüber nach, Sorc vor Olvin zu warnen, verkniff es sich jedoch. Konnte man dem Chaosmagier soweit vertrauen, ihn überall die Wände bemalen zu lassen mit einem ominösen Zauber, von dem er nicht einmal wusste, ob er funktionierte? Ihn, einen ehemaligen Feind? Moment... wie kam das Wort 'ehemalig' in die Satzkonstruktion? Nein, das war etwas zu schnell.

Dennoch erwischte Crimson sich dabei, dass er die Idee interessant fand wie ein Rezept mit unbekanntem Zweck. Es war ein Risiko. Sorc begegnete seinem fragenden Blick ganz offen, doch das konnte ein Trick sein. Aber er hatte geschworen...

„In Ordnung,“ nickte Crimson. „Du hast mein Einverständnis.“ Er verzichtete auf jeden Hinweis darauf, was er zu tun gedachte, falls Sorc sein Vertrauen missbrauchte. Irgendwie waren sie beide stumm darin überein gekommen, die alten Geschichten ruhen zu lassen. Das hätte sonst nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer dieser gefühlsduseligen Unterhaltungen geführt, in deren Verlauf alle Beteiligten sich gegenseitig vergaben und einander ihr Bedauern aussprachen. Doch Crimson wollte nicht vergeben, und Sorc bat nicht darum. Vielleicht tat ihm das alles noch nicht einmal Leid. Seltsamerweise konnte Crimson damit gut leben.

Sie verließen die Krankenstation gemeinsam, gingen nebeneinander her wie zwei alte Kollegen. „Ich wäre dafür, weitere Drachen anzuschaffen,“ schlug Sorc vor. „Tyra wird uns vielleicht nicht für lange erhalten bleiben.“

„Aber die sind nicht immer zahm,“ gab Crimson zu bedenken. „Außerdem... wie stellst du dir das vor? Ist ja nicht so, als könnte man Drachen irgendwo kaufen!“

„Hast du Bedenken wegen der Kinder?“

Crimson wollte schon ja sagen, doch er war eigentlich derjenige mit der Schule, die solche Bedenken nicht übertreiben wollte. Er war derjenige, der immer über alle spottete, die gefährliche Zauber verbieten wollten. Statt die Kinder vor allem zu schützen, wollte er sie lieber lehren, mit Gefahren umzugehen. „Nein. Ich wette, die wären begeistert.“

„Davon kannst du ausgehen.“

„Cross hat angeboten, Drachenkunde zu unterrichten.“

„Na wunderbar! Ich werde mal mit ihm reden, vielleicht kann er sich mit um die anderen Drachen kümmern.“

Crimson blickte stirnrunzelnd zu seinem Begleiter, der ein paar Zentimeter größer war als er, so dass er tatsächlich zu ihm aufschauen musste. „Das klingt, als hättest du schon welche auf Lager! Übertreib es nicht.“

„Du hast mir gesagt, ich soll mich um die Sicherheit kümmern. Also wird niemand jemals dieses Schloss gewaltsam einnehmen.“ Sorc hatte ein erhabenes Lächeln drauf, das nichts mit Prahlerei zu tun hatte. Vielleicht war es gut, ihn auf der eigenen Seite zu haben.

„Lass mich wissen, wenn du Fortschritte machst,“ antwortete Crimson diplomatisch, und ihre Wege trennten sich, als ein anderer Gang den ihren kreuzte. Der Weißhaarige lächelte ironisch, denn er hatte das Chaos auf sein Schloss losgelassen. Aber wenn sein Cousin mit Blacky zurechtkam, würde er selbst ja wohl mit dessen Vater fertig werden.

Bürokratische Merkzettel

Kapitel 10: Bürokratische Merkzettel
 

Eria kehrte erst nach dem Abendessen zum Schloss zurück. Sie begrüßte Yugi überschwänglich und freute sich, Yami kennen zu lernen. „Hey, ihr seht echt fast gleich aus! Bist du gewachsen, Yugi?“

„Ich habe eher den Eindruck, dass du größer geworden bist, wenn du so neben Crimson stehst!“ erwiderte der Kleinere.

Eria und Crimson sahen sich an. „Echt?“ Nun, das war gut möglich, aber wenn man sich jeden Tag sah, fiel es gar nicht auf.

„Du musst mit zu Paladia kommen und das Baby ansehen!“ schlug Yugi eifrig vor.

Die Blauhaarige bekam ganz große Augen. „Es ist da? Mann, da bin ich mal einen Tag weg... ist es ein Mädchen?“

„Oh ja, der ganze Stolz ihrer Mutter,“ grinste Crimson. „Aber es ist jetzt schon spät, sie schlafen bestimmt beide schon.“ Er wusste das... irgendwie. „Wie ist es dir ergangen?“

Sie gingen zu den Privatgemächern, während sie sprachen,

„Ich habe meine Freundinnen von der Akademie getroffen,“ berichtete Eria. „Wir haben lange geredet, nachdem ich bei der Direktorin war. Silentia sagte, sie werde sich um dein Anliegen kümmern. Später beim Kristallschloss habe ich Dark erzählt, was los ist. Natürlich nicht in so kleinen Einzelheiten. Er kommt vielleicht man vorbei in den nächsten Tagen.“

Crimson verdrehte die Augen. „Och nööö...“

„Hätte ich ihm lieber nichts sagen sollen?“

„Ach, schon gut.“ Crimson seufzte. „Er kann sicherlich helfen, auch wenn ich ungern noch tiefer in seiner Schuld stehen möchte.“

„Sieh das doch nicht immer so ernst, Meister. Wenn er dich um etwas bitten würde, würdest du ja auch helfen, unabhängig davon, ob du einen Nutzen davon hast.“

„Naja... wahrscheinlich. Mann, ich werde hier noch richtig weich.“

Die Gruppe lachte ausgelassen. Als sie eine Treppe hoch kamen und in einen Gang einbogen, sahen sie Sorc, der ein Stückchen weiter an der linken Wand stand und mit einem Pinsel etwas auf die Steine schrieb, das kurz glitzerte und dann nicht mehr zu erkennen war. Crimson, Yugi und Yami dachten sich nichts dabei, doch Eria blieb wie angewurzelt stehen. Zu spät fiel dem Schlossherrn ein, dass sie von der Anwesenheit des Chaosmagiers nichts wusste.

„Du!“ zischte sie. „Was hast du hier verloren?“

Sorc setzte zu einer Antwort an, doch da hatte das Mädchen schon mit einem Angriff ausgeholt. Eine Energiewelle, die sich als Flackern in der Luft bemerkbar machte, schoss auf den Blauhäutigen zu, doch dieser verengte lediglich ein wenig die Augen und blieb unbeschadet: Der Angriff verpuffte einen Meter vor ihm wirkungslos. „Ich mache meine Arbeit,“ erklärte er schlicht.

„Äh... ich vergas wohl zu erwähnen, dass...“ begann Crimson.

Eria fuhr zu ihm herum wie eine Rachegöttin. „Willst du mir sagen, dass er legal hier ist?“ Sie wies anklagend mit einer Hand auf den älteren Magier. „Das kann nicht dein Ernst sein, nach allem, was er verbrochen hat! Er hätte mich fast umgebracht, uns alle hätte er fast umgebracht! Und dein Rücken – zählt das schon nicht mehr?“

Crimson war von ihrer Reaktion überrumpelt, obwohl er sie verstehen konnte. Aber bei all seinen momentanen Problemen mit Olvin war er nicht in der Lage, sich noch auf eines mit seiner Schülerin einzulassen. Sie war die Letzte, von der er Probleme erwartet hatte. „Lord Genesis hat ihn hierher geschickt...“ begann er ziemlich lahm.

Eria unterbrach ihn mit einem wütenden Aufschrei, der deutlich machte, dass sie das jetzt nicht hören wollte. „Der Kerl hat hier nichts verloren! Er hat hier einfach nichts verloren!“ zeterte sie voller Wut. „Ich will ihn hier nicht mehr sehen, es sei denn, es ist in Ketten unten im Verlies, wo er uns gefangen hatte!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon.

„Willst du ihr nicht nachlaufen?“ fragte Yami.

Crimson war diesbezüglich unschlüssig. Er war kein besonders einfühlsamer Mensch – oder zumindest dachte er das. „Ähm... vielleicht sollte sie sich erstmal etwas beruhigen...“

„Ich gehe und erkläre es ihr,“ erbot sich Yugi. „Sie ist jetzt anscheinend auch auf dich sauer...“

Sie ließen Yugi gehen, und Crimson war dankbar, dass er sich darum kümmerte. So langsam war er wirklich überfordert.

„Du kannst nicht erwarten, dass sie mich willkommen heißt,“ bemerkte Sorc überraschend, wobei er lässig damit fortfuhr, etwas an die Wand zu malen, das dann unsichtbar wurde. Er schien als Farbe nur Wasser zu verwenden. „Hat sie nicht im Grunde das gesagt, was du die ganze Zeit dachtest?“ Da lag eine gewisse Herausforderung in den Worten.

Crimson dachte kurz darüber nach, aber im Grunde konnte er es nicht abstreiten. „Vermutlich würden dir ein paar Ketten wirklich gut stehen,“ antwortete er ausweichend, denn er wollte sich nicht auf eine dieser Aussprachen zwischen früheren Feinden einlassen. Ah, da war es wieder, ein Wort, das implizierte, dass sie jetzt keine Feinde mehr waren. Verdammt!

Sorc wandte ihm seinen Blick zu, ohne seine Tätigkeit mit dem Pinsel einzustellen. „Ketten halten mich nicht, Direktor.“

Der Weißhaarige dachte darüber nach, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, doch er hatte andere Sorgen. „Ich werd's mir merken.“ Er und Yami setzten ihren Weg fort und gingen dabei an dem Chaosmagier vorbei, der nichts mehr erwiderte. Somit war er zufrieden, das letzte Wort gehabt zu haben.
 

Crimson begleitete Yami in dessen Schlafzimmer, das er sich mit Yugi teilte. Es befand sich nicht in dem Turm, den auch er bewohnte, sondern auf der Schüleretage. Wie fast alles im Schloss bedurfte auch dieser Teil noch der Ausarbeitung und Renovierung, so dass die Inneneinrichtung noch nicht einheitlich war. Crimson hatte sich noch nicht entschieden, wie sie einmal aussehen sollte, wie viele Schüler in einem Zimmer schlafen sollten und wie komfortabel alles werden sollte, aber Yami und Yugi hatten ein Zimmer entdeckt, in dem allerhand Gerümpel stand – und ein breites, bequemes Bett.

„Wie ich sehe, wurde euer Gepäck inzwischen gebracht,“ stellte Crimson fest, denn drei Reisetaschen und ein großer Rucksack standen halb ausgepackt am Fußende des Bettes. Die Jungs hatten einen Schrank auserkoren, in den sie alles packten. Das Möbelstück stand zusammen mit mehreren anderen mehr oder weniger mitten im Zimmer.

„Ja, heute Nacht kam einer von Genesis' Gargoyles und hat uns fast zu Tode erschreckt. Irgendwie wusste er, wo wir schliefen, und klopfte ans Fenster.“ Yami schüttelte sich unbehaglich. „Wir hatten noch nicht so viel Zeit zum Entpacken, deshalb sind wir erstmal bei deinen Gastgewändern geblieben.“

„Vielleicht sollten wir einfach ein paar davon dunkel einfärben. Ich könnte einen Farbstoff herstellen.“

„Wirklich? Super Idee. Einige von den rosanen passen mir, also wenn sie zum Beispiel weinrot oder blau werden, trage ich sie auch.“

„Ich werde mal sehen, was ich tun kann.“

„Und was dieses Bad im Keller betrifft...“ Yami zögerte ein bisschen. „Nun... ich würde mich gerne noch etwas da unten beschäftigen. Es ist zwar irgendwie ziemlich kultig mit dieser düsteren Atmosphäre... aber etwas heller wäre es sicher gemütlicher. Wenn du nichts dagegen hast.“

Crimson war überrascht. „Nein, ganz und gar nicht... im Gegenteil. Es erinnert mich immer an die Zeit, als ich hier Gefangener war. Wenn es anders wird, ist mir das nur recht. Aber wieso kommst du darauf, dich damit zu befassen?“

Yami zuckte mit den Schultern. „Wir haben Yugis Zimmer renoviert, und das hat mir viel Spaß gemacht. Ich kann auch nicht mein ganzes Leben lang nur Karten spielen, damit verdient man nicht wirklich Geld. Also überlege ich seit einiger Zeit, sowas beruflich zu machen.“

Crimson hörte hin, aber er verfolgte in Gedanken heimlich Yugi und Eria. Yugi hatte die junge Magierin einige Minuten allein gelassen und sprach sie jetzt gerade an. Sie waren in einem der unbenutzten Klassenräume. Anscheinend war sie ziemlich verstört. Crimson fühlte sich schlecht, weil er lauschte, aber auf der anderen Seite wollte er unbedingt wissen, wie es ausging.

Yugi legte zunächst einfach einen Arm um Erias Schultern. „Hey... sei nicht sauer auf Crimson. Er hatte viel um die Ohren. Yami und ich haben Sorc mitgebracht, weil Lord Genesis uns darum gebeten hat.“

Eria machte einen halbherzigen Versuch, Yugi abzuschütteln, aber er war hartnäckig. „Crimson hätte ihn rausschmeißen sollen! Bestimmt stecken Sorc und Genesis unter einer Decke! Crimson wird von diesem Vampir völlig um den Finger gewickelt, nur weil sie ab und zu mal miteinander...“

Sie unterbrach sich, und Yugi ergriff rasch wieder das Wort. „Lord Genesis traut Crimson nunmal zu, dass er mit Sorc fertig wird, und außerdem kann das Schloss einen weiteren starken Magier gebrauchen, wenn ich das richtig verstanden habe. Wegen der Energiereserve oder so.“

„Das Schlossherz bezieht seine Energie von den Bewohnern und kann einen Speicher für Notzeiten damit füllen, aber nur, wenn genug Leute im Schloss leben,“ informierte Eria ihn schniefend. „Bisher konnte lediglich die Grundversorgung gesichert werden. Aber das ist kein Grund! Wir brauchen nicht ausgerechnet Sorc! Crimson hat auch so genug Probleme!“

Yugi lächelte. „Siehst du, im Grunde sorgst du dich mehr um ihn, als dass du sauer auf ihn bist, oder? Glaub mir, er wurde von Sorcs Ankunft auch überrumpelt. Er hatte meinen Brief noch nicht gelesen und wusste deshalb von nichts, sonst hätte er bestimmt vorher Einspruch erhoben.“

Die Magierin schüttelte in wildem Trotz den Kopf. „Ich kann so nicht leben... mit der ständigen Aussicht, dem Kerl im Gang zu begegnen! Ich... ich fürchte mich vor ihm!

„Das hat man gemerkt. Viele Leute werden sauer, wenn sie eigentlich Angst haben. Aber wir haben einige Tage mit Sorc unter einem Dach gelebt, und es ging recht gut. Auch wenn es ziemlich merkwürdig war. Er verhält sich unauffällig.“

„Das sind die Schlimmsten, Yugi! Sicher brütet er was aus!“

„Ich glaube, Mava und die anderen Lehrer passen darauf schon ganz genau auf.“

Sie seufzte. „Das hoffe ich, denn Crimson hat im Moment genug zu tun...“

Das stimmte allerdings, dachte Crimson. Er musste immer noch einen Weg finden, mit Olvin Kontakt aufzunehmen, doch der Alte zeigte sich nur, wenn er selbst es für richtig hielt. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich unter diesen Umständen auch noch Sorc aufzuhalsen. Der Chaosmagier schien zwar nicht gefährlich zu sein, aber wenn Eria Angst vor ihm hatte, ging es eben nicht.

„Crimson, ist alles in Ordnung? Hörst du mir zu?“

„Oh... Yami, Entschuldigung, was sagtest du?“ Crimson hatte es noch nicht ganz drauf, sich auf zwei Dinge gleichzeitig zu konzentrieren. Vielleicht würde er das auch nie können. Manche Dinge erforderten eben seine ganze Aufmerksamkeit.

„Ich möchte Raumausstatter werden,“ erzählte Yami ihm (vermutlich zum wiederholten Male). „Aber das ist erstmal nur so eine Idee. Bisher sah ich mich nicht vor dem Problem, mir darüber überhaupt Gedanken zu machen, schließlich war ich nur ein Geist...“ Er grinste verlegen. „Seto ist natürlich der Meinung, dass ich problemlos in seiner Firma arbeiten kann, aber ich habe mit Großvater darüber gesprochen. Er gibt zu bedenken, dass ich mich in der Zukunft vielleicht von Seto trenne und dann mittellos dastehe. Natürlich gehen Yugi und ich beide nicht davon aus, aber ich bin lieber nicht von einem anderen abhängig.“

„Das ist die richtige Einstellung, würde ich sagen,“ bestätigte Crimson. „Wenn du willst, tob dich da unten aus. Mach es so, dass es den Schülern und dem Personal gefällt. Ich selbst werde nicht viel Zeit haben, mich damit zu beschäftigen. Alles ist besser als die momentane Kerkeroptik.“

„In Ordnung!“ Yami strahlte. „Ich kümmere mich um alles. Vielleicht fällt mir zu den Zimmern ja auch was ein.“

„Mach du nur.“ Crimson war erleichtert, dass ihm wieder eine Sorge genommen wurde. Obwohl die Gestaltung der Räume nicht gerade als Sorge zu bezeichnen war, eher schlicht und einfach etwas, wofür er im Moment zu beschäftigt war.

Letztlich beschloss er, in sein privates Zimmer zu gehen, falls Eria mit ihm reden wollte. Er verabschiedete sich also von Yami und begab sich in seinen Turm.
 

Natürlich lief mal wieder nicht alles so wie geplant. Als er die Tür erreichte, wartete Sorc auf dem Treppenabsatz. Er hatte ein flaches, rechteckiges Päckchen bei sich. „Direktor, hast du noch einen Augenblick Zeit?“

Es war relativ spät, aber im Prinzip scherte das einen Finsternismagier nicht, wenn er nicht gerade aus beruflichen Gründen einen Arbeitstag hatte, der früh morgens anfing. Aber wenn Sorc schonmal da war, konnten sie auch gleich etwas klären. Er winkte ihn also herein. „Wenn es um den Vorfall vorhin geht...“

„Ja, in gewisser Weise.“ Sorc reichte ihm das Päckchen. „Ich hätte dir das schon längst geben sollen, aber ich wollte einen geeigneten Zeitpunkt abpassen. Viel länger kann ich jetzt aber nicht mehr warten.“

Es schien ein großer Brief zu sein, jedenfalls fühlte es sich an, als wäre Papier darin, und die Verpackung bestand aus Pergament, das mit einem aufwändigen, schwarzen Wachssiegel versehen war, so groß wie die Unterseite einer durchschnittlichen Teetasse. Der Brief war adressiert an Crimson, Herr von Schloss Lotusblüte.

Crimson kannte das Siegel nicht, obgleich es ihm vage bekannt vorkam. „Was ist das?“

„Meine Prozessakten. Eine Kopie der Sitzungsprotokolle und dergleichen. Hast du nicht schon darauf gewartet?“

„Äh... nein!“ Crimson brach das Siegel und packte einen Stapel Papiere aus, die ordentlich in eine Ledermappe einsortiert waren. Ganz oben auf lag ein Brief: „Sehr geehrter Magier Crimson, wir danken Euch für Eure Teilnahme an unserem Rehabilitationsprogramm und senden Euch anbei die Papiere bezüglich des Klienten Sorc, seines Zeichens Chaosmagier des Elements Finsternis. Bei Fragen stehen wir Euch gern zur Verfügung; wendet Euch hierfür am besten an Lord Genesis oder den Sachverständigen, der in einigen Tagen nach der Ankunft des Klienten bei Euch nach dem Rechten sehen wird. Mit freundlichen Grüßen, Yubel, Schriftführer, Zirkel des Bösen.“ Crimson sah Sorc verständnislos an. „Rehabilitationsprogramm?“

Täuschte er sich, oder wirkte Sorc besorgt? „Ich nahm an, du wüsstest Bescheid,“ sagte er langsam. „Es gab einige Adressen, wo sie mich hinschicken konnten. Unter anderem diese Schule. Ehrlich gesagt war ich überrascht, dass du nicht abgelehnt hast. Allerdings dachte ich, dass du vielleicht einen Racheplan hast...“

„Mooooment, der Reihe nach...“ Crimson setzte sich an seinen Schreibtisch und breitete die Papiere aus. Nebenbei fiel ihm eine kleine Flasche auf, die am oberen Tischrand auf einer zusammengefalteten Notiz stand. Die Flasche hatte er noch nie gesehen, aber damit musste er sich später befassen, sicher war es etwas, das Lily ihm verordnet hatte.

Der Brief vom Zirkel des Bösen enthielt ein Gutachten zu Sorcs Charakter, mehrere Zettel mit Hinweisen, ein Kontaktformular und einen ganzen Stapel von Aufzeichnungen, die mit 'Verhandlungsprotokoll' überschrieben waren. Beim kurzen Durchsehen kristallisierte sich heraus, dass es sich tatsächlich um die Mitschrift einer Gerichtsverhandlung handelte.

„Also haben sie dir den Prozess gemacht,“ stellte Crimson fest. „In Zusammenarbeit mit... hä? Dem Drachenhauchorden?“

„So ist es.“ Da Crimson keinen Stuhl für Besucher in diesem Zimmer hatte, war Sorc stehen geblieben. Er hatte die Hände vor seinem Körper ineinander gelegt und wartete ab, wie ein Schüler, der eine Hausaufgabe vorzeigte.

Der Weißhaarige überflog rasch die Akten, wobei er sich auf zusammenfassende Berichte beschränkte. Er wunderte sich, dass man ihn bei dieser Verhandlung nicht als Zeugen geladen hatte, aber vielleicht hielt der Zirkel des Bösen das etwas anders. Außerdem hatte er ja schon Genesis erzählt, was ihm passiert war.

Die Anklageschrift war lang. Die Sache mit Exodia stand drauf, die Beschwörung des Fünfgötterdrachen zu zerstörerischen Zwecken, Misshandlung von Gefangenen, fahrlässige Tötung von mehreren Harpyien... oh, Haryielles Schwarm. Crimson hatte ganz verdrängt, dass das auch auf Sorcs Kappe ging. Er las diesen Punkt genauer: „Dem Angeklagten wird außerdem vorgeworfen, eine Zombiearmee ausgesandt zu haben, um eine Harpie gefangen zu nehmen, wobei er den Tod zahlreicher Harpyien, die ihren Horst verteidigten, wissentlich in Kauf nahm. Erschwerend kommt hinzu, dass der Angeklagte über andere Möglichkeiten verfügte, um eine einzelne Harpyie zu fangen, wobei Todesfälle hätten vermieden werden können.“

Zombies waren hirnlose Diener, das wusste Crimson noch aus seinen Schulbüchern. Sie erledigten zwar ihre Aufgabe, aber wenn sich ihnen dabei lebende Wesen in den Weg stellten, ließen sie sich kaum im Zaum halten.

Er übersprang weitere Punkte und kam zu einer Zusammenfassung des Prozesses: „Der Angeklagte bekennt sich in allen Punkten schuldig. Das Gericht verzichtet daher auf weitere Zeugen.“ Aha, das erklärte, warum man ihn nicht herbeizitiert hatte. „Das Gericht stellt fest, dass der Angeklagte zu keiner Zeit versucht hat, seine Schuld auf seinen Komplizen, seine Untergebenen oder unglückliche Umstände abzuwälzen, was es ihm positiv anrechnet. Er zeigt sich einsichtig, wenn auch nicht reumütig. (Weitere Analysen lest bitte im psychologischen Gutachten nach.) Der Angeklagte verfügt über viel nutzbares Potential und ist generell sehr kooperativ. Das Gericht verzichtet daher auf die in diesem Fall mögliche Höchststrafe und genehmigt das Rehabilitationsprogramm Stufe 3 (siehe Informationsblatt 'Rehabilitationsprogramme').“

Crimson suchte nach dem Infoblatt zu den Rehabilitationsprogrammen, doch es war keines in der Mappe enthalten. „Das Infoblatt habe ich nicht.“

„Du hättest eines bekommen sollen, als sie dir die Infos zur Bewerbung schickten.“

„Ich habe mich nicht für dieses Programm beworben.“

„Und doch stand dein Name auf der Liste.“

„Wie auch immer... was bedeutet Stufe 3? Und ist das besser als Stufe 1 oder 2?“

„Oh... ich hab noch so ein Blatt,“ fiel es Sorc ein. „Moment...“

Crimson befürchtete schon, dass er jetzt bis morgen warten musste, doch Sorc machte eine wedelnde Bewegung in der Luft, und eine Ledermappe wie die, die Crimson hatte, materialisierte sich. Auf den ersten Blick sah das Ding aus wie die Unterlagen eines eher schlampigen Schülers: Es war etwa doppelt so viel Papier drin wie in Crimsons, und überall ragten Ecken davon willkürlich heraus, generell schien alles nur reingestopft zu sein. Als Sorc die Mappe aufschlug und zu suchen anfing, fiel ihm der gesamte Inhalt vor die Füße. Diese Tatsache machte ihn Crimson fast sympathisch.

Der Chaosmagier seufzte und warf lediglich einen Blick auf die Papiere, die daraufhin wieder hoch in die Mappe flogen, allerdings auch nicht ordentlicher als vorher. Sorc ließ die Mappe los – sie blieb in der Luft hängen – und fing an zu suchen. Diese verschwenderische Nutzung von Magie zur persönlichen Bequemlichkeit mochte bei anderen angeberisch wirken, aber bei ihm sah das völlig normal aus. Faszinierend.

„Ah... da ist es. Ähm...“ Sorc reichte Crimson einen Zettel, auf dem die Schrift etwas verwischt war, weil anscheinend jemand sein Getränk darauf verschüttet hatte, entsprechend war das Rapier dann auch gewellt und fleckig.

„Rehabilitierungsprogramm des Zirkels des Bösen, Informationen für Teilnehmer, Angehörige, Stellenanbieter.

Stufe 1: Der Klient kann aus dem gesamten Angebot eine Stelle wählen, die ihm zusagt. Beliebt sind hierbei ungefährliche Angebote wie Koch in einem Schloss, Gärtner, Bibliothekar. Der Klient wird von einem Betreuer des Zirkels für einen vom Gericht festgelegten Zeitraum überwacht bzw. regelmäßig kontrolliert. Sollte ihm die vermittelte Stelle aus irgendeinem Grund doch nicht zusagen, kann er sie bis zu drei mal wechseln.

Stufe 2: Das Stellenangebot beschränkt sich auf gefährlichere Jobs wie Torwächter, Drachenpfleger, Soldat und dergleichen. Die Stellen bieten ein Unfallrisiko von ca. 50%. Auch hier erfolgt für eine festgelegte Zeit eine Überwachung durch den Betreuer, wobei auch der Stellenanbieter stärker mit einbezogen wird. Stellen der Stufe 2 können einmal gewechselt werden.

Stufe 3: Der Klient kann sich eine Stelle aus den als gefährlich eingestuften Angeboten aussuchen. Die meisten dieser Stellen haben ein hohes Gesundheitsrisiko, beispielsweise Geheimnishüter, Tempelwächter usw., nicht wenige werden mit ca. 75% tödlich eingestuft. Der Klient hat die Aufgabe, diese Situation zu überleben. Auch bei Stufe 3 erfolgt eine regelmäßige Kontrolle durch den Betreuer für einen festgelegten Zeitraum. Die gewählte Stelle kann nicht gewechselt werden. Stellenanbieter sollten unbedingt das Merkblatt 'Stellenanbieter' beachten.“

Crimson seufzte genervt. „Ich habe das Gefühl, dass ich hier von einem Merkblatt zum nächsten verwiesen werde.“ Er sah nach. Das Merkblatt 'Stellenanbieter' war nicht da, vermutlich müsste er das eigentlich schon haben. In dem Fall war Sorc vorbereitet und reichte ihm eine Kopie.

„Merkblatt für Stellenanbieter. Lieber Teilnehmer. Wenn Ihr eine Stelle anbietet, seid Euch bitte im Klaren darüber, dass dies Verantwortung mit sich bringt, besonders, wenn Ihr für die Stufe drei eingestuft werdet. Wenn Ihr für das Programm ausgewählt werdet, werdet Ihr zunächst gefragt, ob Ihr den Klienten annehmt. Nach Bestätigung seid Ihr dafür verantwortlich, den Klienten in die nötigen Schranken zu weisen und bei Problemen sofort den Betreuer zu informieren. Ein Kontaktformular liegt den Akten bei, die mit dem Klienten übersandt werden. Bitte seid Euch darüber im Klaren, dass die Benutzung des Kontaktformulars Folgen für den Klienten hat.“ Crimson sah nach. Das Kontaktformular war vorhanden. Weiter im Text: „Der Betreuer des Euch zugewiesenen Klienten wird sich innerhalb einer Woche mit Euch in Verbindung setzen. Bitte gebt unbedingt wahrheitsgemäß Auskunft auf seine Fragen, damit dem Klienten dadurch keine Nachteile entstehen. Der Zirkel des Bösen dankt und wünscht viel Erfolg!“

Crimson brauchte eine Weile, um die Informationen zu verarbeiten. „Also... wenn ich das richtig verstehe, darfst du hier nicht versagen, sonst... ja, was eigentlich?“

Sorc wirkte nun definitiv ein wenig besorgt. „Nun... genau hat man mir das nicht gesagt, aber ich habe mitbekommen, dass es etwas gibt, das Rehabilitationsprogramm Stufe 4 genannt wird, aber im Prinzip ist das eine Umschreibung dafür, dass sie deine Magie vernichten und dich irgendwo hinstecken, wo du für den Rest deiner Tage irgendeine dumme Arbeit machen kannst. Wenn sie mich dazu verurteilt hätten, hätte ich direkt um Exekution gebeten.“

„Vielleicht fällt das dann unter Stufe 5.“

„Wer weiß...“

„Wieso bin ich eigentlich für Stufe 3 eingeteilt? So gefährlich ist es hier doch gar nicht.“

„Für mich schon, schließlich mag man mich hier nicht. Anscheinend wird es immer im Bezug auf den *Klienten* bewertet.“ Sorc nahm die Merkblätter von Crimson zurück und verstaute sie in seiner Chaosmappe. „Ich bin wirklich überrascht, dass du nichts von alledem weißt. Demnach wissen deine Leute auch nichts?“

„Jedenfalls habe ich ihnen logischerweise nichts sagen können.“

Hinter Sorcs Stirn arbeitete es, aber er sprach seine Gedanken nicht aus. Er ließ seine Mappe wieder verschwinden. „Wenn du möchtest, gehe ich Eria aus dem Weg. Du musst zuallererst die Interessen deiner Schülerin vertreten, aber bevor du dieses Kontakformular ausfüllst, bedenke bitte, dass ich nur diese eine Chance habe.“

Sorcs Schicksal lag in seiner Hand. Das gefiel Crimson natürlich. Doch ob er wollte oder nicht, er musste auch Sorcs Haltung bewundern. Etwas sagte ihm mit untrüglicher Sicherheit, dass Blackys Vater nicht der Typ war, der um Gnade bettelte oder um Nachsicht flehte. Wahrscheinlich war die Bitte, die er eben vorgetragen hatte, schon das Maximum für ihn, und weiter würde er sich nicht erniedrigen.

„Ja, halte dich von Eria fern,“ entschied Crimson, denn das konnte auf keinen Fall schaden. „Ich werde diese Akten genau prüfen und dann entscheiden,“ beschloss er, um sich nicht gleich festlegen zu müssen... und weil es ihn amüsierte, Sorc ein bisschen im Unklaren zu lassen. „Jemand muss diesen Antrag, den ich angeblich eingereicht habe, gefälscht haben, denn ich weiß nichts davon. Darüber würde ich mir auch gerne Klarheit verschaffen.“

Der Chaosmagier nickte, nahm die Information zur Kenntnis. „Wenn das alles war, werde ich dich jetzt nicht weiter stören.“

Da Crimson nicht widersprach, verließ Sorc ihn, und der Schlossherr konnte sich seinen Grübeleien hingeben. Das war auch nicht gerade verlockend, denn er hatte sich eigentlich auf eine gute Portion Schlaf gefreut. Aber war da nicht noch das ominöse Fläschchen? Vielleicht enthielt es ein Entspannungsmittelchen von Lily. Crimson nahm es neugierig an sich, löste den Korken und schnüffelte – was er gleich darauf bereute, denn das Zeug stank zum Himmel!

Verärgert griff er nach der Notiz, auf der die Flasche gestanden hatte, und entfaltete den Zettel. Er erkannte die Schrift, und ein Gefühl schlimmer Vorahnung breitete sich in ihm aus. „Jungchen, wenn du immer noch das Gespräch mit mir suchst, trink mein kleines Geschenk aus.“

Traum und Wirklichkeit

Kapitel 11: Traum und Wirklichkeit
 

Das Zeug stank wirklich. Der Geruch erinnerte Crimson an verrotteten Kohl. Die kleine Flasche war undurchsichtig, deshalb sah er nicht, wie die Konsistenz war, und vielleicht war das auch besser so. Er hielt sich die Nase zu und trank schnell den gesamten Inhalt aus. Die Substanz fühlte sich glibberig auf der Zunge an und hatte kleine körnige Bestandteile. Eigentlich trank er nichts, was er nicht identifizieren konnte, aber wenn Olvin ihm ein Gespräch anbot, würde er ihn kaum umbringen. Vielleicht kampfunfähig machen oder so.

Tatsächlich wurde es Crimson auch sogleich schwindelig, was angesichts des widerlichen Zeugs auch kein Wunder war. Aber es war mehr als nur Ekel. Er wankte mit letzter Kraft zum Bett, um nicht auf den Boden zu stürzen, und schaffte es gerade so.

Nach einer unbestimmten Zeit kam er wieder zu sich. Es war inzwischen ganz dunkel draußen, also waren vielleicht ein paar Stunden vergangen. Crimson stellte fest, dass er sich leicht benebelt fühlte, und dass seine Magie nicht funktionierte. Das überraschte ihn nicht wirklich, schließlich musste es einen Grund für diesen widerlichen Trank geben.

Direkt neben seinem Kopf auf dem Kissen lag eine Notiz: „Komm in den Folterkeller.“

Crimson runzelte die Stirn. Folterkeller? Damit musste der Raum gemeint sein, in dem er sein Siegel erhalten hatte. Aber den hatte er von allen Erinnerungen daran befreien lassen, so dass jetzt praktisch nichts mehr drin war außer einem Fackelhalter an der Wand. Vielleicht versteckte Olvin sich dort. Er musste ja wissen, dass Crimson dort kaum zum Spaß hingehen würde.

Der Weißhaarige beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, und begab sich in den Keller. Unterwegs traf er niemanden, wahrscheinlich schliefen alle. Das Gemäuer kam ihm seltsam still vor, aber das lag vielleicht daran, dass er unter Drogen stand. Schließlich hatte er ja auch keine Ahnung, was genau dieser Trank bewirkte. Offenbar war er auch sehr in Gedanken gewesen, denn ehe er sich versah, befand er sich in dem Gang im Keller. Es war dort ansatzweise erleuchtet durch vereinzelte Fackeln an der Wand, aber aus dem betreffenden Raum, dessen Tür offen stand, schien helleres Licht auf den Gang, so dass kein Zweifel daran bestand, welches Ziel er hatte. Als Crimson sich näherte, drang der Geruch einer Kräutermischung an seine Nase. Er kannte diesen Geruch... fast kehrte er wieder um, riss sich aber zusammen. Vorsichtig zog er die Tür auf... und erstarrte auf der Schwelle.

Der Tisch war wieder da. Und der gesamte Ritualaufbau. „Das ist unmöglich... wir haben das alles weggeschafft...“

„Und doch ist es hier.“

Crimson fuhr zu der Stimme herum. Olvin trat in den Lichtschein der Fackeln. Bisher hatte er ihn nicht bemerkt.

„Also hast du meine Einladung angenommen,“ stellte der alte Magier fest. „Hab ich dich mürbe gekriegt, so dass du nun um Ruhe und Frieden betteln willst?“

„Ja will ich,“ antwortete Crimson, und das folgende Schweigen wertete er als bestürzte Überraschung, was ihn heimlich amüsierte. Man musste der Situation abgewinnen, was sie hergab. Zögerlich trat er weiter in den Raum. „Was... soll dieser Aufbau?“

„Aaach, das kannst du dir doch denken,“ spottete der Necromant. „Beim letzten Mal habe ich deine Schreie so sehr genossen, dass mich der Gedanke, das zu wiederholen, in Hochstimmung versetzt. Und es sieht ganz so aus, als hätte ich dich in der Hand, schließlich willst du etwas von mir. Eigentlich wollte ich dich noch eine Weile schmoren lassen, aber es hat sich so ergeben...“

„Du hast nicht etwa Angst, weil jetzt mehr Leute im Schloss sind, einer davon Sorc?“ rutschte es Crimson heraus.

„Werd nicht frech,“ entgegnete Olvin unwirsch. „Ich kann dieses Gespräch direkt abbrechen und wie gewohnt weitermachen.“

„Nein... tut mir Leid.“ Crimson räusperte sich und verfluchte sein vorlautes Mundwerk. „Ich habe einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten. Da ich jetzt weiß, was du mir vorwirfst und...“

„Halt!“ Olvin hielt eine Hand hoch und unterbrach den jüngeren damit. „Wie wichtig ist dir das?“

Crimson verstand nicht. „Was meinst du?“

„Ich bin nicht bereit, mir dein Gewäsch anzuhören, wenn ich nichts dafür bekomme! Komm her... setz dich auf den Tisch...“

Crimson hatte das Gefühl, dass sein Magen sich krampfhaft zusammenzog, als Olvin das sagte. Sein Blick glitt unwillkürlich über die Utensilien auf dem Beistelltisch, die gleichen wie vor gut neun Monaten – ein Messer gehörte auch dazu.

Der Alte winkte ihn heran, während er selbst sich an den Platz des Ausführers des Rituals stellte. Eigentlich war er viel zu klein, um an die Sachen dranzukommen. „Setz dich mit dem Rücken zu mir...“ Seine Stimme wurde auf eine unheimliche Art nun ganz freundlich – wie bei einem netten alten Onkel, der aber in Wahrheit Böses im Schilde führte.

Crimson gehorchte schweigend, aus Angst, dass ihm die Stimme versagte. Sitzen klang erstmal noch ganz harmlos... es störte ihn nur, dass sich Olvin jetzt hinter ihm befand, wo er ihn nicht sehen konnte, ohne sich zu verrenken. Er starrte also einfach die dunkle Wand an.

Irgendwie schaffte es Olvin, hinter ihm aufzuragen – er hakte die Messerklinge in Crimsons Robe ein und zog sie vom Kragen bis zum Gürtel hinunter, so dass er zu dessen Entsetzen das Kleidungsstück am Rücken von oben nach unten aufschnitt. Kurz darauf fuhren schwielige Finger das Siegel nach.

„Hmmm, die Farbe ist tief drin... die Schnitte gingen weit genug unter die Haut, dass das Siegel nicht durch einfache Verletzungen beschädigt werden kann... würde dich beispielsweise jemand auspeitschen, wozu ich große Lust hätte, dann würden die Striemen abheilen, ohne das Siegel zu schädigen.“

Olvin war auch Heiler, überlegte Crimson. Und mit seinen Fähigkeiten analysierte er gerade die Tattoonarben, aus denen das Siegel bestand. Crimson erinnerte sich daran, dass auch Dark gemeint hatte, dass es tiefe Schnitte gewesen waren – zu tief, um das Siegel einfach wegbrennen zu lassen, was er sonst gerne getan hätte. Es freute ihn zu hören, dass die Hyroglyphen, die nun seinen Effekt bewirkten, nicht ganz so empfindlich gegen Verletzungen waren, wie er befürchtet hatte. Allerdings war diese Information in dieser Situation vielleicht nicht so erfreulich wie unter anderen Umständen.

Der alte Necromant kicherte gehässig hinter ihm. „Beschleunigte Herzfrequenz, hektische Atmung... spürst du den Angstschweiß? Recht so, fürchte mich! Wolltest du mir nicht etwas sagen? Ich höre dir gern zu, aber meine Geduld hat seinen Preis. Verschwende nicht meine Zeit.“ Die flache Messerklinge strich geradezu spöttisch über Crimsons Rücken. Auf Hüfthöhe verweilte sie und wurde so gedreht, dass die Spitze in das weiche Fleisch piekte.

Crimsons Kehle entkam ein gepeinigter Laut. Es geschah weniger vor tatsächlichem Schmerz als vielmehr vor Angst. „Zeit ist genau das, was ich brauche,“ griff Crimson das Stichwort auf, während er versuchte, ganz still zu sitzen. „Gib mir einen Monat Zeit. Einen Monat, in dem du mich nicht traktierst und mir Streiche spielst, oder Aktionen gegen mich startest. Ich brauche so lange, um dich zu entschädigen – soweit das möglich ist.“

Was immer Olvin erwartet hatte, das war es offenbar nicht, denn seine Stimme klang deutlich verärgert. „Was redest du da? Wie willst du mich für zehn verlorene Jahre meines Lebens entschädigen, in denen ich meine Familie, meinen Ruf und jede Chance auf einen anständigen Job eingebüßt habe? Ganz zu schweigen von meiner körperlichen Gesundheit? Ich wäre eigentlich alt genug, um mich zur Ruhe zu setzen, aber ich bin praktisch obdachlos und mittellos!“ Er zog das Messer schnell quer nach oben, wobei er wahrscheinlich das Siegel durchschnitt.

Crimson schrie auf, blieb jedoch sitzen. Dies schien Olvins Spiel zu sein... Schmerzen im Austausch für ein vernünftiges Gespräch. Sein Körper erinnerte sich an derartige Behandlungen noch zu gut. Crimson hyperventilierte und spürte kalten Schweiß auf seiner Haut, während seine Hände sich in die Unterlage verkrampften. „Ist das wirklich nötig?“ jammerte er, ehe er sich beherrschen konnte.

„Es dient meinem Seelenfrieden,“ teilte Olvin ihm mit. „Du kannst jederzeit aufstehen und weggehen, aber dann kommt es zwischen uns zu keiner Einigung.“

Es war nicht leicht, unter solchen widrigen Umständen überhaupt ein Gespräch zu führen. Die Klinge biss in sein linkes Schulterblatt und wartete auf ihren weiteren Einsatz. Crimson musste seine angeknackste Willenskraft zusammenkratzen. „Ich kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber dafür zahlen. Gib mir den Monat, den ich brauche. Dann musst du dich auch nicht mehr verstecken, sondern kannst in einem der Zimmer dieses Schlosses wohnen, mit den anderen Bewohnern essen und generell normal hier leben, als mein Gast.“

„Dein Gast. Aha. Aber werden die anderen das akzeptieren?“

„Warum nicht? Es kennt dich hier doch keiner. Und wenn doch jemand eine falsche Meinung von dir haben sollte... werde ich das klären.“

Olvin schien darüber nachzudenken, doch leider vergaß er darüber das Messer nicht, auch wenn es für einen Moment so aussah. Schon zischte es wieder schräg nach unten. Crimson versuchte gar nicht erst, sich den Schrei zu verkneifen, schließlich gefielen seine Schmerzlaute Olvin ja so gut. Innerlich betete er zu allen Mächten, die er kannte, dass die Schnitte verheilen würden, ohne bleibenden Schaden anzurichten.

„In Ordnung, ich habe ja nichts zu verlieren,“ murmelte Olvin zögerlich. „Aber wenn der Monat um ist... was dann? Schmeißt du mich dann wieder raus? Damit wir uns richtig verstehen... ich habe dem Monat noch nicht zugestimmt!“

Crimson biss sich auf die Unterlippe. Er musste etwas wirklich Verlockendes anbieten, damit Olvin ihm die benötigte Zeit gewährte. „Nach einem Monat werde ich dir vorstellen, was ich erreicht habe. Es werden vielleicht keine Wunder sein, aber... ein Anfang. Und greifbare Ergebnisse. Du kannst entscheiden, ob du damit zufrieden bist, und annehmen, was ich zu bieten haben werde. Solltest du nicht zufrieden sein, werde ich mich deinem Willen beugen und das Schloss aufgeben. Ich gehe ins Exil, wenn du willst – in die Welt des Blauen Lichts. Sollte das nicht genug sein, mach mit mir, was immer du willst. Du kannst mich quälen, wie es dir gefällt, meine Magie vernichten oder mein Leben beenden... was immer du für angemessen hältst. Aber ich versichere dir – das wirst du in einem Monat nicht mehr wollen. Ich brauche nur Ruhe in dieser Zeit. Genug Schlaf. Ungestörtes Arbeiten.“

Crimson konnte das Messer nicht mehr spüren, dafür hörte er, wie der Alte sich das Kinn rieb. Das Geräusch wurde fast von seinem eigenen Herzschlag übertönt.

„Du pokerst hoch, Jungchen! Wer sagt mir, dass du nicht einfach abhaust?“

„Wenn ich das tue, verwirke ich das Schloss auch, und dann hast du zumindest einen Teil deiner Rache, nicht wahr?“

„Das stimmt wohl.“ Er schwieg nachdenklich. Dann, nach einigen Minuten, ließ er sich zu einer Antwort herab: „Nun gut. Aber ich bin kein Narr. Wer garantiert mir, dass du mich nicht bei nächster Gelegenheit umnietest?“

Crimson drehte sich halb um, konnte jedoch den Necromanten nur undeutlich erkennen. „Ich... kann dir nur mein Wort geben! Du musst doch wissen, dass ich nicht so jemand bin...“

„Alles hat seinen Preis, Jungchen, das habe ich dir gesagt. Wenn ich das Risiko eingehen und mein Versteck verlassen soll, will ich eine kleine Genugtuung vorweg, die mir dann keiner mehr nehmen kann – nur für den Fall, dass du doch so hinterhältig bist. Gib mir deinen Effekt.“

„Was...? Wie meinst du das denn?“

„Leg dich hin und lass zu, dass ich dir den Effekt wieder nehme. Sonst geht es wie gehabt weiter. Ich werde dich terrorisieren, bis du den Verstand verlierst. Und deinen Effekt vernichte ich sowieso, egal ob jetzt oder wann anders. Nur kannst du jetzt noch was dafür kriegen!“

Crimson sprang entsetzt auf, brachte Abstand zwischen sich und den zweckentfremdeten Tisch und starrte Olvin entgeistert an. Der untersetzte Magier stand auf einem Hocker, um auf die richtige Größe zu kommen, erkannte er jetzt.

„Ich sehe, wie du mit dir ringst, Crimson. Es täte dir sicher ganz gut, mal ein persönliches Opfer bringen zu müssen, so wie ich es durch deine Schuld musste! Ich bin noch nett, denn ich nehme dir nichts, was du allzu sehr vermissen wirst. Schließlich hast du den Effekt nur durch eine glückliche Wendung des Schicksals erhalten, und wann kommt er denn schon zum Einsatz? Einmal im Jahr?“ Da war wieder das hinterhältige Grinsen. „Die Schmerzen musst du natürlich ertragen. Ich muss ein ausreichendes Stück aus dem Siegel wegschneiden oder wegbrennen, damit es aufhört zu funktionieren. Der Eingriff muss tief genug gehen...“

Crimson hatte schon einen Vorgeschmack davon erhalten, wie sich der Biss der Klinge anfühlte. Er hatte absolut kein Verlangen danach, diese Erfahrung zu vertiefen. „Bitte, Olvin... ist das wirklich nötig? Wenn du mir nicht ausreichend vertraust, leiste ich einen Blutschwur, oder was immer du willst...“

„Was ich will ist, dass du dieses Opfer bringst! Oder hast du immer nur eine große Klappe?“

Unsinnigerweise musste Crimson in diesem Moment daran denken, was Sorc an seiner Stelle tun würde. Als Direktor dieser Schule konnte er dem Chaosmagier doch nicht nachstehen! Er selbst versuchte stets, seine Würde zu behalten. Das versuchte er auch gerade seinen Knien zu erklären, die ziemlich weich geworden waren.

„Ich... ich komme nicht gut mit Schmerzen klar,“ brachte er mühsam hervor. „Kannst du... es nicht so machen, dass ich nichts spüre?“

Olvin hob eine Augenbraue. „Ach... du willst den Preis bezahlen, aber ohne die Schmerzen? Nun, das sollte ich dir wohl positiv anrechnen, aber es gibt da ein Problem aus deiner Sicht. Ich könnte es zwar so machen, das wäre ganz einfach für mich. Aber ich will nicht.“ Das böse Lächeln des Necromanten hätte wohl freundlich gewirkt, wenn seine Augen nicht so böse gefunkelt hätten.

Crimson wusste nicht wie, aber nachdem er erfahren hatte, dass er nur leiden sollte, um die Rachegelüste seines Gegners zu erfüllen, fand er die Kraft, dies als Verhandlungsbasis zu nutzen, denn anscheinend konnte er keine besseren Konditionen herausschlagen. Er reckte trotzig das Kinn vor und näherte sich dem Tisch bis auf einen Meter. Olvin ließ ihn nicht aus den Augen und beobachtete die Veränderung interessiert.

„Lass mich einen Monat lang in Ruhe, dann beurteile, was ich in der Zeit erreicht habe. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du mit mir machen, was du willst. Doch ich bin sicher, dass du das Ergebnis zufriedenstellend finden wirst. Während des Monats kannst du als mein Gast im Schloss leben. Ich garantiere für deine Sicherheit. Und... als Preis dafür gebe ich dir meinen Effekt, wie du es forderst. Ist das annehmbar für dich?“

Es war Crimson vergönnt, sich an dem ungläubigen Gesicht des Necromanten zu erfreuen, denn der hatte anscheinend nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Doch es brachte Crimson nicht weiter, wenn er bettelte und flehte. Das wäre unwürdig gewesen und hätte seiner Selbstachtung geschadet... und seinen Effekt vermutlich dennoch nicht gerettet.

Olvin sah ihn eine Weile prüfend an und nickte dann. „Einverstanden.“ Er machte eine einladende Geste Richtung Tisch.

Crimson wünschte sich ein paar Freunde herbei, die ihm jetzt beistanden, indem sie ihn unten hielten, aber zugleich wollte er niemanden dabei haben, der ihn gut kannte. Es war zu erniedrigend. Als er sich dann wirklich auf den Tisch legte, hatte er das Gefühl, sich selbst dabei zu beobachten. Er musste sich mit aller Willenskraft überwinden und konnte dann kaum glauben, dass er es tat. Als er auf dem Bauch lag, zog er seine Arme aus den Ärmeln der ruinierten Robe und griff nach den Tischbeinen. Diese Szene schien langsam zur Gewohnheit zu werden.

Olvin suchte sich eine Stelle weiter unten an seinem Rücken aus, und links, weil das die ihm zugewandte Seite war. Er tastete dort mit den Fingern. „Ja, das wird gehen, da ist genug Fleisch auf den Rippen. Es wird nicht so lange dauern. Ursprünglich hatte ich überlegt, dir den gesamten Rücken mit glühenden Eisen zu entstellen, aber da du so brav bist, können wir uns auf ein Minimum beschränken. Ich werde dort ein kleines Stück Haut entfernen, so dass eine der Hyroglyphen verschwindet, und die Wunde dann ordentlich ausbrennen. Das sollte insgesamt tief genug gehen, und gleichzeitig wird die Stelle desinfiziert.“ Der Alte lachte leise. „Und es dürfte ausreichend wehtun.“

Crimson sah, dass plötzlich ein glühendes Kohlebecken ganz in der Nähe stand, und daraus hervor ragten mehrere Griffe. Das Ding hatte er zuvor nicht bemerkt, daher zweifelte er langsam an seinem Verstand. Warum hatte er etwas so Auffälliges übersehen? Nun... vermutlich eine Folge seiner Furcht. Olvin sah sich auf dem Beistelltisch um, wo außer dem Ritualmesser noch einige andere Werkzeuge lagen – die Crimson auch bisher nicht bemerkt hatte. Was ging hier vor?

Olvin wählte ein Skalpell und desinfizierte es in der Kerze. „Keine Sorge... ich kann damit umgehen. Allerdings schneide ich normalerweise tote Körper auf, hehehe!“ Er verschwand aus dem Blickfeld seines Opfers und betastete wieder die Stelle, die er sich ausgesucht hatte.

Nur einige kurze Minuten der Qual, sagte Crimson sich. Viel länger wird es nicht dauern, redete er sich ein. Er kniff einfach die Augen zu und ergab sich in sein Schicksal.

Und wartete.

Und dann passierte noch etwas viel Seltsameres als Gegenstände, die plötzlich da waren. Die Qualität der Unterlage veränderte sich und wurde viel weicher. Crimson fühlte sich schlecht, ihm war übel. Aber er konnte sich kaum bewegen. Seine Arme und Beine waren ganz schwer, und er konnte auch die Augenlider kaum heben. Außerdem lag er auf dem Rücken.

Jemand tätschelte seine Wangen. „Nicht einschlafen. Hier, Jungchen, Trink das.“

„Ow... Owinn...?“ nuschelte er mit schwerer Zunge. Nur Olvin nannte ihn jemals Jungchen.

„Trink!“ Jemand hielt ein Trinkgefäß an seine Lippen und stützte zugleich seinen Kopf etwas ab. Crimson schluckte notgedrungen, aber er merkte gar nicht, ob es eklig schmeckte oder nicht.

Als nächstes rebellierte sein Magen. Er gab sich alle Mühe, sich zur Seite zu drehen, und bekam wieder Hilfe. Was er auskotzte (er konnte nicht erkennen, wohin), war wohl der eklige Trank von vorhin... irgendwie erleichterte es ihn, dass der den nicht mehr im Magen hatte. Danach fühlte er sich besser. Aber seine Gliedmaßen waren noch immer ganz schwer, genau wie Zunge und Augenlider. Sein Kopf fühlte sich schummerig an.

In Anbetracht der Tatsache, dass er vermutlich eine schlimme Wunde auf dem Rücken hatte, war es Crimson allerdings ganz recht, dass er so benommen war. Er wollte in Ruhe schlafen. Aber er konnte sich gar nicht daran erinnern, ob es wehgetan hatte, merkwürdig. Nun, das kam bestimmt wieder, wenn er erstmal wieder klar denken konnte.

„Nicht schlafen! Augen auf!“

War das Olvin? Wieso denn bloß? Crimson fühlte sich zu geschafft. „Lasmichinruh.“

„Du hast Gift getrunken. An deiner Stelle würde ich zusehen, dass ich auf die Beine komme.“

Das half. Crimson riss die Augen auf und versuchte, sich hinzusetzen. Seine Arme konnten ihn kaum stützen, aber sofort wurde ihm ein Haufen Stoff hinter den Rücken geschoben. Vielleicht seine zusammengerollte Bettdecke oder so. „Ol... Olvin. Wasma... Was machst du hier? Wo... waren wir nicht grad noch...“

„Nicht wirklich, das war nur ein Traum,“ erklärte der Necromant. „Das Zeug in der Flasche war ein starkes Halluzinogen und hat dich in einen Zustand versetzt, der es mir erlaubte, deinem Hirn gewisse Bilder einzugeben. Es war vermutlich ziemlich real, und wenn nicht, hast du vielleicht gedacht, dass es an dem unbekannten Trank lag – ja?“

„Öhm... ja, war so.“

„Ha! Dann ging mein Plan ja voll auf.“

„P-Plan?“

„Jaaa... du trinkst das Zeug, und ich lasse dich alles erleben, was ich will... in einer Vision, die ich dir suggeriere. Ich konnte dir vorgaukeln, dass du nicht zaubern kannst, dass du Schmerzen hast, dass es nach Kräutern riecht... war ziemlich anstrengend mit all diesen Details, aber auch ziemlich psychologisch, nicht wahr?“ Olvin grinste wie jemand, der ein lang geplantes Projekt erfolgreich gemeistert hatte. „Allerdings ist das Mittel giftig, wenn man zu lange wartet. Ich musste dir ein Brechmittel geben, damit die Wirkung nicht schlimmer wird. Schade. Ich war so nahe dran...“

Crimson zupfte an seiner Robe. Sie war heile. „Dann... hattest du nie vor... ich meine...“

„Doch, ich wollte es tun, Jungchen. Aber ich musste mich mit einer Täuschung zufrieden geben, denn das war sicherer für mich. Und aaach! Selbst das ist mir nicht vergönnt. Hätte ich länger gewartet... nun ja.“

„Du... du hättest mich sterben lassen können!“ Hatte er aber nicht. Crimson wusste nicht, was er davon halten sollte.

„Hmpf. Das werde ich wohl ewig bereuen, aber es war Heilerinstinkt... außerdem werde ich nicht so tief sinken, einen Mord auf mein Gewissen zu laden.“

Crimson fühlte sich nicht zu sehr viel mehr in der Lage, als einfach dazuliegen und abzuwarten. Olvin reichte ihm einen Becher Wasser, den er brav austrank. Er wusste selber, dass er seinem Körper schön viel Flüssigkeit zuführen musste. Das Trinken kam ihm sehr anstrengend vor.

„Ich brauche den vereinbarten Monat trotzdem, Olvin,“ säuselte Crimson müde. „Gilt unser Abkommen noch, ich meine...“ Er biss sich auf die Lippe, denn er traute sich kaum zu fragen.

„Sprich nur weiter,“ neckte der Alte ihn.

Wie fies, er ließ aber auch nicht locker. Konnte er nicht einfach von selbst die Antwort geben? Crimson seufzte. „Wirst du meinen Effekt als Preis einfordern? Falls ja, dann... sollten wir es vielleicht schnell hinter uns bringen...“

Olvin musterte ihn mit einem durchdringenden Blick, dem er nicht auszuweichen wagte. Wägte der Mann ab, ob er das ernst meinte? Crimson selbst war nicht davon überzeugt. Er wollte nicht noch einmal so etwas durchmachen, aber wenn es die einzige Möglichkeit war... jedenfalls kam es für ihn nicht in Frage, seinen Gegner wirklich zu töten oder sich seiner irgendwie anders zu entledigen. Gut, er hatte darüber nachgedacht, aber... nein.

„Ich lasse dich nicht vom Haken,“ entschied Olvin. „Du kannst deinen Monat haben... Sagen wir, beginnend morgen Mittag. Jedoch bist du im Moment nicht stark genug, um durchzustehen, was ich mit dir vor habe. Das Gift wird noch gut drei Tage in deinem Organismus bleiben und dich schwächen, aber in wenigen Stunden solltest du zumindest wieder gut auf den Beine sein.“

Na fantastisch... Crimson konnte es sich nicht leisten, nur halb einsatzfähig zu sein. Natürlich schadete es auch, wenn er eine Verletzung auf dem Rücken auskurieren musste. Inzwischen wurde es ihm etwas kalt, da seine Decke ja seinen Oberkörper stützte und in eine halb sitzende Position brachte, statt ihn zu bedecken. Er versuchte, das Ding hervor zu ziehen. „Dann sollte ich mich wohl besser ausruhen... wieviel Zeit ist überhaupt vergangen?“

„Du darfst nicht schlafen,“ teilte der Necromant ihm mit. „Am besten gehst du spazieren oder so. Diese Sorte Gift wird durch Schlaf nur noch schlimmer.“

Crimson nahm den Hinweis sehr ernst, aber erfreut war er nicht. „Spazieren? Uh... ich fühle mich unfähig, überhaupt zu stehen!“ Dennoch quälte er sich aus dem Bett und auf die Füße. Seine Beine schienen mit Gewichten behängt zu sein. „Am besten geh ich in die Bibliothek... oder... nein, ich kann mich nicht auf ein Buch konzentrieren...“

Letztendlich irrte Crimson für den Rest der Nacht im Schloss umher, ohne jemals sicher zu sein, wo er sich befand. Einmal traf er Sorc, der auf einem Stuhl stand und Schriftzeichen weit oben an eine Wand malte. Obwohl Olvin darauf verzichtete, ihn zu begleiten, wagte er es nicht, sich irgendwo hinzusetzen, denn dann wäre er sicherlich eingeschlafen. Statt dessen machte er sich in der Schlossküche einen belebenden Tee, der auch dafür gut war, Gift aus dem Körper zu schwemmen.

Nach und nach stellte sich ein Gefühl der Erleichterung bei ihm ein – Olvin hatte sich gezeigt, sie hatten eine Vereinbarung, und er konnte endlich mit seinem Plan anfangen. Der Plan selbst war riskant – aber zumindest war das Warten vorbei.

Perfekte Organisation

Kapitel 12: Perfekte Organisation
 

Crimson hatte die Nacht durchgemacht, wagte es jedoch nicht, sich vormittags noch hinzulegen. Also ignorierte er die Folgen des Giftes hartnäckig, trank jede Menge Tee und machte sich daran, den Ablauf des folgenden Monats zu planen. Zu diesem Zweck bereitete er erst einmal das Frühstück vor, denn Kochen entspannte ihn immer. Dabei explodierte wenigstens nichts, wenn er nicht aufpasste, und außerdem hatte er inzwischen auch Hunger. Das war nach einer Vergiftung wohl ein gutes Zeichen. Er machte für gut 15 Personen Frühstücksomelett und Brot nach Rezepten, die er im Schlaf konnte.

Etwas klarer im Kopf und gestärkt räumte er seinen Schreibtisch auf, denn der war noch voll mit Sorcs Prozessakten. Crimson nahm sich die Zeit, das psychologische Gutachten zu lesen, doch er war mit den Gedanken schon wieder woanders. Manche Sätze musste er zwei- oder dreimal lesen, bis er sie bewusst wahrnahm. Eigentlich war er ja auch sowieso nur neugierig.

Sorc wurde als jemand eingeschätzt, der zielstrebig war, aber Rückschläge verkraften konnte, der zu seinen Fehlern stand und immer einen selbstsicheren Eindruck machte. Auf Fragen antwortete er stets wahrheitsgemäß – oder zumindest sehr überzeugend. Der Psychologe merkte an, dass dies bei manchen Personen, die sich selbst als dunkler Herrscher sahen, eine Masche sein konnte, um die wahren Intrigen zu verschleiern, jedoch schloss er das in diesem Fall aus. Chaosmagier galten allgemein als wenig vorausplanend. Sie konnten ein Ziel haben, meistens fehlte aber der Plan, wie man dahin kam. Das passte, fand Crimson. Sorc hatte ja auch bewiesen, dass er ziemlich planlos an sein Ziel herangegangen war, die Welt des Blauen Lichts zu erobern. Er und Malice hatten sich schlichtweg von einer Idee zur nächsten gehangelt.

Dies war eigentlich aus Crimsons Sicht die wichtigste Information, die ihm das Gutachten gab. Es schien sehr unwahrscheinlich zu sein, dass Sorc irgendwelche Hintergedanken dabei hatte, dass er hier war. Wenn man ihm glauben konnte, dann hatte er bis gestern noch gedacht, dass man hier in irgendeiner Form gegen ihn vorgehen würde und dass diese Schule deshalb für ihn als Stufe drei eingestuft war.

Wie auch immer... Crimson packte die Akten zusammen. Er wollte das Kontaktformular oben drauf legen, konnte es aber nicht mehr finden. Wahrscheinlich hatte er es schon irgendwo dazwischen gelegt, oder versehentlich Sorc mitgegeben, oder es war heruntergefallen... Da er es sowieso nicht benutzen wollte, spielte es gar keine Rolle. Die Akte verschwand in einer Schreibtischschublade.

Sodann stellte Crimson das Zauberbuch, das das Rezept für den geplanten Trank enthielt, auf einem Buchständer neben dem Schreibtisch auf und legte genug Papier bereit, um sich Notizen zu machen. Bei einem Zaubertrank, der einen Monat zur Zubereitung brauchte, konnte man logischerweise nicht alles irgendwie zusammenkippen, und wegen der langen Zubereitung und der Tatsache, dass das Zeug illegal war, hatte Crimson auch keine Übung damit, sonst hätte er vielleicht flexibler arbeiten können. So aber musste er sich an eine bewährte Beschreibung in einem alten Buch halten.

Er wusste, wo er all die Zutaten herbekam, aber viele hatte er nicht vorrätig. Er musste für jede Zutat berechnen, wie lange die Beschaffung dauerte, um rechtzeitig jemanden schicken zu können. Das klang nicht weiter schwierig, aber manche Dinge ließen sich nicht einfach ranschaffen und benutzen, sondern mussten erst noch vorbereitet werden. Andere hingegen mussten unbedingt frisch sein, daher konnte er sie nicht gleich am Anfang holen lassen.

Zuletzt wurde Crimson fast wahnsinnig mit der Masse an Notizzetteln auf seinem Schreibtisch. Cathy musste es gespürt haben, denn der Schlossgeist schickte ihm Yami und Yugi mit einer Pinnwand, die sie in einem der Klassenräume abgeschraubt hatten. Die Pinnwand war eine hervorragende Idee, und die Jungs erwiesen sich als sehr hilfreich. Mit der strategischen Denkweise, die man sich als Duellant aneignen muss, brachten sie seine Notizen in eine sinnvolle Reihenfolge. Crimson hatte für jede Zutat – manchmal auch für mehrere zusammen – kleine Zettel geschrieben, auf denen er gewissenhaft notiert hatte, wo und wie die Sachen zu finden waren, in welchen Zustand er sie brauchte und wann er sie spätestens benötigte. Bei manchen gab es Hinweise zum Transport. Als Yami und Yugi fertig waren, hingen alle ordentlich an der Pinnwand, bereit für jene Personen, die bei der Beschaffung helfen würden.

„Super! Vielen Dank, ihr beiden!“ freute Crimson sich. Er überprüfte die Reihenfolge noch einmal. „Hast du mit den anderen gesprochen, Yugi?“

„Ich habe angefangen, aber wir wurden unterbrochen. Aber ich kann sie gleich alle nochmal informieren, kein Thema.“

„In Ordnung. Der Unterricht fällt bis auf weiteres aus. Sag ihnen auch, dass wir einen Gast im Schloss haben, einen Necromanten Namens Olvin. Ich werde in der Zwischenzeit mit dem ersten Arbeitsschritt anfangen. Dafür habe ich alles... in fünf Stunden brauche ich was aus dem Schlossgarten, aber das schaffe ich noch selbst.“ Er deutete auf die oberste Notiz.

„Nein, belaste dich nicht damit, sondern lass deine Leute sich ruhig schonmal einarbeiten,“ schlug Yugi vor. „Sachen wie diese kannst du den Kleinen geben, damit sie sich auch nützlich fühlen.“

„Wir suchen uns ein Zimmer, wo wir die Pinnwand aufhängen. Dann kann jeder schonmal schauen, was er oder sie beitragen kann,“ ergänzte Yami. „Aber vorher schreiben wir alles nochmal gesondert auf einen Merkzettel, nur für den Fall, dass damit was passiert.“

„Und dann können wir auch gleich darauf notieren, wer was macht...“

„Lass uns die wichtigen und schwierigeren Sachen farbig markieren...“

Die zwei waren anscheinend ganz in ihrem Element. „Jungs... ich überlasse das ganz euch, ja?“

„Richtige Einstellung. Seto will auch immer alles alleine machen, und wir müssen ihm dann sagen, dass er seinen Angestellten vertrauen soll.“ Yami grinste ihn an. „Manchen fällt das schwer...“

Crimson fühlte sich ertappt. „Ja, also...“ Er räusperte sich. „In Ordnung. Nach dem Mittagessen sollen sich alle in dem Raum mit der Pinnwand versammeln. Es wäre gut, wenn es etwas eher Mittagessen geben könnte als sonst.“

„Jawohl, Direktor!“ sagten Yami und Yugi wie aus einem Munde und standen militärisch stramm. Dann verschwanden sie lachend mit der Pinnwand.
 

Crimson kontaktierte sein Schlossherz, damit es den Alchemieturm gegen Unbefugte versiegelte, besonders den oberen Raum. Crimson arbeitete am liebsten unter dem Dach, auch wenn man da dem Wetter am meisten ausgesetzt war. Aber man war ungestört und wenn etwas schiefging, hielt sich der Schaden meistens in Grenzen, wenn nur das Dach wegflog. Bei seinem momentanen Projekt war das aber unwahrscheinlich – oder zumindest lag ihm keine Information vor, die etwas Gegenteiliges besagte. Er hatte viele Regale mit Vorräten dort oben und noch ein Lager ein Stockwerk tiefer.

Für das Feuer unter seinem Kessel benutzte er Glutsteine, kleine magische Artefakte, die Glut ersetzen konnten und dabei viel zuverlässiger, langlebiger und ungefährlicher waren. Auch gab es natürlich keinen Rauch dabei. Man gab die Steine einfach in ein feuerfestes Gefäß unter dem Kessel. In diesem Fall stellte er diesen auf einen runden Tisch in der Mitte des Raumes. Rundherum war Platz zum Arbeiten.

Crimson wurde von Aufregung ergriffen, sobald das Wasser in dem Kessel warm wurde. Alchemie war seine Leidenschaft, und wenn er etwas machen konnte, das so anspruchsvoll und außerdem illegal war, machte es am meisten Spaß. Das Rezeptbuch lag nun auf dem Buchständer des Alchemieturms, und Crimson sah oft vorsichtshalber hinein, auch wenn er glaubte, alles auswendig zu kennen. Er ging lieber kein Risiko ein. Zu wissen, dass Olvin ihm nun keine Steine mehr in den Weg legte, machte die Aufgabe um einiges entspannender. Dennoch war Perfektion das oberste Gebot.

Cathy materialisierte sich bei ihm, obwohl das nicht nötig gewesen wäre, aber er freute sich, sein Schlossherz ab und zu zu Gesicht zu kriegen.

„Ihr seht so glücklich aus, Meister,“ stellte der Geist fest. Vielleicht färbte Crimsons Laune auf ihn ab, jedenfalls sahen seine Rosenranken heute besonders prächtig aus, die Blühten besonders imposant und die Haare waren besonders kunstvoll zu einer Rosenblütenform frisiert.

„Hast du mitbekommen, dass ich heute Nacht ein Treffen mit Olvin hatte?“ erkundigte Crimson sich.

„Natürlich, Meister, er tauchte in Eurem Zimmer auf, nachdem Ihr eingeschlafen wart... aber ich habe nicht gestört, weil Ihr es ja darauf angelegt habt. Das war doch in Ordnung?“

„Ja, durchaus. Aber meinen... Traum hast du anscheinend nicht gesehen. Nun ja. Ich habe mich mit Olvin geeinigt.“ Der Weißhaarige erinnerte sich deutlich an das eher unschöne Erlebnis, doch das konnte seinen Enthusiasmus im Moment nicht trüben.

Catherine schwebte auf ihn zu, und er vermutete, dass er seine Gedanken samt der Erinnerung empfangen hatte, denn die durchscheinende Gestalt sah ihn ganz entgeistert an. „Ihr habt... Euer Leben verwettet? Euer Anrecht auf das Schloss, Eure Magie... einfach alles?“

Crimson lächelte schief. „Ja. Und was ich jetzt nicht brauche, sind Vorwürfe, Catherine.“

„Huuuh, Ihr benutzt meinen vollen Namen, dann seid Ihr Euch anscheinend bewusst, wie... ähm... wagemutig das war.“

Wagemutig? Aha.

„Es gefällt mir nicht, aber ich bin auf Hilfe angewiesen,“ fuhr Crimson fort. „Doch Yami und Yugi machen ihre Arbeit sehr gut, und ich muss mich einfach auch auf die anderen verlassen...“

Das Schlossherz lächelte lieblich. „Ihr wollt doch aber nicht fort, oder? Wisst Ihr... es wäre mir lieb, wenn Ihr demnächst nicht verreisen würdet, damit sich unsere Bindung festigt.“

Der Magier schüttelte den Kopf. „Zufällig werde ich kaum Zeit für Reisen haben, sei unbesorgt. Das ist es ja, was mich stört. Ich freue mich, dass Olvin mich nicht mehr drangsaliert, aber ich bin ziemlich nervös, weil das alles von der guten Arbeit meiner Leute abhängt – und das sind teilweise noch Kinder!“

„Hätte Euch das aufgehalten, als Ihr ein Kind wart?“

Crimson lachte. „Nein, wahrscheinlich nicht.“ Eigentlich hatte er vorgehabt, sich um das meiste selbst zu kümmern, aber das war unvernünftig. Irgendwann musste er ja auch mal schlafen! Es ging nur in Teamarbeit, wie Yami und Yugi ja bereits betont hatten. Er selbst war nur der ausführende Alchemist. Früher wäre er bei dem Gedanken fast durchgedreht, doch durch Cathy, der vor ihm andere Meister gehabt hatte und noch über deren Kenntnisse verfügte, fiel es ihm seltsamerweise überraschend leicht, seine Einstellung zu ändern. Jedenfalls nahm er an, dass es daran lag.

„Du kannst mir auch helfen, Cathy,“ fiel es ihm ein. „Pass auf, dass ich nicht irgendwann einmal den richtigen Zeitpunkt verpasse. Du wirst mitbekommen, wann ich was tun muss – erinnere mich so oft wie nötig daran.“

„Gerne, Meister.“

Crimson nickte beruhigt. Es verlief fast alles zu glatt, geradezu verdächtig. Da das erstmal alles war, entließ er Cathy, vertiefte sich jedoch darin, das ganze Schloss zu erspüren. Er hatte noch keine schwierige Phase seines Zaubertrankes erreicht und konnte so ein wenig üben, die Fähigkeiten zu nutzen, die das Schlossherz ihm bot. Besonders neugierig war er auf Olvin. Konnte er ihn jetzt finden?

Ja, es ging sogar ziemlich einfach. Der Necromant hatte sich dem Schlossherz geöffnet und war nun als Energiequelle anzapfbar. Ohne nachzuhaken wusste Crimson automatisch, dass Cathy von ihm aber nicht so viel nahm, aus Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand. In diesem Moment wurde ihm auch erstmals klar, wie schlecht es um Olvin wirklich stand. Sein Körper war schwach, und es lag nicht wirklich am Alter. Alte Magier konnten lange sehr agil bleiben. Aber Necromantie war eine gefährliche Kunst, und doch auch das, was ihn am Leben erhielt. Crimson kannte sich damit nicht ausreichend aus, wurde jedoch instinktiv von dieser pervertierten Form der Heilkunst abgestoßen. Olvins geschädigte Organe regenerierten sich ständig durch seine Magie, aber manchmal bildeten sich dabei Geschwulste, die Olvin dann ebenfalls behandeln musste. Er war im Prinzip immerzu dabei, sich zu heilen und zu regenerieren, was auf die Dauer auch anstrengend sein musste. Es war eine ganz eigene Form einer tödlich verlaufenden Krankheit. Magie, die Leben erhalten, verlängern oder gar erschaffen konnte, kam meistens mit einem furchtbaren Preis.

Wo Olvin die Nacht verbracht hatte, konnte Crimson nicht erfahren, aber gerade jetzt watschelte er mit einer abgenutzten Tasche hinter Yami und Yugi her, die ihm ein Gästezimmer im Erdgeschoss anboten. Es war ihm neu, dass das Erdgeschoss Gästezimmer hatte, und tatsächlich bauten Kuro und Mava gerade ein Bett auf. Legend trug ein Regal herein und Veiler einen Tisch. Mehrere andere Wohnmöbel waren bereits vorhanden.

Die Jungs waren genial. Sie verkauften Olvin das Gästezimmer als Raum mit einem besonders schönen Ausblick auf den Garten, dabei war es wahrscheinlicher, dass sie auf seinen gebrechlichen Zustand Rücksicht nahmen und ihm unnötiges Treppensteigen ersparen wollten. Olvin nickte alles ab und schien sich über den Blick in den Garten zu freuen. Er begann, den Helfern Anweisungen zu geben, wo er die einzelnen Möbel haben wollte.

Crimson öffnete die Augen und stellte fest, dass er sich so sehr auf Olvin konzentriert hatte, dass seine Hand mit einigen Krautblättern über dem Kessel verweilte. Er ließ los.

Auf einmal erschien ein Monat viel zu lang. Hatte Olvin überhaupt noch so viel Zeit? Crimson wollte nicht, dass sein ehemaliger Lehrer starb, nachdem er die letzten Jahre seines Lebens damit vergeudet hatte, ihn zu hassen. Zwar wäre er ihn dann los, aber es wäre... nicht richtig. Andererseits musste er sich bestimmt nicht sorgen. Der Alte würde sich schon nicht unterkriegen lassen, bis er zufrieden mit seiner Rache war.

Als Nächstes suchte Crimson nach Eria, denn mit ihr hatte er noch etwas zu klären. Zu seiner Überraschung befand sie sich gerade auf dem Weg zum Alchemieturm. Wenige Minuten später klopfte es zaghaft an seiner Tür, die daraufhin ganz vorsichtig geöffnet wurde. Als sie sah, dass er in ihre Richtung blickte und gerade nichts Gefährliches tat, trat sie ein.

Das Mädchen zupfte unbewusst an einer Haarsträhne herum. „Ähm... Yugi hat mir erzählt, wie das mit Sorc war. Also... es tut mir Leid, dass ich so reagiert habe.“

Crimson fragte sich, ob er noch immer unter Olvins Gift zu leiden hatte. Er war auf eine handfeste Auseinandersetzung mit ihr gefasst gewesen. „Ich hätte es dir vorher sagen sollen, also war deine Reaktion ganz verständlich,“ lenkte er ein. „Sorc hat mir garantiert, dass er dir aus dem Weg gehen wird.“

Sie hob eine Augenbraue. „Dann... hast du danach also mit ihm gesprochen?“

Ihr Lehrmeister nickte. „Ich war auch etwas überfordert mit seiner Ankunft, weil mich keiner gewarnt hat – oder besser gesagt, anscheinend habe ich die Warnungen verpasst. Und in dem Moment, als er hier auftauchte, war so viel los, dass ich ihn einfach behalten habe. Aber in unserem Gespräch machte er einen verlässlichen Eindruck.“

Schließlich hing sein Leben davon ab.

„Ach so... na dann.“ Eria lächelte scheu. „Wenn du mit ihm keine Probleme hast, dann will ich dir auch keine machen. Cathy deutete an, dass du im Moment wegen Olvin genug zu tun hast. Sag mir Bescheid, wenn ich dir irgendwie helfen kann.“

„Ähm... ja, danke Eria. Ich komme bestimmt darauf zurück, schließlich bist du meine Schülerin.“

„Uhm.“ Sie nickte lediglich erneut und entfernte sich dann.

Konnte ein Tag wirklich so perfekt verlaufen?
 

Das Mittagessen, das dann wirklich etwas früher stattfand als gewöhnlich, war nichts Besonderes, aber das war auch nicht wichtig. Crimson war ohnehin mit den Gedanken bei seinem Projekt. Dennoch blieb ihm nicht verborgen, das irgendetwas vor sich ging. Das lag nicht an Olvin, der mit den anderen am Tisch saß, als würde er schon ewig hier wohnen. Was immer Yugi und Yami rumerzählt hatten, war anscheinend gut von den Schülern und der Belegschaft aufgenommen worden. Sie behandelten den Necromanten höflich und respektvoll wie einen Großvater. Shiro, der neben ihm saß, unterhielt sich angeregt mit ihm. Rosi krabbelte sogar vertrauensvoll auf seinen Schoß. Es war unheimlich.

Legend und Veiler hatten es besonders eilig, aufzuessen und schon einmal das nicht mehr benötigte Geschirr wegzubringen. Milla bot Crimson noch eine Portion an, die er geistesabwesend annahm und aß. Ehe er sich versah, waren alle vor ihm fertig und trugen die Reste in die Küche. Nur Olvin saß noch am Tisch und aß in aller Ruhe auf. Sorc hatte sich nicht blicken lassen.

Yami kam mit einem Lappen und wischte schnell die groben Kleckse vom Tisch. „Crimson, wir wollen dir gerne zeigen, wo wir die Pinnwand aufgebaut haben.“

„Oh? Ja, ich bin gleich fertig.“

„Ich bringe nur den Lappen weg.“

Als Crimson sich aufraffte, traf er vor der Tür natürlich auch auf Yugi, der ja immer in einem bestimmten Umkreis von Yami zu finden war. Sie taten ziemlich geheimnisvoll, dabei ging es doch nur um eine Pinnwand mit Notizen!

Sie kamen durch die Haupthalle und gingen direkt in den nächsten Gang links, dann zum ersten Zimmer auf der linken Seite. Von dort hatte man durch die Fenster den äußeren Eingangsbereich teilweise im Blick, wie Crimson wusste. Der Krankenflügel war auch ganz in der Nähe, nur hätten sie dorthin nach rechts abbiegen müssen.

„Wir haben einen Raum ausgesucht, der von der Haupthalle aus leicht zu erreichen ist,“ erklärte Yami feierlich. „Alle haben heute Vormittag mit angefasst – das Schloss gibt eine Menge her, wenn man sich Mühe gibt.“ Er grinste, während Yugi eine der zweieinhalb Meter hohen Flügeltüren aufzuschieben begann. Yami schnappte sich die andere und gemeinsam wuchteten sie die Türhälften möglichst schnell auf.

„ÜBERRASCHUNG!“

Alle seine Schüler waren da, und Paladia mit Scarlett sowie Lily, Mava, Shiro, Kuro und sogar Cross. Mava machte einen Zauber, der aussah wie Konfetti, aber keine Krümel auf dem Boden hinterließ.

„Dein neues Büro!“ verkündete Yami.

Er wies zunächst auf den imposanten Schreibtisch. Er bestand aus Eiche oder ähnlich gefärbtem Holz und beherrschte die rechte Seite des Raumes, stand dabei frei, also mit keiner Kante an der Wand. Auf ihm waren mehrere Schreibfedern, Papierstapel und ein Siegelwachsset aufgebaut. Es gab ein Schildchen mit der Aufschrift „Direktor Crimson“. Es sah aus, als hätte es jemand liebevoll, wenn auch eilig, aus einem Ast geschnitzt.

Dahinter gab es viele Regale, die etwas zusammengewürfelt aussahen, weil keines dem anderen glich, aber das verlieh dem ganzen einen gewissen Charme. Einige dekorative Gegenstände wie Blumenvasen, Kristalle, Schachteln und dergleichen waren in den Fächern verteilt, so dass sie nicht so leer aussahen.

Die Pinnwand hing auf der Seite mit der Tür, im Moment rechts von Crimson, so dass man sie nicht gleich beim Eintreten sah, dafür fiel das Licht von draußen darauf.

Der Stuhl hinter dem Schreibtisch war bequem gepolstert und ließ sich drehen, wie Rosi ihm demonstrierte. Auf der Gästeseite standen zwei einfachere, aber auch bequem aussehende Stühle. Crimson kam nicht dazu, sich selbst probeweise zu setzen, denn seine Aufmerksamkeit wurde auf die weitere Einrichtung gelenkt.

„Hier kannst du mal ein oder zwei Besucher mit Tee bewirten oder so,“ erklärte Yugi und deutete auf drei flauschige, maigrüne Sessel, die sich vor den Fenstern um einen niedrigen, runden Tisch aus fast weißem Holz gruppierten. „Wir haben einige Bilder gefunden, um dem Raum eine lebendigere Atmosphäre einzuhauchen. Die kann man vielleicht noch irgendwann austauschen...“ Die Bilder zeigten hauptsächlich blühende Wiesen oder Ansammlungen von Blüten.

Mehrere schöne Teppiche lagen auf dem Boden und bedeckten so fast die ganze Fläche, von einigen Zwischenräumen und Rändern abgesehen. Lichtdichte, malvenfarbene Vorhänge mit Spitzenborte zierten die Fenster, jedoch zum Glück keine Gardinen.

Es war alles etwas uneinheitlich und teilweise trug es noch den Stempel des Vorbesitzers bzw. von dessen Tochter. Maigrüne Sessel! Aber Crimson fand es schon wegen der Geste toll und kam sich ein wenig organisierter vor. Er lachte und umarmte seine erwartungsvoll schauenden Schüler, knuddelte auch Lily und Paladia, und wo er schonmal dabei war, auch alle übrigen anwesenden Personen. Cross wirkte irritiert, aber seine Mundwinkel zuckten nach oben. (Sorc und Olvin fehlten zum Glück.)

Als sich alle wieder beruhigt hatten, sahen sie ihn erwartungsvoll an. Crimson begab sich hinter seinen Schreibtisch und nahm Platz. Fühlte sich gut an, so... wichtig. Yugi legte ihm eine Liste mit den Aufgaben vor, die auch an der Pinnwand hingen. Hinter jedem Punkt war Platz frei, um den Namen des Ausführenden zu notieren. Bei den ersten hatten die Jungs sogar schon Vorschläge in Bleistift hingeschrieben.

Crimson grinste in die Runde. „Anscheinend seid ihr darüber informiert, dass ich diesen Monat Großes vorhabe, bei dem ihr alle helfen müsst, damit es klappt.“

Die Schüler hingen quasi an seinen Lippen. Der Rest verhielt sich etwas beherrschter, aber auch gespannt. Shiro wirkte hauptsächlich besorgt. Crimson kannte den Gesichtsausdruck, auch wenn Fremde darin keine Sorge lesen würden.

„Jemand muss mir jetzt gleich Salpheuskraut aus dem Garten holen. Rosi, das kannst du machen. Achte darauf, dass du nur die Blätter pflückst, und sie dürfen nicht einreißen. Mach sie samt Stiel dicht am Stengel ab.“

Yami nahm den Auftragszettel von der Pinnwand und reichte ihn der Kleinen. Sie sah selig aus mit der Aufgabe, die man ihr zutraute.

„Soll ich gleich loslaufen?“

Crimson zögerte kurz. Rosi hatte sicherlich schon viel gelernt, aber ob sie wusste, welches Kraut er meinte? Er beschloss, dieses Problem ihr zu überlassen und ihr damit zu zeigen, dass er Vertrauen in sie hatte. Sie konnte schließlich jemanden fragen. „Ja, du brauchst nicht zu warten, bis alle fertig sind.“

Rosi schoss davon. „Ich hole Salpheuskraut, juhuuuh! Salpheuskraut!“

Crimson fuhr fort: „Legend, du kommst aus einer Wüstengegend, nicht? Ich brauche spätestens in drei Tagen eine Frucht der Quadrigapalme. Achte darauf, dass sie weder zu grün noch zu reif ist. Sie faulen schnell.“

Der Blonde nahm den Zettel an sich. „Alles klar, kein Problem. Ich kann einen Drachen für die Reise beschwören.“

„In Ordnung. Brich so schnell wie möglich auf.“

Legend nickte und verließ mit flotten Schritten direkt das Zimmer.

„Saambell. Geh an den Strand und sammel glatte, gelbe Muschelschalen, ungefähr zwanzig Stück. Aber keine mit vielen Seepocken. Geh nicht zu weit ins Wasser, und pass auf die Quallen auf.“ Im Prinzip hatte er den Kindern schon beigebracht, worauf man am Meer achten musste, aber er ging lieber auf Nummer sicher.

Sie rief „Jawohl!“ und rannte weg.

Der Schlossherr wandte sich an Shiro. „Vater, du weißt, was ich von dir brauche. Ich möchte dich außerdem bitten, mir folgende Sachen vom Kristallschloss bringen zu lassen.“ Er gab Yami einen Wink, worauf dieser Shiro eine kurze Liste aushändigte.

Der Lichtmagier nickte bestätigend. „Das kriegst du spätestens morgen. Die Alchemisten halten deinen Garten gut in Schuss.“ Er winkte und machte sich auf den Weg.

Dass andere Alchemisten *seinen* Garten in Schuss hielten, versetzte Crimson einen kleinen Stich, aber sein Vater hatte das gewiss nicht gesagt, um ihn zu kränken. Er musste sich endlich mal daran gewöhnen, dass das nicht mehr sein Garten war.

„Cross, ist es wohl möglich, dass du mir eine Drachenschuppe und etwas gemahlenes Horn von Tyra beschaffst?“

Der Ritter hob eine Augenbraue. „Sicher.“

Das ging ja einfacher als gedacht. Crimson hatte mit etwas mehr Widerstand an dieser Stelle gerechnet, nachdem Luster sich bei diesem Thema immer so geziert hatte. „Ich brauche das nicht sofort, aber in spätestens sechs Tagen.“

Danach bekam Veiler einen Zettel, auf dem einige Dinge notiert waren. „Hol mir dies von den Feen. Ich weiß, dass sie das alles im Garten oder in der Umgebung haben. Die Pflanzen müssen möglichst frisch bei mir ankommen, und zwar spätestens übermorgen.“

„Das schaffe ich schon.“ Veiler nahm den Zettel mit und stolzierte aus dem Raum. Seine sonst so unauffälligen Flügel standen dabei leicht ab und verliehen ihm ein majestätisches Aussehen.

„Dharc. Für dich habe ich etwas sehr Spezielles. Begib dich zur Akademie. Du kennst den Privatgarten der Direktorin, nicht wahr? Sie hält dort ein Mystisches Waldungeheuer, oder besser gesagt, es hat entschieden, dort zu leben. Diese Wesen sehen harmlos aus und du hast es mit einem sehr umgänglichen Exemplar zu tun, das auf den Namen Einblum hört. Verhalte dich respektvoll. Zeige keine Furcht, nenne den Namen und gib ihm Lavanüsse zu fressen. Ich brauche etwas von dem hängenden Kraut, das auf seinem Rücken wächst.“

Dharc war vor Stolz geradezu gewachsen, denn diese Aufgabe wirkte anspruchsvoll. „Soll ich die Direktorin um Hilfe bitten? Ihr kennt sie doch gut, oder? Ihr kennt sogar den Namen ihres Waldungeheuers!“

„Diese Zutat wird selten benutzt. Sie würde fragen, wozu ich das brauche, und mein Vorhaben ist... nicht ganz legal. Wenn sie nichts davon weiß, muss sie nicht mit ihrem Gewissen hadern.“

„Oh... also muss ich wirklich alles heimlich machen. Ist gut... die Nüsse müssten wir noch auf Lager haben. Ich nehm einen von den neuen Drachen.“ Die Wichtigkeit der Aufgabe beflügelte den Jungen geradezu, und Dharc marschierte eifrig hinaus. Unerlaubte Dinge reizten viele Schüler.

„Die neuen Drachen?“ hakte Crimson nach, wobei er keine bestimmte Person ansprach.

„Wir bekamen heute früh einen Speerdrachen und einen jungen Weißen,“ sagte Cross. „Wurdest du nicht informiert, Direktor?“

„Nein...“ Crimson hielt inne. „Oh, doch! Ich hatte es nur vergessen. Sie wurden mir angekündigt... vorgestern oder so.“ Da Eria im Raum war, erwähnte er Sorcs Namen in dem Zusammenhang lieber nicht. „Cross, sind diese Drachen sicher?“

„Soweit ich das einschätzen kann, durchaus. Der eine ist noch etwas ungestüm. Aber sie sind für Schüler geeignet.“

Crimson vertraute dem Urteil des Ritters. All seine Schüler über zehn Jahren wussten, wie man einen Drachen flog, und wenn Dharc es sich zutraute, ließ er ihn machen.

Schließlich wandte er sich Milla zu. „Für dich habe ich momentan keine Reise auf Lager, aber eine andere wichtige Mission, nämlich das Abendessen. Kannst du das organisieren? Rosi und Saambell können bei der Arbeit helfen, aber du hast die Oberaufsicht in der Küche.“

Es war schwer zu sagen, ob sie enttäuscht war oder sich geehrt fühlte, aber sie nickte. „Ich werde mein Bestes tun, Direktor.“

„Sehr schön, ich verlasse mich auf dich. Nun zu dir, Eria... Ich möchte, dass du Paladia begleitest, wenn sie von ihren Schwestern abgeholt wird. Bei ihrem Stamm gibt es ein paar Zutaten, die du für mich sammeln kannst. Frag die Schamanin um Hilfe, wenn du etwas nicht kennst. Diese Sachen brauche ich erst in acht Tagen, aber ich weiß auch nicht, wann die Amazonen hier eintreffen. Sollte es zu lange dauern, musst du auf eigene Faust aufbrechen.“

Eria nahm die Liste der benötigten Dinge von Yami entgegen. „Wird erledigt, Meister.“

„Sehr gut. Onkel Kuro, lass bitte eine Handvoll Güldenglöckchen-Samen keimen, so dass ich die Sprossen in vier Tagen verwenden kann.“

„Gerne. Aber sag mal, was zum Geier machst du mit dem ganzen Zeug, Crimson?“

„Eine Art von Medizin.“ Crimson wollte darauf nicht weiter eingehen.

Zum Glück gab sich Kuro dann auch mit der knappen Erklärung zufrieden und machte sich auf den Weg zu den Lagerräumen, wo hoffentlich noch Samen des Güldenglöckchens vorrätig waren.

„So, weiter... Mava, du bist noch übrig, nicht? Flieg zur Schildkröteninsel und besorge mir Schattenmoos. Es hat so eine bläuliche Farbe.“

„Kenne ich,“ nickte Mava. Er ließ sich den Notizzettel aushändigen. „Das brauchst du offenbar erst in einer Woche, aber die Reise ist weit. Ich mache mich gleich auf den Weg.“

„Gut. Ich denke, das war es dann für den Moment.“

„Hast du für mich nichts?“ beschwerte Lily sich.

„Dich kann ich doch nicht wegschicken,“ lachte Crimson. „Aber sicherlich werde ich dich mal brauchen... halte Schlafmittelchen bereit, damit ich schlafen kann, wenn ich Zeit habe, und etwas, das einen klaren Kopf macht, wenn ich zu müde bin.“

„Das ist nicht gut für deinen Körper.“

„Ich weiß. Es ist nur für diesen einen Monat, Lily.“

„Uns kannst du auch Aufträge geben,“ bemerkte Yugi.

Der Weißhaarige merkte sich das für später, zog es jedoch vor, Yami und Yugi wenn möglich bei sich zu behalten, denn die beiden waren super im Organisieren. Es beruhigte ihn, dass sie sich um alles kümmerten.

Paladia hatte auch keinen Auftrag bekommen, doch sie klagte darüber nicht, schließlich hatte sie mit dem Baby genug zu tun und musste auch bald abreisen. In gewisser Weise war es gut, dass alles zeitlich so aufeinander traf. Er würde zu beschäftigt sein, um sie zu vermissen.

Als mehrere Magier das Schloss verlassen hatten, merkte Crimson, dass Cathy seinen Energieverbrauch neu einteilte. Es gab aber noch keinen Grund zur Besorgnis. Alles lief wunderbar... geradezu verdächtig ruhig. Crimson löste die Versammlung auf und kehrte in seinen Turm zurück, wobei er immerzu das Gefühl hatte, etwas vergessen zu haben. Aber das täuschte sicher...

Hoher Besuch

Kapitel 13: Hoher Besuch
 

Am ersten Tag seiner Zaubertrankbrauerei war alles gutgegangen. Crimson würde wohl nie Rosis stolzes Gesicht vergessen, als sie ihm die Salpheuskrautblätter präsentierte, oder Saambell, die mit Füßen voller Sand die Muscheln lieferte. Er hatte Rosi gezeigt, wie man aus den Blättern einen Aufguss herstellte, der nicht zu lange ziehen durfte, damit sich nur die gewünschten Substanzen lösten, die in den Trank gehörten. Saambell hatte er beim Zermörsern der Muscheln helfen lassen. Die beiden waren vor Stolz fast geplatzt, erst recht, nachdem sie später auch noch zusammen mit Milla gekocht hatten.

Heute, an Tag zwei, war Kuro für das Essen zuständig, denn er hatte sich freiwillig gemeldet. Alles, was er kochte, war sehr einfach und oftmals vegetarisch, denn er hatte sich auf seinen vielen Reisen als Landstreicher allerhand Rezepte ausgedacht, in denen Wurzeln, Früchte und Kräuter vorkamen, manchmal Eier und eher selten Fleisch. Ein guter Jäger war er nämlich nicht. Das spielte zwar im Schloss keine Rolle, weil die Nahrung ja nicht selbst gefangen werden musste, aber Kuro kochte einfach so, wie er es konnte. Das schmeckte wahrscheinlich auch besser als irgendwelche Experimente.

Die Schlossbewohner richteten sich nach Crimson. Wenn er gerade Zeit hatte, servierten sie Essen. Das fand er lieb. Im Moment ging eben nichts nach einem bestimmten Muster, sondern musste flexibel angepasst werden. Die Kinder stellten Kekse her, damit er in der Nacht etwas zu knabbern hatte. Die Kekse waren etwas unförmig und ziemlich hart, aber sie versprachen zu üben und Crimson tunkte sie dann eben in seinen Tee.

Er hatte nebenbei nicht vergessen, dass er Yami Farbstoffe versprochen hatte, und mischte diese zusammen, wenn er gerade eine Pause hatte, die zu kurz zum Schlafen war. So etwas fand er entspannend. Gerne hätte er auch das Essen gemacht, aber wenn er sich darum noch gekümmert hätte, wäre er wirklich nicht mehr zum Schlafen gekommen. Das Gute war nur, dass sein illegaler Trank später weniger Zutaten benötigte, statt dessen musste man ihn allerdings öfter mal umrühren oder aufkochen. Jetzt am Anfang mussten noch täglich etliche Dinge hinzugefügt und vorher irgendwie behandelt werden. Der Alchemist musste sich also ständig darum kümmern, Zutaten zu zerkleinern, aufzubrühen, zu schälen oder irgendwo zum Trocknen aufzuhängen.

Er war noch weit davon entfernt, den Spaß an der Arbeit zu verlieren, und er wusste ja, dass die Aktion zeitlich begrenzt war. Dass seine Leute so gut mithalfen, motivierte ihn zusätzlich. Heute erwartete er die Lieferung vom Kristallschloss und freute sich darauf, alles zu sortieren und zu benutzen. Es war wohl nicht übertrieben zu sagen, dass er sich für ein neues Paket mit alchemistischen Zutaten begeistern konnte wie ein Kind für ein lang ersehntes Haustier. Er durfte nur nicht daran denken, was irgendwelche fremden Magier aus seinem Kräutergarten gemacht hatten. Vielleicht wohnte sogar jemand in seinem alten Zimmer! Uh...

Nach dem Mittagessen hatte Crimson es eilig, zurück zu seinem Trank zu kommen, aber er hatte eine halbe Stunde Zeit gehabt zum Essen, die er genutzt hatte, denn wenn seine Lieferung kam, musste er sich erstmal damit befassen. Er zermörserte das Kraut, das Dharc ihm besorgt hatte, und gab die Pampe dann in den Trank. Der Duft war fast einschläfernd süß, aber das empfand erfahrungsgemäß jeder anders. Crimson selbst hatte schon einmal mit dieser Zutat gearbeitet und den Geruch damals als frisch wie ein Hustenmittel empfunden. Eventuell passte er sich den jeweiligen Bedürfnissen des Betreffenden an.

Dharc war ganz fasziniert von Einblum und redete seit seiner Begegnung mit dem Wesen kaum noch über etwas anderes. „Als er die Lavanüsse gefressen hat, wuchsen orangene Blüten auf seinem Rücken!“ ließ er jeden wissen, der ihm zuhörte. Die Kinder wollten seine Geschichte immer wieder hören – wie er sich heimlich in den Garten geschlichen und das Wesen ausfindig gemacht hatte... Man konnte meinen, er hätte ein schreckliches Monster gezähmt. Dabei waren Einhörner nicht wirklich gefährlich für Menschen, sie zeigten sich nur nicht immer.

[Meister, ein Drache ist im Anflug,] meldete Catherine. [Und jemand fliegt nebenher.]

„Oh, das sind sicher Dark und Blacky. Ich gehe sie empfangen,“ freute Crimson sich und vergewisserte sich schnell, dass mit seinem Projekt alles in Ordnung war, um dann zum Haupttor zu eilen. Bis zur nächsten Zugabe von Zutaten dauerte es jetzt gut zwanzig Minuten.
 

In diesem speziellen Fall wäre es wohl besser gewesen, sich die Besucher aus Cathys Sicht zeigen zu lassen, denn dann wäre er vorbereitet gewesen. Als Crimson die Haupthalle erreichte, trat der Besucher bereits ein, da das Schlossherz ihm Einlass gewährte – schließlich gab es ja keinen gegenteiligen Befehl.

Es war ein geflügelter Mann unbestimmten Alters. Er hatte weißes Haar, das ihm wellig auf die Brust hing und das rechte Auge fast verdeckte, was ihn verwegen aussehen ließ. Seine gefiederten Flügel hatten die gleiche violette Farbe wie seine Gewandung unter der dunklen Rüstung, und er trug dazu einen weißen Umhang mit breiten Schulterverzierungen. Über seinem Kopf schwebte eine schwarze Scheibe wie ein dämonischer Heiligenschein. Er musste wohl ein Unterweltler sein. Seine Begleiterin wartete in einiger Entfernung vom Schloss bei ihrem Drachen.

Der Fremde ging Crimson entgegen. „Ihr seid gewiss der Schlossherr. Mein Name ist Belial, Marquis der Finsternis, Abgesandter des Zirkels des Bösen als Betreuer des Rehabilitanden Sorc. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“ Belial verneigte sich höflich zum Gruß. „Wegen der Eile der Sache wurde ich mit der Angelegenheit betraut, obwohl eigentlich ein Kollege sie übernehmen sollte.“

„Ja, ich bin Crimson.“ Er neigte ebenfalls den Kopf zum Gruß. „Wieso habt Ihr es so eilig? Es handelt sich doch nur um einen Routinebesuch, nicht wahr? Und möchte die Dame denn nicht eintreten?“

„Ich muss darauf bestehen, dass die Lady draußen wartet, bis wir hier fertig sind. Könnt Ihr wohl den Klienten Sorc herbeordern, damit wir in Ruhe reden können?“

„Aber natürlich... hier entlang.“ Crimson führte den Marquis in sein Büro, während Cathy bereits meldete, dass er Sorc sofort Bescheid geben würde. Zum ersten Mal kamen die Gästestühle vor dem Schreibtisch wirklich zum Einsatz.

Crimson notierte sich im Geiste, dass er die Pinnwand irgendwie abdecken musste für den Fall, dass überraschend Besuch kam, aber zum Glück beachtete Belial sie gar nicht. Statt dessen packte er einige Akten und Formulare aus und verteilte sie auf seiner Seite des Tisches. Die Sachen mussten wohl unter dem Umhang gesteckt haben.

„Wünscht Ihr, dass ich Sorc mit einem Sicherheitszauber belege, sobald er eintrifft?“ erkundigte sich der Unterweltler. „Das ist Standard in solchen Fällen.“

„Ähm... wenn Ihr meint...“ Crimson hatte das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Die Stimmung war so furchtbar ernst.

Als schließlich Sorc anklopfte und eintrat, erhob Belial sich sogleich und stellte sich ihm auf ähnliche Art vor wie zuvor dem Schlossherrn: „Belial, Marquis der Finsternis, Abgesandter des Zirkels des Bösen und Euer Betreuer für das Rehabilitationsprogramm. Chaoshexer Sorc, uns liegt eine Beschwerde über Euch vor. Bitte haltet Eure Hände vor Euch. Handflächen offen nach oben.“

Crimson runzelte die Stirn. War das die übliche Vorgehensweise? Und was für eine Beschwerde? Sorc warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, denn ihm schien genau diese Frage auch auf der Zunge zu brennen. Er fing sich schnell wieder und kam der Aufforderung widerstandslos nach. Belial legte ihm goldfarbene Handschellen an und sprach eine kurze Formel. Dann setzten sich beide auf die Besucherstühle.

Inzwischen war Crimson sicher, dass er irgendetwas nicht mitbekommen hatte. Während er auf die Erleuchtung wartete, wurde ihm bewusst, dass Cathys Aufmerksamkeit bei ihm war. Theoretisch bekam sein Schlossherz eh alles mit, was es wollte, aber er hatte es noch nie so intensiv gespürt. Sicher traute Cathy diesem Marquis Belial nicht so recht. Er behielt Besucher ja gerne im Auge.

Der geflügelte Unterweltler blätterte ein paar Notizen durch. Sorc schielte ab und zu zu ihm hinüber und starrte ansonsten auf die Schreibtischutensilien. Er wirkte etwas müde, und irgendwie ahnte Crimson, dass Cathy ihn aus dem Bett gescheucht hatte. Seine knielange Robe aus dem Lagerbestand war nicht richtig zurechtgezupft, außerdem war sie ärmellos, so dass dem aufmerksamen Beobachter auffiel, dass der Verband am rechten Arm weniger geworden war. Nur der Unterarm war jetzt noch betroffen, während am Oberarm ausreichend verheilte Brandnarben zu sehen waren. Sorc machte anscheinend reichlich Gebrauch von Lilys Tränkevorrat. Seine anderen Verletzungen waren auch schon größtenteils verschwunden. Crimson fragte sich nur, bei welcher Gelegenheit er sich bloß so verbrannt hatte. Zwar hatte er sich geschworen, ihn mit seinem Problem nicht zu helfen, solange der ältere Magier nicht darum bat, aber die Neugier war nicht zu unterschätzen.

Inzwischen hatte Belial gefunden, was er suchte. Verwundert sah Crimson, dass es das Kontaktformular war, das er vermisst hatte. Es war ausgefüllt und offensichtlich auch abgeschickt worden. Belial steckte es hinter zwei oder drei Notizblätter. „Direktor, ich möchte Euch im Namen meiner Mitverschwörer noch einmal dafür danken, dass Ihr an diesem Programm teilnehmt. Aber ich habe fast den Eindruck, dass Ihr Euch nicht im Klaren darüber wart, worauf Ihr Euch einlasst. Eurer Beschwerde nach kommt es durch die Anwesenheit des Klienten Sorc zu Störungen im Tagesablauf der Schule und anderen Komplikationen, die aber von uns als normal eingestuft werden, wenn man bedenkt, dass Ihr einen Verurteilten der Stufe drei beherbergt. Möglicherweise habt ihr... die Folgen unterschätzt. Aber was mich speziell zur Eile angetrieben hat, war die Schilderung der Schwierigkeiten, die es mit Eurer Schülerin gibt. Wenn ich das richtig verstehe, war sie vor etwa neun Monaten Gefangene bei Sorc, hier in diesem Schloss, und fühlt sich deswegen von ihm bedroht, verfolgt und belästigt. Dann natürlich fühlt sich euer Lehrer Mava bedroht, und Kuro, der ebenfalls schlechte Erfahrungen mit dem Klienten gemacht hat, sieht eine Gefahr in ihm. Könnt Ihr mir bitte näher schildern, inwiefern Ihr selbst beeinträchtigt werdet? Ihr schildert das hier ziemlich ungenau, vermutlich war dafür kein Platz mehr auf dem Zettel.“

Crimson kam sich vor, als hätte man ihn in eine Paralleldimension versetzt. Sorc hielt sich sehr gerade auf seinem Stuhl und starrte ihn inzwischen fassungslos an. Nach dem Gespräch, das sie kürzlich gehabt hatten, musste er sich veralbert fühlen. Crimson überlegte, wie er jetzt antworten sollte. Er konnte natürlich einen Vorteil aus der Situation ziehen, wo sie sich doch gerade auf dem Silbertablett bot. Aber was sollte das alles? Erst wurde Sorc ihm untergeschoben, weil irgendjemand Schloss Lotusblüte bei diesem Programm des Zirkels des Bösen angemeldet hatte, und jetzt wollte ihn jemand wieder loswerden?

Crimson räusperte sich und sah Belial offen an. „Das muss ein Missverständnis sein. Ich habe das Kontaktformular verlegt. Ich habe es weder ausgefüllt noch abgeschickt. Eventuell hat sich jemand von meinen Schülern oder Mitarbeitern einen üblen Scherz erlaubt. Ich werde der Sache auf den Grund gehen.“

Belial hob überrascht, aber sichtlich erfreut die Augenbrauen. „Ach so! Nun, bitte tut das, denn mit diesen Formularen ist nicht zu spaßen. Die beschriebene Situation hätte dazu geführt, dass wir den Klienten von hier entfernt hätten, wenn Ihr darauf bestanden hättet. Selbstredend wäre das die letzte mögliche Lösung gewesen, denn danach wäre er der Stufe vier zugewiesen worden.“

Crimson nickte bedächtig und tat so, als wüsste er ganz genau, was das bedeutete. War das nicht irgendwas mit Magie auslöschen und an eine stupide Arbeitsstelle versetzt werden? Dieses Schicksal wünschte ein Magier nicht einmal seinem ärgsten Feind. Die Auslöschung der Magie war noch viel ernster als die Sperrung der Magie, denn sie ließ sich nicht aufheben. Logisch... wenn man die Beine abgehackt bekam, wuchsen sie auch nicht wieder nach.

Belial suchte in seinen Unterlagen, füllte auf einem Formular etwas aus und reichte es dann über den Schreibtisch. „Bitte unterschreibt hier, Direktor. Es bestätigt, dass das Kontaktformular ungültig ist. Wenn ich mir den Hinweis erlauben darf: Wer auch immer es ausgefüllt hat, konnte Eure Unterschrift einigermaßen fälschen, aber Lord Genesis meinte, der Schreibstil wäre nicht Eurer. Er ist... einfach nicht sachlich genug.“

Das nahm Crimson zur Kenntnis und unterschrieb das Formular extra schwungvoll. Wer hatte sich da erdreistet, seine Unterschrift nachzumachen?

„Seid Ihr damit einverstanden, dass wir so weitermachen, als hätte es diesen Vorfall nicht gegeben?“ erkundigte der Marquis sich.

„Was mich betrifft... ich weiß von keinem Kontaktformular,“ versicherte Crimson.

Belial reichte ihm ein neues. „Benutzt dies, falls es nötig werden sollte, aber es ist wirklich nur für Notfälle. Alles andere besprecht bitte mit dem Vertreter des Zirkels des Bösen, der regelmäßige Kontrollbesuche machen wird – möglicherweise wird man nun mir diesen Fall zuweisen. Dann würden wir uns in vier Wochen wiedersehen. Ich darf mich vorläufig verabschieden...“ Er nahm Sorc die Handschellen ab, indem er eine Beschwörung darauf aussprach, so dass sie aufsprangen.

Alle erhoben sich und gingen zusammen zum Haupttor, wobei Sorc sich hinter den beiden anderen Männern hielt. Belial marschierte flott hinaus, nachdem er seine Akten unter seinem Umhang verstaut hatte, und flog nach wenigen Schritten ab.

„Du hast mich ganz schön erschreckt, Direktor,“ sagte Sorc in die entstandene Stille.

„Das war ich nicht, wirklich,“ versicherte Crimson. „Wenn ich ein Problem mit dir habe, erfährst du es zuerst. Und wenn ich dich loswerden will...“ Er unterbrach sich, denn er sah die Dame von vorhin auf das Schlosstor zukommen. „Oh, die hab ich ganz vergessen.“

Aus der Nähe sah Crimson, dass sie schon älter war, etwa sechzig Zyklen. Sie trug ein blutrotes Kleid mit schwarzen Applikationen und einem hochstehenden Nackenkragen. Das weiße Haar war vornehm hochgesteckt, und sie ging auf eine sehr würdevolle Art. Ihre Haut war von einer aristokratischen Blässe, fast weiß, und der harte Blick aus den dunklen Augen ließ sie unnachgiebig wirken. Ihr Mund war ein strenger, roter Strich.

Crimson wollte die Frau begrüßen, doch Sorc war schneller. „Lady Charoselle. Es ist eine Weile her...“ Er küsste galant ihre Hand.

Ein feines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Soach. Du solltest dich schämen. Warum hast du mich nicht wissen lassen, dass du hier bist? Ich war in Sorge.“

„Tut mir Leid, daran hätte ich denken sollen.“ Sorc hielt weiterhin ihre Hand und drehte sich zu Crimson um, als käme er mit ihr zu einem Ball. „Direktor, ich präsentiere Lady Charoselle Jagerillia die Unerschrockene von den Eisigen Inseln, Herrin im Gletscherturm zum Diamantgebirge, Zähmerin von Kanindra, Jägerin des Chaos, Hüterin des Schwertes der Finsteren Riten, Mutter von Soach, Lichal und Iquenee.“

Crimson nahm automatisch die behandschuhte Hand der Frau und hauchte einen Kuss darauf. „Ich fühle mich zutiefst geehrt.“ Sein Gehirn indessen analysierte die gehörten Informationen. Soachs Mutter? Und Soach war...

„Mein Ältester hat sich seit Monaten nicht bei mir gemeldet,“ klagte die Dame. „Dann bekomme ich vor drei Tagen einen Brief von ihm, den er im Gefängnis geschrieben hat... ich glaube das war der längste und gefühlvollste Brief, den ich jemals von einem meiner Kinder bekommen habe. Das Problem ist nur, dass Briefe zu den Eisigen Inseln immer so lange unterwegs sind, deshalb befürchtete ich, ich käme zu spät, um ihn noch einmal zu sehen...“

Sorc verzog peinlich berührt das Gesicht. Crimson hatte diesen Ausdruck noch nie bei ihm gesehen, überhaupt hatte er noch nie so viel Mimik in dem blauen Gesicht erkannt wie im Moment.

„Ich bin Euch ja so dankbar, dass Ihr Euch seiner angenommen habt, Direktor Crimson vom Lotusschloss,“ fuhr Lady Charoselle fort. „Sollte er Euch jemals Ärger machen, sagt es bitte zuerst mir, ich kümmere mich dann darum. Hmm... vielleicht sollten wir in Eurem Büro weiter plaudern.“

„Ähm... sicher... Ich muss mich nur kurz um etwas kümmern, aber Sorc... Soach kann Euch das Büro zeigen. Sicher wollt ihr gerne kurz mit ihm allein reden.“ Der ungewohnte Name hinterließ ein seltsames Gefühl auf der Zunge. Wie ein Zauberwort, das nicht ausgesprochen werden wollte.

Während Sorc der Lady das Büro zeigte, hetzte Crimson den Alchemieturm hoch. Alleine der Weg mit all den Treppen dauerte an die fünf Minuten, und Belial hatte ihn doch ganz schön in Beschlag genommen. Die Zeit verging so schnell, wenn man zu tun hatte! Aus lauter Neugier beobachtete er Sorc und seine Mutter. Cathy behielt die beiden eh im Auge, insofern war es kaum seine Schuld.

Sorc sah neben der vornehmen Frau aus wie ein Putzsklave. Das schien aber beide nicht zu interessieren. Crimson beobachtete, wie Sorc den Drachen begrüßte, auf dem Lady Charoselle gekommen war. Oder besser... das Tier. Es sah aus wie ein Drache, dessen Eltern ein Drache und ein Kaninchen waren. Auf dem Kopf hatte er lange, weiße Ohren und der Körper erweckte den Anschein, dass man einem Drachen einen Pelzmantel angezogen hatte, denn an den Flügelrändern, an den Klauen (oder Pfoten?) hatte er weißes Fell, ansonsten gelbliche Schuppen und farbige Dornenfortsätze. Das Wesen ließ sich zutraulich von Sorc streicheln, und sobald dieser ihm das Gepäck vom Rücken abgeschnallt hatte, schrumpfte es zusammen (auf Kaninchengröße!) und sprang den Hexer an wie ein Hund, der seinen Herrn endlich wiedersieht.

Ein interessantes Gespräch gab es nicht, abgesehen von „Brave Kanindra... gutes Mädchen,“ wurde nicht viel gesprochen. Das war also Kanindra, deren Zähmerin Charoselle war. Aha.

Sie ließen Kanindra draußen, und Sorc trug das Gepäck hinein. Das ließ ihn umso mehr wie einen Bediensteten erscheinen. Crimson fragte sich, ob die Lady länger bleiben wollte, denn sie hatte eine handliche Reisetasche mitgebracht. Für eine Dame ihres Standes war das aber vielleicht doch zu wenig. Außerdem schien der Inhalt recht schwer zu sein.

„Kriegst du genug zu essen, mein Lieber?“ erkundigte die Frau sich. „Mir ist, als hättest du etwas abgenommen, und du bist zu blass...“

„Das liegt sicher daran, dass ich monatelang bei Lord Genesis gewohnt habe. In seinem Wald gibt es ja nicht viel Licht, weil das Blätterdach so dicht ist. Ich habe viel gelesen in der Zeit.“

„Und bist zu zufrieden mit dieser Situation?“

Sorc lachte. Es war ein ganz offenes Lachen, das kaum an einen dunklen Herrscher erinnerte. „Wenn man bedenkt, wie die Alternativen aussahen... ja.“

Crimson war außer Atem, als er bei seinem Kessel ankam. Vielleicht hätte er doch ein anderes Zimmer dafür wählen sollen, aber er fand es hier einfach am sichersten. So schnell wie möglich, aber auch sorgfältig genug, verrührte er die nächste Zutat mit seinem Trank.

Wie aus dem Hintergrund hörte er Charoselles Stimme: „Du hast schon immer an jeder Lage etwas Positives gefunden, aber vielleicht wird es auf die Dauer nicht ausreichen.“

„Das muss es nicht, denn nichts bleibt ewig gleich, Mutter. Du hast deinem Leben eine Konstante gegeben und bist damit glücklich, aber das wäre ja... Ordnung.“

Als Crimson sich wieder auf das Bild vor seinem inneren Auge konzentrieren konnte, waren die beiden in seinem Büro angelangt. Die Lady steuerte den Schreibtisch an, obwohl sie auch die Sessel zur Kenntnis nahm. Vielleicht mochte sie kein Grün. Sie nahm den Platz ein, auf dem Belial gesessen hatte, aber Sorc schien es zu widerstreben, sich erneut auf seinen Platz von vorhin zu setzen. Er tat es dann wohl nur, weil er so mit ihr auf einer Augenhöhe war.

Charoselle sah sich interessiert um. „Auch ein bisschen chaotisch hier. Aber auf seine Art ganz gemütlich. Ich finde nur, dass persönliche Dinge fehlen.“

„Crimson hat dieses Büro erst seit gestern.“

„Verstehe.“ Ihr Blick blieb an der Pinnwand hängen. „Er scheint viel Arbeit zu haben...“

Sorc zuckte mit den Schultern. „Er macht anscheinend das Elixier von Sil-har'kahn.“

Auf seinem Beobachtungsposten im Turm ließ Crimson fast den Rührlöffel fallen, den er vergessen hatte abzulegen. Wer hatte Sorc von seinem Plan erzählt? Nur Yami, Yugi und Shiro wussten von der wahren Natur des Projekts!

„Ich dachte, das wäre verboten“ sagte die Lady sachlich. „Das hat doch nichts mit dir zu tun, oder?“

„Ach was, nein!“ winkte ihr Sohn ab. „Das wäre auch viel zu riskant, schließlich befinde ich mich in einem lebensgefährlichen Rehabilitationsprogramm.“

„Umso mehr solltest du versuchen, einen Nutzen für die Gesellschaft hier zu haben. Einen, der nicht dieses Elixier betrifft, meine ich.“

„Ich hätte da einen für dich, der es betrifft.“ Sorc hielt die Hand hoch, ohne sich umzudrehen, und ein Zettel riss sich von der Pinnwand los und flog zwischen seine Finger. Er gab ihn seiner Mutter.

„Ach ja, das,“ seufzte Charoselle. „Weißt du, wie oft Leute zu uns kommen, um das zu kaufen, zu stehlen oder zu erbetteln? Es ist geradezu lästig. Aber dein Direktor hat aufgeschrieben, dass es von den Wäldern im Schwarzmeer-Gletschergebiet geholt werden soll. Sehr löblich.“

„Vielleicht hält er das für zuverlässiger. Hohe Herrschaften lassen einen ja schon gerne mal ein paar Tage warten, und das kann er nicht riskieren. Es muss gekocht und vergoren werden, kannst du dich darum gleich kümmern?“

Charoselle zuckte mit den Schultern. „Sicherlich...“ Sie steckte den Notizzettel in ihr Dekolletee. „Ich werde Ray schicken, damit er es liefert. Sonst noch etwas?“

„Ja... ein paar von den weißen Puscheln wären nicht schlecht, für die Sicherheit.“

Die Lady lachte schallend. „Für die Sicherheit? Aber ja, von mir aus.“

„Aber ist es wirklich nötig, Ray zu schicken?“ hakte Sorc nach.

„Lieber Iquenee?“

„Äh... ich glaube, Ray ist eine hervorragende Idee.“

Crimson machte sich endlich auf den Weg nach unten – er war mal wieder zu sehr bei seiner Beobachtungstätigkeit gewesen, so dass er vergessen hatte, sich zu bewegen. Das beides gleichzeitig zu machen, musste er wohl noch üben.

„Wie gut, dass wir uns immer so einig sind!“ freute sich Charoselle. Die Frau hatte ihre Kinder anscheinend gut im Griff.

„Ich sollte dann gehen,“ meinte Sorc unvermittelt. „Der Direktor wird sicher gleich hier auftauchen.“ Er warf einen Blick auf das Gepäck. Vielleicht wollte er sich dazu äußern, entschied sich dann aber dagegen. „Wir sehen uns später noch.“
 

Als Crimson sein Büro erreichte, war Sorc schon nicht mehr auf dem Gang anzutreffen. Cathy behielt ihn im Auge, aber der Schlossherr konzentrierte sich auf seine Besucherin. Er zog seine Kleidung gerade und fuhr kurz mit den Fingern durch seine Haare, ehe er eintrat.

Als jemand, der ohne Mutter aufgewachsen war, kannte Chrimson sich mit Mutterfiguren kaum aus. Umso neugieriger war er auf diese Frau, die allerdings bereits seine Großmutter hätte sein können. Charoselle machte einen sehr selbstsicheren, herrschaftlichen Eindruck, aber sie strahlte auch etwas aus, das er nur als Mütterlichkeit beschreiben konnte. Sie war hier, weil sie sich um ihren Sohn sorgte, zu dem sie anscheinend eine gute Beziehung hatte. Statt ihm Vorwürfe zu machen, wollte sie ihm helfen, aus der jetzigen Situation das Beste zu machen. So in der Art hielt es Shiro mit seinem einzigen Kind auch immer.

Crimson begab sich hinter seinen Schreibtisch, und die Frau schenkte ihm ein warmes Lächeln. In der privaten Umgebung des Büros schien sie etwas aufzutauen.

„Direktor... ich freue mich, dass wir uns miteinander unterhalten können, ohne dass mein Junge dabei ist. Soach würde es nie zugeben, aber ich kenne ihn. Er hat furchtbare Angst davor, dass sie ihm doch noch seine Magie wegnehmen. Ihr wisst ja, wie das ist mit Kindern, schließlich seid Ihr Lehrer... Sie tun immer so stark, aber innerlich sieht es anders aus. Selbst in dem Brief, den Soach mir schrieb, hat er sich noch zurückgehalten, aber eine Mutter kann zwischen den Zeilen lesen. Er befürchtete, dass kein Platz für einen Chaosmagier wie ihn existiert, und dass der Zirkel ihn deswegen in dieses Viererprogramm stecken würde... aber das hätte er nicht überstanden. Er kann nicht ohne Magie leben, versteht Ihr?“

Oh ja, das verstand Crimson nur zu gut. Ob beabsichtigt oder nicht, die Lady traf einen Nerv bei ihm. Zwar ging es bestimmt den meisten großen Magiern so, aber das änderte nichts.

Charoselle holte ein Spitzentaschentuch aus einer verborgenen Tasche in ihrem Kleid hervor und betupfte ihre Augen. „Er hat mir geschrieben, dass er nicht zulassen würde, dass seine Magie ausgebrannt wird, lieber würde er sterben. Und ich weiß, dass es stimmt... Er könnte wahrscheinlich einen Weg finden, ohne Luft auszukommen, aber nicht ohne Magie. Ich war ja so in Sorge. Als der Brief mich erreichte, wusste ich, dass inzwischen alles vorbei sein musste, denn Soach hätte nicht gewollt, dass ich seiner Hinrichtung beiwohne. Er hat den Brief absichtlich spät abgeschickt. Dabei ist es doch die Aufgabe einer Mutter, ihrem Sohn bis zuletzt beizustehen! Hach! Ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte!“

Sie wischte sich etwas unbeholfen die Nase, so als käme es äußerst selten vor, dass sie weinte. Dann riss sie sich offensichtlich zusammen. „Aber nun kann ich beruhigt sein, Direktor. Ich bin sicher, mein Junge wird Euch keine Probleme machen, und wenn doch, sagt es bitter erst mir, ehe Ihr Euch beim Zirkel beschwert. Es würde mich sehr beruhigen, wenn ich wüsste, dass Ihr immer positive Berichte über ihn schreibt und dem Marquis nur die guten Sachen erzählt!“

Während sie sprach, bückte sich Charoselle rasch und kramte in ihrer Reisetasche, aus der sie dann eine handliche Truhe hervorholte. Sie stand kurz von ihrem Stuhl auf, um das Ding auf Crimsons Seite des Schreibtisches zu platzieren. Dem Klang nach zu urteilen, mit dem die Truhe auf dem Holz aufkam, war sie prall gefüllt mit einem massiven Inhalt. Die Größe war in etwa so, dass eine mittelgroße Katze bequem hineingepasst hätte.

Der Schlossherr fühlte sich aufgefordert, den Deckel anzuheben. Er war etwas vorsichtig, doch es befanden sich nur Edelsteine und Goldmünzen in der Truhe. Viele davon – genau genommen bis zum Rand. Neben all dem Reichtum sah der Alchemist in ihm auch den praktischen Nutzen dieses Schatzes.

„Ich weiß, dass Soach bei Euch in guten Händen ist... das ist er doch, nicht wahr, Direktor? Ihr würdet ihn nicht beim Zirkel anschwärzen, ohne vorher mit mir zu reden...“ Die Lady tupfte sich eine letzte Träne vom linken Auge.

Crimson schloss die Truhe. Er hob sie hoch – was sich als wesentlich schwieriger erwies, als er erwartet hätte – und stellte sie neben seinen Stuhl auf seiner Seite des Tisches. „Gewiss doch, meine Dame. Wenn es ein Problem gibt, erfahrt Ihr es als Erste. Aber Sorc... Soach hat sich bisher ganz friedlich verhalten, so dass ich zuversichtlich bin, dass alles in Ordnung kommt.“

„Ich danke Euch.“ Lady Charoselle erhob sich, was Crimson ihr gleich tat. „Aber jetzt werde ich Euch nicht länger behelligen, denn Ihr habt sicher viel Arbeit. Wenn Ihr erlaubt, werde ich noch etwas bleiben, um bei meinem Sohn zu sein. Es ist doch in Ordnung, wenn wir ein wenig in der Umgebung spazieren gehen?“

„Natürlich. Selbstverständlich.“ Crimson verneigte sich höflichst.

„Ich finde den Weg. Auf Wiedersehen, Direktor!“ Die Lady verließ ihn.

Als er wieder allein war, runzelte Crimson die Stirn und fragte sich, ob er unter einem Zauber gestanden hatte, aber er schüttelte den Gedanken ab. Sein Blick fiel auf die Truhe zu seinen Füßen. Natürlich hätte sein Vater sie abgelehnt, und Dark sicher auch. Aber er nicht. Er konnte es kaum erwarten, den Inhalt auf seine alchemistische Eignung zu überprüfen, und selbst wenn die geringer war als erwartet, würde die Schulkasse ein wenig voller werden.

Verwandtenbesuch

Kapitel 14: Verwandtenbesuch
 

Crimson hatte gar nicht mitgezählt, wie oft er heute schon in seinen Turm und wieder hinunter gelaufen war. Das war sicherlich gutes Training für die Beine. Gerade lief er wieder nach unten, denn dieses Mal waren wirklich Dark und Blacky im Anflug. Als Schattensturm draußen landen wollte, brüllte Kanindra in ihrer normalen Größe ihm entgegen. Charoselle musste ihr Reittier beruhigen, damit nichts schiefging. Schattensturm knurrte den hasenohrigen Drachen bedrohlich an, während Blacky und Appi von seinem Rücken sprangen. Dark war mit seinen eigenen Flügeln geflogen.

Als Crimson den Neuankömmlingen entgegen ging, wurde er Zeuge der Begegnung von Sorc und Blacky. Der Chaoshexer war wohl noch mit seiner Mutter draußen gewesen, und der Schlossherr ärgerte sich, dass er daran nicht gedacht hatte. Er hätte die beiden bitten sollen, lieber im Schloss zu bleiben, aber er vermutete, dass Sorc absichtlich Cathys Einflussbereich verlassen hatte, um mit Charoselle unter vier Augen zu reden.

Während Crimson also schon ein Unglück befürchtete, waren die übrigen Personen völlig gelassen. Appi rückte seinen prall gefüllten Rucksack zurecht. Darks Flügel verschwanden, und er tätschelte Schattensturms Hals, aber der Drache blieb in seiner großen Gestalt, wie auch Kanindra, denn beide zischten einander nach wie vor an.

Sorc und Blacky machten synchron genau die gleiche Bewegung mit der rechten Hand. Es war nichts zu sehen, aber die Haare der beiden flogen wie im Wind, und Crimson bemerkte eine Druckwelle in der Luft. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf.

Charoselle, Appi und Dark beobachteten den Vorgang ruhig und eher neugierig als besorgt. War denn niemand beunruhigt?

Blacky trug seine abgenutzte Freizeitkleidung und sah aus wie eine junge Version von Sorc, was ja auch nicht allzu abwegig war. Die beiden ließen alsbald ihre Hände sinken und schnauften wie nach einer großen Anstrengung, dann lachten sie, gingen aufeinander zu und klopften einander kumpelhaft auf die Schultern.

„Hab ich was verpasst?“ staunte Crimson.

Dark kam auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem Handschlag auf Kriegerart. „Grüße von deinem Vater – wir haben dir ne Lieferung mitgebracht. Wegen Blacky und Sorc mach dir keine Sorgen, die kommen inzwischen ganz gut klar. Du kannst es nicht wissen, warst ja hier beschäftigt. Blacky hat Sorc öfter mal bei Lord Genesis besucht, ich glaube jede Woche oder so.“

„Wie jetzt? Ich dachte, das gibt ein Unglück, wenn die beiden aufeinander treffen!“

„Ach, nein,“ winkte Dark ab. „Blacky hat zunächst nichts dazu gesagt, weil wir ja auch noch bei Yugi zu Besuch waren. Aber nachdem Talimecros, der ihn ja immer gehasst hat, nun nicht sein Vater ist und er seinen richtigen Vater gefunden hatte, wurde er ziemlich nachdenklich. Schließlich ermutigte ich ihn dazu, auf sein Gefühl zu vertrauen und einfach mal hinzufliegen, damit er es nicht später bereut. Der Zirkel des Bösen hat ja eine Hinrichtung für Sorc in Erwägung gezogen. Blacky hätte es sich vielleicht nie verziehen, wenn sein leiblicher Vater gestorben wäre, ohne dass er sich mit ihm ausgesprochen hat. Doch ich muss zugeben, dass ich nicht mit diesem Ergebnis gerechnet hätte. Es ist wahrscheinlich Blackys Einsatz zu verdanken, dass die Entscheidung, Sorc in ein Rehabilitationsprogramm aufzunehmen, relativ gut durchgekommen ist.“

„Blacky hat sich für ihn eingesetzt? Soso...“ Crimson kam da ein Verdacht, den er im Moment aber für sich behielt.

Die beiden Chaosmagier gesellten sich zu der Gruppe und beendeten dafür ihr Vater-Sohn-Gespräch. Sorc stellte seine Mutter und die anderen einander vor.

Charoselle begrüßte alle höflich, hatte dann jedoch hauptsächlich Augen für ihren Enkel. „Ganz gut geraten... doch auch ein Kind des Chaos...“

„Sie denkt, der vorherige Herrscher der Eisigen Inseln, den sie vom Thron gestürzt hat, hätte ihre Nachkommen verflucht. Er war nämlich auch ein Anhänger des Chaos, und sie ja damals eine Kämpferin gegen solche Typen,“ erklärte Sorc. „Ich verstehe aber gar nicht, warum sie sich Sorgen macht, schließlich sind meine Geschwister 'normale' Magier.“

„Ja, aber Magier!“ Charoselle erhob mahnend ihren Zeigefinger. „Ich, eine Unterweltlerin, sollte eigentlich nicht drei Kinder haben, die Magier sind, von einem Mann, der ein Krieger ist! So wie es aussieht, wird der Erstgeborene auch immer ein Chaosmagier!“

„Dann ist es kein Problem,“ winkte Blacky ab. „Ich werde keine Kinder haben.“

„Das kannst du nie wissen!“ beharrte Charoselle. „Wenn es so sein soll, dann wird es geschehen!“

Blacky blieb unbeeindruckt. „Von mir aus...“

Die Lady verdrehte die Augen und schaffte es, dabei vornehm auszusehen. „Diese typische Einstellung zu den Dingen... Wie auch immer. Ich muss abreisen. Gehabt Euch wohl, Direktor...“ Sie verabschiedete sich förmlich von Crimson, Dark und Appi, umarmte Sorc herzlich und dann etwas zögerlich auch Blacky, als müsste sie das erst ausprobieren. Das elegante Kleid hinderte sie nicht daran, mit Stil ihren Drachen zu reiten, und nachdem Kanindra ein letztes Mal in Schattensturms Richtung gezischt hatte, flog sie ab.

Als die Gruppe das Schloss betrat, kamen ihnen Yugi und Yami entgegen, um die Neuankömmlinge stürmisch zu begrüßen. Crimson nutzte die Gelegenheit, um sich Sorc vorzunehmen, obgleich er dabei zugeben musste, spoiniert zu haben. Aber die Information war ihm wichtiger.

„Du weißt also von dem Trank... und gibst deiner Mutter einfach Lieferaufträge?“

Sorc sah nicht im Mindesten ertappt aus. „Aha, dann hast du also wirklich gelauscht, Direktor. Kam mir doch gleich so vor. Wenn du magst, schick trotzdem jemanden zum Schwarzmeer-Gletschergebiet, aber du kannst dir einen Arbeitsschritt sparen, wenn du die Kristalltrauben gleich fertig vergoren von den Eisigen Inseln liefern lässt. Sie werden dort kultiviert und sind genauso wirksam wie die wild wachsenden.“

Das konnte Crimson nicht abstreiten. Es war so, wie Charoselle vermutet hatte: Er wollte nicht das Risiko eingehen, dass er die Lieferung nicht rechtzeitig bekam. Aber als er die Notizen aufgeschrieben hatte, war ihm noch nicht klar gewesen, dass Sorc von den Eisigen Inseln stammte.„Wer hat dir erzählt, was ich mache?“

„Niemand, ich konnte es aus der Beschreibung an der Pinnwand schließen.“

Crimson runzelte ungläubig die Stirn. „Nur mit Hilfe dieser Zettelchen? Du nimmst mich auf den Arm!“

Der Hexer lächelte selbstgefällig. „Nicht jeder von uns ist von der Schule geflogen, weißt du. Ich hatte eine Eins ich Alchemie.“

„Was?!“

„Seit der dritten Klasse. Und davor gab es keine Noten.“

„Aber... Chaosmagier sind miserable Alchemisten!“

Sorc verschränkte die Arme und lachte. „Vorurteile! Man muss nicht du sein, um eine Eins in Alchemie zu haben. Dafür hast du ja, wenn man Olvin glauben darf, nie in Heilkunde aufgepasst, geschweige denn in Necromantie.“

Das wurde ja immer schöner! Hatte Olvin sich inzwischen mit Sorc verbrüdert?

„Er hat ab und zu über dich gesprochen, während du in meinem Kerker warst,“ klärte Sorc die Sache ungefragt auf. „Wusstest du, dass die Tattoofarbe, die wir benutzt haben, eine heilende Komponente enthielt? Das war Olvins Idee. Schließlich durftest du nicht verbluten. Malice habe ich dieses Detail allerdings verschwiegen und ihm statt dessen erzählt, dass die Farbe in den Wunden brennen wird. Aber das haben Heilmittel so an sich.“

Die Erinnerung daran wühlte Crimson wie immer sehr auf, deshalb vergaß er seinen Ärger. „Ja, das... das ist mir aufgefallen. Ich dachte, ihr hättet diese Farbvariante zufällig benutzt.“

„Nein, Olvin hat sie vorgeschlagen und auch hergestellt.“

Crimson fragte sich, ob er das dem Alten danken sollte oder nicht. Zweifellos hatte er sich darauf gefreut, seinen verhassten ehemaligen Schüler ohne Magie zu sehen. Hatte ja auch geklappt.

„Wie kommst du jetzt mit Olvin zurecht?“ erkundigte er sich.

„Er ist ganz sein spöttisches altes Selbst, im Großen und Ganzen hat sich sein Verhalten mir gegenüber nicht sonderlich geändert. Schon immer hielt er mich für einen Volltrottel und machte keinen Hehl daraus, aber er brauchte den Job und ich brauchte einen Necromanten.“ Sorc zuckte mit den Schultern. Zumindest musste man sich wohl keine Sorgen machen, dass die beiden sich bekriegten, obwohl Olvins Arbeit für Sorc ein Grund für den schlechten Gesundheitszustand des alten Magiers war.

Allerdings waren sie jetzt ziemlich vom eigentlichen Gesprächsthema abgekommen. Sorc und eine Eins in Alchemie? Pah! In der Theorie vielleicht, oder Charoselle hatte auch in der Schule mal ein Kästchen mit Edelsteinen stehen lassen. Crimson überlegte, das zur Sprache zu bringen, ließ es dann aber sein, schließlich hatte er die Bestechung angenommen. Warum auch nicht – es gab kein Problem damit, seine Seite der Abmachung einzuhalten. Wenn ihn also jemand für etwas bezahlen wollte, das er ohnehin getan hätte, konnte er ebenso gut einen Nutzen daraus ziehen und seine Berichte vielleicht noch etwas aufhübschen. Vielleicht musste er auch gar keine schriftlichen Berichte abgeben, jedenfalls wusste er davon bisher nichts.

Er musste noch herausfinden, wer das Kontaktformular ausgefüllt hatte. Als Crimson daran dachte, meldete sich sofort eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf, und die hatte nichts mit Cathy zu tun. Es war eine kleine, gehässige Stimme, die ihm sagte, dass er es doch dabei bewenden lassen konnte – schließlich hatte er Besseres zu tun im Moment und Sorc hatte den kleinen Schrecken im Prinzip verdient. Der Hexer war ohnehin viel zu glimpflich davongekommen mit seiner Strafe. Zustimmend verschob er die Sache auf unbestimmte Zeit später.

„Wenn du mich dann nicht mehr brauchst, Direktor, werde ich mich zurückziehen,“ sagte Sorc.

Crimson nickte das kurz ab und wandte sich dann seinem Besuch zu.

Yugi und Appi waren schon in eine angeregte Diskussion verstrickt. Anscheinend ging es um einen Zauber, den sie beide gelernt hatten. Yami indessen unterhielt sich mit Dark und Blacky über Duellstrategien.

[„Der Magier Namens Dark öffnet sich mir nicht,“] beschwerte Cathy sich telapathisch.

[„Ich werde ihn mal darauf ansprechen,“] versprach Crimson.

In dem Moment sah sein Cousin auf, als hätte er seine Absicht erkannt. „Crimson!“ Er legte Crimson brüderlich einen Arm um die Schultern und führte ihn mit Bestimmtheit ein, zwei Meter weg. Lächelnd, als wäre es nichts Ernstes, erkundigte er sich: „Diese ganzen Zutaten... was hast du damit vor? Onkel Shiro gab sich sehr verschlossen, aber er weiß es, oder? Und vor einigen Tagen war ja schon Eria bei uns und erzählte ein paar Sachen, dann dieser Endymion... Bist du in Schwierigkeiten?“

Es klang ehrlich besorgt, aber bei Dark war Crimson vorsichtig. Er war ebenfalls ein Schlossherr, aber einer von der sehr anständigen Sorte, und so jemanden verwickelte man besser nicht in illegale Angelegenheiten.

Crimson schüttelte den Kopf. „Ich habe alles unter Kontrolle.“

Dark sah ihn prüfend an. „Na gut... wie du meinst.“

„Wenn du behilflich sein willst, solltest du dich für mein Schloss öffnen. Ich kann jede Energiespende gebrauchen.“

„Oh... daran habe ich nicht gedacht.“ Der andere Magier schloss die Augen und konzentrierte sich, runzelte jedoch schon bald die Stirn. Es sah aus, als müsse er sich sehr anstrengen, um Cathy Zugriff auf seine Energie zu gewähren. Nach einigen Minuten schließlich gelang es ihm, jedoch floss von ihm die Kraft nur träge in Cathys Energiespeicher. „Ich werde versuchen, es zu verbessern, aber mehr kann ich im Moment nicht machen. Mein eigenes Schlossherz beansprucht alles für sich, obwohl – oder gerade weil – es im Moment gar keine Burg mehr hat. Ich bin sein einziger Spender, abgesehen von den Bauarbeitern, die Drachenfels wieder aufbauen.“

Für diese Aussage zeigte sich Cathy überraschend verständnisvoll. „Ist nicht so schlimm,“ winkte Crimson deshalb ab. „Zwing dich nicht dazu.“

Dark nickte mit einem entschuldigenden Lächeln. „Hey, Appi! Bevor du mit Yugi irgendwo hin verschwindest, gib Crimson sein Zeug.“

„Ah, ja, klar doch.“ Appi streifte den Rucksack ab und warf ihn Crimson zu.

„Vorsichtig damit!“ rief der Weißhaarige entsetzt. „Das sind wertvolle Substanzen!“

„Wir haben alles sicher verstaut,“ versicherte Dark. „Dein Vater hat noch einige Standardsachen mitgeschickt. Hat vielleicht gedacht, dass es dann weniger auffällt...“

„Danke. Ich bringe das nur mal eben hoch in mein Vorratslager.“ Und bei der Gelegenheit konnte er sich auch gleich der weiteren Befragung entziehen. Yami und Yugi gaben nicht zu erkennen, dass sie irgendetwas wussten, hoffentlich blieb das auch so. Im Zweifelsfall waren sie Dark und seinen Leuten gegenüber wohl loyaler als ihm.

Crimson ließ Cathy seine Besucher beobachten. Er lauschte nicht direkt, sondern verfolgte nur grob ihren Weg. Yami und Yugi zeigten ihnen das Schloss, aber sie mieden das Büro, wo noch immer die Pinnwand offen an der Wand hing. Nachdem sie sich alles ein wenig angesehen hatten, wollte Appi unbedingt das Bad nutzen. Also ließen Blacky und Dark die Jungs im Keller zurück und gingen zu Kuro in den Garten.

Inzwischen hatte Crimson seine Lieferung ausgepackt und einsortiert und die Zutaten, die er als nächstes brauchte, bereitgestellt. Er beeilte sich, denn er wollte nicht, dass Dark ihn hier besuchen kam und dann womöglich entdeckte, was er plante.

Cathy materialisierte sich, als der Schlossherr darüber nachdachte. „Ich sage Dark schon Bescheid, dass er hier nichts anfassen soll. Oder ich halte ihn schon vorher auf!“

Crimson lächelte. „Ja, ist gut. Ich denke, Dark würde wohl schon verstehen, warum ich es tue, aber ich will ihn nicht einweihen... wir sind Rivalen, und er ist ein verdammter Moralapostel. Außerdem will ich nicht, dass er mich für weich hält, weil ein alter Necromant mich dazu treibt.“

„Verstanden, Meister,“ sagte Cathy mit bedeutungsvoll klingender Stimme.

Das Schlossherz fing danach an, Dark zu überwachen, jedoch nicht im gleichen Maße wie Sorc. Er schaute nur ab und zu nach, wo der Magier sich befand.
 

Beim Abendessen trafen alle wieder zusammen. Außer Sorc und den Personen, die unterwegs waren, fehlte nur Blacky. Cathy fand schnell heraus, dass er sich zusammen mit dem anderen Chaosmagier in der Küche aufhielt und dort aß. Crimson gönnte es ihm. Er konnte nicht nachvollziehen, wie Blacky diesen Mann als seinen Vater anerkennen konnte, nach allem, was vorgefallen war, aber es war eben etwas anderes, wenn jemand nie einen guten Vater gehabt hatte. Blacky genoss die Unterhaltung offensichtlich. Sie sprachen über Magie und speziell die Möglichkeiten des Chaos. Crimson beobachtete die beiden eine Weile und bemerkte, dass Sorc wirklich eine nette Art an sich hatte, die er sonst nicht zeigte.

„Der Schlossherr belauscht uns wieder,“ meinte er schließlich, und beide fingen an zu kichern.

Crimson zog sich automatisch zurück, als er sich ertappt fühlte. Woran bemerkte Sorc seine Anwesenheit? Andere taten das doch auch nicht... hoffte er wenigstens.

Dark, der rechts neben ihm am Tisch saß, stieß ihm mit dem Ellenbogen an. „Es ist unhöflich, beim Essen geistig wegzutreten. Ich glaube, du musst mit Catherine noch etwas üben.“

Crimson tat verlegen und widersprach einfach mal nicht, denn Dark schien zu denken, dass er nur alltägliche Sachen gemacht hatte. „Ich, äh... hab mich gerade gefragt, ob du wohl gut damit zurecht kommst, dass Blacky jetzt so dicke mit Sorc ist,“ redete er sich heraus.

„Ach... das bemerke ich doch kaum,“ meinte Dark leichthin. „Allerdings muss ich zugeben, dass ich meistens nicht mitgegangen bin, wenn Blacky ihn besucht hat. Oder ich hab mich in der Zeit mit Lord Genesis unterhalten. Warum isst Sorc eigentlich nicht mit den anderen?“

„Es gab da ein paar... Zwischenfälle,“ druckste Crimson herum. „Nicht jeder kommt so mit ihm aus wie Blacky. Mava und dein Vater sind gelinde gesagt sehr misstrauisch. Eria hat regelrecht Angst vor ihm. Ihretwegen hat Sorc selber vorgeschlagen, ihr aus dem Weg zu gehen. Ich sehe ihn seither nur noch selten, was mir eigentlich ganz recht ist. Schließlich sind meine Erinnerungen, die ihn betreffen, auch nicht die schönsten.“

„Uhm... genau aus diesem Grunde habe ich es immer vermieden, ihm zu begegnen,“ gab Dark nun zu. „Er hat meine Burg zerstört und dabei fast Mava und Neo getötet. Mein Vater stand unter seiner Kontrolle... oder nein, ich glaube, das war das Werk von Malice. Aber da er und Sorc Partner in der Sache waren, ist es im Prinzip gleich. Vor allem aber hätte er fast Blacky auf dem Gewissen gehabt. Von all den anderen Dingen mal ganz zu schweigen. Ich glaube, jeder von uns hat ihm irgendetwas vorzuwerfen, und ich selbst kann nicht einfach alles vergessen, was vorgefallen ist. So vergebungsfreudig wie Yugi bin ich eben doch nicht.“

Crimson fand es zur Abwechslung ganz nett, dass Dark hier nicht auf Moral machte. Er predigte nicht, dass man dem Mann eine Chance geben sollte. Das machte ihn seinem Cousin ungemein sympathisch. „Ich bin eigentlich immer noch völlig überrumpelt von Sorcs Anwesenheit hier. Es gab andere Probleme, daher hab ich es einfach geschehen lassen...“

Das Gespräch der beiden wurde allgemein vom Lärm der übrigen Anwesenden übertönt, besonders von Appi, der für die Kinder ein paar Faxen machte. Wahrscheinlich hörte ihnen niemand zu. Aber es war ja nicht so, als wäre das Gesprächsthema geheim. Die beiden Magier hatten selten zusammen gegessen, es war eine nette Gelegenheit.

„Blacky vertraut Sorc,“ sagte Dark. „Nenn es naiv von ihm, aber ich verlasse mich auf sein Urteil. Er meint, Sorc hätte nur den falschen Partner gehabt und wäre zu loyal, um solche Verbindungen abzubrechen, sobald sie unbequem werden. Deshalb arbeitete er bis zum Schluss mit Malice zusammen und hielt selbst vor Gericht zu ihm. Er hat nie versucht, ihm die Schuld an allem zuzuschustern – allerdings hat er auch nicht die ganze Schuld auf sich genommen. Manchmal kam eine Frage auf, die Malice betraf, die beantwortete er sehr sachlich. Aber er kam nie von sich aus auf ihn zu sprechen, wenn er es vermeiden konnte.“

Crimson hob die Augenbrauen. „Du warst bei der Verhandlung?“

Dark nickte. „Ja – weil Blacky hin wollte. Er hat sich aktiv für Sorcs Verteidigung eingesetzt. Vor Beginn der Verhandlung hat Lord Genesis mir erklärt, wie der Zirkel des Bösen tickt. Ich verstand erst nicht, wozu er das tat, aber dann konnte ich Blacky helfen, sein Anliegen so zu formulieren, dass der Zirkel es akzeptiert.“

„Ah ja... sie sehen manche Dinge anders als der durchschnittliche Bürger des Schattenreiches.“ Das Thema fand Crimson interessant. „Wie habt ihr die Typen überzeugt, Sorc nicht hinzurichten?“

Dark blickte nachdenklich in seinen Trinkbecher und füllte ihn geistesabwesend nach. „Nun... es interessiert den Zirkel nicht, ob jemand dein Vater ist, der dir viel bedeutet. In diesen Kreisen kann die Familie deine größte Bedrohung sein. Deshalb hat Blacky hauptsächlich argumentiert, dass er von einem älteren, erfahreneren Chaosmagier noch viel lernen kann. Generell kam das Argument gut an, dass es schade um all die magische Kraft und das Wissen wäre, über die Sorc verfügt. Wir hatten den Eindruck, dass manche Mitglieder schon von Anfang an so dachten. Aber als es dann zu der Frage kam, wer denn mit der Aufgabe betraut werden könnte, diese Kraft zu bändigen und sich das Wissen zunutze zu machen, da kamst du ins Spiel, denn Genesis hatte eine Bewerbung für das Rehabilitationsprogramm von dir vorliegen.“

„Tatsächlich?“ Wieder einmal war Crimson überrascht. „Ich dachte schon, er hätte mich irgendwie in dieses Programm geschmuggelt... aber er hatte wirklich eine Bewerbung von mir?“

„Ja doch... er hat das Formular rumgereicht. Es war noch nicht offiziell bearbeitet und du warst noch nicht mit deinem Schloss in die Listen für die Stellen für Rehabilitanden aufgenommen worden. Aber Genesis meinte, das wäre ideal – ein junger Unternehmer, ein neues Schloss, ein neues Projekt. Jemand, der Sorc kennt, ein Magier, der sich gegen ihn durchsetzen kann. Er sprach in den höchsten Tönen von dir und war sehr angetan von deiner Teilnahme an dem Programm.“

Crimson hatte das Gefühl, dass er ein bisschen rot wurde. „Oh... wirklich? Gut, aber ich hab mich nicht angemeldet. Ich wusste nichtmal von dem Programm, bevor Sorc mir davon erzählte.“

„Ach... das ist seltsam, ich bin sicher, dass es deine Handschrift war.“

„Anscheinend ist die nicht allzu schwer zu fälschen,“ grummelte Crimson, der an das Kontaktformular dachte, das er ja auch nicht selber ausgefüllt hatte.

„Glaubst du, jemand hat das getan, um dich zu ärgern?“ erkundigte Dark sich.

Das wusste der Weißhaarige beim besten Willen nicht. „Keine Ahnung. Aber da er jetzt schon einmal hier ist, muss ich das beste draus machen. Seine magische Energie ist gut für das Schloss. Er scheint keine Hintergedanken dabei zu haben. Wie schätzt du ihn ein?“

Dark zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Während der Gerichtsverhandlung machte Sorc einen durchaus seriösen Eindruck, soweit man das von jemandem mit seiner Vergangenheit behaupten kann. Aber ich habe mich nicht mehr als nötig mit ihm persönlich befasst und bin natürlich auch voreingenommen. Du könntest Blacky fragen, aber der wird die Sache vermutlich etwas beschönigen. Mir fehlte bei Sorc ein wenig die Reue, aber andererseits stand er vor dem Zirkel des Bösen. Dort zählt ein selbstsicheres Auftreten und ein fester Character, das macht Eindruck. Diese Leute stört es ja nicht, wenn jemand hin und wieder Leben gefährdet oder Landschaft zerstört, denn das tun sie selber. Aber wenn das ganze Schattenreich bedroht ist, ändert sich der Fall. Für den Zirkel ist es vor allem wichtig, dass sich diese Sache nicht wiederholt.“

„Hmmm... das wird wohl nicht geschehen,“ murmelte Crimson, denn bei allem Misstrauen hielt er Sorc nicht für einen Intrigenspinner, der seine Zeit absaß, bis er wieder zuschlagen konnte. „Was ist eigentlich mit Malice, wo ist der?“

„Die Krieger haben ihn mitgenommen, aber was sie mit ihm gemacht haben, weiß ich nicht,“ antwortete Dark.

Paladia, die die beiden Magier in Ruhe gelassen und sich weiter weg mit den jüngeren unterhalten hatte, setzte sich nun auf der anderen Seite neben Crimson und lenkte so dessen Aufmerksamkeit auf sich. „Wenn meine Schwestern morgen nicht eintreffen, werde ich mit Eria allein aufbrechen,“ verkündete sie. „Wir wollen ja nicht, dass du deine Zutaten zu spät erhältst.“

Das wusste er zu schätzen, aber es machte ihn auch traurig. „Dann ist morgen auf jeden Fall Abschied angesagt. Ich werde euch besuchen kommen, sobald sich die Dinge hier beruhigt haben.“

Die Amazone gab ihm das Baby auf den Arm. Crimson zeigte es stolz seinem Cousin, der klein Scarlett dann auch mal halten durfte.

„Da hast du mir mal was voraus, Crimson,“ grinste der dunkelhaarige Magier.

„Im Vergleich zu dir habe ich einen Effekt, das wären dann schon zwei Sachen.“

„Aber ich habe dafür...“ Dark wurde unterbrochen, denn Catherine materialisierte sich neben ihnen.

„Ich habe einige große Vögel sichten können, möglicherweise die Amazonen. Sieht so aus, als wollten sie über Nacht bleiben,“ meldete das Schlossherz. „Bei der jetzigen Geschwindigkeit sind sie noch vor Sonnenuntergang hier, in etwa zehn Minuten.“

Paladia fing an zu kichern. „Das sieht ihnen ähnlich. Zweifellos wollen sie das Genmaterial sichten.“

„Uh, dann muss ich Blacky warnen, die waren letztens so hinter ihm her!“ witzelte Dark.

Cathy verschwand schon wieder, ohne dass Crimson ihn entlassen hatte, aber für den Schlossherrn war das schon in Ordnung. „Vielleicht kommt meine Mutter auch mit,“ überlegte er. Einerseits freute er sich darauf, aber auf der anderen Seite wollte er von ihr momentan nicht in Beschlag genommen werden. Da war es gut, dass er bereits an eine Amazone vergeben war und somit nicht als Ziel der anderen in Frage kam... hoffte er zumindest.

Eine Schulfreundin

Kapitel 15: Eine Schulfreundin
 

Eigentlich hatte ein großer, bequemer Sessel mit pfirsichfarbenem Samtbezug und Goldborte nichts im Arbeitszimmer eines Alchemisten zu suchen. Schon gar nicht mitsamt der dazugehörigen Fussbank im gleichen Design. Doch Yugi war so stolz auf seinen Schwebezauber gewesen, den er benutzt hatte, um das Ding all die Stufen hoch zu schaffen. Wer hätte sich da beschweren können?

Zugegeben... die Tatsache, dass sich sein Bett in einem anderen Turm befand und der Weg doch eine gewisse Zeit in Anspruch nahm, hatte Crimsons Meinung inzwischen grundlegend geändert. Er war nicht ausgeschlafen gewesen, als er mit der Arbeit begonnen hatte, und nun, an Tag sechs, streute er gemahlenes Drachenhorn in seinen Trank und rührte gleichzeitig um, bis der Trank eine gelbliche statt blaugrüne Färbung aufwies. Danach ließ er sich seufzend in den Sessel sinken, dankbar für die Existenz des Möbelstücks. Inzwischen hatte er auch zwei goldgelbe Zierkissen und eine hellblaue Kuscheldecke (bestickt mit einem entzückenden Blümchenmuster), so dass er manchmal ein kleines Nickerchen halten konnte, wenn zwischen zwei Arbeitsschritten eine Pause von ein, zwei Stunden war. Die Lehne des Sessels ließ sich bequem nach hinten drücken, so ließ er es sich gefallen.

Tageszeit war inzwischen ein unwichtiger Faktor. Der Alchemist schlief, wann er Zeit dafür hatte, und arbeitete, wenn es erforderlich war. Es war anstrengend. Aber es machte auch großen Spaß. Die Organisation seiner Botengänger lief bisher tadellos. Fehlende Zutaten wurden ihm pünktlich gebracht. Seine Schüler und Mitarbeiter waren hochmotiviert und taten ihr Bestes. Da Crimson aber wusste, dass das Schicksal normalerweise nicht so freundlich zu ihm war (denn es stellte ihn gerne vor neue Herausforderungen, damit er daran wuchs) wartete er quasi auf den großen Knall, der seine schöne Seifenblase zerplatzen ließ.

Paladia war mit Scarlett und den anderen Amazonen abgereist. Dank seiner Arbeit bemerkte Crimson ihre Abwesenheit kaum, aber wenn er an seine kleine Famile dachte, schmerze es ihn, dass er nicht mehr einfach zu ihnen gehen konnte, wenn er es wünschte. Dafür hatte Amazia ihm eine Jungamazone dagelassen, also ein Mädchen aus ihrem Stamm, das noch unberührt war, diesen Zustand aber nach den Traditionen ihres Volkes bald ändern musste. Das hieß nicht, dass sie schwanger werden sollte, sondern sie sollte einfach die Erfahrung machen. Nun ja... damit konnte Crimson leben, er ließ sie einfach gewähren. Es war ja nicht so, als wäre eine Amazone nicht in der Lage, auf sich aufzupassen.

In den letzten Tagen und Nächten hatte er herausgefunden, dass Sorc seine Aktivitäten auf die Nacht verlegte, seit er Eria aus dem Weg ging. Seine Schülerin hatte sich nicht mehr über den Chaosmagier beklagt und schien ihn auch ganz vergessen zu haben. Aber sie war im Moment sowieso unterwegs, also war die Ruhe vielleicht etwas trügerisch.

Sorc hatte sich bisher als ziemlich nützlich erwiesen. Als ehemaliger Dunkler Herrscher über ein kleines, aufsteigendes Reich hatte er noch viele Kontakte, und zwar nicht nur zu menschlichen Wesen. Insgesamt sechs Drachen waren bisher seinem Ruf gefolgt und hatten sich in der Umgebung des Schlosses häuslich niedergelassen, um den Schülern und Bewohnern zur Verfügung zu stehen. Sie entstammten seiner früheren Gefolgschaft, waren aber eher harmlos im Vergleich zu Schattensturm oder Silberschwinge. Der Chaosmagier hatte angedeutet, dass er noch größere herbeirufen konnte, doch die kleineren reichten völlig aus für die Bedürfnisse einer Schule. Davon abgesehen hatte Kuro zu bedenken gegeben, dass es gefährlich war, die Schuldrachen unter Sorcs Kontrolle zu belassen. An dieser Stelle war Cross zu Hilfe gekommen, der sich mit Drachen auskannte und wusste, wie man ihre Loyalität auf eine andere Person übertragen konnte.

Nun war Crimson also der Herr von sechs Drachen, die ihn manchmal telepathisch davon in Kenntnis setzten, dass sie vom Jagen zurück waren oder dergleichen. Der kleine Blauäugige Weiße war noch nicht ausgewachsen und fühlte sich besser, wenn er ständig darüber Bescheid gab, wo er war und warum und wie lange es dauern würde. Die Kinder hatten ihm den Namen Lichtblitz gegeben, was Crimson ganz recht war. Er hörte jetzt also öfters mal unmenschliche Stimmen, die er dann auch noch verstand, obwohl sie nicht immer mit Worten sprachen.

Blacky leistete seinem Vater manchmal nachts Gesellschaft, aber da er am Tag von seinen Freunden in Beschlag genommen wurde und Dark nicht ständig auf ihn verzichten wollte, hielten sich die gemeinsamen Zeiten in Grenzen. Was vielleicht gut so war, denn wenn Blacky anwesend war, schaffte Sorc kaum seine Arbeit. Wobei Crimson noch immer nicht so recht wusste, was der Mann eigentlich tat außer die Wände zu bemalen. Cathy war skeptisch, aber der Schlossherr war viel zu neugierig, als dass er den Vorgang unterbrochen hätte. Er wollte unbedingt wissen, was dabei herauskam. Und im Prinzip gab es auch keinen Grund, den Magier an der Tätigkeit zu hindern, denn dabei schien kein Schaden zu entstehen und er vernachlässigte auch keine anderen Aufgaben... schließlich hatte er nicht wirklich welche, außer sich generell um die Sicherheit zu kümmern.

Ab und zu, wenn Blacky nichts weiter zu tun hatte, legte er sich tagsüber schlafen, um seinen Schlafmangel auszugleichen, der durch seine nächtlichen Aufenthalte bei Sorc entstand. Chaosmagier der er war, bekam er das alles gut hin. Er konnte sogar die Zubereitung des Frühstücks übernehmen, ohne eine Katastrophe auszulösen – eine Kunst, die er, wie er stolz betonte, von Yugis Großvater gelernt hatte. Dabei leistete ihm Sorc für gewöhnlich Gesellschaft, bevor er sich für den Tag in sein Zimmer zurückzog. Für ihn war das Frühstück dann quasi das Abendessen, was vielleicht nicht die schlechteste Lösung für ihn war, denn so kannte er es ja wahrscheinlich noch von Lord Genesis. Crimson hatte es aufgegeben, sich Sorgen um seine Küche zu machen, denn das Ergebnis war akzeptabel, manchmal sogar lecker, und der größte Teil der Einrichtung blieb heile. Darüber hinaus war die Anordnung des Inventars jedes Mal neu, wenn das Chaos sie verließ, was zu unterhaltsamen Suchaktionen des jeweils nachfolgenden Benutzers beitrug.

Während Dark kaum Energie an das Schlossherz spenden konnte, war Blacky ähnlich freigiebig wie sein Vater. Cathy mochte es, ihn zu Besuch zu haben, und ermunterte Crimson, den Chaosmagier möglichst lange zu behalten – so konnte der magische Energiespeicher ein wenig schneller gefüllt werden, was besonders wichtig war, während die Hälfte aller Schlossbewohner auf Missionen unterwegs war.

Appi wollte am liebsten auch für Crimson auf Missionen gehen, aber er war letztendlich auch ganz gut damit beschäftigt, mit Yugi und Yami Spaß zu haben. Daran beteiligten sich auch Blacky und Dark, denn irgendetwas mussten sie ja tun. Wenn Crimson nachsah, wo sie steckten, waren sie meistens im Meer schwimmen, im Garten und halfen Kuro, bei Cross und halfen mit dem Training der Drachen, oder bei Lily und gingen ihr mit verschiedenen Dingen zur Hand. Beispielsweise war Dark gut genug in Alchemie, um ihr die regulären Heiltränke herzustellen. Yami, Yugi und Appi gingen dann immer mit den verbliebenen Schülern – Rosi und Saambell – nach draußen und suchten die Zutaten, wobei Rosi sich wie ein Profi vorkam. Legend, Veiler, Dharc und Milla waren bereits auf neuen Missionen.

Lily hatte nicht gerade viele Patienten im Moment, aber sie war trotzdem dankbar für die Hilfe. Es gab Dinge, die sie jeden Tag tun musste, etwa den Bestand an Medizin und anderem Material überprüfen und auffüllen, kleinere Wehwehchen der Schlossbewohner behandeln, Kuro im Garten besuchen und den Kräuteranbau mit ihm abklären. Ab und zu bekam das Schloss auch Besuch aus einem der Dörfer in der Nähe, von wo die Nahrungsmittel geliefert wurden. Crimson hatte sich dazu verpflichtet, den Einwohnern mit Zaubertränken zu helfen oder einen Magier zu schicken, wenn ein Problem nicht anders zu lösen war. Seine Leistungen beschränkten sich aber größtenteils auf Mittel gegen Ungeziefer für die Vieherden.

Olvin hielt sich in letzter Zeit oft bei Lily auf. Die Fee war begeistert von seinem Erfahrungsschatz. Obwohl die meisten Heiler, die etwas auf sich hielten, entweder zusätzlich Necromantie studierten oder dieses Fachgebiet strikt ablehnten, war sie sehr offen für seine gelegentlichen Abschweifungen zu dieser dunkleren Seite der Heilkunst. Crimson vermutete, dass sie froh war, endlich jemanden zum Fachsimpeln zu haben, jemanden, der es verstand, wenn sie eine bestimmte Medizin verordnete oder den Patienten zu mehr Bewegung drängte. Auf der anderen Seite konnte Olvin ihre Hilfe für sich selbst gut gebrauchen. Er verbrauchte weniger von seiner eigenen Energie, wenn er auf ihre Hilfe zur Behandlung seiner körperlichen Leiden zurückgriff.

Der alte Necromant hatte jetzt weitgehend seine Ruhe, aber die letzten Aktionen im Schloss hatten ihm viel abverlangt, zum Beispiel seine Tricks, um unbemerkt zu bleiben, und nicht zu vergessen die Vision, die er für Crimson kreiert hatte. Deswegen hatte er sich letztendlich wohl auch aus seinem Versteck gewagt – viel länger hätte er nicht durchgehalten. Im Moment war es noch zu früh, um zu beurteilen, ob es ihm körperlich besser ging, seit er sich nicht mehr im Schloss verbergen musste. Crimson überprüfte jeden Tag mit Hilfe von Cathy, wie es um den Mann bestellt war, und erwischte sich dann immer bei widersprüchlichen Gedankengängen: Wenn Olvin starb, musste er sich keine Sorgen mehr wegen des Tranks machen. Zugleich fühlte er sich für ihn verantwortlich wie für einen Großvater. Außerdem wäre es aus alchemistischer Sicht tragisch gewesen, das Projekt nicht zu beenden. Möglicherweise war dies der Hauptgrund, warum Crimson stets entschied, dass er sich Olvins Überleben wünschte, auch wenn das gefährlicher für ihn war.
 

Crimson schreckte aus einem leichten Schlummer hoch, als Cathy ihm meldete, dass es Zeit zum Hinzufügen der nächsten Zutat war. „Dark hat Essen vor die Tür gestellt, Meister. Es ist Gemüseeintopf nach einem Rezept von Kuro, ich fürchte nur, der Wärmezauber hat innerhalb der letzten halben Stunde etwas nachgelassen.“

Das war für Crimson schon in Ordnung. Er kümmerte sich erst um den Trank und holte dann das Tablett herein, um es sich auf den Schoß zu stellen, während er im Sessel saß und aß. Auf seiner Arbeitsfläche vermied er Nahrungsmittel, die zu Spritzern neigten. Die Suppe war ganz gut. Er achtete im Moment nicht sonderlich darauf, was er aß, wusste aber, dass seine Leute es taten. Sie gestalteten das Essen ausgewogen und reichlich und sorgten dafür, dass Cathy ihn daran erinnerte, es herein zu holen und zu verzehren. Das Schlossherz wiederum sagte den Essensboten, ob er schlief oder gerade konzentriert arbeitete, so dass er in solchen Fällen nicht gestört wurde. Nur wenn er wirklich genug Zeit zwischen den Arbeitsschritten hatte, ging er zum Essen nach unten oder zum Schlafen in sein Zimmer. Er versuchte, sich zumindest einmal am Tag zu zeigen, damit alle wussten, dass es ihm gut ging. Schließlich wollte er nicht, dass Lily auf komische Gedanken kam. Sie missbilligte ohnehin, dass er manchmal Schlaftränke und Muntermacher benutzte.

„Könnt Ihr heute am Abendessen teilnehmen?“ erkundigte das Schlossherz sich.

Crimson hatte gar nicht bewusst bemerkt, dass Cathy noch da war. Der Geist hatte die Pläne des Trankes gespeichert, seit er den Ablauf einmal mit ihm besprochen hatte. Das war ein Vorteil, wenn man ein Schlossherz hatte. Cathy wusste folglich, ob sein Plan es ihm erlaubte, irgendwo anders zu sein als im Alchemieturm, aber Crimson musste selbst abschätzen, ob er ausgeschlafen genug war.

„Ich denke schon,“ antwortete er. „Vorher kann ich doch sicher noch zwei oder drei Stunden Schlaf nachholen.“

„Dann gebe ich unten Bescheid,“ sagte Cathy und dematerialisierte sich.

Crimson stellte das Essenstablett vor die Tür und nahm wieder seinen Sessel in Beschlag. Er nickte ein bisschen ein und hatte das Gefühl, dass kaum Zeit vergangen war, als er wieder geweckt wurde.

„Meister, Besuch ist im Anflug.“ Cathy, der sich nur als Stimme in seinem Kopf meldete, projezierte ein visuelles Bild in eben jenen.

Ein eher kleiner Drache näherte sich in bequemem Tempo. Es dauerte einen Moment, ehe Cathy das Bild so zeigen konnte, dass Crimson die Reiterin erkannte. „Oh... ich gehe wohl besser mal runter.“ Er zupfte seine etwas zerknitterte und müffelnde Robe zurecht und jagte einen Reinigungszauber über sich selbst. Zu mehr hatte er keine Zeit, denn dazu wäre der Weg einfach zu lang gewesen, aber so ging es ja auch.

Gespannt machte er sich auf den Weg zum Haupttor. Er schaffte es, unten zu sein, als der Drache gerade vor dem Tor landete und die Reiterin von seinem Rücken sprang. Sie trug die auffällige weiße Kleidung, die er von ihr kannte.

„Silentia, wie schön, dich endlich zu sehen! Ich dachte schon, du kommst gar nicht!“ Er ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

Auch sie breitete die Arme aus, doch anstatt ihn zu umarmen, verpasste sie ihm links und rechts eine schallende Ohrfeige.

Crimson senkte die Arme. Er ließ den Kopf noch für einige Sekunden in der zur Seite blickenden Stellung, die ihm der letzte Angriff eingebracht hatte, dann erholte er sich allmählich von dem Schock. „Was soll...“

„Das ist dafür, dass ich mir in den letzten Tagen nichts als Müll von meinem Schulrat anhören durfte!“ schrie seine ehemalige Mitschülerin ihn an. „Diese hirnlosen Idioten, egiostischen Polit-Trampel, elenden Feiglinge! Lass uns in dein Büro gehen, da kann ich dir alles genauer erklären.“

Crimson war ziemlich verwirrt, er hatte geglaubt, sie wäre wütend auf *ihn*. Was hatte denn der Schulrat damit zu tun? Nun... vermutlich musste sie den Schulrat hinzuziehen, wenn es um etwas ging, das einen früheren Angestellten betraf.

Im Büro nahm Silentia auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz, daher setzte sich Crimson ihr gegenüber. „Was sind das da drüben für kitschige grüne Sessel?“ fragte sie ihn.

„Die waren im Starterpack enthalten,“ sagte er schulterzuckend.

„Na fein, wie auch immer,“ grummelte Silentia. „Ich habe deinen Brief erhalten und freute mich eigentlich, dass du mal zu deinen Schandtaten stehst. Zugegeben, ich habe damals auch frohlockt, als Professor Vindictus weg war, aber... nun ja. Ich hab der Schulleitung einen anonymen Tipp gegeben, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich war wohl schon immer zu anständig für diese Welt.“

„Ah... du warst das...“

„Ist ja auch egal, es hat ja nichts an den Tatsachen geändert. Und wie es scheint, will auch niemand, dass sich daran jetzt noch etwas ändert. Diese Säcke vom Schulrat haben beschlossen, dass nichts unternommen wird! Ich habe Tage gebraucht, bis mal alle Zeit für eine Versammlung hatten, und dann haben wir ewig diskutiert! Sie wollen den guten Ruf der Schule nicht besudeln, denn wie sieht denn das aus, wenn diese Sache jetzt, zehn Jahre später, aufgeklärt wird?“ Silentia äffte den langsamen, greisigen Tonfall eines der Mitglieder nach: „Das würde den Anschein erwecken, als wären wir damals nicht in der Lage gewesen, diese Sache aufzuklären!“

„Aber es wurde doch schon damals aufgeklärt,“ wandte Crimson ein. „So mehr oder weniger.“

Sie nickte. „Schon. Es wurde dir angelastet, aber allgemein hieß es ja, du hättest etwas missverstanden und deshalb diese Anschuldigungen gegen Professor Vindictus vorgebracht.“

Crimson senkte beschämt den Blick. „Es hat alles besser geklappt, als ich es mir erhofft hatte. Aber... wenn ich das richtig verstehe, wird die Sache jetzt unter den Tisch gekehrt?“

Silentia warf in einer frustrierten Geste die Hände hoch. „Ganz genau. Kein Aufsehen, keine Komplikationen. Sie haben angedeutet, dass sie mich ersetzen würden, wenn ich ein Problem mit der Schulpolitik hätte. Pah! Als ob das so leicht wäre! Eigentlich hätte ich aufstehen und gehen sollen, aber das kann ich den Schülern nicht antun. Sonst wird nämlich der alte Tränensack Rektor! Ich vermute, er fühlte sich übergangen, als ich ernannt wurde.“

„Tränensack? Ach du Scheiße,“ kicherte Crimson. Er konnte sich kaum erinnern, wie der alte Lehrer wirklich hieß, er und seine Bande hatten ihn schon immer so genannt. „Das lohnt sich doch kaum, der ist doch schon fast um richtigen Alter für den Ruhestand!“

„Das ist er seit zwanzig Jahren, wenn du mich fragst,“ erwiderte die Magierin trocken.

„Es ist wichtig, dass die Wahrheit bekannt wird,“ erläuterte Crimson ihr. „Ich habe es Olvin versprochen. So nennt sich Vindictus jetzt. Olvin. Er... wohnt zur Zeit hier. Es geht ihm nicht besonders gut, weil er in letzter Zeit zu viel Necromantie angewendet hat, und das in seinem Alter... Wir haben uns damals keine Vorstellung gemacht, was so ein Streich einem Menschen antun kann.“

„Du vielleicht nicht. Aber ich muss zugeben, besonders schlimm habe ich es mir auch nicht vorgestellt. Ich dachte, er findet vielleicht keinen Job mehr, aber er ist eh alt genug, sich zur Ruhe zu setzen.“

„Er hatte keinen Ort zum Leben, weil seine Familie ihn nicht aufgenommen hat...“ Crimson erzählte seiner Besucherin alles, was er von Olvin selbst erfahren hatte, darüber, wie traurig sein Leben verlaufen war. „Und letztendlich habe ich dann noch dazu beigetragen, dass er seine letzte Arbeitsstelle verloren hat,“ beendete er seinen Vortrag. „Auch wenn man bei einem Eroberer damit rechnen muss, dass er besiegt wird, aber für Olvin war es... ein Job. Der einzige, den er bekam.“

Silentia seufzte. „Ich dachte, es wäre vielleicht in deinem Sinne, wie der Schulrat entschieden hat, auch wenn mich der ganze Vorgang fürchterlich genervt hat.“

„Normalerweise wäre es das auch, aber wie die Dinge liegen, muss ich die Wahrheit irgendwie verbreiten.“ Crimson rieb sich grübelnd die Stirn.

Sie griff in ihre Jackentasche. „Hier, ich habe den Brief mitgebracht, den du mir geschickt hast. So musst du nicht den ganzen Text neu formulieren. Ich dachte, du könntest das vielleicht kopieren und ans schwarze Brett hängen oder so.“

Crimson runzelte die Stirn und dachte darüber nach. „Hm... ich werde eine Abschrift anfertigen, aber ich glaube... hm. Wenn du willst, dass eine Nachricht sich verbreitet, dann geht es am besten, wenn es so aussieht, als wäre sie geheim.“ Er war überrascht, wie leicht er wieder zu dem Schabernack treibenden Jungen von früher mutierte. „Warte, warte... mir kommt da gerade eine Idee...“

Seine Besucherin lehnte sich abwartend zurück. „Du hast diesen Gesichtsausdruck wie früher, wenn du was ausgeheckt hast...“

„Das hoffe ich stark.“

Indessen kam Yugi herein und brachte ein Tablett mit Bechern und einer Kanne Saft. Crimson beobachtete, dass er Silentia neugierig ansah, noch immer sehr leicht begeisterungsfähig, wenn er jemanden von einer Spielkarte erkannte. Sie hingegen hielt ihn wohl für einen beliebigen Schüler seiner Schule, denn sie beachtete ihn nicht weiter, bedankte sich lediglich, als er den beiden etwas einschenkte. Yugi verzog sich wieder, und der Schlossherr war erneut fasziniert davon, wie gut alles klappte, ohne dass er etwas tat. Er hätte nicht daran gedacht, Getränke anzubieten.

„So, ich habe einen Plan,“ konnte er schließlich verkünden. „Hör zu...“

Crimson und Silentia feilten eine gute Stunde an dem Plan, allerdings drifteten sie ständig zu anderen Themen ab, sonst wären sie viel schneller fertig gewesen, schließlich war die Idee nicht allzu kompliziert. Aber es machte Spaß, die Möglichkeiten immer wieder zu besprechen. Es war ganz wie früher. Sie brachte ihm einen kleinen Zauber bei, mit dem er Dokumente vervielfältigen konnte, ohne sie per Hand abzuschreiben, er musste nur ein leeres Blatt darunter legen. So vervielfältigten sie dann auch den Brief. Superpraktisch für Lehrer.

„Sag mal... weißt du etwas darüber, dass Einblum angefangen hat zu blühen?“ fragte sie dann.

„Tut er das nicht immer, wenn er Lavanüsse frisst?“ reagierte Crimson sogleich. „Oder vielleicht ist es einfach die Zeit.“

„Nein, es ist nicht die Zeit und er hatte auch keine Lavanüsse... soweit ich weiß.“ Die Frau sah ihn mit streng verengten Augen an.

Crimson hatte den Eindruck, dass sie ihm eine letzte Chance gab, mit der Wahrheit herauszurücken. Es kostete seine ganze Willenskraft, einen Blick zur Seite zu vermeiden. Er hatte nicht darauf geachtet, ob die Pinnwand mit den Zetteln abgedeckt worden war.

„Du schweigst, also bist du schuldig,“ stellte sie fest.

„Hey! Das willst du nach so einem winzigen Moment beurteilen können?“ protestierte er.

„Crimson, du hättest doch einfach fragen können, wenn du etwas von Einblum brauchst.“

„Angenommen, es gäbe da etwas. Dann wäre es möglicherweise etwas, wovon du besser nichts weißt, in deiner Position als Rektorin der Akademie.“

Sie hob skeptisch die Augenbrauen. „Verstehe... nun, wahrscheinlich habe ich mich geirrt und es... ist doch möglich, dass irgendwo noch Lavanüsse herumlagen.“

Crimson nickte bedächtig und bemühte sich, sachlich auszusehen. „Bestimmt.“

„Na fein... erzähl mir was über deine Schüler. Du hast ja noch nicht viele, oder?“ lenkte sie das Gespräch wieder in ungefährlichere Bahnen.

Darüber gab der Schlossherr bereitwillig Auskunft und hoffte nur, dass Silentia die Schüler nicht alle kennen lernen wollte, aber sie verlangte nichts dergleichen.

Natürlich kam er nicht dazu, noch etwas zu schlafen, aber dafür war der Besuch der alten Schulfreundin sehr erfrischend. Sie blieb nicht zum Abendessen, sondern reiste vorher wieder ab, denn sie wollte Olvin nicht begegnen.

„Wie soll ich mich ihm gegenüber denn verhalten, ich kenne ihn doch nur als Vindictus und war damals mit dir befreundet...“ jammerte sie. „Da verschiebe ich das Treffen lieber auf einen späteren Zeitpunkt, wenn seine Ehre wieder hergestellt ist oder so...“

„Ich brauche noch ungefähr drei Wochen,“ deutete Crimson an. „Dann dürfte dem nichts mehr im Wege stehen.“

Ihm war etwas mulmig zumute, aber im Prinzip konnte er den Dingen an der Akademie jetzt ihren Lauf lassen, also kehrte er direkt nach dem Essen in seinen Turm zurück – allerdings machte er schnell noch einen Abstecher ins Bad im Keller und besorgte sich anschließend eine neue Robe. Dann war es Zeit, den Trank mit einigen gemahlenen Mineralien zu versorgen.

Crimson bereitete noch die nächsten Zutaten vor und ließ sich nach getaner Arbeit müde in seinen Sessel plumpsen. Morgen Mittag erwartete er Mava zurück. Am späten Nachmittag benötigte er das Schattenmoos, und er musste es vorher noch mit dem Saft von einer Handvoll Wurzeln des Blutdornenstrauches aufkochen. Das konnte knapp werden, denn er konnte nicht beginnen, bevor alle Zutaten bereitstanden. Wenn er die Wurzeln zu lange kochte, wurden sie unbrauchbar, deshalb konnte er nicht auf gut Glück damit anfangen.

Bisher hatte alles gut geklappt mit seinen Botenfliegern. Trotzdem schlief Crimson unruhig, so dass er auf eins von Lilys Schlafmittelchen zurückgriff. Nur wenig, denn in zwei Stunden musste er sich wieder um den Trank kümmern.

Als es soweit war und Cathy ihn weckte, bekam er mit, dass die Jungamazone – Atria – durch das Schloss streifte. Sein Schlossherz wollte ihn dies nur kurz wissen lassen, doch er verfolgte amüsiert, wie sie zwei oder dreimal beinahe Sorc über den Weg lief, während dieser an seinem geheimnisvollen Zauber weiterarbeitete. Er schien sie immer zu bemerken und konnte ihr ausweichen. Ob sie auf der Suche nach ihm war oder sich nur zufällig in der selben Gegend aufhielt, war nicht zu erkennen. Auf jeden Fall legte Sorc offenbar keinen Wert auf eine Begegnung. Logisch. Sie hätte seine Tochter sein können.

In der Zwischenzeit erledigte Crimson seine Arbeit und fragte sich, ob wohl Eria auch bald wieder eintreffen würde. Er machte sich ständig diese Sorgen, aber bisher immer unnötig. In der Nacht würde sie vermutlich nicht reisen. Er nahm seinen Sessel wieder in Betrieb, um dort die Zeit der Nacht zu verbringen, in der der Trank keine Zuwendung brauchte. Auch heute war nichts Gravierendes schiefgelaufen, und er fragte sich, ob er sich nur einbildete, dass das zu schön war, um wahr zu sein...

Eis

Eria traf im Laufe des Vormittags ein. Sie brachte Crimson die Sachen, die sie für ihn besorgt hatte, und erzählte ihm bei der Gelegenheit Neues aus dem Amazonendorf, während er die Zutaten sortierte.

„Die Shamanin war recht angetan von Scarlett und meint, dass sie wahrscheinlich eine gute Kriegerin wird,“ berichtete sie.

„Eine gute Kriegerin? Nur eine gute? Das klingt wie eine Drei in Heilkunde,“ grummelte Crimson. „Hat sie über dich etwas Ähnliches gesagt?“

„Du meinst, weil ich auch die Tochter eines Magiers bin?“ Das Mädchen dachte kurz darüber nach. „Nun... womöglich haben Magier einen schlechten Ruf im Stamm unserer Mütter, seit alle wissen, dass mein Vater mich geraubt hat. Aber ich werde hauptsächlich als Opfer betrachtet.“

„Ich dachte eigentlich, dass ich bei den Amazonen einen guten Ruf habe,“ warf Crimson ein.

„Ja, schon... schließlich bist du Amazias Sohn und nachweislich in der Lage, Schmerzen fast so gut zu überstehen wie eine Frau,“ kicherte Eria.

Der Weißhaarige verdrehte die Augen. Scarlett und eine gute Kriegerin! Pah! Seine Tochter konnte nichts anderes als herausragend werden, egal in welchem Beruf. Er runzelte die Stirn, als er die Kräuter, Wurzeln und übrigen Zutaten durchsah. Alles war in ausreichenden Mengen vorhanden, insofern war er ja beruhigt. Dennoch war er mit der Lieferung nicht ganz zufrieden.

„Dieses Harz ist relativ unrein. Eria, sei so gut und such die Stücke mit den wenigsten Einschlüssen heraus. In manchen sind sogar Insekten drin!“

Sie nickte und machte sich ans Werk. „Ich sortiere sie nach Qualität. Tut mir Leid, ich habe nicht darauf geachtet.“

„Normalerweise musst du ja auch die Sachen nicht kontrollieren, die du von deiner Schamanin kriegst. Vielleicht ist es bei ihr nicht so wichtig, reines Harz zu benutzen. Manche benutzen es nur zum Verräuchern, wegen des Duftes. Dafür genügt das minderwertige. Aber ich dachte immer, die Amazonen rufen damit Visionen hervor...“ Crimson musste zu seinem Ärger bei mehreren weiteren Zutaten Anteile aussortieren und befürchtete schon, zu wenig zu haben, aber er konnte immer genug zusammensuchen. „Sag mal, wie alt ist die Schamanin?“

Eria sah verwundert von ihrer Arbeit auf. „Hm... könnte meine Großmutter sein, wieso?“

„Ich hab mich gewundert, ob sie vielleicht nicht mehr so gut sieht.“

„Äh... doch, sie ist noch bei bester Gesundheit. All ihre Sinne scheinen bestens zu funktionieren. Bist du sauer, weil sie Scarlett nicht besser bewertet hat?“

„Ach was... ich hab nur den Eindruck, dass ich ihre Überbleibsel und alten Sachen erhalten habe. Dieses Kraut zum Beispiel ist schon fast überlagert. Will sie mich ärgern?“

„Tja, ich weiß nicht... Vielleicht wusste sie nicht, dass du unbedingt das beste brauchst.“

„Pah! Ich bin ja nur ein Mann,“ murmelte Crimson. Es hatte ja auch keinen Sinn, sich zu ärgern, denn die Zutaten waren noch brauchbar und er hatte keine Zeit, neue besorgen zu lassen.

Eria durfte ihm noch ein bisschen helfen und schien sich darüber zu freuen. Sie war gut gelaunt, erzählte stolz von ihrer Reise mit ihrem eigenen Amazonenvogel und fragte kein einziges Mal nach Sorc. Mit ihrer Hilfe wurde Crimson schneller mit seinen Vorbereitungen fertig und konnte deshalb mit den anderen anwesenden Schlossbewohnern Mittag essen.

Doch zu dem Zeitpunkt wurde er dann auch beunruhigt, denn Mava war noch nicht aufgetaucht. Seine Nervosität steigerte sich mit jeder vergehenden Minute. Das Schattenmoos war keine Zutat, die spontan woanders hergeholt werden konnte. Ganz zu schweigen davon, dass er es noch zur Verwendung vorbereiten musste. Der Zeitpunkt am Spätnachmittag, zu dem Mava spätestens hätte da sein sollen, verstrich. War ihm etwas zugestoßen? Wurde er vielleicht nur kurz aufgehalten, konnte er jeden Moment hier sein?

Letztendlich begab sich Crimson in den Alchemieturm und schälte die Blutdornwurzeln. Als er sie kleingehackt hatte und bereits das Kochwasser bereitstellte, war Mava noch immer nicht zurück. Konnte er es wagen, die Wurzeln schon ins Wasser zu werfen und aufzuwärmen?

Dann erfolgte die Entwarnung. Cathy meldete ihm, dass sich ein weißer Drache näherte, wahrscheinlich Silberschwinge. Crimson rannte nach unten, so schnell, dass er auf der Treppe fast stürzte. Freundlicherweise beeilte Mava sich und kam ihm entgegengelaufen, sobald er direkt vor dem Tor gelandet war.

„Entschuldige, dass es so knapp geworden ist,“ keuchte der Lichtmagier. „Hier, das Schattenmoos.“ Er reichte Crimson einen Stoffbeutel voll. Das Material war etwas fleckig geworden durch seinen Inhalt.

„Alles klar, Mava? Du siehst geschafft aus,“ hakte Crimson nach. Soviel Zeit musste sein.

Mava wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Ich hab mich nur sehr beeilt. Jetzt nehme ich ein Bad im Keller und lege mich ne Runde aufs Ohr. Kann Cathy mich zum Abendessen wecken?“

„Sicher doch. Hast du jetzt keinen Hunger?“

„Nein, das geht schon. Ich hab auf dem Flug noch etwas gegessen, das ich dabei hatte.“

„Alles klar, danke Mava.“

Mit dem Schattenmoos hetzte Crimson die Stufen hoch, heizte keuchend das Wasser auf und kochte das Zeug zusammen mit den Wurzeln, um den fertigen Brei dann in kleinen Portionen in den Trank zu kippen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sein Gebräu bereits den Ansatz eines scharfen Geruchs angenommen, der darauf hindeutete, dass er in Kürze nicht mehr zu gebrauchen war. Dennoch gab Crimson selbstverständlich nicht auf, denn schließlich war es egal, ob er den nächsten Schritt jetzt noch ausführte oder nicht, wenn der Trank dann unbrauchbar war. Dann konnte er wenigstens sagen, dass er es versucht hatte. Und zu seiner Erleichterung wurde doch noch wieder alles so, wie in dem Buch geschrieben stand, dass es sein sollte. Hoffentlich würde sich der kleine Schnitzer nicht am Ende als fatal erweisen.

Aufatmend sank er in seinen Sessel. Das war ja gerade nochmal gutgegangen. Er musste jetzt im weiteren Verlauf des Abends mehrmals umrühren, weshalb er nicht zum Abendessen ging, aber Cathy weckte Mava wie versprochen. Crimson musste dem Schlossherz so etwas gar nicht mehr extra sagen, damit es so geschah, wie er es wollte. Allerdings war Mava ziemlich müde und wollte sein Zimmer lieber nicht verlassen, daher organisierte Cathy, dass jemand auch ihm etwas brachte.

Kurze Zeit später klopfte es an Crimsons Tür. Es waren Saambell und Rosi, die ihm voller Stolz einige belegte Brote brachten.

„Wir waren auch schon bei Mava,“ verkündete Rosi. Ihr war anzusehen, dass sie sich nützlich vorkam und sich darüber freute. Dabei konnte sie kaum ein Tablett tragen, was vielleicht auch der Grund war, warum sie nur den Teller mit den Broten trug, Saambell dagegen eine große Kanne Saft und einen neuen Becher.

Er nahm ihnen alles ab und ließ sie kurz schauen, was er so trieb, aber sie gingen nicht weit in den Raum hinein, weil sie wussten, dass es zu gefährlich war. Außerdem roch es nicht besonders toll, wie beide offen zugaben. Nun ja, das ließ sich nicht abstreiten.

„Geht nicht so spät ins Bett, ihr wisst, dass ich das rausfinden würde,“ drohte Crimson ihnen scherzhaft, so dass sie bald darauf wieder kichernd verschwanden.

Um seine Drohung wahr zu machen, ließ Crimson Cathy nach den Mädchen sehen, bis sie schliefen – was rechtzeitig der Fall war, wie er fand. Auch Eria lag schon im Bett, sicherlich müde von ihrer Reise, genau wie Mava. Letzterer musste nach seiner langen Reise wirklich Schlafmangel gehabt haben, denn er war war seit seiner Ankunft in seinem Zimmer. Bestimmt ließ er sich beim Frühstück wieder sehen.

Ach ja, Schlafmangel... den hatte Crimson auch, deshalb machte er es sich gemütlich, um die Nacht einigermaßen sinnvoll zu nutzen, wenn er gerade nicht den Trank umrührte.
 

In den frühen Morgenstunden, noch vor Sonnenaufgang, schlief Crimson entspannt in seinem Sessel und begann zu träumen. In seinem Traum war er Sorc. Er befand sich im Keller, wo er sich nach der Arbeit der vergangenen Nacht ein heißes Bad gönnte. Um diese Zeit war dort selten jemand, und vor allem konnte er davon ausgehen, dass Eria nicht auftauchte, weil sie noch schlief. Normalerweise war es so.

Doch nun stand sie voll bekleidet vor ihm, wollte also anscheinend nicht baden. Nur zwei Meter Wasserbecken trennten ihn von ihr. Er lehnte in lässiger Pose am gegenüberliegenden Rand und sah ihr mit entspannter Mine entgegen. Allerdings war das nur äußerlich. Erias Aura leuchtete weißblau statt wasserblau und flackerte wie eine wilde Flamme. Außerdem war sie irgendwie... doppelt. Sorc war wachsam.

„Ich habe darauf gewartet, dich alleine zu erwischen,“ begann sie und schlenderte abschätzend am Beckenrand auf und ab. „Viel besser als jetzt wird die Gelegenheit wohl nicht... aber das reicht völlig. Ich wollte das eigentlich nicht selber machen, aber ich werde es schon hinkriegen...“

Sie hielt ihre Hand mit gespreizten Fingern vor sich. Das Wasser im Becken hob sich in die Luft und hüllte Sorc vollständig ein. Er konnte gerade noch nach Luft schnappen, bevor er keine mehr bekam. Durch das Wasser hindurch konnte er das Mädchen verschwommen im Licht der einzigen magischen Leuchtkugel im Raum erkennen. Wollte sie ihm zusehen, wie er in der Wasserkugel ertrank? Er machte einen Versuch, sich zu befreien, doch es reichte nicht, um ihren Zauber zu brechen. Das hätte es müssen – ihre Angriffskraft war viel niedriger als seine, jedenfalls unter normalen Umständen. Aber etwas stimmte nicht mit ihr.

Sorc hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Luft wurde ihm knapp. Er löste einen Schattenzauber aus, der Eria einhüllte und ihre Konzentration störte. Der Magier landete in einem Schwall Wasser unsanft auf den Bodenfliesen.

Indessen verlor der Schattenzauber seine Wirkung. Eria lächelte böse. „Hätte mich auch enttäuscht, wenn es so einfach gewesen wäre...“

Die Pfütze gefror rasend schnell, obwohl das Wasser zuvor heiß gewesen war. Sorc konnte noch seine Hände heben, so dass sie nicht mitsamt seinen Knien und Unterschenkeln am Boden festfroren. Das Eis kroch weiter seinen Körper hinauf und biss schmerzhaft in seine Haut. Es ging viel zu schnell und war viel zu mächtig für eine Schülerin, die mehr auf Defensivzauber spezialisiert war. Sie bekam von irgendwoher Hilfe. Doch sie trug keine sichtbaren Ausrüstungsgegenstände.

„Der große Hexer auf Knien vor mir!“ freute Eria sich. „Das habe ich ja kaum zu hoffen gewagt. Weißt du... meine eigene Mutter hat sich geweigert, mir zu helfen! Sie sagte, du wärst besiegt und deshalb sei es nicht mehr ihre Sache. Selbst Amazia wollte nicht, trotz all der Qualen, die Crimson erleiden musste! Amazonen nehmen keine Rache an Feinden, die besiegt und verurteilt wurden. Ganz im Gegenteil – sie meinten, dass du gutes Genmaterial wärst! Aber ich bin eine Magierin, und ich will, dass du angemessen bestraft wirst!“ In ihren Händen bildete sich aus Eis eine doppelseitige Axt, die sie wie eine Henkerin in den Händen wog.

„Ist die Sache nicht eine Nummer zu groß für dich?“ erkundigte Sorc sich. Er hatte kein Gefühl in den Beinen, aber das allein besorgte ihn noch nicht. „Wenn du weitermachst, werde ich dich womöglich verletzen.“

„Keine Sorge, dazu gebe dir keine Gelegenheit.“ Sie schwang die Axt und überwand dabei die kurze Entfernung zu ihm. Die Eisklinge sauste auf seinen Kopf zu, traf jedoch kurz vorher auf seinen Verteidigungszauber, der die Schneide nach links ablenkte, so dass sie auf den Boden krachte und zerbarst. Der Eiszauber war so stark, dass er dabei die Fliesen beschädigte.

Sorc schlug mit den flachen Händen vor sich auf den vereisten Boden. Bei der Bewegung splitterte überall von seinem Körper eine Eisschicht ab, die nach unten hin dicker wurde. Ausgehend von seinen Händen erschienen Risse in dem Eis, das seine Beine gefangen hielt, und schließlich splitterte auch dieses weg und taute rasch wieder. Es war eigentlich warm im Bad, denn die natürliche heiße Quelle, die hier genutzt wurde, füllte das Becken bereits wieder nach und ein Teil des Wassers war auch wieder zurück geflossen. Doch die Temperatur war inzwischen deutlich gesunken, wenn auch nicht bis zum Gefrierpunkt.

Sorc kam etwas steif auf die Beine. Er spürte sie kaum, nachdem sie minutenlang der Kälte ausgesetzt gewesen waren, doch sie taten ihren Dienst. Der Boden gefror bereits wieder. Er musste darauf achten, nicht zu lange irgendwo zu stehen.

Eria knurrte verärgert. Das Geräusch wollte so gar nicht zu ihr passen. „Ich werde dich töten! Du wirst mit deinen Intrigen hier nicht durchkommen!“ Eiszapfen bildeten sich in der Luft und richteten ihre Spitzen auf ihn. Immer mehr erschuf das Mädchen.

Crimson machte sich Sorgen – Eria konnte das doch noch gar nicht! Ihr Vater vielleicht, aber...

Er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn sein Traumselbst Sorc hechtete zur Seite und gab sich alle Mühe, den pfeilgleichen Eisgeschossen auszuweichen, die nun auf ihn zurasten. Seine Flucht wurde von einer Wand gebremst. Mittlerweile hatte er aber auch einen Abwehrzauber parat, den er mit einer ausholenden Bewegung seiner Linken in ihre Richtung schleuderte.

„Aaau!“ Eria wurde umgestoßen, erlitt aber keine Verletzungen. Dafür wurde neben ihr der Bodenbelag aufgerissen, und Fliesenscherben flogen nach hinten weg. „Verfehlt!“ spottete sie. „Du bist schwächer, als ich dachte. Oder bist du es nur nicht gewohnt, dich verteidigen zu müssen?“

Erias Stimme klang nicht normal. Es war ihre, doch sie sprach mit einer Macht, die sie nicht besaß. Schon stand sie wieder und entfachte einen Schneesturm mitten in dem Raum mit der heißen Quelle. Ihre Aura bildete feine Fäden, die bis an die Decke reichten, und auch zu ihren Füßen befand sich ein Gebilde wie ein Wurzelgeflecht. Sie bekam von dort anscheinend Energie.

Die Sicht wurde ziemlich schlecht wegen der umherwirbelnden Flocken. Die Lichtkugel war erloschen, aber als Finsternismagier hatte Sorc damit kein Problem. Es war nur seltsam, dass es dem Mädchen ebenfalls nichts auszumachen schien. Sie erschuf neue Eiszapfenpfeile. Der Chaoshexer beobachtete gefasst, wie sich die Spitzen auf ihn richteten, um seinen Körper zu durchsieben.

„Direktor... ist dies dein Wunsch?“

Crimson war überrascht, als Sorc ihn ansprach. Es war doch nur ein Traum! Dann entstand einer dieser Momente, wo die Zeit langsamer zu laufen schien und zwei Personen ein minutenlanges Gespräch führen konnten, während sich eine tödliche Gefahr anbahnte, die in wenigen Sekunden zuschlagen würde.

„Willst du, dass ich durch die Hand deiner Schülerin sterbe?“ konkretisierte Sorc seine Frage.

Mit Entsetzen erkannte Crimson, dass der Mann seine nächsten Schritte völlig von seiner Antwort anhängig machte. Jetzt und hier konnte er ihn für immer loswerden, wenn er sich dafür entschied. Niemand würde ihn dafür zur Rechenschaft ziehen, wenn ein Klient des Rehabilitationsprogramms Stufe drei bei ihm umkam. Unfälle waren quasi mit einkalkuliert.

Der Gedanke gefiel ihm. Es war so einfach. Sie konnten behaupten, dass Sorc Eria zuerst angegriffen hatte, oder dass sie sich schlicht und einfach von ihm bedroht gefühlt hatte, als sie baden wollte. Wahrscheinlich war diese Rechtfertigung nicht einmal nötig. Der Zirkel des Bösen würde es einfach verständnisvoll hinnehmen.

Für Crimson gab es dennoch nur eine Antwort. Ganz ohne jeden Zweifel. „Nein.“

Sorc hatte ihn genau verstanden.

Die Eiszapfen rasten auf ihn zu. Der Blauhäutige wehrte sie mit einem Ausbruch von Chaosmagie ab, der es mit dem Schneesturm aufnehmen konnte. Beide Zauber prallten aufeinander und entluden sich explosionsartig. Sorc duckte sich, um der Hauptwucht zu entgehen, doch Eria wurde nach hinten geschleudert. Eine Staubwolke versperrte die Sicht auf sie.

„Ist sie in Ordnung? Eria!“ schrie Crimson aufgebracht. Er wollte nach ihr sehen, aber Sorc rührte sich zu seinem Ärger nicht vom Fleck. „Worauf wartest du?“

„Nähere dich nie zu früh einem gefallenen Gegner,“ murmelte Sorc. „Spürst du das nicht?“

Doch... da war irgendetwas. Schon faszinierend, worauf Sorc alles achtete... Crimson hatte das vor Sorge kaum bemerkt. Eria war noch nicht besiegt. Das war erstaunlich... benutzte sie ein Artefakt, was nicht zu sehen war, oder vielleicht einen Trank, der ihre Kräfte vergrößerte?

Der Staub senkte sich, und Eria erhob sich aus den Trümmern. Ihr Körper strahlte erneut die weißblaue Aura aus. Sie war einen Moment lang nicht zu sehen gewesen, vielleicht hatte sie abgewartet, ob ihr Gegner unvorsichtig wurde. Die Energie erfüllte sie jetzt so sehr, dass ihr Körper knapp über dem Boden schwebte wie in einer Flamme. Ihre Augen leuchteten hellrosa und das Haar wirbelte wild herum. Manchmal sah es kurz aus wie eine Rosenblüte.

„Es ist das Schlossherz,“ sagte Sorc. „Das Schlossherz unterstützt sie. Crimson, du musst aufwachen!“

„Was? Warum? Ich kann jetzt nicht hier weg...!“

Erneut ließ Eria Eiszapfen entstehen, die um sie herum und vor ihr in der Luft schwebten. Die Zimmertemperatur fiel unter den Gefrierpunkt, so dass der Atem vor Sorcs Gesicht in kleinen Wölkchen kondensierte.

„Du weißt, dass du geliefert bist... nicht wahr?“ erklang Erias vor überschäumender magischer Kraft verfälschte Stimme. Sie lächelte gehässig. Die Eiszapfen setzten sich in Bewegung. Noch während die ersten auf Sorc zu flogen, entstanden neue.

Sorc entschied sich für einen Defensivzauber, denn ein Gegenangriff konnte niemals alle abwehren, ohne Personenschaden anzurichten. Die Eiszapfen krachten einen Meter vor ihm gegen einen schwarz flackernden Schutzschild. Sorc musste die Hände ausstrecken und sich dagegen stemmen, so heftig war der Aufprall. Eines der kleineren Geschosse kam durch und flog so dicht an seinem Gesicht vorbei, dass seine Haare aufgewirbelt wurden. Ein weiteres verfehlte kurz darauf nur knapp seine intimsten Teile. Splitter von denen, die an seinem Schild zerbarsten, flogen ihm um die Ohren.

„Wach auf, Crimson! Eria wird das nicht ewig durchhalten! Und ich... auch nicht...“

Es gab einen Ruck an seiner rechten Schulter. Sorc hatte nicht die Muße, sich darauf zu konzentrieren, denn er musste den Schild aufrecht halten. Der eine Arm machte nicht mehr mit. Sein Magieschild flackerte. „Crimson...!“ Er stürzte beinahe, als seine Hüfte gestreift wurde. Ein paar der Eiszapfen waren besonders klein, gerade so groß wie ein Finger. Sie drangen leichter zu ihm durch, verursachten aber keine schlimmen Verletzungen.

Eria stieß einen zornigen Kampfschrei aus. Im ganzen Raum erhoben sich Eissplitter vom Boden. Die helle Aura, die das Mädchen eingehüllt hatte, glühte jetzt auch an den Wänden. Ein Wirbel von kalten Scherben erhob sich wie ein rächender Geist und raste auf den Hexer zu.

Crimson fuhr aus dem Schlaf hoch, als hätte ihn jemand getreten. Eine halbe Sekunde lang war er verwirrt, verband sich dann aber eiligst mit seinem Schlossherz und erblickte die Kellerszene aus einem anderen Blickwinkel. Alles wirkte außerdem viel dunkler, denn er sah die magischen Auren nicht auf die gleiche Weise wie Sorc. „Cathy, hör auf!“

Die letzten Eiszapfen zerschellten an Sorcs geschwächtem Schild, einige stürzten ab, ehe sie dort ankamen. Der Scherbenwirbel verlor seine Kraft und blies nur die harmlosesten Splitter noch ein Stück weiter. Eria fiel zu Boden wie ein nasser Sack und blieb bewegungslos liegen. Auf einmal lag eine geradezu gespenstische Stille über dem Raum.

„Das hat... fast zu lange gedauert,“ kommentierte Sorc, seinen Schild endgültig aufgebend. Er sah an sich herab und entdeckte anscheinend erst jetzt so wirklich, dass ein Eiszapfen von der Dicke eines Besenstiels in seiner Schulter steckte und auf beiden Seiten gut zwanzig Zentimeter herausragte. Aus einer Wunde an der Hüfte lief Blut an seinem Bein herunter. Generell sah er zerschrammt und mitgenommen aus. Er wankte aufstöhnend, blieb aber auf den Füßen.

Crimson war nur im Geiste hier, deshalb konnte er Eria nicht helfen, lediglich feststellen, dass sie noch am Leben, aber völlig ausgelaugt war. Sie hatte ein paar Kratzer und Platzwunden davongetragen, aber es war nicht schlimm, soweit er das beurteilen konnte.

Dann wurde ihm bewusst, dass jemand gegen die Tür hämmerte, so als versuchte derjenige das schon länger. Es wäre auch sehr verwunderlich gewesen, wenn die Ereignisse unbemerkt geblieben wären.

„Cathy, öffne die Tür,“ befahl Crimson tonlos.

Sein Schlossherz gehorchte, ohne eine Konversation zu wagen. Ob Cathy ein schlechtes Gewissen hatte oder was auch immer, war nicht ersichtlich, aber zumindest flog Sekunden später die Tür auf, und herein stürmten Kuro, Cross, Dark und Blacky, alle in eilig übergestreiften Hosen – abgesehen von Kuro, der sein grauschwarzes Gewand verkehrt herum und ohne Kordel trug.

Crimson sah, wie Sorc ein neutrales Gesicht aufsetzte, so dass man ihm kaum noch ansah, dass er Schmerzen hatte und erschöpft war. Er zeigte so wenig Schwäche wie möglich, als Kuro drohend seinen Zauberstab auf ihn richtete. „Ganz ruhig, mein Lieber... eine falsche Bewegung, und du bist Geschichte.“

Sorc hob den linken Arm zum Zeichen, dass er keinen Ärger machte, aber der rechte blieb schlaff hängen. Das Eis schmolz, und der Eiszapfen in seiner Schulter verging – zwei Reststücke von ihm fielen zu Boden. Die Wunde, nun nicht mehr verschlossen, blutete stärker.

„Vater, der Mann muss auf die Krankenstation,“ bemerkte Dark. „Wir sollten eine Trage holen und...“

„Nein... es geht schon,“ widersprach Sorc. „Ich kann alleine laufen. Kümmert euch lieber um das Mädchen...“

Sofort hatte er das obere Ende des hölzernen Stabes direkt unter dem Kinn. „Das sagst ausgerechnet du? Du bist doch an ihrem Zustand schuld! Wohl zudringlich geworden, was? Dachtest, mit einer kleinen Amazone kann man es ja machen, was?“

Der Chaoshexer widersprach nicht. Ihm fehlte vermutlich die Kraft, und außerdem war nicht schwer zu erraten, dass Kuro im Moment ohnehin keinen Argumenten zugänglich war. Crimson, der bezeugen konnte, wie es wirklich war, konnte im Moment nicht eingreifen. Er war nur als Zuschauer anwesend und wagte es nicht, Cathy zu schicken.

„Das reicht jetzt.“ Blacky mischte sich in die Szene ein, während Dark sich zurückzog, um Cross mit Eria zu helfen. Der jüngere Chaosmagier schob entschieden den wie eine Waffe verwendeten Zauberstab aus dem Gesicht seines Vaters. „Hier liegt zweifellos ein Missverständnis vor. Wir sollten nicht vorschnell urteilen.“

„Könnten wir aber,“ zischte Kuro verächtlich. „Sie wäre nicht die Erste, die er fast umgebracht hat!“ Er wich einen Schritt zurück, ließ aber Sorc nicht aus den Augen.

Blacky warf ihm eine warnenden Blick zu und besorgte einen Bademantel, den er erst einmal magisch von Schmutz und Nässe befreien musste. „Du solltest diese Verletzungen behandeln lassen, bevor du irgendwo hingehst.“

Sorc ließ sich von seinem Sohn in den Bademantel helfen, denn sein rechter Arm verweigerte die Mitarbeit. „Das Stück zur Krankenstation werde ich schon schaffen.“ Er wartete, bis Blacky das Band verknotet hatte, und setzte sich dann in Bewegung...

Offene Worte

Crimson erwartete die Gruppe auf der Krankenstation, wo er Lily und Olvin bereits darüber unterrichtet hatte, was auf sie zukam. Lily war drauf und dran, ihn an einen Stuhl zu fesseln, weil er herumlief wie ein aufgescheuchtes Niwatori, bis endlich Dark mit Eria hereinkam und sie auf das Bett legte, das die Fee für das Mädchen vorbereitet hatte.

„Lass die Heiler ihre Arbeit machen,“ hielt Dark seinen Cousin zurück, als dieser schon fast dabei war, sie selber zu untersuchen. „Du bist ohnehin viel zu aufgeregt.“

„Das wärst du auch, wenn dein Schlossherz dich hintergangen hätte.“

„Oh... nun, ich hab im Moment das Problem, dass Draconiel kaum noch mit mir redet. Möglicherweise wird er besänftigt, wenn die Burg wieder steht.“

„Draconiel?“ Crimson war ganz Ohr, denn noch nie zuvor hatte der andere Magier über sein Schlossherz geplaudert.

Dark zog ihn an die Seite, wo sie nicht im Weg standen. „Er besitzt die Seele eines Drachen, der von seinen Artgenossen für diese ehrenvolle Aufgabe ausgewählt wurde. Nur eine Drachenseele ist imstande, Exodia zu versiegeln. Das ist zumindest die offizielle Version.“

„Heißt das, es gibt eine inoffizielle Version?“

„Natürlich.“

Crimson sah den anderen Magier gespannt an, doch Dark rückte nicht mit der Sprache heraus. Sie wurden dann auch abgelenkt, weil Sorc die Krankenstation erreichte. Er konnte in seinem Zustand natürlich nicht so schnell gehen, es war eigentlich erstaunlich, dass er den Weg aus dem Keller hierher überhaupt auf eigenen Beinen hinter sich gebracht hatte. Sein Bademantel war an der rechten Schulter und der linken Hüfte blutgetränkt und an mehreren Stellen leicht rot befleckt.

Lily überließ Eria ihrem erfahreneren Kollegen und winkte den Hexer zu einer Behandlungsliege. Sorc setzte sich darauf, als wäre das sein angestammter Platz.

„Ich hab dir gesagt, das nimmt nochmal ein böses Ende! Warum hört niemand je auf mich? Ich bin ja nur die Ärztin, was weiß ich denn schon!“ schimpfte die Fee, während sie den Stoff von seiner Schulter schob und die Wunde in Augenschein nahm. „Und ihr verschwindet jetzt alle!“ motzte sie in Kuros Richtung, denn dieser hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Sorc ganz genau zu bewachen, während Blacky wiederum ihn nicht aus den Augen ließ. Auch Cross hielt sich in der Nähe auf, aber warum, war nicht klar ersichtlich. Lily zog einen Vorhang vor ihren Arbeitsplatz und nahm damit allen anderen die Sicht.

„Soll ich nicht zur Sicherheit---“ begann Kuro.

„Raus!“ schrie Lily. „Crimson, du gehst wahrscheinlich eh nicht, also kannst du mir auch eine Schale mit warmem Wasser bringen.“

„Ich geh dann mal meinen Vater trösten,“ grinste Dark. „Bis später.“

Der Schlossherr fügte sich in sein Schicksal. Wo die Schalen für das Wasser standen, wusste er ja noch. Er musste sich beherrschen, nicht bei Eria stehen zu bleiben. Olvin ließ murmelnd seine Hände über sie gleiten. Dabei stand er auf einem Stuhl. Besonders besorgt wirkte er nicht.

Crimson holte Wasser aus einem Becken im Krankenflügel, das von der heißen Quelle gespeist wurde. Er vergaß auch nicht, ein paar saubere Tücher mitzunehmen, und trug alles zu Lily.

„Danke sehr...“ Sie fing sofort damit an, Sorcs Schulterwunde zu säubern. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie noch nie Bedenken gegen den Chaoshexer geäußert. Sie verhielt sich in seiner Gegenwart völlig arglos und behandelte ihn wie jeden anderen Patienten. Das bedeutete, er wurde bemuttert, umsorgt und ausgeschimpft wie alle anderen. Teilweise ging Lily nicht gerade zimperlich mit ihren Schützlingen um.

Sorc ließ alles schweigend über sich ergehen, aber auf seiner Stirn hatte sich ein Schweißfilm gebildet und sein Kiefer sah angespannt aus. Konzentriert starrte er auf einen Punkt in der Luft.

„Uhm... ich warte dann draußen... also...“ Crimson gestikulierte nach außerhalb des Vorhangs, denn er fühlte sich nun überflüssig und wollte auch nicht zusehen, wie Lily die verletzte Hüfte des Mannes versorgte. Sie deutete lediglich ein Nicken an, also machte er, dass er wegkam.

Er stand für ein, zwei Minuten untätig herum und konnte sich nicht entschließen, ob er Cathy jetzt zur Rede stellen sollte. Allein der Gedanke ängstigte ihn. Schließlich durfte er sich mit seinem Schlossherz nicht zerstreiten. Aber wieso hatte es so gegen seine Wünsche gehandelt? Oder... hatte es das? Der Schlossherr fühlte sich mehr als nur verunsichert.

Er sah nach, wie weit Olvin mit Eria war. Der Necromant stellte gerade den Stuhl weg, den er benutzt hatte, um an das Krankenbett des Mädchens zu gelangen.

„Ah, Crimson,“ rief Olvin. „Sei so gut, mach du das mal, ja?“

Der Weißhaarige nahm den Stuhl und stellte ihn an die Seite zu den Sitzgelegenheiten für die Besucher. Er wollte sich gleich wieder zu Eria umwenden, doch Olvin hielt ihn an der Robe fest und drängte ihn zu einem der Plätze.

„Setz dich, Jungchen. Du kannst jetzt nichts für deine Schülerin tun. Die erholt sich schon wieder. Bis dahin kannst du dir Gedanken machen, wie sie zu bestrafen ist.“

Crimson glaubte, sich verhört zu haben. „Wie bitte? Ich soll sie dafür auch noch bestrafen? Sie hat den Schaden!“

„Den hat vor allem Sorc,“ korrigierte Olvin. „Das Mädchen muss das für eine Weile geplant haben – schließlich wusste sie, dass sie gegen einen Chaosmagier seines Kalibers nicht ankommt. Sie hat gewartet, bis er verwundbar war. Als ihr Meister hättest du das natürlich kommen sehen müssen, aber anscheinend warst du ja zu beschäftigt. Schäm dich.“

Crimson fand die letzte Bemerkung unverschämt, aber wirklich widersprechen konnte er auch nicht. Denn er hatte sich von Eria einlullen lassen – sie hatte ihm vorgegaukelt, dass alles in Ordnung war und sie kein Problem mehr mit Sorcs Anwesenheit hatte.

Olvin grinste ihn von unten an. „Da bist du sprachlos, wie ich sehe. Krawallmachern wie dir fällt es generell schwer, Fehler und Schwächen einzugestehen, aber bei dir sehe ich noch Hoffnung. Nur merk dir, dass ein guter Alchemist zu sein dich noch nicht zu einem guten Lehrer macht. Es wird auch niemand ein Held, bloß weil er ein Schwert halten kann. Wenn du Lehrer sein willst, noch dazu Direktor einer Schule, dann hast du die Verantwortung für alles. Ich bin gespannt, ob du das schaffst.“

Der Alte wackelte davon. Crimson seufzte und ließ sich auf einen beliebigen Stuhl sinken. Es hatte eigentlich keinen Sinn zu warten, aber er fühlte sich nicht in der Lage, einfach normal mit dem Tagesablauf fortzufahren. Er musste bald wieder in seinen Alchemieturm, aber das erschien ihm fast unwichtig angesichts der Erfahrung, dass seine Schülerin und sein Schlossherz sich gegen ihn verschworen hatten.

Crimson wusste nicht, wie lange er da gesessen und gegrübelt hatte, als Sorc vor ihm auftauchte. Er trug eins von diesen dünnen Hemdchen, die Lily an ihre Patienten verteilte und die nur gerade so den Körper verhüllten und ein bisschen wärmten. Nur dass Sorc es schaffte, darin nicht peinlich auszusehen, obwohl er auch noch einen Arm in einer Schlinge hatte und sich generell vorsichtig bewegte. Sein langes Haar war ziemlich zerzaust und noch nicht wieder ganz trocken.

„Direktor, wir müssen uns unterhalten. Können wir irgendwo hingehen...“

Lily kam hinter dem Magier hergelaufen. „Ins Bett hab ich gesagt! Du gehst nirgendwo sonst hin! Wir haben das bereits ausdiskutiert!“

Sorc lächelte erschöpft und senkte ergeben den Blick. „Ja, Lily.“ Er ließ sich von ihr in die Richtung drängen, in die er gehen sollte, doch er sah sich noch einmal nach Crimson um.

Der Weißhaarige nickte und folgte. Er hielt sich etwas abseits, während die Fee ihren Schutzbefohlenen zu einem Bett dirigierte, das möglichst weit von Erias entfernt war und natürlich mit einem Vorhang abgetrennt werden konnte. Das hielt Lily aber nicht davon ab zu schimpfen.

„Crimson, du musst etwas unternehmen. Wie soll das erst werden, wenn hier mehr los ist? Ich weiß ja, dass du viel um die Ohren hast, aber das war deine Entscheidung! Also sieh zu, dass deine Leute sich nicht gegenseitig umbringen, verstanden?“ Sie besorgte mehrere Kissen für Sorc, damit er in dem Bett halbwegs sitzen konnte. „Ich kann es außerdem nicht dulden, dass meine Patienten sich Sorgen um ihre Gesundheit machen müssen, während sie sich in meiner Obhut befinden! Sie sollen sich hier erholen und nicht befürchten müssen, dass jemand---“

„Lily.“ Sorc unterbrach sie, indem er sie mit der Linken am Röckchen zu fassen bekam. Eventuell war da auch Magie im Spiel. Sie landete halb auf seinen Beinen und quiekte dabei erschrocken. „Ich hab dich doch gebeten, das Problem mir zu überlassen.“ Er hielt neckisch den linken Zeigefinger auf ihren Mund.

Lilys Wangen verfärbten sich rosaner als sonst. Sie schob seine Hand weg. „Du bist rücksichtslos! Völlig rücksichtslos!“ warf sie ihm vor.

„Ich gelobe Besserung.“

„Den Spruch haben schon ganz andere gebracht!“ Lily sprang auf, strich ihre Kleidung glatt und marschierte hektisch davon.

Crimson trat an das Bett heran. „Was war das denn?“

Sorc hob eine Augenbraue. „Wonach sah es denn aus?“

Das blieb dann wohl lieber unkommentiert.

„Du wolltest mit mir reden,“ stellte Crimson fest.

Sorc hob das Kinn und verengte die Augen ein wenig. Crimson machte sich automatisch etwas kleiner.

„In der Tat,“ begann der Chaosmagier. „Lily hat Recht... ich kann die Situation nicht länger so hinnehmen. Du wolltest zwar nicht, dass deine Schülerin mich umbringt – vermutlich, damit sie nicht in ihrem jungen Alter schon einen Mord auf dem Gewissen hat. Aber du hättest im Prinzip nichts gegen mein Ableben, nicht wahr? Wenn nicht Eria gegen mich gekämpft hätte, sondern zum Beispiel Kuro... dann hättest du anders geantwortet.“

Mit dieser direkten Anklage hatte Crimson nicht gerechnet. „Was? Aber nein, ich würde nie...“

„Doch, du würdest. Tief in deinem Inneren willst du es nämlich. Alles, was dich davon abhält, ist deine Erziehung! Dein Vater hat dich nicht gelehrt, Leute umzubringen, die dir unbequem sind. Du würdest aber dennoch jemanden beseitigen, von dem du weißt, dass er dir morgen ein Messer in den Rücken rammt, wenn du ihn heute laufenlässt.“

„Das ist nicht dasselbe!“ protestierte Crimson.

„Genau,“ bestätigte Sorc. „Deshalb willst du das auch nicht hören. Du willst mich töten, weil du mich wegen meiner Verbrechen an dir und deinen Freunden hasst. Aber ich wurde bereits verurteilt und stelle keine zu offensichtliche Bedrohung dar, deshalb verdrängst du den Impuls. Doch dein Schlossherz weiß es und hat gehandelt. Zusammen mit Eria, die eine gute Verbündete war, weil sie ihre Ablehnung gegen mich offen gezeigt hat.“

Es war ein Gefühl, wie in den Magen geschlagen zu werden. „Soll das heißen... du willst mir sagen... das was passiert ist, ist alles meine Schuld?“

„Ja, so ist es. Ich weiß, dass du dir das Schloss angeeignet hast, sobald Malice und ich besiegt waren. Du wusstest, dass es ein Schlossherz hat. Aber du hattest keine Ahnung, was das bedeutet.“

„Wie bitte, was fällt dir ein...?“

Doch Sorc kam offenbar erst so richtig in Fahrt. „Du warst schon immer etwas eigensinnig und rebellisch, was? Glaubst du, es macht dich cool, wenn du heimlich in einem Akademiezimmer verbotene Tränke herstellst? Ist nicht schlimm, wenn es schiefgeht – Papa steht ja zu dir. Und Schuld haben immer die anderen. Aber ich sag dir was. Du bist dafür verantwortlich! Wenn du etwas so Gefährliches heimlich machst, musst du Vorkehrungen treffen, damit dich niemand stört! Du hast dich einfach zu sicher gefühlt. Genau wie mit dem Schlossherz. Du hattest die fixe Idee, dir eins anzueignen und ne Schule aufzumachen, weil du dich von der Akademie unverstanden fühlst und Gleichgesinnten helfen willst.“

„Sorc, du bist nicht in der Position, um---“

„Komm mir nicht so! Das ist ein Argument für Luschen!“

Dass ihm jemand so die Meinung sagte, war eine völlig neue Erfahrung für Crimson. Er starrte Sorc fassungslos an und suchte nach einer Erwiderung. Zugleich brannte sein Gesicht regelrecht. Denn wenn er genau hinsah, in sich hinein horchte und ganz ehrlich war, dann hatte der Mann schon ein bisschen Recht. Diese Erkenntnis war schockierend. Crimson hatte sich stets für einen großen Helden gehalten.

„Dein Schlossherz wird immer tun, was es für deinen Willen hält, wenn du ihm keine Anweisungen gibst,“ warnte Sorc. „Wenn du dir in einer Sache unsicher bist, musst du trotzdem eine ganz klare Entscheidung treffen, damit es damit arbeiten kann. Du kannst deine Meinung später ändern – aber deine Entscheidung muss für Catherine deutlich sein, selbst wenn ihr beide wisst, dass es dir anders lieber wäre. Also... willst du mich töten?“

Crimson schluckte. „Das ist... eine ziemlich direkte Frage!“

„Ich wüsste nicht, wie ich sie indirekt formulieren sollte,“ meinte Sorc. „Was habe ich dir gerade über Deutlichkeit gesagt? Beachte genau meine Wortwahl.“

Die Wortwahl. Der Weißhaarige dachte angestrengt nach, konnte es aber nicht leugnen: „Ja. Ich will dich töten. Und ich will, dass es ein schmerzhafter Tod ist, der sich eine Weile hinzieht.“ Crimson hielt sich eine Hand vor den Mund. Das laut zu sagen und ernst zu meinen war... irgendwie unwirklich. Es erschreckte ihn, solche Gedanken bei sich selbst zu entdecken.

„Guter Anfang,“ nickte Sorc. „Eine ehrliche Antwort. Doch nun entscheide. Wirst du es tun?“

Crimson fühlte sich innerlich erschüttert von dem Gespräch. Zunächst verstand er nicht, wieso ihn diese Sache so extrem mitnahm. Natürlich war das Thema unangenehm, aber das konnte er verkraften. Warum wühlte es ihn so auf? Er war doch sonst immer in der Lage, sowas einfach von sich zu schieben.

Dann ging ihm auf, dass es an Cathy lag. Das Schlossherz bildete seine Persönlichkeit aus Fetzen der Persönlichkeiten seiner Erschaffer und wurde von jedem Herrn, den es hatte, weiter geformt, hatte aber keine eigene Seele. Seine Entscheidungen beruhten auf Logik und Erfahrungen. Jemanden am Leben zu lassen, den man töten wollte, war ein Widerspruch, aber ein Schlossherz beugte sich stets den Wünschen seines Herrn. Da Crimson diese Frage nie deutlich beantwortet hatte, nicht einmal vor sich selbst, hatte Cathy die Wünsche seines Unterbewusstseins befolgt.

Er suchte vorsichtig nach der Präsenz des Geistes. Cathy war verwirrt, denn er konnte nicht nachvollziehen, warum sein Meister so enttäuscht von ihm war. Er kauerte am Rande von Crimsons Bewusstsein wie ein geprügelter Hund, der glaubte, nur seine Pflicht getan zu haben.

„Ich plane vorerst nicht, dich wirklich zu töten,“ sagte Crimson schließlich zu Sorc. „Allerdings gebe ich mich gelegentlich der Vorstellung hin. Also gib mir keinen weiteren Grund.“

„Ich könnte dir ein paar Gründe geben, mich am Leben zu lassen,“ entgegnete Sorc. „Im Gegensatz zu dir habe ich meine Schullaufbahn beendet. Ich bin gut darin, Sachen auswendig zu lernen. Bücher über Alchemie, um nur mal ein Beispiel zu nennen.“

„Ist das deine Art, um Gnade zu betteln?“ hakte Crimson nach.

„Pah! Ich würde nicht um Gnade betteln, wenn mein Leben davon abhinge!“

„Aber das tut es.“

Sorc schwieg einen Moment und taxierte Crimson, wie um seine nächsten Schritte abzuwägen. „Ähm... Ich habe eine Menge kleine Zauber drauf, die dieses Schloss sicherer machen werden. Wie den, an dem ich gerade arbeite. Lass mich den beenden, und dann können wir erneut über das Thema reden. Deine Einstellung zu meinem Überleben ist mir nämlich ein bisschen zu schwammig. Davon abgesehen wäre es ein Jammer, wenn ich meine angefangene Arbeit nicht fertigstellen könnte.“

Crimson fühlte sich an seine eigene Lage erinnert; auch er arbeitete an etwas, das hoffentlich zu einem Ergebnis führte, das sein Überleben sicherte. „Ich habe dir gestattet, diesen Zauber zu probieren, obwohl ich meine Bedenken habe. Dabei bleibt es auch.“

Sorc nahm dies zur Kenntnis und wirkte danach etwas entspannter. „Ich glaube, ich habe es ebenfalls versäumt, in einer bestimmten Angelegenheit eine klare Aussage zu machen. Dabei hätte ich wissen müssen, dass es für dein Schlossherz wichtig ist. Meine Erklärungen an dem Tag, als ich hier ankam, waren nicht ausreichend, um Catherines Groll gegen mich zu beschwichtigen. Und dieser Groll hat nichts mit dir zu tun, sondern damit, dass ich mich nicht mit ihm verbunden habe, während ich hier lebte.“

Cathy fühlte sich angesprochen. Doch die übliche lebhafte Reaktion blieb aus. [„Er hat mich ignoriert,“] murmelte der Geist in Crimsons Gedanken. [„Sorc hat hier gelebt als der Schlossherr, aber er hat mich im Dunkeln gelassen... wie in einem Traum, in dem ich alles sehen, aber nicht agieren kann. Warum hat er mich abgelehnt?“]

„Du hast Recht... Cathy nimmt dir immer noch übel, dass du dich nicht zu seinem Herrn gemacht hast, obwohl das Schloss in deinem Besitz war,“ übersetzte Crimson.

Sorc nickte verstehend. „Ah ja... man kann nie wissen, welchen Charakter das Schlossherz hat. Manche wollen lieber ihre Ruhe, andere sind sehr eitel und glauben, sie kämen mit jedem Schlossherrn zurecht.“

Cathy materialisierte sich plötzlich. „Was soll denn das heißen? Was ist daran eitel?“ Er warf einen Blick auf Crimson, und seine Haltung sank eingeschüchtert in sich zusammen.

„Es ist unüblich, mehr als ein Schlossherz in seinem Leben zu besitzen,“ begann Sorc. „Denn wenn man eines hat, gibt es eigentlich keinen Grund und auch gar keine Möglichkeit, ein anderes zu nehmen, und wer seins verliert, hat meiner Meinung nach kein Recht auf ein neues.“

Der Blauhäutige drehte seinen linken Arm so, dass die Handfläche nach oben zeigte und dem Betrachter ein unregelmäßig gefärbter, dunklerer Fleck auf dem Unterarm auffiel. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein Geburtsmal oder eine Narbe. Doch die Form erinnerte an ein mehrzackiges Baumblatt, obgleich die Umrisse undeutlich waren.

„Der Turm im Silbergebirge,“ erklärte Sorc.

Ein wenig Leben kehrte in Cathy zurück. „Aceria. Ein Turmherz der Stufe eins. Sie wurden ohne eigene Persönlichkeit geschaffen und fungierten nur als Bewusstseinserweiterung ihres Herrn. Deshalb waren sie instabil. Weil ihre Herren es für gewöhnlich auch waren.“ Cathys Stimme klang ein wenig verächtlich.

„Ja, das wusste ich auch,“ fuhr Sorc fort. „Aber ich hatte in der Schule alles über Schlossgeister gelesen und wollte wissen, wie es ist, eins zu haben. Zu diesem Zeitpunkt war mir bereits klar, dass ich nicht den normalen Weg der Magie gehen kann, sondern meinen eigenen Pfad erschaffen muss. Doch Chaosmagie wurde an meiner Schule entweder belächelt oder abgelehnt, somit wehrte ich mich lange gegen die Erkenntnis. Es erfordert eine gefestigte Persönlichkeit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, um ein Schlossherz der Stufe eins zu beherrschen. So etwas hat ein junger Bursche, der ich war, noch nicht, aber in dem Alter, wenn sie gerade die Schule verlassen, denken diese Burschen, sie wüssten alles. Es ging ein paar Monate gut, doch meine unkonventionelle Denkweise stimmte nicht mit dem überein, was das Schlossherz von seinen Erschaffern wusste. Meine Überzeugung kollidierte mit der, die in Aceria abgespeichert war. Es reagierte auf mich wie auf einen Virus. Wenn du nicht eins mit deinem Schlossherz bist, sind die Folgen kaum vorhersehbar.“

„Du hast dich nicht mit Cathy verbunden, um deinen Fehler nicht zu wiederholen,“ stellte Crimson fest.

Der Chaosmagier nickte langsam. „Inzwischen habe ich mehr Erfahrung, und es hätte mit einem Stufe zwei, das eine eigene Persönlichkeit hat, wohl funktioniert... aber ich hatte die feste Absicht, in die Welt des Blauen Lichts zu gehen, und dabei wäre die Verbindung getrennt worden. Sowas kann für beide Beteiligten eine traumatische Erfahrung sein.“

Crimson hatte nicht damit gerechnet, dass der Grund dafür Rücksichtnahme war, und Cathy wohl auch nicht. Er konnte spüren, wie das Schlossherz seine Einstellung gegenüber Sorc korrigierte. Aber ganz besänftigt war Cathy noch nicht.

„Es wäre trotzdem besser gewesen, mich einen Herrn haben zu lassen,“ murmelte er. „Ich konnte gar nicht schnell genug all die Schäden reparieren, die deine Lakeien angerichtet haben, diese Vandalen! Ist ja nicht ihr Schloss, also ist es legitim, Wände zu bekritzeln, Steine abzubrechen und in die Ecken zu pinkeln!“

„Tja, ähm... ein paar schwarze Schafe gibt es immer, besonders wenn man sich Handlanger mit minderer Intelligenz hält,“ räumte Sorc ein. „Es war nichts gegen dich, Catherine. Ich achte Schlossherzen, auch die mit der Stufe eins, auf die du so verächtlich herabblickst. Du hast einen besseren Herrn verdient als mich. Ich frage mich nur, ob du einen bekommen hast.“

„Hey!“ Crimson tat beleidigt. Doch er hatte auch noch eine Frage, die ihm jetzt erst aufging, da sich allmählich die Aufregung legte. „Wenn du dich nicht mit ihm verbunden hast, wie war es dann möglich, dass du in meinem Traum Kontakt zu mir aufnehmen konntest?“

Sorc lächelte hintergründig. „Ich habe mich dem Schlossherz bereitwillig als Energiequelle dargeboten und mich ihm völlig geöffnet, als ich hier ankam. Catherine hat nur begierig meine magische Kraft angezapft, ganz wie ich es erwartet habe. Dabei hätte er mehr tun können. Er ist mir sozusagen in die Falle gegangen. Eine solche Verbindung funktioniert immer in beide Richtungen. Für mich jedenfalls. In die Gedanken von Leuten einzudringen, die auf irgendeine verschlungene Weise mit mir verbunden sind, passiert mir ganz natürlich.“

Crimson musste das erstmal verdauen. In der Zwischenzeit kam Lily dazu, stellte kommentarlos eine Tasse Tee auf Sorcs Nachttisch und ging wieder.

„Hui, sie ist aus irgendeinem Grund sauer,“ murmelte Sorc. „Verstehe einer die Frauen...“

„Trink lieber,“ schlug Crimson vor. Er war ganz froh über die Ablenkung.

Der Chaoshexer nahm den Tee an sich. „Sie meint es gut, da will ich sie mal nicht enttäuschen.“

„Diese ganzen Verletzungen, die du am Anfang hattest... zum Beispiel die Brandwunden... war das Cathys Verschulden?“ griff Crimson ein anderes Thema auf, das er bisher vermieden hatte.

„Er hat versucht, mich in die Lavaquelle unter dem Schloss zu stoßen,“ antwortete Sorc schulterzuckend. „Hat mich *gebeten*, dort nach dem Rechten zu sehen.“

„Und das blaue Auge? Das Hinken? Die Beule?“

„Kleine Stolperfallen des Schlosses und gewisse Personen, die meinten, sie wären mir noch was schuldig. Ich habe mir das anfangs gefallen lasen, aber nicht lange. Es behinderte mich bei meiner Arbeit.“ Sorc konnte den Tee schon ganz gut trinken. Lily brachte niemals zu heißen Tee zu ihren Patienten, damit sie sich nicht verbrühten.

„Kein Wunder, dass du dachtest, hier würde irgendein Stufe drei Programm gegen dich laufen,“ murmelte Crimson.

„Ich dachte, du wüsstest von alledem, bis ich erfuhr, dass du nichtmal von dem Rehabilitationsprogramm weißt. Das hat mich dann doch etwas verwundert... ich hab mich gefragt, ob du lügst, aber warum hättest du das tun sollen...“ Sorc trank den Tee weiter.

Ein oder zwei Minuten des Schweigens zogen dahin.

„Ich weiß nicht, ob ich dir je vertrauen kann,“ sagte Crimson schließlich. „Wie könnte ich dir vertrauen, wenn du heimlich Hintertürchen zu meinen Träumen erschaffst? Wohin hältst du dir noch Wege offen? Wie soll das mit uns weitergehen, wenn ich dir nicht vertraue?“

„Wir können uns gegenseitig nicht vertrauen,“ stellte Sorc trocken fest. „Genau deshalb wollte ich dieses Gespräch, damit ich hinterher weiß, woran ich bin. Ich kann niemandem hier vertrauen, schon gar nicht dem Schlossherz, denn er ist dein handelndes Unterbewusstsein.“ Er seufzte müde und schloss kurz die Augen.

Crimson hatte das Gefühl, dass sein früherer Feind ihm heute erstmals einen Blick hinter seine Fassade gestattete. Auch im Bad unten hatte er ihn seine Schwäche sehen lassen, wenn auch notgedrungen. Es musste sehr anstrengend sein, immer den Starken zu spielen.

Sorc blickte stirnrunzelnd in seinen Teebecher, welcher innen und außen weiß lackiert war. „Ich werde so müde... aber das ist normaler Kräutertee, oder? Schließlich ist er grün, auch wenn er ein bisschen nach Schlaftrunk riecht...“

„Wer sagt dir, dass Schlaftrunk nicht grün sein kann?“ Crimson konnte sich ein freches Grinsen nicht verkneifen.

Der Chaosmagier stellte den Becher auf den Nachttisch. Seine Atmung beschleunigte sich deutlich, und er bekam ganz große Augen. „Nein! Ich kann mich hier nicht unter Drogen setzen lassen!“ Er setzte sich gerade hin und verkrallte aufstöhnend die linke Hand in dem Verband an seiner rechten Schulter.

Crimson kannte die Methode. Man konnte die Wirkung eines Schlaftrunkes aufhalten und sogar neutralisieren, wenn man lange genug dagegen ankämpfte. Das funktionierte am besten, indem man den Körper Adrenalin ausschütten ließ, zum Beispiel durch Schmerzen oder indem man sich absichtlich aufregte. Zumindest die Aufregung fiel Sorc offensichtlich leicht. Das war richtig ungewohnt. Als Crimson versuchte, ihn zurück in seine Kissen zu drücken, bekam er einen magischen Schlag ab wie eine elektrostatische Entladung. Doch er gab nicht nach und nahm die relativ harmlosen Schmerzen in Kauf.

„Lass das, Sorc, du musst dich ausruhen,“ verlangte er. „Hör auf Lily. Sie hat dir den Tee gegeben. Du solltest ihre Wünsche respektieren.“

„Wenn ich jetzt einschlafe, werde ich womöglich nicht mehr aufwachen,“ protestierte Sorc.

„Mach dich nicht lächerlich,“ widersprach Crimson ihm. „Niemand wäre dumm genug, dich umzubringen, während du unter Lilys Obhut stehst. Außerdem... warst du nicht vor knapp einer Stunde noch bereit zu sterben?“

Sorc sah ihn mit einem wilden Ausdruck in den Augen an. „Wie kommst du denn darauf?“

Crimson hob verwundert eine Augenbraue. „Du fragtest, ob es mein Wunsch ist, dass Eria dich tötet. Das weißt du doch wohl noch.“

Sorc ließ sich in die Kissen zurück sinken und hörte auf, sich zu wehren. Er lachte leise, irgendwie spöttisch, doch dann schlief er ein, ehe er sich dazu äußern konnte.
 

Der Schlossherr betrachtete den Chaoshexer. Die Versuchung, ihn im Schlaf zu erwürgen, war vorhanden. Doch Crimson wollte es nicht so. Wenn, dann würde er Sorc so töten, dass dieser es mitbekam, seine Absicht vorher kannte. Und so grausam, dass sein Opfer das Ende herbeisehnte. Aber was dachte er da überhaupt? Jemanden zu Tode zu quälen, war nicht sein Stil. Doch er konnte nicht leugnen, dass er es wollte.

„Ich würde ihn schon gerne töten, aber ich werde es nicht tun,“ sagte er zu Cathy, der immer noch in der Nähe manifestiert war. „Geh nicht mehr gegen ihn vor. Wer weiß, wozu er nochmal zu gebrauchen ist.“

„Er sperrt sich momentan gegen mich,“ beschwerte das Schlossherz sich.

„Das kannst du ihm kaum verübeln,“ meinte Crimson. Er zog den Vorhang vor Sorcs Bett, damit Eria ihn nicht gleich sah, wenn sie erwachte. Dann ging er zu ihr.

Viel zu sehen gab es nicht, nur ein schlafendes Mädchen mit vielen Schrammen und etlichen blauen Flecken an allen sichtbaren Körperstellen. Diese Verletzungen waren zahlreich, aber relativ harmlos. Es roch nach Heilsalbe. Jemand hatte ihre nasse Kleidung entfernt und gegen ein sauberes Hemdchen ausgetauscht. Diesen Vorgang hatte Crimson zuvor überhaupt nicht registriert, obwohl er die ganze Zeit im Raum gewesen war. Hatte nicht Olvin Eria behandelt?

„Zweifellos nur, um Salbe auf die Schrammen aufzutragen,“ murmelte Crimson sarkastisch vor sich hin und sah sich argwöhnisch um, doch der Alte war nicht in Sicht.

„Meister, es ist bald Zeit, den Trank zu verdünnen,“ meldete Cathy etwas zaghaft.

Der Alchemist warf noch einen Blick auf seine Schülerin, ehe er sich auf den Weg zu seinem Kessel machte. Weit kam er allerdings nicht, denn Yugi platzte herein, indem er die Tür für die nachfolgenden Personen offen hielt. Appi und Yami stützten Mava, der kaum alleine gehen konnte.

Sofort kam Lily herbeigeschwirrt. „Was ist passiert?“

„Ich wollte Mava fragen, ob er zum morgendlichen Schwimmen mitkommen will,“ gab Appi Auskunft. „Aber er war kaum bei sich und hat anscheinend Fieber...“

Crimson eilte hinzu und packte Mavas Beine, so dass sie ihn zu dritt auf das nächste freie Bett neben Eria hieven konnten. Der Lichtmagier atmete keuchend und rasselnd, sein dünnes Nachtgewand war ganz nass von Schweiß.

Lily untersuchte ihn hastig, fühlte nach dem Puls, betrachtete die Pupillen, hörte sich die Atmung an. Ihre Mine wurde zusehends besorgter.

„Keiner verlässt diesen Raum,“ bestimmte sie schließlich. „Olvin, bitte sieh dir das an.“

Der Necromant kam aus irgendeiner hinteren Ecke herbei. „Aaaah, ich dachte, ich könnte langsam Schlaf nachholen gehen, nachdem wir vorhin vorzeitig aus dem Bett gescheucht wurden...“

Crimson holte schnell einen Stuhl heran, den der untersetzte alte Magier wie selbstverständlich benutzte. Anders als Lily warf er einen prüfenden blick auf Mava und legte dann seine Hände auf dessen Körper, wobei er konzentriert die Augen schloss. „Schattenfieber, würde ich sagen.“

Lily nickte langsam. „Das ist auch meine Meinung. Crimson, lass Cathy in den Quarantänemodus gehen.“

„Was? Aber...“ Noch bevor Crimson seinen Protest vortragen konnte, führte das Schlossherz die Anweisung aus. Da nur wenige Personen im Schloss waren, wurde die Energie, die es von seinem Herrn abzapfte, sofort mehr, und Crimson musste sich am Bett abstützen, da es ihn unvorbereitet traf.

„Verzeihung, Meister, aber Lily ist die offizielle Schlossheilerin. In einem medizinischen Notfall bin ich verpflichtet, den Quarantänemodus zu aktivieren, auch gegen Euren Wunsch,“ erklärte Cathy kleinlaut. „Mit Eurer Erlaubnis zeige ich Dark, wo die Flaggen sind, damit er die Quarantäneflagge hissen kann.“

Crimson nickte einfach nur, und der Geist entmaterialisierte sich, um den Magier zu finden, der von dem neuen Energiebedarf am wenigsten betroffen war, da er nicht mehr von seiner Kraft geben konnte, als er bereits anbot.

„Was ist Schattenfieber?“ fragte Appi erschrocken. Er war sehr blass geworden.

„Passt eigentlich niemand von euch in Heilkunde auf?“ grummelte Olvin, die Augen verdrehend. „Offensichtlich eine Krankheit mit hohem Fieber, wie ihr seht. Sie ist hoch ansteckend und kann einen tödlichen Verlauf nehmen. Es gibt eine schwächere Form, die Schattenpocken, die als Kinderkrankheit auftreten und wesentlich ungefährlicher sind, wenn auch ziemlich lästig. Wer Schattenfieber übersteht oder als Kind Schattenpocken hatte, ist danach gegen beides immun. Deshalb wird es an Schulen auch ziemlich locker gesehen, wenn eine Welle von Schattenpocken auftritt. Gesunde Erwachsene kriegen die Kinderkrankheit normalerweise nicht, aber Kinder können sich mit Schattenfieber anstecken.“

„Rosi und Saambell haben Mava gestern das Essen gebracht,“ erinnerte sich Crimson und fühlte sich auf einmal, als wäre er bereits krank.

„Mava muss vor gut vier Tagen Kontakt mit einer kranken Person gehabt haben,“ sagte Olvin. „Die Ansteckung erfolgt durch Körperkontakt oder durch die Luftfeuchtigkeit. Die Krankheit bricht nach zwei bis drei Tagen aus und ist ansteckend, sobald die ersten Symptome auftreten. Deshalb ist sie so gefährlich – man nimmt die ersten Anzeichen nicht ernst. Wir müssen alle im Schloss fragen, ob sie mit Mava näheren Kontakt hatten.“

Inzwischen hatte Lily eine Medizin gegen Fieber geholt, die sie Mava geduldig eintrichterte. „Ihr alle solltet am besten baden und euch was Frisches anziehen, dadurch könnt ihr die Ansteckungsgefahr minimieren. Verflixt... für solche Fälle wäre ein Bad auf dieser Etage von Nutzen.“

„Das Bad im Keller ist derzeit unbrauchbar,“ bemerkte Crimson.

„Na fantastisch,“ stöhnte Lily. „Benutzt das Becken da hinten und die medizinische Seife. Crimson, geh dich als Erster waschen. Du musst gleich mit der Herstellung eines Heiltrankes für Mava anfangen. Das Schlossherz müsste das Rezept kennen.“

Wie auf Stichwort bekam Crimson die nötige Information von Cathy zugespielt. Der Quarantänemodus bewirkte unter anderem, dass das Schlossherz eine Verbindung zur Ärztin beibehielt und medizinische Informationen bei Bedarf zur Verfügung stellte.

Crimson begab sich zu dem Becken, von dem er vorhin noch das Waschwasser für Sorc geholt hatte. Es gab an dieser Stelle keinen Vorhang, aber außer Lily und der bewusstlosen Eria waren nur Männer anwesend, und Lily zählte nicht – sie betrachtete einen nackten Mann hauptsächlich als Patienten. Viel mehr beschäftigte ihn ein anderes Problem. „Was soll ich denn bitte anziehen, wenn ich hier fertig bin?“

Olvin warf ihm grinsend ein Krankenhemdchen zu.

Großartig.

Gewissenskonflikt

Es war der Weltuntergang. Crimson hatte es zuerst nicht begriffen, aber inzwischen wusste er, dass er verloren hatte. Um Mitternacht, spätestens aber zur zweiten Stunde musste er Knochensalz in seinen Trank geben, und zwar ungefähr dreißig Gramm oder sechs Teelöffel voll. An sich kein Thema. Er hatte das Zeug immer auf Lager, es wurde nicht oft gebraucht, kam aber doch in genug Tränken vor, um es in seinen Augen zu einer Standardzutat zu machen. Also hatte er es da, aber nicht in großen Mengen – etwas mehr als hundert Gramm, was bei Knochensalz etwa einem viertel Trinkbecher voll entsprach. Damit kam er für gewöhnlich monatelang aus.

Das Elixier von Sil-har'kahn erforderte relativ viel von diesem körnigen Pulver. Normalerweise brauchte man nur eine Priese oder einen Teelöffel davon. Knochensalz war in purer Form giftig und deshalb mit Vorsicht zu genießen, aber das galt für viele alchemistische Stoffe.

Das Mittel gegen Schattenfieber bestand praktisch aus in Wasser gelöstem Knochensalz und wurde nur mit weiteren Zutaten versehen, damit es einigermaßen schmeckte und den Patienten nicht umbrachte. Etwas anderes war verzichtbar oder konnte leicht ersetzt werden, aber nicht die Hauptzutat.

Crimson rang mit sich. Er hatte seinen Bedarf durchgerechnet. Wenn er die erforderliche Menge für seinen Trank zurückhielt und mit dem Rest soviel Medizin wie möglich herstellte, reichte das Ergebnis für ungefähr sieben Anwendungen. Das konnte zeitlich ausreichen, um Ersatz zu besorgen, wenn er davon ausging, dass der Patient das Mittel alle drei bis vier Stunden bekommen musste. Aber er konnte niemanden schicken, denn alle, die sich jetzt im Schloss befanden, konnten schon Träger der Krankheit sein. Was wiederum hieß, dass bald nicht nur Mava die Medizin brauchen würde, schließlich hatte er selbst sich wahrscheinlich gleich als Erster bei ihm angesteckt, als der Lichtmagier ihm das Schattenmoos überreicht hatte. Die Medizin würde mit weiteren dreißig Gramm Knochensalz für ungefähr drei weitere Anwendungen reichen. Das lohnte sich kaum, konnte aber über Leben und Tod entscheiden.

Crimson raufte sich frustriert die Haare und beschloss, das Pulver für seinen Trank zurückzuhalten und bei Bedarf zu Medizin zu verarbeiten. So blieb ihm noch eine Gnadenfrist, und er konnte endlich anfangen, statt weiter zu grübeln.

Es beruhigte ihn, diese Entscheidung getroffen zu haben, so dass er seine Arbeit schnell und konzentriert erledigen konnte. Alchemistische Betätigung klärte auch immer seinen Geist. Er konnte einen komplizierten Trank selbst unter Zeitdruck und mit störendem Lärm herstellen, wenn er musste. Sogar die Müdigkeit, die durch den kräftezehrenden Quarantänemodus verursacht wurde, hielt ihn bisher nicht auf, und die Stimmen seiner Drachen waren eher Hintergrundmusik. Er wünschte sich im Moment allerdings, seine Zauberküche befände sich im Erdgeschoss, denn er hatte Mühe mit den vielen Stufen gehabt. Seine Beine fühlten sich schon furchtbar schwer an, ohne dass er auf Türme kletterte.

Während er ein Kräutergemisch kochte, in das am Ende das Knochensalz eingerührt wurde, kam ihm der Gedanke, dass es doch merkwürdig war... wenn Knochensalz so wichtig gegen eine hochansteckende Krankheit wie Schattenfieber war, warum riet man dem Alchemisten eines Schlosses dann nicht, die Substanz kiloweise zu lagern? Crimson kannte viele Kollegen, die das auch nicht taten. Sogar Lily hatte nichts mehr davon, was vielleicht daran lag, dass sie gewusst hatte, dass er welches hatte. Lily brauchte Knochensalz unter normalen Umständen kaum. Gab es Schattenfieber so selten, dass es sich dafür nicht lohnte, eine giftige Zutat ungenutzt aufzubewahren? Oder hatte Lily einen Fehler bei der Berechnung ihres Inventars gemacht? Aber auch Olvin hatte sie nicht darauf hingewiesen, dabei hatte er sich garantiert einen Überblick verschafft. Wieso stand Knochensalz nicht in jeder Gebrauchsanweisung für Schlösser, die einen Quarantänemodus hatten?

Auch Cathy wusste darauf keine Antwort, denn er hatte noch nie einen Fall von Schattenfieber erlebt, bei dem der Alchemist des Schlosses die Medizin selber hergestellt hatte. Außerdem speicherte ein Schlossherz immer nur die Informationen ab, die seinem Herrn zugänglich gemacht wurden, und nicht, was jeder der Bewohner wusste. Manche Grundinformationen kamen von den Erschaffern, und die waren manchmal veraltet. Laut Lily war das Rezept, das Crimson gerade benutzte, aber noch zeitgemäß und hatte sich seit vielen Jahrzehnten bewährt.

Auf den Landeplattformen auf einigen der Türme hatten sich Crimsons Drachen verteilt, obwohl es auch gereicht hätte, wenn sie einfach auf dem Gelände geblieben wären. Cathy konnte nicht so gut Energie von Drachen für seine Reserve nutzen, denn er war auf Magier ausgerichtet, aber es war unter den gegebenen Umständen besser als nichts. Besonders Lichtblitz war begierig, in einer dramatischen Aufopferung all seine Kraft zu geben. Er war schon irgendwie süß.

Tyra, der Drache von Cross, flog ober das Meer und fing riesige Fische für alle, so dass die kleinen beim Schloss bleiben konnten.

Inzwischen hatte Dark seine Energie für Cathy freigestellt. Was genau Draconiel dazu bewogen hatte, auf die Unterstützung seines Herrn zu verzichten, war Crimson nicht bekannt. Vielleicht hatte das Herz von Burg Drachenfels noch volle Speicher, falls diese unbeschädigt geblieben waren, oder aber es konnte im Notfall mit der Kraft der Bauarbeiter auskommen. Im Prinzip zählte ja nur das Ergebnis, aber neugierig war er.

Crimson rührte das Knochensalz in die Brühe, kochte alles kurz auf und stellte sicher, dass der Stoff sich gut aufgelöst hatte, dann füllte er alles in kleine Glasflaschen ab, damit es auch wirklich sieben Anwendungen wurden. Letztendlich war die Aufteilung Sache der Heiler, aber er konnte immerhin versuchen, das Zeug sparsam zu dosieren.

Das Elixier wurde noch kurz einmal umgerührt, dann machte Crimson sich mit vier Gläschen in der Hand auf den Weg nach unten. Die restlichen drei steckte er in eine Tasche in seiner Robe, denn die zweite Hand brauchte er für das Geländer. Er war erleichtert, diese Arbeit geschafft zu haben, er brauchte nämlich Schlaf. Seine Augenlider fühlten sich ganz schwer an. Er überlegte, wo es Knochensalz zu kriegen gab, vor allem aber, wie er dort Bescheid sagen konnte, dass er es brauchte. Vielleicht gab es im Kristallschloss noch Restbestände, aber viel konnte das auch nicht sein. Crimson kaufte es normalerweise immer bei einem Händler oder tauschte es mit anderen Alchemisten. Man fand es leider nicht einfach irgendwo in der Natur, denn es wurde aus den fossilen Knochen einer bestimmten Fischart gewonnen und konnte somit nicht einfach...

Crimson verfehlte eine Stufe. Noch im Fallen schossen ihm Gedanken durch den Kopf. Zu müde? Unachtsam? Erstaunlich, wie viele Gedanken man manchmal in weniger als einer Sekunde dachte. Er hatte das Geländer nur locker gehalten, so dass seine Hand davon abrutschte. Instinktiv versuchte er, die Arme nach vorne zu strecken und sich irgendwie abzufangen. Jedoch...

„Neeeeiiin!“ Die Glasfläschchen entglitten seinen Fingern. Crimson wollte einen Zauber einsetzen, um sie zu retten, aber er fiel, dachte noch daran, dass sein Elixier verdarb, wenn er sich verletzte und sich nicht mehr darum kümmern konnte, aber er hatte sowieso bald kein Knochensalz mehr... Er hörte das Klirren, als ein, zwei, drei Portionen des Heilmittels aufschlugen, dann schoss ein scharfer Schmerz in seinen linken Ellenbogen, und schließlich wurde es schwarz um ihn, als sein Kopf Kontakt mit den Steinen bekam...
 

[„Meister? Bitte wacht auf... Es ist an der Zeit, Knochensalz in den Trank zu geben...“]

Cathys Stimme erklang gedämpft in seinem Kopf, so als wollte das Schlossherz ihn eigentlich gar nicht wecken. Crimson schlug langsam die Augen auf und wurde von der dämmrigen Nachtbeleuchtung des Krankenflügels empfangen. Als er versuchte, sich zu bewegen, durchzuckte ein scharfer Schmerz seinen Körper. Er stöhnte auf.

„Ah, Direktor...“ Sorcs Gesicht erschien in seinem Blickfeld. „Wir sehen uns eher wieder als erwartet. Bleib still liegen, du hast bei dem Sturz ein paar Verletzungen erlitten.“

„Sturz?“ murmelte Crimson schwach. „Oh... die Treppe... Oh nein, der Trank für Mava!“ Er versuchte trotz der Warnung, aus dem Bett zu springen, doch die linke Hand des Chaosmagiers drückte fest auf seine Brust.

„Du kannst nicht aufstehen, Crimson. Vermutlich hast du eine Gehirnerschütterung. Gebrochen ist nichts, aber geprellt, verstaucht, angeknackst. Bleib liegen und sag mir, was ich tun soll.“

„Was du...“ Der Weißhaarige runzelte die Stirn, wobei ihm auffiel, dass er einen Verband am Kopf haben musste, denn der Stoff drückte auf seine Hautfalten.

„Wenn du nicht aufgewacht wärst, hätte ich Dark gesucht und ihn gebeten, sich um das Elixier zu kümmern. Aber Catherine meinte, du wolltest nicht, dass Dark davon erfährt. Zu dem Thema musst du dich wohl mal klar geäußert haben.“ Sorc grinste schief.

Crimson musterte den Älteren, so gut es ihm möglich war. In seinem Kopf pochte es unangenehm. „Du kannst nur eine Hand benutzen, oder?“ erkundigte er sich. „Und... kannst du überhaupt lange gehen? Treppen steigen?“

Sorc trug seine Haare jetzt ordentlich zusammengebunden, hatte aber immer noch das Hemdchen an und den rechten Arm in einer Schlinge. „Für dich kann ich, wenn du es sagst.“

Die seltsame Antwort überraschte und verwirrte Crimson. „Wie meinst du das?“

Sorc zuckte entschuldigend mit der gesunden Schulter. „Ich habe nachgedacht und beschlossen, dass einer von uns anfangen muss, dem anderen zu vertrauen. Da ich dir ein bisschen Lebenserfahrung voraus habe, mache ich den Anfang. Du bist der Schlossherr, das bedeutet, du hast deine Leute. Ich bin nur als Rehabilitant hier, aber wenn du willst, bin ich dein loyaler, persönlicher Chaoshexer. Ich verteidige dieses Schloss und alle, die darin leben, mit allem, was ich habe. Sag mir, was du brauchst, und ich finde einen Weg. Du hast das Wort von Soach, Prinz der Eisigen Inseln.“

Das klang so ernst und feierlich, dass Crimsons Wangen sich ganz heiß anfühlten. Die Situation war eigentlich dem Anlass völlig unangemessen, zwei verletzte Männer am Krankenbett. Aber wenn Sorc das nichts ausmachte, wollte Crimson sich darüber auch nicht beschweren.

„Dein Schwur hat überhaupt keine Einschränkungen,“ stellte er fest. „Befürchtest du nicht, dass ich das ausnutzen könnte, um dich auf eine tödliche Mission zu schicken?“

Prinz Soach von den Eisigen Inseln schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Vertrauen gehört dazu, Crimson vom Lotusschloss. Also gebe ich dir meines. Wenn du aber mir im Moment nicht vertrauen kannst, werde ich dich mit der Zeit schon überzeugen.“

Es konnte im Prinzip nicht schaden, oder? Es änderte sich ja nichts daran, dass Sorc ein Rehabilitant des Zirkels des Bösen war. Wenn das ein Trick war, gab es noch das Kontaktformular.„In Ordnung,“ sagte Crimson. „Als Schlossherr von Schloss Lotusblüte nehme ich dein Angebot an. Sei mein loyaler Chaoshexer.“

Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es angemessen gewesen wäre, von seiner Seite aus einen ähnlichen Schwur zu leisten, doch dazu war er noch nicht bereit. Das Vertrauen war nicht da, und davon abgesehen gab es Verpflichtungen, die ein Schlossherr gegenüber seinen Untergebenen und Schutzbefohlenen hatte, ohne dass sie ausgesprochen wurden.

Es gab eine Veränderung in der Luft, ein schwer zu greifendes Gefühl, als die magischen Strömungen in dem Raum die neue Verbindung zwischen den beiden Magiern zur Kenntnis nahmen. Sie hatten keinen magischen Pakt in dem Sinne geschlossen, dennoch kam es zu einem Echo im Gefüge der Magie. Crimson blickte zu Sorc auf und hatte den Eindruck, dass er es auch gespürt hatte und nicht überrascht war.

„Zu deiner Information, Direktor: Veiler kam vorhin zurück. Er hat seine Lieferung vor dem Schloss abgelegt und Catherine hat ihm mündlich den nächsten Auftrag mitgeteilt, den Yugi schon vorbereitet hatte. Er wird zwei Tage im nächsten Dorf bleiben und dann wieder aufbrechen. Bisher geht noch alles nach Plan, soweit ich das mitbekommen habe,“ berichtete Sorc schließlich. „Eria und Mava sind in andere Räume gebracht worden – Eria, weil eine Chance besteht, dass sie sich noch nicht angesteckt hat, und Mava, damit er niemanden mehr ansteckt. Von den Fläschchen, die du in der Tasche hattest, sind zwei heile geblieben, so dass er damit behandelt werden konnte. Es geht ihm nach wie vor schlecht, aber er ist jetzt zumindest ansprechbar.“

Crimson stöhnte langgezogen, und es lag nicht an seinen Schmerzen. „Das Knochensalz. Ich werde es für neue Medizin verwenden müssen... und ich hatte keine Gelegenheit, mich um Ersatz zu kümmern, somit ist das Elixier erledigt...“

„Du hast noch genug behalten, nicht wahr?“ hakte Sorc nach.

„Schon, aber...“ Crimsons Protest wurde gestoppt, da ein blauer Finger sich beschwichtigend auf seine Lippen legte.

„Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass es in Ordnung ist. Ich möchte nur nicht vorgreifen, vermutlich wird Olvin dir morgen früh breit grinsend die frohe Botschaft verkünden. Im Moment brauchen wir das Knochensalz nicht, also steht es dir zur Verfügung,“ versicherte Sorc.

Crimson versuchte, sich zu entspannen, was ihm nur bedingt gelang. „Uhm... na gut. Hattest du wirklich... eine Eins in Alchemie?“

Der Chaosmagier nickte ernst. „Ich war vor allem in der Theorie sehr gut, und meine Leistungen reichten aus, um auch in der Praxis zu glänzen. Das bedeutet im Prinzip, dass ich ein Rezept in einem Schulbuch befolgen und dabei sauber arbeiten konnte. Es ist eine Weile her, und Schule ist nicht zwangsläufig mit der Realität zu vergleichen. Heute würde ich meine Anwesenheit in einem Labor als nicht ganz ungefährlich einschätzen, aber ich müsste es hinkriegen, wenn du mir konkrete Anweisungen gibst.“

Es musste wohl sein – Crimson gestand sich ein, dass er sich zu schwach fühlte und zu große Schmerzen hatte, um auch nur daran zu denken, in den Turm zu gehen. Selbst wenn er es schnell genug schaffte, war das Risiko, dass ihm bei seiner Arbeit irgendein Fehler unterlief, viel zu groß.

„Also gut, mach dich auf den Weg, Sorc,“ entschied er. „Wenn du angekommen bist, werde ich versuchen, dir über Cathy Anweisungen zu geben. Das Knochensalz steht auf dem Tisch auf der rechten Seite in dem braunen Tonbehälter. Das Buch mit dem Rezept liegt aufgeschlagen auf einem Ständer, nur für den Fall...“

„Verstanden. Bis gleich.“

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sah Crimson hinter dem Mann her. Sorc hinkte leicht, oder besser gesagt, er ging so, dass er die linke Hüfte schonte. Das war fast etwas überraschend – er zeigte sonst nicht, wenn er ein gesundheitliches Problem hatte. Allerdings wusste in diesem Fall ja eh schon jeder Bescheid.

Crimson war fast eingeschlafen, als Cathy ihm meldete, dass Sorc den Alchemieturm erklommen hatte. Der Schlossgeist materialisierte sich in dem Raum und ließ ihn die Szene durch seine Augen sehen. Es war fast so, als stünde er selber da und beobachtete Sorc. Crimson empfand diese Methode als ziemlich anstrengend. Obwohl er die Augen auch schließen konnte, weil er die Szene ja in seinem Kopf sah, wagte er es nicht. Womöglich würde er dann einschlafen, und das wollte er auf keinen Fall, während sich ein Chaosmagier in seinem Alchemieturm bei seinem lebenswichtigen Elixier herumtrieb.

Jener Chaosmagier fand den Behälter mit Knochensalz und hob ihn in Cathys Richtung. „Das muss es sein. Hast du die Menge schon abgewogen?“

„Ja, schütte es nach und nach in den Kessel und rühr dabei um. Es darf nicht zu viel Pulver auf eine Stelle fallen, sonst reagiert es zu heftig,“ wies der Schlossherr ihn an, und Cathy leitete die Information mit leichter Zeitverzögerung weiter.

Sorc nahm seinen rechten Arm aus der Schlinge und versuchte, damit das Tongefäß zu halten. Solange er nur den Unterarm bewegte, schien es zu gehen, doch er musste den Arm schon etwas anheben, um die Substanz aus der nötigen Höhe fallen zu lassen. Der Verband war allerdings dafür gedacht, eben dies zu verhindern, damit der Patient seine Schulter schonte.

Crimson sorgte sich schon, ob das wirklich alles so eine gute Idee gewesen war. Sorc versuchte noch einmal, den Arm zu heben, wobei ein angespannter Ausdruck auf sein Gesicht trat. Schließlich gab er es auf – er ließ das Gefäß los.

„Nicht doch!“ rief Crimson erschrocken.

Doch der Chaoshexer hatte alles unter Kontrolle. Das Gefäß schwebte in der Luft und kippte über dem Kessel langsam, um das körnige Pulver allmählich hinunter rieseln zu lassen. Mit der linken Hand rührte er gleichzeitig um. Manche mächtige Magier hatten Probleme damit, magische Handlungen mit banalen alltäglichen Tätigkeiten zu kombinieren, aber bei ihm sah es aus, als täte er sowas ständig. Crimson beschloss, das bei nächster Gelegenheit selber auszuprobieren, schließlich konnte er als Profi nicht hinter einem Schulalchemisten hinterherhinken. Auf jeden Fall war er sehr erleichtert, als der letzte Krümel in der Suppe verschwand und das ganze sich so verhielt, wie es sollte: Es färbte sich malvenfarben.

„Wann muss das nächste Mal etwas damit gemacht werden?“ erkundigte Sorc sich.

„Ungefähr bei Sonnenaufgang,“ antwortete Crimson durch Cathy.

„Dann komme ich wieder runter,“ teilte Sorc ihm mit, wobei er den Arm zurück in die Schlinge steckte. „Lily würde sich furchtbar aufregen, wenn sie wüsste, dass ich woanders bin als in meinem Bettchen. Catherine, du solltest dich entmaterialisieren, das verbraucht weniger Energie.“

Letzteres wusste Crimson auch, aber er ließ das Schlossherz noch bleiben, bis Sorc den Raum verlassen hatte. Danach wollte er den Weg des Mannes einfach über das allgemeine Bewusstsein des Schlosses mitverfolgen, doch er schreckte aus einem leichten Schlummer hoch, als Sorc schon wieder den Krankenflügel betrat. „Gut gemacht,“ murmelte er mühsam.

„Der Quarantänemodus strengt dich sehr an,“ befand Sorc. „Da ich nun meine Aufgabe erfüllt habe, werde ich dir auch dabei wieder behilflich sein. Ich verlasse mich auf dich.“

Crimson verstand nicht genau, was er meinte, begriff es aber bald darauf, als Sorc ordnungsgemäß in seinem Bett lag und seine mentalen Sperren fallen ließ, wie am Tag seiner Ankunft. Obwohl er verraten hatte, dass er dadurch ein leichtes Opfer war für jemanden, der es wusste, machte er es erneut genau so. Stimmte ja... er hatte sich nach dem Vorfall im Bad gegen Cathy gesperrt. Jetzt, wo das Schloss im Quarantänemodus war, die Hälfte der Bewohner auf Missionen unterwegs war und Mava krank, fiel erst so richtig auf, wieviel der ungebetene Gast immer zur Energieversorgung beigetragen hatte. Cathy stürzte sich auf ihn wie Wasser in ein neues Becken. Es passierte ganz instinktiv, weil das Schlossherz jeden Spender gebrauchen konnte. Sorc tat einen keuchenden Atemzug, beschwerte sich aber nicht, und Crimson ließ es zu, passte allerdings auf, dass Cathy es nicht übertrieb.

[Hoppla.] Diesmal gab sich Sorc zu erkennen, als er den Umweg in Crimsons Gedankenwelt fand. [Ich hab' dir ja gesagt, dass mir sowas schon ganz von selbst passiert. Es ist... ein antrainierter Reflex. Und außerdem kenne ich den Weg ja schon.]

[Lass das,] beschwerte Crimson sich, wehrte sich aber vorerst nicht dagegen. Wenn jemand so leicht in seinen Geist eindringen konnte, bedeutete das, er musste vorsichtiger sein. Andererseits konnte jemand, der gut in Telepathie war, den Spieß durchaus umdrehen.

Sorc lachte in seinem Kopf, als er diese Gedanken auffing. [Wie wahr. Aber von dir habe ich kaum was zu befürchten.]

Crimson seufzte innerlich. [Hattest du etwa auch ne Eins in Telepathie?]

[Yep!]

[Was? Hey, das sollte nur ein Scherz sein!]

[Ich war voll der Streber, also quasi das Gegenteil von dir.] Sorcs Gedankenstimme merkte man an, dass er sich amüsierte. [Mutter wollte nicht, dass ich ein Magier werde, aber mir war immer klar, dass die Magie meine Bestimmung ist. Also schickte sie mich zur Magierschule und verlangte, dass ich dort dann auch gute Noten bringe... und ich hab's ihr gezeigt. Ich ließ ihr nicht den geringsten Zweifel daran, dass ich Recht hatte.]

Crimson grübelte, ob er irgendwann mal was von so einem Schüler gehört hatte, doch ihm fiel nichts ein. [Warst du auf der Magierakademie? Dort müsste doch irgendwo eine Plakette mit deinen herausragenden Leistungen hängen, wenn du so toll warst, oder ich müsste deinen Namen mal irgendwie gehört haben...]

[Nein, nein, wir von den Eisigen Inseln gehen auf die Eisige Universität. Dort gibt es in der Tat eine solche Plakette.]

[Oh, Mann...]

[Jetzt nur keinen Neid... im Endeffekt ist es doch so, dass die guten Schüler nur ein Name auf einer Plakette sind, den sich keiner merkt, aber solche Typen wie du sind lange in aller Munde. Über die Rebellen zu tratschen, ist ja auch viel interessanter, würde ich annehmen.]

Crimson musste zugeben, dass dies wahrscheinlich stimmte, denn wen interessierten schon die Streber? Und war das ein Leben, ständig nur lernen, Bücher studieren, Leistung bringen?

Er hatte diese Gedanken nicht bewusst gesendet, dennoch antwortete Sorc darauf: [Die dummen Gesichter war es wert. Ich bin der Sohn einer Unterweltlerin und eines Kriegers. Niemand auf der Eisigen Universität hat viel von mir erwartet. Tatsächlich hatte ich ein paar Probleme mit dem Unterrichtsstoff, aber das lag nicht an meiner Unfähigkeit, sondern daran, dass ich schon immer dem Chaos gehörte. Aber das wusste ich damals noch nicht. Mein Problem war nicht, ob ich eine Aufgabe lösen konnte, sondern wie. Um die besten Noten zu bekommen, musste ich es so machen, wie es meine Lehrer für richtig hielten.]

[Wie meinst du das?] Crimson merkte, dass seine Konzentration nachließ, aber er interessierte sich dafür, was Sorc erzählte.

[Das war so, als würde man von dir verlangen, einen Bach zu überqueren, über den du normalerweise springen würdest, aber es wird erwartet, dass du eine Brücke baust. Also lernte ich auswendig, wie man theoretisch eine Brücke baut, praktisch sprang ich aber trotzdem über den Bach. Das fiel gar nicht auf, denn das Ergebnis blieb das gleiche.]

[Oh... verstehe.] Die Konzentration wurde immer schwieriger.

[Crimson, deine mentale Abwehr ist miserabel. Du gibst dir gar keine Mühe! Willst du mich nicht aus deinem Kopf werfen?]

Einerseits ja, aber Crimson war müde. Und außerdem... ups... er wusste gar nicht, wie man jemanden aus seinen Gedanken warf. Wie hätte er das auch üben sollen? Vielleicht wäre es gut gewesen, diesem Aspekt im Unterricht ein bisschen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, aber Telepathie für Fortgeschrittene hatte er nicht mehr mitmachen können, weil er ja die Akademie vorzeitig verlassen hatte.

Aber irgendwie war das alles im Moment egal. Crimson fühlte sich nicht gut, was wohl nach einem Sturz von der steilen Turmtreppe nicht überraschen sollte. Wahrscheinlich hatte Lily ihm irgendwelche Medikamente gegeben, die ihn jetzt noch benommen machten, oder der Quarantänemodus verlangte ihm zu viel ab. Sein Kopf dröhnte und sein Körper wirkte ganz schlapp. Er wollte noch nachfragen, wie es den Kindern ging, oder der Amazone, oder...

Aber dazu kam er vorerst nicht mehr.

Hausmittelchen

Crimson war nackt. Das war ihm beim letzten Mal, als er aufgewacht war, gar nicht aufgefallen, aber als früh am Morgen Lily erschien, für Olvin einen Stuhl rechts neben sein Bett stellte und bei der Gelegenheit seine Decke komplett entfernte, kam kühle Luft an seine edelsten Teile. Leider hatte er nicht die Kraft für heftigen Protest, so dass er sich darauf beschränken musste, kurz zu jammern und sich in sein Schicksal zu ergeben.

„Warum hab ich keins von diesen Hemdchen an?“ beschwerte er sich.

„Es wäre zu umständlich gewesen, dich da reinzustecken,“ erklärte Lily sachlich. „Schließlich mussten wir ständig irgendwo dran, um Salbe drauf zu tun oder so, zum Beispiel hast du hier eine entzündete Wunde, wo sich ein paar Glasscherben in deine Haut gedrückt haben.“ Sie berührte eine Stellen an seinem Oberschenkel.

Crimson konnte aus seiner liegenden Position nicht viel erkennen, nur etwas Verbandsmaterial erahnen. Aber Verbandsmaterial war überall unregelmäßig verteilt an seinem Körper.

„Wir konnten zwei Fläschchen mit Medizin retten, aber die dritte, die in deiner Robentasche war, ist zerbrochen. Die Scherben haben dich nur leicht verletzt, aber das Mittel hat eine Entzündung hervorgerufen,“ mischte sich nun Olvins sachliche Stimme in das Gespräch ein. Der alte Magier erklomm seinen Stuhl mit geübter Leichtigkeit und betrachtete den Patienten aufmerksam. „Wie fühlst du dich heute, Jungchen?“

„Uhm...“ Das hatte Crimson noch nicht so genau feststellen können. „Nicht mehr ganz so erschöpft,“ überlegte er.

Olvin nickte. „Fein. Mir ist klar, dass du momentan der Hauptenergielieferant des Schlossherzes bist, daher habe ich gestern auf eine magische Heilung bei dir verzichtet und mich auf das Wesentliche beschränkt.“

„Du meinst wohl, du hast es mir überlassen,“ warf Lily ein.

Olvin ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort: „Wie ja jeder weiß, der in Heilkunde aufgepasst hat, verbrauchen Heiltränke die Energie des Anwenders, aber auch Heilzauber, die von einem Heiler angewendet werden. Wo ist der Unterschied, Jungchen?“

Wie bitte? War das eine Prüfungssituation? „Äh... ein Heiler kann einen Großteil des Energieaufwandes selber tragen, wenn der Patient zu schwach ist, aber dennoch kostet es den Patienten Kraft?“

„Genau!“ grinste Olvin. „Also mit deiner Erlaubnis werde ich heute ein bisschen an dir arbeiten. Aber dein Schlossherz sollte darauf achten, dass deine Kraftreserven nicht zu sehr beansprucht werden. Ich selbst bin nicht in der Position, dir von meinen spenden zu können.“

„Okay,“ murmelte der Schlossherr einfach und bekam auch schon von Cathy die Bestätigung, dass er Olvins Anweisung zur Kenntnis genommen hatte.

Lily kam mit einem zusätzlichen Kissen und steckte es vorsichtig unter Crimsons Kopf und Schultern, so dass sie ihm etwas zu trinken einflößen konnte. Dem Geschmack nach zu urteilen, war es ein schwach dosierter Heiltrank.

„Was genau ist mit mir los?“ wollte Crimson wissen, als er ausgetrunken hatte. „Ich kann mich kaum bewegen...“ Seine Arme waren bandagiert, an etlichen Körperstellen klebten Pflaster, und wenn er sich ansatzweise rührte, hielten ihn Schmerzen von dem Versuch ab. Von dem Schwindel im Kopf mal ganz zu schweigen.

„Ich habe dir gestern etwas gegen die Schmerzen gegeben, aber es wirkt leider nicht ewig,“ sagte Lily bedauernd. „Davon abgesehen sollst du ja auch nicht aufstehen, also ist es gut, wenn du das auch einsiehst. So ein Sturz von der Treppe kann tödlich sein, gerade in Türmen... obwohl da oft der schräge Verlauf den Sturz frühzeitig stoppt. Du hattest Glück... vielleicht hast du instinktiv irgendeinen Zauber eingesetzt oder so. Auf jeden Fall ging es glimpflich aus.“

Glimpflich nannte sie das? Nun ja... immerhin war ja nichts gebrochen, nicht einmal seine Arme. Und auch nicht alle Portionen der Medizin waren zerstört worden. Crimson wusste noch, dass er versucht hatte, sie mit Magie zu schützen, aber er konnte sich nicht daran erinnern, ob er tatsächlich etwas zu diesem Zweck hatte unternehmen können.

Als Lily ihn Olvin überließ, fragte er den Necromanten: „Hat der übriggebliebene Heiltrank für Mava ausgereicht?“

Olvin, der gerade in Konzentration über ihn gebeugt war und dabei eine Hand auf der Brust des Patienten ruhen ließ, blickte von seiner Arbeit auf. Das Grinsen, das auf seinem runzligen Gesicht erschien, konnte man nur als schadenfroh bezeichnen. „Natürlich hat es das. Wir brauchten es im Prinzip nur, weil die Krankheit bei Mava schon ausgebrochen war und er kaum ansprechbar war. Das Mittel ist für schnelle Hilfe in schweren Fällen gedacht, aber im Prinzip wären wir mit einem einfachen Hausmittel ausgekommen.“

„Wie bitte?“ Crimson sprang beinahe auf, sank jedoch gleich darauf keuchend vor Schmerz wieder zurück in seine Ursprungsposition.

Olvin lachte belustigt. „Ich dachte mir, ich lasse dich mal das herstellen, was dein Schlossherz in seinem Datenspeicher hat. Ein Meisteralchemist wie du hätte schließlich wissen können, dass es Alternativen gibt... wenn er im Heilkundeunterricht irgendwann mal aufgepasst hätte.“

„Kannst du mal aufhören, darauf herumzureiten?“ grummelte Crimson.

„Es hätte auch sein können, dass du es von zu Hause weißt... meine Großmutter hat es mir damals zubereitet. Ach, wie lange ist das her! Es ist wirklich schon ein sehr altes Hausmittel. Die modernen Alchemisten verlassen sich meist viel zu sehr auf diese neumodischen Gebräue... dabei sitzt du hier direkt an der Quelle!“

„Äh... ja, und was ist es?“

Olvin schüttelte auf diese tadelnde Art, die er schon immer als Lehrer an sich gehabt hatte, den Kopf. „Dass du dich nicht mit deiner Umgebung hier vertraut gemacht hast, ist wirklich traurig.“

„Olvin, so langsam ist es genug, oder?“ meldete sich Sorc zu Wort.

Crimson drehte ein wenig den Kopf nach links und sah, dass Lily nun bei ihrem anderen Patienten war und gerade den Verband an der Schulter löste. Zu diesem Zweck war Sorc sein Hemdchen losgeworden, aber zumindest hatte er noch seine Decke.

„Kannst du die Finger bewegen?“ fragte Lily. „Gut... nun den Unterarm? Aha. Nein, das Schultergelenk solltest du noch schonen, bis ich die Fäden gezogen habe. Ich reibe die Stelle nochmal mit der Heilsalbe ein...“

Kurz darauf driftete der scharfe Geruch nach Kräutern zu Crimson herüber. „Sorc, was ist dieses Hausmittelchen?“ hakte er nach.

„Strandlotus,“ kam die prompte Antwort. „Er wächst in Küstengegenden, wo die Gezeiten nicht so stark sind, gerne in Lagunen und Buchten. Eine zerbrechlich wirkende Pflanze, die aber auch Sturmfluten übersteht. Schloss Lotusblüte liegt in einer Bucht, und weiter vorne im Meer befindet sich ein Korallenriff. Auf der dem Haupttor abgewandten Rückseite des Schlosses, wo es teilweise ins Meer ragt und wo seltener gebadet wird, ist alles voll davon. Durch das Klima hier blüht er fast immer, vermutlich hat das dem Schloss seinen Namen gegeben.“

„Richtig,“ bestätigte Olvin. „Zumindest einer von euch hat seine Hausaufgaben gemacht. Strandlotus kommt auch in Flussgebieten vor und kann in Seen angesiedelt werden. Es ist also kein Problem, welchen zu kriegen, wenn man ihn braucht.“

Crimson seufzte langgezogen. „Ist das der Grund, warum niemand Knochensalz für den Fall einer Schattenfieberwelle lagert?“

„Genau! Wie gesagt braucht man den Heiltrank höchstens im fortgeschrittenen Stadium, wenn der Patient komatös ist.“ Olvin war ganz in seinem Element. „Es spricht natürlich nichts dagegen, ihn ausschließlich zu benutzen, aber viele Alchemisten sind nicht bereit, Platz im Regal für kiloweise Knochensalz zu verschwenden, wenn ein Gewässer mit Strandlotus in der Nähe ist. So häufig kommt Schattenfieber dann nun doch nicht vor, und wenn, dann oft in Dörfern, wo es gar keinen professionellen Alchemisten gibt. Dafür wissen die Leute dort aber noch gut über Hausmittelchen Bescheid.“

„Was muss man mit Strandlotus machen?“ erkundigte Crimson sich.

„Oh, du wirst es lieben,“ kicherte Sorc.

Lily hatte seine Schulter fertig verbunden und zog den Vorhang vor dem Bett zu. „Fein, jetzt leg dich vorsichtig auf die Seite.“

„Kriege ich eine Massage, während du den Kratzer dort unten untersuchst?“ war Sorcs Stimme zu hören. War das ein anzüglicher Unterton? Das Bettzeug raschelte.

„Das wäre sicherlich zu anstrengend für dich,“ widersprach Lily in einem ähnlichen Tonfall. „Die Wunde könnte sich... Hey! Die Stelle hat geblutet! Hast du damit Sport gemacht oder was?“

„Ähm...“

„Sooooorc! Du musst dich ausruhen und das Bein schonen, weil IIIHKS!“

„Hab ich dir mal gesagt, dass du unglaublich erotisch aussiehst, wenn du schimpfst?“

„Das ist jetzt nicht der richtige... uh... Nicht, ich muss dich neu verbinden...Uhmmm!“

Es klang so, als würde Lily der Mund zugehalten... oder mit einem anderen Mund verschlossen... Crimson hörte lieber nicht weiter zu, sondern konzentrierte sich intensiv auf das Gefühl, das Olvins Heilkunst verursachte. Es kribbelte, als seine Wunden sich allmählich schlossen, doch das generelle Gefühl war angenehm und entspannend.

„Lass das, Sorc, du kannst nicht... oh! Ooooh! Haah!“ Lilys Stimme war zu laut, um sie auszublenden. „Nicht jetzt, Sorc, ich muss doch arbeiten!“

„Aber das tust du doch...“

Crimson konnte nicht anders, als doch wieder hinzuschauen, aber natürlich gab es außer dem Vorhang nichts zu sehen.

„Neidisch?“ neckte Olvin ihn.

Falls die verborgenen Tätigkeiten Crimson irgendwie erregt hatten, verging ihm das sogleich, als er sich bewusst wurde, dass ein alter Zausel seinen nackten Körper betatschte. Er hoffte nur, dass Sorc und Lily rechtzeitig fertig wurden, so dass Sorc sich um den nächsten Schritt des Elixiers kümmern konnte.

„Der hatte ne Eins in Heilkunde,“ grinste Olvin mit einer Kopfbewegung zum Nachbarbett. „Auch im praktischen Intensivkurs. Mit Heilzaubern kennt er sich aus... zumindest mit denen für den persönlichen Gebrauch.“

Crimson wollte im Erdboden versinken, aber er kam ja nichtmal alleine aus dem Bett. „Es gibt einen praktischen Intensivkurs für Heilkunde?“ fragte er ungläubig.

„Oh ja, an der Eisigen Universität durchaus, und der ist immer gut besucht!“ informierte Olvin ihn. „Natürlich können nur diejenigen teilnehmen, die im Grundkurs und im Erweiterungskurs gut waren, und die Teilnehmerzahl ist begrenzt. Auf der Akademie gibt es aber nur Heilkunde für Fortgeschrittene, das ist eher theoretisch.“

Diese Erklärung trug nicht dazu bei, dass Crimson sich besser fühlte. „Das klingt so, als wäre die Eisige Universität die bessere Schule.“

„Es kommt darauf an,“ meinte der Necromant. „Ich war in meiner Jugend selber dort, um die höheren Necromantiekurse zu besuchen, aber davor war ich auf der Akademie. Vielleicht hätte es dir auf der Universität besser gefallen, dort kann ein ehrgeiziger, kreativer Alchemieschüler durchaus groß rauskommen.“

„Das ist das erste Mal, dass du mich als kreativ und ehrgeizig bezeichnet hast,“ fiel es Crimson auf.

Olvin sah ihn streng an. „Nein, das war eine ganz allgemeine Formulierung!“

Er klang zwar so, als fühlte er sich ertappt, aber vielleicht war das Einbildung.

„Beide Schulen nehmen Schüler ab dem Kindesalter auf und sorgen für eine gute magische Grundausbildung,“ fuhr der alte Magier fort. „Aber auf der Eisigen Universität bieten sich mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Es gibt ein breiter gefächertes Angebot an Kursen, somit kann man sich besser auf ein Thema spezialisieren. Was natürlich auch daran liegt, dass du auf der Akademie normalerweise nach der zehnten Klasse fertig bist und dir dann einen Lehrmeister suchst. Die Universität kannst du bis zu sechzehn Jahre lang besuchen. Sie ermöglicht Dinge, die auf der Akademie verboten sind – bestimmte Zaubertränke zum Beispiel. Aber für dich wäre das wohl nichts gewesen, Jungchen.“

„Ach, und wieso nicht?“

„Weil sie dort weder Störenfriede noch Faulpelze dulden! Wer unangenehm auffällt und die Lernerfolge der anderen stört, fliegt schlicht und einfach raus.“

Crimson schwieg und dachte darüber nach, ob er sich etwas weniger rüpelhaft verhalten hätte, wenn er auf seiner Schule nach Herzenslust seiner alchemistischen Neigung hätte nachgehen können. Vielleicht wäre er ein guter Schüler gewesen, wenn sie seinen Tatendrang nicht immer so unterbunden hätten... Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass er auf der Eisigen Universität ohne bestimmte Grundkurse ausgekommen wäre, die sicherlich gefordert wurden. Genau das war ja sein Problem: Viele Pflichtveranstaltungen hatten ihn einfach nicht in ausreichendem Maße interessiert.

Olvin schloss nun konzentriert die Augen, und Crimson sprach ihn lieber nicht mehr an. Er konnte mehr von der Heilmagie spüren, teilweise war es unangenehm, so als würde jemand seine Muskeln brutal kneten und wieder in Form bringen. Wunden auf der Haut dagegen juckten stark beim beschleunigten Heilen.

Indessen wurde die Geräuschkulisse hinter dem Vorhang angespannter und erregter. Offenbar hatte Lily ihren Widerstand aufgegeben und erfreute sich an Sorcs Zuwendungen. Beide versuchten, ihre Laute ein bisschen zu unterdrücken, was aber nicht immer gelang. Oh Mann... Crimson hatte zwar bemerkt, dass die beiden sich ganz gut verstanden, aber nicht erwartet, dass sie schon so ein inniges Verhältnis hatten. Sorc war wohl etwas zu oft Patient hier gewesen.

Kurz darauf hörte er gar keine Geräusche mehr, was er erst merkwürdig fand, doch dann musste er lächeln – der Stillezauber war schließlich etwas, was man sehr früh lernte... und zwar meistens nicht von seinem Meister, Lehrer oder einem Elternteil, sondern von einem Kumpel oder aus einem Buch. Crimson konnte nach einigen weiteren Minuten erkennen, dass die Angelegenheit ihren Höhepunkt erreichte, denn ein ungewöhnlicher Ausbruch an Magie war zu spüren. Nie zuvor war er mit einem Heilzauber dieser Art im selben Raum gewesen und fand es faszinierend, dies aus der Zuschauerperspektive (falls man das so nennen konnte) zu erleben.

„Er verschwendet ziemlich viel Kraft,“ bemerkte Olvin. „Als ob er einen Becher Wasser trinkt und die Hälfte verschüttet. Ich frage mich, ob er das mal besser konnte, wenn er eine Eins in dem Fach hatte.“

„Äh... kommt die praktische Anwendung etwa im Unterricht vor?“ fragte Crimson ungläubig.

„Wenn man den Gerüchten glauben darf, sind die da nicht gerade prüde.“ Olvin nahm seine Hände von Crimsons Körper und deckte ihn wieder zu. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das war's erstmal, Jungchen. Mehr möchte ich dir im Moment nicht zumuten.“

Es sah eher so aus, als wäre er an seine eigenen Grenzen gestoßen, doch darauf ritt Crimson lieber nicht herum. Er fühlte sich besser als vor der Behandlung, allerdings auch müder. „Danke, Olvin.“

Der Alte nickte langsam und mit ernster Mine, stieg aber noch nicht von seinem Stuhl. „Jungchen, du wirst Schattenfieber bekommen. Du hattest direkten Kontakt mit Mava, und ich kann erste Anzeichen in deinem Immunsytem feststellen. Du solltest... Vorkehrungen treffen. Was immer du für nötig hältst für den Fall, dass du nicht mehr Herr der Lage bist.“

Crimson atmete einmal tief durch. Befürchtet hatte er es ja, aber im Moment nicht mehr daran gedacht. „Kannst du nichts dagegen machen?“

Olvin schüttelte den Kopf. „Ich bin auf Necromantie spezialisiert und gut im Heilen von Verletzungen. Aber Krankheiten sind ein anderes Fachgebiet. Außerdem... nun ja, du musst selber bei guter Gesundheit sein, um sowas zu können. Das bin ich nicht, wie du weißt.“

„Oh... ja.“ Und wenn das Elixier verdarb, würde sich daran vielleicht auch nie wieder etwas ändern. Crimson warf einen Blick auf den Vorhang vor Sorcs Bett.

„Zu deiner Information,“ lenkte Olvin seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Ich gebe dir keine zusätzliche Frist zu dem Monat, den ich dir gewährt habe. Und ich habe nicht vergessen, dass du mir noch etwas schuldig bist. Wenn du versagst, weil eine unerwartete Krankheit nicht in deinen Zeitplan passt, nehme ich dir deinen Effekt, indem ich dir die Haut vom Rücken abziehe und mir daraus einen Lampenschirm mache. Ich lasse keine Ausrede gelten, denk daran.“

Crimson schluckte. Er hatte vollkommen verdrängt, dass er dem Alten versprochen hatte, dass er seinen Effekt zerstören durfte. Es war in einem schwachen Moment geschehen, aber dennoch war es ein Versprechen, an das er sich halten würde. Die neue Drohung schwebte wie ein erhobenes Schwert über ihm, und er wusste keine Antwort darauf außer: „Verstanden.“

„Fein.“ Olvin kletterte vom Stuhl und schlenderte davon.

Kurz darauf zog Sorc seinen Vorhang auf und verließ sein Bett unter heftigem Protest von Lily. Er zupfte gerade sein Krankenhemdchen zurecht. „Wirklich, du musst dir keine Sorgen mehr deswegen machen, Liebes. Die Hüfte tut gar nicht mehr weh.“

„Deswegen sollst du trotzdem nicht gleich aufstehen!“ bestimmte die Fee. „Du musst dich ausruhen, und dein Arm ist noch lange nicht in Ordnung...!“

„Ich komme ja wieder,“ versprach er ihr und stupste neckisch ihre Nase an. „Es ist ein Notfall.“

Lily schmollte, sagte aber nichts mehr.

Sorc trat neben Crimsons Bett. „Ich mache mich auf den Weg. Hast du bestimmte Anweisungen für diesen Arbeitsschritt?“

Es handelte sich um das, was Veiler mitgebracht hatte. „Die Blätter müssen im Mörser zerkleinert werden, aber sortier die Blüten aus,“ sagte Crimson. „Bring am besten das Buch mit, wenn du zurückkommst. Ich, ähm... ich muss die nächsten Tage mit dir durchgehen. Kriegst du es hin, wenn ich dich nicht anleiten kann? Laut Olvin habe ich mich bei Mava angesteckt.“

„Wenn wir es vorher besprechen, dürfte das kein Problem sein,“ nickte der Chaoshexer. „Und mach dir keine Sorgen, dass ich krank werden könnte... ich hatte Schattenpocken, als ich acht war.“

Das war eine Information, die Crimson erleichterte. So war es doch gleich viel unwahrscheinlicher, dass auch Sorc ausfiel. „Wie kommst du damit zurecht, dass Cathy dir mehr Energie als sonst abzieht?“ fragte er ihn.

Sorc drehte sich zu kurz Lily um, als befürchtete er eine neue Schimpftirade. Sie stand neben seinem Bett und sortierte etwas Verbandsstoff, den sie nicht gebraucht hatte. „Ich kann damit umgehen,“ versicherte er. „Bis sich die Situation ändert, werde ich eben etwas mehr Schlaf benötigen. Kay wollte das Frühstück machen, ich werde versuchen, rechtzeitig wieder hier zu sein.“

Erneut sah Crimson dem Hexer nach, und dieses Mal war kein Hinken in dessen Gang zu erkennen. Demnach musste der Heilzauber funktioniert haben, auch wenn dabei laut Olvin zuviel Kraft verschwendet worden war. Erstaunlich, dass es mit einer Fee klappte, aber andererseits war Sorc da wohl wie Blacky – er stellte es einfach nicht in Frage.
 

Sie machten es wieder so wie beim letzten Mal. Sorc erwies sich als ausreichend guter Alchemist, um Crimsons Bedenken in dieser Hinsicht zu zerstreuen. Nach zwei Malen konnte man zwar noch kein endgültiges Urteil fällen, aber der Chaosmagier machte einen kompetenten Eindruck. Er brachte das benutzte Geschirr und das Buch mit, als er zurückkehrte.

Zu diesem Zeitpunkt waren Dark und Blacky anwesend, denn sie hatten zwei Tabletts mit Frühstück gebracht. Sorc war so geistesgegenwärtig, das Buch mit der Titelseite nach unten und mit dem Buchrücken dem Kissen zugewandt auf sein Bett zu legen, als handle es sich nur um etwas Lektüre. Der Titel „Anspruchsvolle Tränke, Gifte und Elixiere für den ehrgeizigen Magier“ hätte bei Dark sicherlich ein Stirnrunzeln hervorgerufen, hieß das doch soviel wie „Alchemie für aufstrebende Dunkle Herrscher“. So ein Buch zu besitzen und es zu benutzen waren zwei verschiedene Paar Schuhe.

Es gab Suppe, eigentlich nur Brühe mit Wildkräutern. Seltsamerweise war Crimson damit völlig zufrieden, auch dann noch, als er sah, dass sein Bettnachbar zusätzlich Brot, Obst und Honig bekam. Das hing vielleicht auch damit zusammen, dass er nicht ohne Hilfe essen konnte.

„Wie ist die Lage?“ fragte er Dark, der sich, bewaffnet mit einem Löffel, auf den Stuhl gesetzt hatte, den Olvin zuvor benutzt hatte. Crimson aß brav, was ihm hingehalten wurde.

„Yami zeigt erste Anzeichen von Schattenfieber,“ sagte Dark. „Es geht ungewöhnlich schnell bei ihm. Bei allen anderen ist es sehr wahrscheinlich, dass sie es kriegen werden, weil die meisten von uns in irgendeiner Form mit Mava Kontakt hatten. Die beiden kleinen Mädchen haben ihm das Essen gebracht, und ich selbst habe später das Geschirr abgeholt, weil ich kurz mit ihm reden wollte, aber er hat geschlafen. Appi, Yugi und Yami haben Mava hierher gebracht, als sie merkten, dass er krank ist. Du hast dich wahrscheinlich schon davor angesteckt, gleich als er ankam, nicht wahr? Blacky ist der Einzige von uns, der Mava in keiner Form begegnet ist, aber vielleicht hat er es sich schon bei Yami geholt. Eventuell bekommt er es etwas später. Dann wären da noch Eria und diese Amazone... Atria heißt sie, oder? Beide könnten verschont bleiben, falls sie sich entsprechend vorsichtig verhalten. Bei der Amazone gibt es nur das Problem, dass sie sich von uns Männern nichts sagen lässt.“

„Dann soll Lily mit ihr reden.“

„Lily dürfte sich auch angesteckt haben.“

Diesen Aspekt hatte Crimson noch nicht bedacht. „Aber... sie ist meine Heilerin!“

„Das tut nichts zur Sache,“ bedauerte Dark.

Crimson überlegte. Fehlte nicht noch jemand? „Du hast Cross und Kuro vergessen.“

„Ach ja...“ Dark gab ihm mehr von der Suppe. „Mein Vater ist immun dagegen, er hatte Schattenfieber auf einer seiner Reisen. Cross habe ich nicht gefragt. Er kümmert sich um die Drachen. Die können das jedenfalls nicht kriegen.“

Crimson nickte. „Okay. Wie geht es Eria, ist sie inzwischen erwacht?“

Cathy hatte jedenfalls nichts vermeldet, er war heute generell etwas schweigsam, aber Crimson spürte, dass sein Schlossherz beschäftigt war.

„Vater sieht regelmäßig nach ihr. Vorsichtshalber geht außer ihm und Olvin niemand zu ihr in das Zimmer. Sie war wohl kurz wach und konnte etwas trinken, ist aber wieder eingeschlafen, ohne etwas zu sagen. Olvin meint, sie ist nur völlig erschöpft.“ Dark schenkte seinem Cousin ein ermutigendes Lächeln. „Wir kriegen das schon alles hin. Wenn du dich sogar mit Sorc verbrüderst, sollte alles Weitere ein Kinderspiel sein.“

„Ich, mich mit Sorc verbrüdern?“ empörte Crimson sich. „Ich habe nichts dergleichen...“ Er unterbrach sich, als ihm bewusst wurde, dass die Person, über die er sprach, ihn vom Nachbarbett aus fragend anschaute. So aus dem Augenwinkel gab es Sorc sogar in doppelter Ausführung, wenn Blacky direkt neben ihm saß.

Beide Chaosmagier bissen synchron von einer kleinen Frucht ab. Es sah nicht so aus, als würde einer sich über Crimsons Worte aufregen. Der Weißhaarige blickte verlegen auf seine Hände. Es war unfair, so abweisend zu sein, wo doch Sorc dabei war, ihm den Arsch zu retten.

„Nun, ähm... wir kommen miteinander klar,“ räumte Crimson ein.

„Iss deine Suppe auf,“ grinste Dark und hielt ihm den Löffel vor die Nase.

Crimson gehorchte und aß schweigend. Nachdem er den Teller geleert hatte, hatte er aber schon genug. War Appetitlosigkeit schon ein Anzeichen der Krankheit? Es war ein seltsames Gefühl, darauf zu warten.

„Könnte mir vielleicht jemand ein Nachthemd bringen, bevor ich geistig wegtrete?“ fragte er in die Runde.

„Ich kümmere mich darum,“ versprach Dark. „Aber mach dir keine Sorgen. Wenn Schattenfieber von Anfang an behandelt wird, wird es nicht so schlimm. Du dürftest die meiste Zeit bei Bewusstsein sein.“

„Die Frage ist, ob ich das will, während ich Fieber habe und wer weiß was noch.“ Crimson wusste eigentlich gar nicht, was ihn erwartete. Er hatte Mava gesehen, aber dabei nur einen kurzen Blick auf die Symptome werfen können.

„Falls es dich tröstet, wir werden das wohl gemeinsam herausfinden können.“ Dark tätschelte seine Hand. „Soll ich dafür sorgen, dass ich ein Bett neben dir kriege?“

„Das ist nicht witzig.“ Dennoch zuckten Crimsons Mundwinkel nach oben, denn er hatte das Gefühl, als wäre die Situation unter Kontrolle... wenn auch nicht unter seiner.

Diesen Moment suchte sich Kuro für seinen Auftritt aus. Er schien, wie zuvor Blacky und Dark, aus der Küche zu kommen, denn er trug noch seine Schürze. Aber er marschierte auf die Betten zu wie ein Soldat, um sich bedrohlich vor Sorc aufzubauen. „Duuu! Kinderschänder! Endlich zeigst du dein Wahres Gesicht!“

Alle starrten ihn entgeistert an, einschließlich Blacky, der sich direkt neben der Szene befand, aber nicht eingriff. Sorc hatte einen ernsten, wachsamen Gesichtsausdruck angenommen.

„Ähm, Vater, was hat das zu bedeuten?“ fand Dark als Erster seine Stimme wieder.

„Ich habe Eria gerade das Frühstück gebracht,“ verkündete Kuro, ohne den Blick von Sorc zu nehmen. „Sie ist erwacht, als ich reinkam, und konnte mir mitteilen, dass du versucht hast, dich an ihr zu vergehen!“

Sorc schob den anklagenden Zeigefinger zur Seite, der drohend in seine Brust piekte. „Ich bitte dich, Black Skill. Crimson kann bezeugen, wie es wirklich war.“

„Ich rede nicht nur von der Sache im Bad, sondern von anderen Gelegenheiten, bei denen du ihr aufgelauert hast!“ beharrte Kuro.

„Wie bitte soll ich sowas machen, wenn das Schlossherz mich die ganze Zeit überwacht?“ wandte Sorc ein, allmählich etwas gereizt.

„Du weißt es, wenn das Schlossherz seine Aufmerksamkeit bei dir hat,“ warf Kuro ihm vor. „Und du kannst dich vor ihm verbergen, wenn du es darauf anlegst! Ist es nicht so?“

Sorc widersprach nicht, statt dessen hob er trotzig das Kinn und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Im Raum schien es kühler zu werden, und die gewohnte, sichere Atmosphäre wich einem Gefühl der Bedrohung.

Crimson gefiel die Wendung nicht, die dieses Gespräch nahm. Er wusste, dass er sich in diesem Moment vor allem um seine Schülerin sorgen sollte, doch ein anderer Gedanke drängte sich ihm auf: Was wird aus dem Trank im Alchemieturm, wenn Sorc ausfällt?

Zweifel

Crimson konnte nicht eingreifen. An etwas, das direkt neben ihm stattfand, konnte er nichts ändern – jedenfalls nicht durch körperlichen Einsatz. Und was seine Stimme betraf... er war so entgeistert, dass sie versagte und er nur zuschauen konnte, bis er entschied, was er dazu sagen sollte.

Sorc erhob sich vom Rand des Bettes. Der Chaosmagier überragte den Gegner, doch Kuro, der ihn gerade beschuldigt hatte, Eria bedrängt zu haben, wich keinen Zentimeter. Die Luft in der Umgebung lud sich auf und wurde schwer zu atmen.

„Hast du irgendwelche Beweise außer dem Wort des Mädchens?“ erkundigte Sorc sich. Er sprach leise, doch gerade deshalb hörte man ihn gut.

„Ich brauche keine! Ihre Angst vor dir ist mir Beweis genug!“ zischte Kuro wütend.

Die beiden Männer waren wie zwei Raubtiere, die jeweils den Gegner taxierten, bevor sie aufeinander losgingen. Mit gesträubtem Fell umkreisten sie sich lauernd...

Dark hatte lautlos seine Stuhl verlassen und sich hinter seinem Vater aufgebaut, griff aber nicht in das Geschehen ein. Auch Blacky saß nicht mehr auf dem Bett. Die beiden wirkten etwas unschlüssig, aber wahrscheinlich wollten sie verhindern, dass die Älteren aufeinander losgingen.

Crimson dachte daran, dass Sorc vor nicht ganz einem Jahr Blacky dazu gebracht hatte, seinen eigenen Geliebten anzugreifen. Er hatte sich heimlich in dessen Kopf eingenistet, und nun... nun hatte er auch den Weg in Crimsons Gedankenwelt gefunden. Vielleicht hätte er das nie zugegeben, wenn nicht die Notsituation im Bad aufgetreten wäre. Konnte er auf diesem Wege auch das Schlossherz beeinflussen? Womöglich wartete er nur auf eine Gelegenheit, um sich für die erlittene Niederlage zu rächen. Dazu konnte durchaus gehören, dass er sich beim Schlossherrn beliebt, ja unentbehrlich machte. Die Ärztin hatte er ja schon rumgekriegt. Blacky war jetzt auf seiner Seite. Sogar Olvin hatte zumindest eine neutrale Einstellung zu ihm. Vielleicht beeinflusste er den Necromanten schon länger. Er konnte sogar den Zirkel des Bösen mit seinem würdevollen Getue und seiner Kooperationsbereitschaft um den Finger gewickelt haben...

Crimson war durcheinander. Er hatte wirklich gedacht, dass mit der Zeit alles in Ordnung kommen würde... dass Sorc jetzt auf seiner Seite war, nachdem er geschworen hatte, sein loyaler Chaoshexer zu sein. Konnte er sich so getäuscht haben? Er kam sich so dumm vor... wie hatte er das glauben können? Das Vertrauen war definitiv nicht da, stellte Crimson fest. Er misstraute Sorc so sehr, dass er ihm plötzlich jede Kleinigkeit als Hinterhältigkeit auslegte. Zugleich war der Chaoshexer derjenige, dem er sein Elixier anvertrauen wollte, noch vor Dark. Wie passte das zusammen? Schon schlich sich wieder das Misstrauen ein: Weil er dich beeinflusst! All die Zurückhaltung, die nette Art... das konnte alles Taktik gewesen sein!

Sorc straffte die Schultern, obwohl die rechte vermutlich noch schmerzte. „Dein Beweis hinkt, Kuro. Dieses Mädchen hat keine Angst vor mir. Sie ist die Tochter einer Amazone, eine Kämpferin, die sich auf einen Gegner vorbereitet, bevor sie ihn angreift. Nur durch ihre Unerfahrenheit hat sie gegen mich verloren.“ Er schnaubte verächtlich. „Selbst wenn sie Angst vor mir hätte... das beweist noch gar nichts.“

„Warum sollte Eria denn lügen?“ schrie Kuro aufgebracht. „Ihr Angriff auf dich erfolgte wahrscheinlich, weil sie sich keinen anderen Rat mehr wusste!“

Hinter ihm schien Dark damit zu ringen, ob er seinen Vater zurückhalten sollte, denn Kuro machte den Eindruck, dass er sich gleich auf Sorc stürzen wollte.

Lily hatte sich diesbezüglich schon entschieden. Entschlossen betrat sie die Szene. „Hier wird nicht rumgeschrien!“ wies sie Kuro zurecht. „Bitte lass den Patienten in Ruhe!“

„Halt dich raus!“ sagte der Finsternismagier zu ihr, wobei er sich deutlich bemühte, sich ihr gegenüber nicht im Ton zu vergreifen. „Wir müssen diese Sache jetzt klären!“

„Dann solltest du Eria fragen, warum sie lügt,“ schlug Sorc ihm vor.

Weil sie dich loswerden will, dachte Crimson sogleich. Deswegen hatte sie ja auch versucht, ihn im Bad zu töten, nicht wahr? Weil sie ihn anders nicht loswurde. Sie wollte ihn bestrafen. Das hatte sie ihm selber gesagt... falls Sorc die Traumszene, die Crimson gesehen hatte, nicht manipuliert hatte. Die Zweifel waren schon wieder da!

Crimson dachte fieberhaft nach. Was konnte er noch glauben? War vielleicht sein Urteilsvermögen getrübt? Benutzte Sorc ihn nur, um bei nächster Gelegenheit wieder an die Macht zu kommen? Andererseits hatte er stets den Eindruck, dass Sorc ehrlich mit ihm war... manchmal auf eine geradezu brutale Art ehrlich. Es war leicht, jemandes Verhalten negativ auszulegen, wenn die Vorurteile nur groß genug waren. Das merkte er ja gerade selber. Seit Kuro mit dieser Anschuldigung hereingeplatzt war, ließ Crimson in Gedanken kein gutes Haar mehr an Sorc. Davor war er nicht so kritisch gewesen. Eigentlich sollte er sich dafür schämen, so wankelmütig zu sein.

„Onkel Kuro... bitte hör damit auf,“ bat er schließlich.

Der Ältere drehte sich mit einem überraschten Gesichtsausdruck zu ihm um. „Entschuldige Crimson, wenn ich zu laut war, aber diese Sache duldet keinen Aufschub.“

„Es geht mir nicht um die Lautstärke. Bitte hör auf, Sorc zu beschuldigen. Er ist Eria aus dem Weg gegangen, seit sie sich einmal kurz begegnet sind.“ Crimson bemühte ich um eine feste Stimme.

„Das glaubst du!“ widersprach Kuro. „Anscheinend nicht! Außerdem streitet er nicht einmal ab, dass er ihr etwas angetan hat!“

„Aber er hat es auch nicht zugegeben,“ stellte Crimson klar, und es erschien ihm richtig, das zu sagen. „Wenn Eria wirklich solch eine Anklage vorgebracht hat, werde ich mich darum kümmern. Es ist nicht deine Aufgabe, über Sorc zu richten, Onkel Kuro. Ich bin der Schlossherr, und der Zirkel des Bösen hat Sorc mir unterstellt. Wenn ich ihn für schuldig befinde, werde ich dafür sorgen, dass der Zirkel entsprechend reagiert.“

„Während wir darauf warten, dass der Zirkel des Bösen eingreift, kann er das Schloss in die Luft sprengen!“ regte Kuro sich auf.

„Nein, kann er nicht!“ widersprach Crimson heftig. „Sie haben nicht umsonst einen Magier dafür ausgesucht! Ich werde mit ihm fertig!“

Sorcs rechte Augenbraue zuckte, aber er äußerte sich nicht dazu. Crimson fragte sich, wie es in dem Chaoshexer aussah. Musste er nicht ernsthaft um seine Sicherheit fürchten, wo doch ein kleines Kontaktformular ausreichte, damit man ihn dauerhaft aus dem Verkehr zog? Er wirkte immer so beherrscht...

Dann erinnerte er sich wieder an die Szene im Kellerbad... als Sorc eine neutrale Miene aufgesetzt hatte, sobald weitere Personen den Raum betreten hatten. Das war es. Er trug wieder eine Maske. Immer. Denn er konnte oder wollte sich keine Schwäche erlauben. Fasziniert begriff Crimson, dass er hier einen Mann vor sich hatte, der wahrscheinlich sogar aufrechten Hauptes zu seiner Hinrichtung schreiten würde, wenn es dazu käme.

„Helft mir mal,“ murmelte Crimson. „Lily, bring mir so ein Hemdchen. Dann gib mir irgendwas gegen die Schmerzen.“ Er versuchte, sich die Bettdecke vom Körper zu ziehen, doch sein ganzer Körper wirkte müde und schwer. Sicherlich eine Folge des Heilzaubers, denn zumindest konnte er sich besser bewegen als davor, wenn auch nicht schmerzfrei. Wie viele Stufen war er heruntergefallen? Jede einzelne hatte anscheinend eine Erinnerung hinterlassen.

„Direktor, bist du verrückt?“ rief Sorc und wollte ihm zu Hilfe eilen, doch Lily schubste ihn zurück aufs Bett, bevor Kuro sich ihm in den Weg stellen konnte.

„Du bist hier selber Patient, also bleib, wo du bist!“ Die Fee wandte sich dem anderen Bett zu. „Und du! Was denkst du, was du da tust, Crimson? Du kriegst ja kaum die Beine auf den Boden!“

„Ich will zu Eria,“ setzte er fest. „Wenn ich jetzt nicht gehe, schaffe ich es nicht mehr. Ich muss zu ihr, bevor ich sie mit Schattenfieber anstecken kann...“

Kuro warf Sorc noch einen finsteren Blick zu. „Ja, von mir aus fragen wir Eria, aber du solltest liegen bleiben, Junge. Eria kann zu dir kommen.“

„Ich möchte nicht, dass sie mit Sorc im selben Raum ist,“ widersprach Crimson.

„Wieso nicht?“ meldete sich erstmals Blacky zu Wort. „Wenn sie ihm etwas vorzuwerfen hat, kann sie das in seiner Gegenwart tun, oder befürchtest du, dass er sie zu sehr einschüchtert? Dass er sie vor unseren Augen anfällt?“

„Das... ist nicht der Grund...!“ Crimson fühlte sich genötigt, seine Entscheidung zu rechtfertigen, denn irgendwie wurde er falsch verstanden. „Ich wollte nur erstmal mit ihr alleine reden... ganz in Ruhe...“

„Alternativ könnten wir Sorc in den Kerker umsiedeln,“ grinste Kuro gehässig.

„Es war Malice, der in deinem Gehirn herumgepfuscht hat, nicht Sorc!“ sagte Blacky. „Du solltest also endlich aufhören, ihn immerzu...“

„Nicht, Kay,“ unterbrach Sorc ihn. „Mach dich nicht um meinetwillen unbeliebt.“

Die Situation war denkbar ungünstig, wie immer, wenn die Väter Feinde und die Kinder Verliebte waren. Crimson nahm sich vor, dieses Problem irgendwie zu lösen, bevor es zu einem Konflickt kam, der Blackys Position als Darks Partner verkomplizierte. Umso dringender wollte er Erias Anklage überprüfen. Er fand es sehr wahrscheinlich, dass sie log – und das gefiel ihm nicht. Sie war seine Schülerin; von ihr angelogen zu werden, war einfach undenkbar. Andererseits... sie hätte in dem Fall nicht wirklich ihn angelogen, sondern Kuro. Er würde abwarten, wie sie sich ihm selbst gegenüber verhielt.

„Bring mir jetzt endlich was zum Anziehen, Lily, oder ich gehe nackt!“ verlangte Crimson nachdrücklich. „Ich könnte den Weg schon längst geschafft haben!“

„Ich als deine Ärztin kann das nicht befürworten und ich weigere mich, das auch noch zu unterstützen!“ erklärte die Fee und verschränkte trotzig die Arme.

Crimson schob mühsam zentimeterweise die Beine aus dem Bett. „Fein! Onkel Kuro, gib mir deine Schürze!“

„Was? Jetzt übertreib es mal nicht!“

„Er ist der Schlossherr. Ihr solltet seine Entscheidungen befolgen,“ sagte Dark, der plötzlich mit einem der Krankenhemdchen bei ihm auftauchte. „Auch wenn seine Wünsche euch nicht logisch erscheinen... er muss sich nicht dafür rechtfertigen. Das solltest du wissen, Vater.“

Kuros Gesicht lief rot an. „Ich... hmpf!“

Auch Lily war das wohl etwas peinlich. „Na wie du meinst... ich hole dir ein Schmerzmittel. Aber beschwer dich nicht!“

Das tat Crimson dann auch nicht, obwohl Lily natürlich mit einer ihrer Injektionsampullen zurückkehrte. Was sie ihm verabreichte, hatte nicht er hergestellt, deshalb mochte er es nicht. Und er mochte die Nadeln nicht. Aber im Moment war es ihm egal, also ließ er sie machen.

„Es wird einen Moment dauern, bis es wirkt,“ teilte Lily ihm sachlich mit.

Während er darauf wartete, dass die Wirkung eintrat, ließ er sich von Dark in das Hemdchen helfen. Es war wirklich bedauerlich, dass Dark noch keine Gelegenheit gehabt hatte, ihm eine vernünftige Robe zu holen, aber es musste auch so gehen. Hoffentlich war das Zimmer, in dem sich Eria jetzt befand, nicht zu weit weg. Crimson fand schon das, was er bisher erreicht hatte, sehr anstrengend und schweißtreibend.

„Ähm... Entschuldigung...“

Alle sahen zur Tür, die unbemerkt aufgeschoben worden war.

„Uhm... Meister, du musst nicht zu mir kommen,“ sagte Eria. „Cathy hat mir erzählt, was hier vorgeht, deshalb bin ich hergekommen.“ Sie schloss die Tür hinter sich und wandte sich den Anwesenden zu, wobei sie Haltung annahm und das Nachthemd glatt strich, das sie trug.

Cathy materialisierte sich. „Entschuldigt, Meister, ich weiß, dass Ihr andere Wünsche hattet, aber wir befinden uns im Quaranthänemodus. Dieser erlaubt es mir, medizinische Belange vorrangig zu behandeln, wenn das für das Schloss besser ist. Zur Zeit kann ich Euch nicht gestatten, Eure Kraft unnötig zu verbrauchen.“

Crimson wollte protestieren, besann sich aber eines Besseren vor all den Leuten. „Ich wollte dich eigentlich nicht dieser Situation aussetzen, Eria,“ sagte er statt dessen.

„Aber ich kann auch nicht zulassen, dass du in deinem Zustand den Weg zu mir auf dich nimmst,“ lächelte das Mädchen zaghaft. „Es ist schon gut so... ich will etwas sagen, das alle angeht. Sorc, wie geht es dir?“

Der Chaosmagier wurde anscheinend völlig von ihrer Frage überrascht, denn man sah das deutlich auf seinem Gesicht. „Ähm... ganz gut, würde ich sagen.“

Eria behielt ihr Lächeln bei, aber es nahm einen bösen Zug an. „Das ist... bedauerlich.“ Sie kam näher, bis auch sie bei den beiden Betten stand. „Du hättest wenigstens den Anstand haben können, einige Tage lang Schmerzen zu leiden... vielleicht ein bisschen Wundfieber dazu? Dann hättest du vielleicht ansatzweise verstanden, was du uns angetan hast!“

„E-Eria...“ Crimson war entsetzt, so kannte er sie gar nicht. Sie hatte zumindest in Gegenwart weiterer Personen keine Angst vor Sorc.

Sie sah ihn an, und der gehässige Gesichtsausdruck wich einem bedauernden. „Es tut mir Leid, Crimson, ich wollte dich nicht hintergehen. Aber jemand von uns musste etwas unternehmen! Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, mit dem Kerl unter einem Dach zu leben... dich mit ihm unter einem Dach zu wissen! Du hast so blind darauf vertraut, dass Lord Genesis weiß, was er tut. Hast du mal überlegt, dass er Sorc vielleicht hergeschickt hat, damit du dich rächen kannst?“

„Was? Nein... das würde er nie tun, ohne es mir zu sagen!“ Allerdings wäre es dem Vampir zuzutrauen. Wenn wirklich jemand Crimsons Anmeldung gefälscht hatte, wusste Genesis es vermutlich nicht und dachte vielleicht, dass der Schlossherr sich genau diese Chance erhoffte.

„Am Anfang... habe ich noch gar nicht so weit gedacht...“ fuhr Eria fort. „Ich war nur schockiert, als ich ins Schloss zurückkehrte und feststellen musste, dass auch Sorc hier ist. Von dir geduldet! Ich suchte verzweifelt nach einem Weg, ihn loszuwerden... da erschien mir Cathy und berichtete mir alles über dein Gespräch mit Sorc, das ihr über seine Gerichtsverhandlung und das Rehabilitationsprogramm hattet... und das Kontaktformular... Ich habe es aus deinem Zimmer gestohlen und deine Schrift imitiert. Cathy konnte mir dabei helfen. Er fand Dokumente, die du besonders sauber handschriftlich verfasst hast, und ich malte die Buchstaben sorgfältig ab. Natürlich hoffte ich auch, dass die vom Zirkel deine Handschrift nicht so gut kennen. Sobald die Unterschrift auf dem Formular war, löste es sich auf – anscheinend haben diese Zettel einen Teleportzauber auf sich, schließlich sind sie ja auch für Notrufe gedacht.“

„Also warst das wirklich du,“ murmelte Crimson betroffen.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ja... ich habe mich gewundert, warum du mich nie gefragt hast. Wahrscheinlich wäre ich nicht in der Lage gewesen, dich anzulügen. Aber du hast nie gefragt. Und du hast leider auch nicht die Gelegenheit genutzt. Mir war ja klar, dass du darauf kommen würdest, dass jemand das Formular gefälscht hat, aber du hättest die Gelegenheit nutzen können! Zack, wir wären Sorc losgewesen. Diesmal für immer.“

„Also hast du dann beschlossen, dich selbst darum zu kümmern...“ schlussfolgerte Crimson. „Und Cathy hat dir wieder geholfen, weil er dachte, dass es insgeheim mein Wunsch ist.“

„Ja... es war nicht ganz einfach für mich, aber ich konnte mich mit ihm verbinden und mir Kraft von ihm leihen. So wurde meine Angriffskraft vervielfacht. Cathy wartete auf eine Gelegenheit und sagte mir Bescheid. Sorc war im Bad, umgeben von Wasser, meinem Element, und du hast geschlafen. Das war ideal. Ein unbewaffneter Gegner, der mich unterschätzt.“ Eria seufzte. Ihre Haltung sank frustriert in sich zusammen. „Es lief so gut... fast hätte ich ihn gehabt. Ich kann mich nur nicht mehr ganz klar erinnern... Als ich in einem Bett wieder zu mir kam, hat Cathy mir erzählt, dass du aufgewacht bist und eingegriffen hast. Und auch, dass er mir nicht mehr helfen kann, weil du es verboten hast. Ich war verzweifelt.“

Kuro räusperte sich. „Also hast du mir erzählt, dass Sorc dich bedroht hat, damit ich das Problem für dich beseitige?“

Sie nickte. „Ja, das sah ich als meine letzte Chance. Ich wollte das sowieso sagen, wenn man mich fragt, warum ich Sorc angegriffen habe. Ich wollte ihn töten und behaupten, es war Notwehr. Wer hätte das schon bezweifelt? Und ich war überzeugt, dass auch du nicht nachfragen würdest, Crimson. Schließlich... war es ja irgendwie doch dein Wunsch, dass Sorc stirbt. Da es so nicht geklappt hatte, sah ich meine Chance, als Kuro vorhin reinkam. Jeder weiß ja, dass er Sorc auch loswerden will. Er war leicht zu überzeugen. Ich musste nur kurz erwähnen, dass Sorc mir in eindeutiger Absicht auf die Pelle gerückt ist. Schon stürmte er wutentbrannt raus, um den Kerl zu erledigen. Ich habe leider nicht berechnet, dass er vielleicht nicht alleine ist...“

Es blieb für einige Sekunden ganz still im Raum. Eria stellte sich wieder ganz gerade hin und hob das Kinn. „Denkt nicht, dass es mir Leid tut. Ich bedaure, dass ich gegen dich arbeiten musste, Crimson... aber ich wollte dir nur helfen.“

„Indem du seinen Onkel zu mir schickst?“ Sorc erhob sich mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht. „Stell dir vor, Kuro wäre allein auf mich gestoßen. Stell dir vor, er hätte mich angegriffen, und ich hätte mich gewehrt. Hast du daran gedacht, dass du ihn in Gefahr bringst?“

„Unterschätz Kuro nicht! Er hätte dich überraschend angreifen und mit einem Schlag erledigen können!“ beharrte das Mädchen.

„Nicht so, wie er hier reingestürmt kam,“ bemerkte Dark. „Mein Vater ist leider nicht besonders gut darin, Leute überraschend anzugreifen, wenn er sauer ist.“

„Überraschend und mit einem Schlag ist allerdings ein gutes Stichwort,“ bemerkte Sorc. „Das hättest du im Bad auch tun sollen.“ Er ging zwei Schritte auf sie zu, so dass er sie direkt konfrontieren konnte.

Sie blitzte ihn aggressiv an und machte ihrerseits einen Ausfallschritt in seine Richtung. „Ich hatte dich in dieser Wasserblase!“

„Aber du hast mich entkommen lassen. Und ich hatte den Eindruck, dass dich die Herausforderung gefreut hat...“

„Ja. So konnte ich dir noch etwas mehr wehtun.“

„Ach. Hat dir noch niemand beigebracht, dass ein verletzter Gegner viel gefährlicher ist?“

Eria lachte spöttisch auf. „Ach ja? Ein paar Sekunden mehr, und ich hätte dir mit meinen Eissplittern die Haut von den Knochen geraspelt!“

„Das glaubst auch nur du.“ Sorcs Stimme nahm wieder diesen Tonfall an, der einem eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

Crimson hatte das Phänomen mittlerweile mehrmals beobachtet. Etwas veränderte sich, wenn Sorc sehr ernst wurde. Er konnte es nicht genau definieren... es musste mit der Stimme zusammenhängen und mit seinem ganzen Auftreten in solchen Momenten. Auch jetzt sorgte dieser Effekt für ein paar Sekunden der Stille, während derer niemand das Wort zu ergreifen wagte.

Sorc nutzte die Gelegenheit, um seine Aussage weiter zu erörtern, wobei er seine Argumentation an den Fingern der linken Hand abzählte: „Erstens: Nicht ich habe dich unterschätzt, sondern du mich. Du dachtest, mit der Macht des Schlosses hinter dir kannst du alles schaffen, was? Aber du warst zu ungeschickt, um zu verbergen, dass du Hilfe hast. Ein Magier mit meiner Berufserfahrung merkt das sofort!

Zweitens: Ich hatte mehrere Gelegenheiten, dich zu erledigen. Aber ich habe mich darauf beschränkt, deine Attacken abzuwehren und dich zu schubsen. Das führte dazu, dass du mich noch weiter unterschätzt hast.

Drittens: Deine Strategie war eine Katastrophe! Du hattest praktisch keine Verteidigung und hast dich völlig auf deine Angriffe verlassen. Eis in einem beheizten Raum ist außerdem suboptimal, Wasserdampf wäre besser gewesen.

Und viertens: Kein Sohn von Lady Charoselle Jagerillia der Unerschrockenen von den Eisigen Inseln würde es jemals wagen, sich von einer Schülerin umbringen zu lassen!“

„Ach wirklich.“ Zwischen ihnen waren nur noch etwa zwei Meter Entfernung, wenn überhaupt. Eria überwand die Strecke und wuchtete ihre Rechte nach vorne. An ihrer Handkante befand sich eine Klinge aus Eis, mit der sie auf Sorcs Unterleib zielte.

Der Chaoshexer hielt noch immer die linke Hand mit vier erhobenen Fingern vor sich. Er reagierte überhaupt nicht! Crimson sprang beinahe von seinem Bett und wäre gefallen, wenn Dark ihn nicht gehalten hätte.

„Sorc!“ schrie Lily entsetzt.

Kuro tat nichts, sah aber angespannt aus, während Blacky mit einem wachsamen Gesichtsausdruck seinen Platz neben Sorcs Bett beibehielt.

Erias Eisklinge prallte gegen einen Widerstand in der Luft und zerbarst in kleine Splitter. Es geschah genau auf Höhe von Sorcs Hand.

„Du hast gelogen,“ stellte der Blauhäutige fest. „Deine falschen Beschuldigungen waren nicht dein letzter Versuch, nicht wahr? Du bist hergekommen, um alles auf eine Karte zu setzen. Sogar vor all diesen Zeugen. Oder fühltest du dich mit Zeugen sicherer?“

Er drehte die Hand und wuchtete sie vor. Das Mädchen stolperte zurück und landete mit einem Aufschrei auf dem Hintern. In der nächsten Sekunde war Sorc über ihr, ein Knie drückte auf ihre Rippen, die rechte Hand war an ihrem Hals und die linke mit klauenförmig gebogenen Fingern, die eine dunkel leuchtende Kugel hielten, drohend über ihr erhoben.

„Lass einen Feind, der dich töten will, niemals wieder aufstehen,“ belehrte der Chaoshexer sie.

Kuro wollte Eria zu Hilfe eilen, doch Blacky stellte sich ihm in den Weg. „Nicht, ist schon in Ordnung.“

Darauf ließ Kuro sich nur widerwillig ein.

Mit Darks Hilfe kam Crimson auf die Füße und näherte sich langsam der Szene. Diese einfache Tätigkeit trieb ihm den Schweiß aus den Poren, und er war froh, dass sein Cousin ihn stützte, auch wenn das die Situation ziemlich peinlich machte. Als er seine Schülerin erreichte und neben ihr auf die Knie sank, ließ Sorc von ihr ab und wich mehrere Schritte zurück.

Eria blieb liegen und machte ein Gesicht, als wäre sie den Tränen nahe. „Crimson... ich hab's nicht geschafft, ich... konnte keine Rache für uns nehmen...“

Er strich ihr verständnisvoll über's Haar. „Jetzt muss aber auch mal Schluss sein, Eria. Ich bin der Schlossherr und verantwortlich für alle hier, auch für dich und Sorc. Es ist meine Entscheidung, ob wir ihn loswerden, nicht deine. Schon allein zu deiner Sicherheit muss ich verlangen, dass du aufhörst mit diesen Angriffen auf ihn.“

Sie hatte sich die ganze Zeit beherrscht, doch jetzt kamen ihr die Tränen. „Warum darf er nach all seinen Untaten hier wohnen, als wäre nichts gewesen? Warum haben sie ihn nicht wenigstens zu diesem Programm Vier verurteilt, wo den Leuten die Magie weggenommen wird? Das ist voll unfair! Der macht sich doch hier ein schönes Leben!“

„Weil der Zirkel beschlossen hat, dass er mit Magie nützlicher ist,“ sagte Crimson. „Und ich glaube das nebenbei bemerkt auch.“

„Er ist so vor allem gefährlicher!“

„Das stimmt allerdings, aber deswegen ist er ja hier bei mir.“ Crimson hatte nach wie vor keine Ahnung, wer seine Bewerbung an den Zirkel geschickt hatte, aber er erinnerte sich gut an Darks Worte... dass man einen Magier gesucht hatte, der Sorc unter Kontrolle halten und sein Wissen nutzen konnte. Momentan fühlte er sich nicht so geeignet, aber das stand auf einem anderen Blatt.

Eria richtete sich zum Sitzen auf und ließ sich von ihm umarmen. Vielleicht brachte ihr das eine Infektion mit Schattenfieber ein, aber der Gedanke beruhigte ihn fast. Wenn sie krank war, konnte sie nicht versuchen, Sorc umzubringen, und das war wesentlich ungefährlicher für sie. Sie kuschelte sich schniefend an ihn, und Crimson dachte wieder an Sorcs Worte... dass er es niemals wagen würde, sich von einer Schülerin umbringen zu lassen...

Moment. Hatte er denn nicht während seines Kampfes mit Eria gefragt, ob es Crimsons Wunsch war, dass er durch ihre Hand starb? Das passte doch nicht zusammen... oder? Hatte Sorc nur versucht, das Mädchen einzuschüchtern, oder... hatte Crimson seine Frage zu jener Gelegenheit falsch interpretiert?

Er sah auf und begegnete Sorcs Blick. Der Chaosmagier hatte wieder seine neutrale Miene aufgesetzt, aber einer seiner Mundwinkel verzog sich zu einem einseitigen ironischen Grinsen.

Bloß gut, dass ich die Frage mit einem Nein beantwortet habe, dachte Crimson.

Während er noch versuchte, seine Erkenntnis völlig zu begreifen, schwebte Cathy herbei. „Meister, ich kann einige Drachen ausmachen, die sich auf das Schloss zubewegen.“

„Sind es Drachen mit Reitern?“

„Ja, teilweise mit mehreren.“ Das Schlossherz projizierte ein Bild in seinen Kopf.

„Einige Drachen?“ rief Crimson. „Das sind... mindestens zwanzig! Haben wir die Quarantäneflagge oben?“ Was hatte das jetzt nur wieder zu bedeuten? Wurden sie angegriffen – vielleicht von Leuten, die sich etwas Beute von einem Schloss mit einer Epidemie erhofften?

Überraschende Hilfeleistung

Crimson schaute aus den Fenstern der Krankenstation hinaus auf das Schlossgelände, wo sich die landenden Drachen gegenseitig aus dem Weg gingen oder schnell eine kleine Gestalt annahmen, sobald ihre Reiter abgestiegen waren. Die meisten trugen zwei, einige sogar drei. Wenn einer nur einen Reiter trug, dann hatte dieser dafür einen Haufen Gepäck dabei.

Der Schlossherr erkannte Schattensturm, und von dessen Rücken sprang ein bekannter Magier in einem weißen Gewand. „Paps...“ murmelte er überrascht.

Mit Shiro waren Magi und Mad gereist. Neo kam mit seinem Drachen Diamantkralle und brachte seinen Vater Freed mit. Weitere Magier, die Crimson vom Sehen kannte, und ebenso ein paar Krieger, die er damals im Lager des Drachenhauchordens kennen gelernt hatte, suchten sich Plätze und fingen an, ein Lager aufzubauen. Sobald die Besucher den Boden berührten, konnte Cathy ihnen Energiespenden abziehen, was auch jeder von ihnen willig zuließ. Krieger waren gut geeignete Spender, weil sie oft Magier in der Familie hatten oder teilweise sogar den ein oder anderen Trick beherrschten, wie ja auch viele Magier eine Waffe führen konnten. Davon abgesehen sprach man ja nicht umsonst oft von einer Kriegeraura oder der einschüchternden Ausstrahlung dieser Berufsgruppe.

Dark legte Crimson eine Hand auf die Schulter. „Das ist eine kleine Überraschung, die Vater und ich mit deinem Schlossherz für dich ausgeheckt haben.“

„Hm? Wie jetzt?“ Crimson verstand nicht.

Kuro lachte. „Hast du nicht gewusst, dass dein Schlossherz mit einem anderen Schlossherz kommunizieren kann, wenn sein Herr sich auf dem Gelände befindet?“

„Äh... nein, das ist mir neu. Aber außer mal kurz im Kristallschloss war ich auch noch nicht in Schlössern, die ein Herz haben, seit ich selber ein Schlossherr bin,“ gab Crimson zu.

„Es geht auch nur, wenn Ihr die Tiefenbindung zum Schlossherz habt,“ informierte Cathy ihn. „Insofern blieb mir diese Möglichkeit bisher verwehrt, wenn Ihr woanders wart.“

„Also habt ihr die ganze Zeit mit Shiro Kontakt gehabt?“ hakte Crimson nach.

„Im Endeffekt ja,“ nickte Dark. „Als er erfuhr, dass wir hier in Quarantäne sind, hat er sofort Hilfe organisiert. Man kann diesen Modus normalerweise nicht wieder deaktivieren, bis die Krankheit ausgestanden ist, aber Cathy hätte wahrscheinlich irgendwann wegen zu geringer Energie wieder in den Normalmodus gehen müssen. Davon abgesehen sind wir auch rein organisatorisch viel zu wenige Leute. Jemand muss kochen und sich um die Kranken kümmern und... nun, ich nehme an, dein Trank macht sich auch nicht von selbst, Crimson.“

Der Schlossherr fühlte sich ertappt. „Ähm... ja, da hast du Recht.“

„Onkel Shiro hat also gleich einige Freiwillige versammelt, die hier in den nächsten Tagen leben werden, auch wenn nur die wenigsten das Schloss betreten können,“ fuhr Dark fort. „Er selbst hatte noch nie Schattenfieber oder Schattenpocken, was er momentan sehr bedauert, aber es lässt sich nicht ändern, zumal wir eh schon zwei Schlossherren außer dir hier festsitzen haben.“

Kuro wandte sich zu Sorc um. „Komm her, sieh es dir an!“ forderte er ihn lächelnd auf.

Das tat Sorc, aber er hielt wachsam einen halben Meter Abstand von dem anderen Magier. Dessen Verhalten war auch durchaus etwas seltsam.

„Sieh dir all die Leute da draußen an!“ freute Kuro sich. „Die kommen zwar jetzt zu einem Großteil vom Kristallschloss, aber bis Burg Drachenfels zerstört wurde, hatten sie dort ihr Zuhause. Andere, die dem Drachenhauchorden angehören, waren dabei, als der Fünfgötterdrache erschienen ist, oder kämpften in der Schlacht bei der Feenburg. Ich glaube, Mavas ganze Familie ist da. Erias Vater. Darks Adoptivschwester und Blackys Halbschwester. Ich habe mein Schlossherz dafür sorgen lassen, dass sie alle wissen, wer sich hinter diesen Mauern versteckt hat. Die werden nicht abreisen, bevor sie dir nicht das Fell über die Ohren gezogen haben!“

„Kuro!“ empörte Blacky sich. „War das nötig?“

„Bei Gelegenheit würde es mich mal interessieren, wie er dich auf seine Seite gekriegt hat, Blacky,“ entgegnete der Ältere. „Besonders väterlich behandelt hat er dich doch schließlich nicht.“

„Ich bin eben nicht so nachtragend!“ gab Blacky ihm verärgert zu verstehen.

Kuro zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst. Aber du wirst dir damit keine Freunde machen, Junge. Überleg dir gut, wer dir wichtiger ist: Deine Freunde, die seit Jahren zu dir halten, oder ein Vater, der deinen Nutzen erst jetzt erkannt hat, als er jemanden brauchte, der ihn mit seiner Fürsprache vor dem Schafott bewahrt. Oh... oder richtet der Zirkel des Bösen Magier durch den Scheiterhaufen hin? Weiß ich gar nicht genau.“

Crimson hatte Sorc beobachtet. Der Chaoshexer starrte schweigend aus dem Fenster. Seinem Gesicht war wie immer nichts anzusehen, aber er wirkte geistesabwesend und hatte die Hände fest zu Fäusten geschlossen. Spätestens, wenn der Quarantänemodus aufgehoben wurde, musste Crimson sich eine Lösung für dieses Problem einfallen lassen, aber fürs Erste war ihm wichtig, dass sich jemand um sein illegales Elixier kümmerte, solange er selbst es nicht konnte.

„Ich sollte wohl mal die Gäste begrüßen gehen,“ murmelte Crimson. Natürlich konnte er sowieso kaum einen Schritt vor den anderen setzen und auch gar nicht das Schloss verlassen im Moment, aber er konnte Cathy hinschicken und durch ihn sprechen.

„Du solltest dich lieber in das Zimmer begeben, wo bereits Yami und Mava sind,“ schlug Dark vor. „Wenn du schon einmal stehst... du wirst sicher bald die ersten Symptome der Krankheit zeigen.“

Crimson seufzte frustriert. „Ich fühle mich verschwitzt. Hat das schon was zu sagen?“

„Vielleicht.“

„Na dann. In Ordnung. Eria, du solltest auch wieder in dein Bett gehen und dich noch etwas ausruhen. Vielleicht wirst du nicht ewig einer Ansteckung entgehen, aber du kannst es versuchen,“ wies der Weißhaarige seine Schülerin an.

„Ich will euch lieber helfen, so lange ich es kann,“ widersprach sie. „Wenn ich mich anstecke, habe ich das Problem zumindest nie wieder.“

„Für Kinder ist Schattenfieber schlimmer als für Erwachsene,“ bemerkte Sorc.

Sie warf ihm einen bösen Blick zu. „Tu du mal nicht so, als würde dich meine Gesundheit interessieren! Ich bin außerdem kein Kind mehr!“

Er öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schien es sich aber anders zu überlegen und sah statt dessen wieder aus dem Fenster.

„Leg dich trotzdem noch etwas ins Bett,“ beharrte Crimson, dem der Widerspruch seiner Schülerin heute einmal generell gegen den Strich ging. „Iss und trink genug. Und wenn Olvin und Lily es dir erlauben, kannst du heute Nachmittag aufstehen. Ach ja... du kannst dann das Bad aufräumen – zusammen mit Sorc.“

„Was?!“ riefen beide gemeinsam und gleichzeitig.

„Ich soll mit dem da zusammenarbeiten?“ empörte Eria sich.

„Wir werden uns mehr zanken als arbeiten!“ stimmte Sorc ihr ausnahmsweise zu.

„Die Arbeit muss gemacht werden,“ setzte Crimson fest. „Ich werde euch so lange zusammen irgendetwas machen lassen, bis ihr euch vertragt. Also bringt das Bad in einen benutzbaren Zustand. Mehr muss es zunächst gar nicht sein.“

„Aber Sorc muss noch seine Schulter auskurieren,“ wandte Lily ein.

„Zum Putzen wird es reichen!“ Crimson war nicht bereit, sich in dieser Hinsícht geschlagen zu geben. „Zur Not dauert es eben etwas länger. Wir haben zur Zeit etwas Personalmangel, und wir brauchen das Bad.“

„Betrachte es als erledigt,“ sagte Sorc endlich und warf einen Blick auf Eria, den sie grimmig erwiderte, aber sie widersprach nicht mehr.

„Onkel Kuro,“ wandte sich Crimson dann an den Nächsten. „Lass Sorc in Ruhe, solange ich ausfalle. Er hat ein paar Aufgaben hier im Schloss, um die er sich kümmern muss. Racheakte jeglicher Art müssen bis später warten, verstanden?“

Kuro schnaubte verächtlich in Sorcs Richtung, gab aber nach. „Verstanden. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben!“

Crimson hätte das unter normalen Umständen vielleicht ausdiskutiert, aber er fühlte sich dem im Moment nicht gewachsen. Einerseits konnte er nachvollziehen, dass jeder, der irgendwie durch Sorc gelitten hatte, es ihm heimzahlen wollte, aber als Schlossherr wollte er das nicht zulassen. Das überraschte ihn teilweise auch, schließlich gehörte er selbst zu den Leidtragenden.

Cathy schwebte zu ihm hin. „Meister, im Quarantänemodus ist es üblich, dass der Schlossherr seine Befehlsgewalt an eine geeignete Person abgibt, wenn er selbst erkrankt. Diese Person sollte aber kein anderer Schlossherr sein und auch niemand, der ebenfalls krank ist. Wollt Ihr jemanden zu Eurem Vertreter ernennen?“

Das kam überraschend, aber Crimson fand den Vorschlag angemessen. Daran hätte er selbst denken sollen. Allerdings wusste er nicht, wen von den Anwesenden er damit betrauen sollte. Alle im Schloss hatten sich eventuell schon infiziert mit Ausnahme derjenigen, die dagegen immun waren, und davon war einer ein Schlossherr und einer ein Rehabilitant, dessen Ernennung vermutlich zu einer Meuterei führen würde. Oh... es gab noch Olvin. Aber den wollte er nicht so wirklich in der führenden Position wissen.

„Ich werde darüber nachdenken... frag mich später noch einmal,“ sagte Crimson ausweichend, so dass sein Schlossherz zumindest eine Antwort hatte.

„Verstanden, Meister,“ bestätigte Cathy. „Mit Eurer Erlaubnis werde ich jetzt unsere Gäste begrüßen. Eine kleinere Gruppe nähert sich dem Haupttor. Dies gehört zu meinen Aufgaben, Ihr müsst nicht durch mich sprechen.“ Er nahm Bezug auf Crimsons Gedanken von vorhin und wirkte dabei ein bisschen in seiner Ehre gekränkt.

Der Schlossherr entschied, nicht auf seine persönliche Einmischung zu bestehen, und überließ die Sache dem Geist. So konnte er sich auf andere Dinge konzentrieren. „Lasst ihr mich bitte ein paar Minuten mit Sorc alleine?“ bat er die Umstehenden. „Danach gehe ich auch brav überall hin, wo ihr wollt.“

Sie kamen seiner Aufforderung zögerlich nach, wenn auch nicht jeder aus denselben Gründen.

„Ich komme dann wieder und helfe dir,“ versprach Dark. Er wartete noch kurz auf Blacky, der einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck machte.

Während Crimson noch überlegte, wie er dieses Gespräch beginnen sollte, ergriff Sorc das Wort. „Direktor... danke für dein Vertrauen.“

Der Weißhaarige hob erstaunt die Augenbrauen. „Aber ich vertraue dir nicht.“

Sorc lächelte wissend. „Aber trotz all der Zweifel, die du hattest, hast du nichts unternommen, als ich Eria überwältigt habe. Du hast nicht einmal gerufen, hast dich kaum erschrocken. Du hast dich darauf verlassen, dass ich ihr nichts tun würde, obwohl du mir zuvor noch zugetraut hast, den ganzen Zirkel des Bösen hereingelegt zu haben.“

„Dann bist du also noch in meinem Kopf,“ stellte Crimson fest.

„Deine Gedanken waren laut genug. Ich musste nicht einmal absichtlich hinhören.“

„Ah... okay.“

Der Chaosmagier hob eine Augenbraue. „Okay sagst du?“

„Es hat vielleicht Vorteile,“ meinte Crimson. „Bring mir das Buch her.“

Sorc holte „Anspruchsvolle Tränke, Gifte und Elixiere für den ehrgeizigen Magier“, das die ganze Zeit auf seinem Bett gelegen hatte, und schlug es auf der Fensterbank auf.

„Du solltest dich bei Yugi erkundigen, wie er die Herbeischaffung der Zutaten organisiert hat,“ schlug Crimson vor. „Mach es gleich, es könnte sein, dass er an Schattenfieber erkrankt. Wenn etwas fehlt, musst du einen Weg finden, es zu beschaffen. Diese Sachen werden bald gebracht... das hab ich oben... das da sollte Mava morgen holen, da brauchen wir Ersatz...“ Der Weißhaarige runzelte die Stirn. „Vielleicht sollte ich irgendwem Bescheid geben, dass du autorisiert bist...“

„Ich finde einen Weg,“ versicherte Sorc. „Erklär mir nur, was ich mit diesen Sachen machen soll. Da zum Beispiel... kleinschneiden. Wie klein?“

Crimson wusste nicht, ob Sorc sich dessen bewusst war, aber eins stand fest: Der Mann strahlte Sicherheit aus. Je mehr er mit ihm die Zubereitung des Elixiers besprach, umso beruhigter wurde er. Als sie fertig waren, klappte Sorc das Buch zu und ließ es in einem Spalt in der Luft verschwinden.

„Ich behalte das, bis du dich auskuriert hast. Oder soll ich es lieber wieder oben hinlegen?“ erkundigte er sich. Sein Blick huschte kurz aus dem Fenster.

Crimson verstand die Botschaft. *Falls mir etwas zustößt.*

„Leg es zurück nach oben, damit es nicht in deinem Besitz gefunden wird,“ entschied er.

Sorc nickte. „In Ordnung.“

Es entstand eine Minute des Schweigens, in der Crimson sich fragte, ob auch Sorc zögerte, das Thema anzuschneiden, was noch offen war. Als er gerade nachhaken wollte, ob der Blauhäutige mit der Situation klarkommen würde, flog die Tür auf, und herein stürmte eine sehr respekteinflößende Gestalt – wobei Crimson nicht sicher war, ob ihn oder Sorc das mehr erschreckte.

Black Luster kam mit soldatisch festen Schritten auf sie zu. „Crimson! Mann, lange nichts mehr von dir gehört!“ Er ergriff Crimsons Hand in einem Kriegergruß, der sie fast zerquetschte.

„Äh... Luster! Hallo... ja... Sag bloß, du hattest schonmal Schattenfieber...“ Die Vorstellung von Luster, der als Kind Schattenpocken hatte, war jedenfalls zu absurd, um wahr zu sein.

Der Krieger lachte schallend. „Ach was! Drachen kriegen sowas nicht!“

„Ach... ja, darauf hätte ich kommen müssen,“ murmelte Crimson.

Doch Luster hatte seine Aufmerksamkeit bereits Sorc zugewandt. „Ah, du bist der Beschwörer des Fünfgötterdrachen!“ Er packte den Hexer an beiden Schultern und hielt ihn auf Armeslänge von sich weg, um ihn genau betrachten zu können.

Sorc hielt sich wacker, nur die angespannte Kieferpartie und leichte Falten in der Stirn ließen vermuten, dass er mit Prügeln rechnete. Offensichtlich war er aber entschlossen, diese aufrechten Hauptes entgegen zu nehmen.

„Du siehst wirklich fast so aus wie Darks Anhängsel, und der hat mir einen guten Kampf geliefert!“ stellte Luster fest. Als Nächstes lag sein linker Arm um Sorcs Schultern, als wären sie alte Kumpel. „Sag schon! Wie war das, den Fünfgötterdrachen zu beschwören? Fühlte es sich geil an? Hattest du ein bisschen Angst? Ah, nein, du nicht, was? Hahahaha! Hey, nach welchen Kriterien hast du die Opfer ausgesucht? War es leicht, den Drachen unter Kontrolle zu halten? Du musst mir alles darüber erzählen!“

Diese Situation war ein Beweis für die unglaubliche Anpassungsfähigkeit eines Chaosmagiers, denn Sorc schaltete von einer Sekunde auf die andere von standhafter Erwartung körperlicher Gewalt auf freundliche Konversation zwischen zwei Leuten mit demselben Hobby um. „Ach... ich habe in meiner Schulzeit alles über diesen Drachen gelesen und wollte unbedingt herausfinden, ob alles stimmt, was in dem Buch steht... Es war ziemlich spannend, weil wir spontan den Schauplatz wechseln mussten, und erschwerend kam ja noch hinzu, dass die Opfer nur bedingt kooperiert haben. Aber als alles vorbereitet war und das Ritual begann, das war einfach ergreifend!“

Luster machte ein Gesicht wie jemand, der mit einem Heiligen spricht. Obwohl Sorc für einen Magier schon groß und relativ breit gebaut war, konnte er sich diesbezüglich doch nicht mit dem Krieger vergleichen, aber die beiden waren nach kurzer Eingewöhnung entspannt ins Gespräch vertieft.

Crimson indessen fand es zunehmend schwieriger, sich auf das Geschehen zu konzentrieren. „Leute... nehmt es mir nicht übel, aber ich glaub ich muss mich hinsetzen...“ Er machte einen taumelnden Schritt vom Fenster weg und stolperte, nur um sich gleich darauf regelrecht in Lusters Armen wiederzufinden.

„Oh, entschuldige, ich habe Dark eigentlich versprochen, dass ich dich in das andere Zimmer trage,“ sagte der Krieger grinsend. „Das werden wir gleich haben...“

„Wah, nein!“ protestierte Crimson halbherzig, doch Luster hob ihn hoch und trug ihn auf Händen wie eine holde Maid. Der Magier versuchte darauf zu achten, dass zumindest sein Hemdchen nicht hochflatterte, wenn er sich schon so peinlich transportieren lassen musste. Eins musste er allerdings zugeben... es war besser so, als wenn er auf eigenen Füßen gegangen wäre.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Sorc ihm zuwinkte. Er wirkte ein wenig entspannter als noch vor wenigen Minuten.

Gnädigerweise war sonst niemand mehr auf dem Gang, um ihn so zu sehen. „Luster... wer ist noch mit dir hereingekommen?“ murmelte Crimson.

„Mad vom Kristallschloss, Breaker vom Drachenhauchorden und noch ein alter Mann, dessen Namen ich aber vergessen habe.“

Von all diesen Leuten erschien Luster ihm am besten geeignet, auch wenn der Typ ein arroganter Kotzbrocken war. „Luster... würdest du stellvertretend für mich hier die Leitung übernehmen? Bis ich das Fieber wieder los bin...“

„Kein Problem,“ kam die prompte Antwort.

Crimson schloss die Augen. [„Cathy...“]

[„Ja, Meister. Ich habe verstanden.“]
 

Der Rest des Tages ging schemenhaft an Crimson vorbei. Das Fieber schlug ihn brutal nieder, so dass er nicht viel von dem mitbekam, was sich im Schloss ereignete. Wenn er etwas bewusst wahrnahm, flößte ihm jemand Tee ein, aber er erinnerte sich später nicht mehr daran, wer das tat, nur daran, dass es wohl dieses Hausmittel gegen die Krankheit war... und es schmeckte scheußlich.

Er wollte zu gerne seine Decke wegwerfen, denn er schwitzte und hatte immer das Gefühl, seine Kleidung wäre ganz nass. Aber wenn er die Decke von sich schob, fing er an zu frieren.

Irgendjemand kümmerte sich darum, ihn ab und zu zu waschen, ihm ein neues Hemdchen anzuziehen und dergleichen – alles Dinge, die ihm eigentlich peinlich gewesen wären, wenn seine Kraft gereicht hätte, um sich darüber Gedanken zu machen.

Ab und zu konnte er sich bei Cathy nach dem Elixier erkundigen und erfuhr dann jeweils, dass Sorc alles im Griff hatte. Er wusste inzwischen auch, dass die Energieversorgung des Schlosses gut lief, ohne dass er etwas dazu beitrug. Sein Vater sorgte sich um ihn, konnte aber nicht bei ihm sein, damit er sich nicht ansteckte. Dafür gab er besonders viel von seiner Energie – darauf bestand er, und Cathy stritt nicht mit ihm.

Eines Nachts schaute Crimson neben sich und erkannte Dark im nächsten Bett. Also hatte sein Cousin seine Ankündigung wahr gemacht und das Nachbarbett reserviert... aber ihn hatte es wohl etwas später erwischt. Er hatte ja noch ganz in Ordnung ausgesehen, als sie einander zuletzt begegnet waren.

Er war wohl wieder eingenickt, jedenfalls erwachte er das nächste Mal zu einem ziemlich seltsamen, pflanzlich anmutenden Geruch. Jemand bewegte sich neben seinem Bett. „Direktor, seid Ihr wach? Ich bringe das Frühstück.“ Die Stimme war ihm fremd, erinnerte ihn aber an jemanden.

Crimson schlug etwas zögerlich die Augen auf – und erblickte Sorc mit invertierten Farben. Alabasterfarbene Haut, hellblondes Haar, lichtblaue Pupillen. Eine elegante, weiße Robe, definitiv nicht aus dem Schlossbestand. Häh? Vielleicht war er doch noch nicht ganz wach.

„Wie schön, Direktor, Ihr seid bei uns!“ freute Invert-Sorc sich. „Meine Mutter lässt Euch schöne Grüße ausrichten. Oh, wir wurden einander noch gar nicht vorgestellt... ich bin Lichal, Prinz der Eisigen Inseln. Alle nennen mich einfach Ray.“

Crimson wühlte in seinem Gedächtnis. Lichal... Ray... Eisige Inseln... „Sorcs Bruder,“ wollte er ausrufen, doch es wurde nur ein heiseres Flüstern.

Ray lächelte breit. „Genau! Ich habe die Kristalltrauben gebracht, fertig gepresst und vergoren. Mutter hat darauf bestanden, dass ich noch mehrere Flaschen unseres besten Jahrgangs mitbringe. Außerdem schickt sie Euch zwei Dienerinnen, aber die durften nicht ins Schloss. Ich hatte natürlich mal Schattenpocken – damals, mit Sorc zusammen. Mutter hat darauf geachtet, dass wir das beide einmal kriegen.“

„Wie bitte?“ Crimson vermutete, dass er sich verhört hatte. „Sie... wollte, dass ihr Schattenpocken kriegt?“

„Selbstverständlich! Wer Schattenpocken hatte, bekommt später kein Schattenfieber. Bei den Eisigen Inseln kommt man nur schwer an Strandlotus, daher ist eine kontrollierte Immunisierung im Kindesalter ratsam, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Iquenee wurde extra auf eine Reise in ein Epidemiegebiet geschickt, weil vor ihrem zehnten Lebensjahr keine bei uns auftrat.“

„Iquenee... die Schwester,“ erinnerte Crimson sich mit etwas Mühe.

„Genau!“ strahlte Ray. „Unsere Kleine! Allerdings auch eine Magierin, Mutter flippte fast aus. Naja, da muss sie durch. Ach ja, Direktor, nehmt Ihr eigentlich auch Schüler, die vorher auf der Eisigen Universität waren?“

„Sicher... aber es gibt keine Sonderbehandlung.“

„Ah... das passt schon. Hat Euch Sorc seine Zeugnisse gezeigt, oder warum fragt Ihr?“

„Nicht so direkt...“ Crimson hatte ja nur mit dem Chaoshexer darüber gesprochen, den Beweis aber nie gesehen.

„Es ist furchtbar, einen älteren Bruder mit dieser Schullaufbahn zu haben, das könnt Ihr mir glauben. Aber meine Eltern sind Realisten, sie wissen, dass es sowas nicht zweimal so kurz hintereinander gibt, insofern habe ich das alles etwas entspannter gemacht...“ Ray griff nach einer Müslischale, in der allerdings irgendetwas Warmes war. „So, nun kommen wir aber mal zur Sache. Könnt Ihr Euch hinsetzen?“

Es funktionierte mit etwas Mühe. Aus dieser Position konnte Crimson erkennen, dass Kuro gerade dabei war, Dark Tee einzuflößen, und im übernächsten Bett aß Mava selbstständig sein Frühstück. Es schien ihn einiges an Überwindung zu kosten. Auf Crimsons anderer Seite lag Yami. Er war nicht bei Bewusstsein. Ein feuchtes Tuch lag auf seiner Stirn und sein Gesicht war ganz verschwitzt, die Haare strähnig.

Ray bemerkte Crimsons Blick. „Der da kriegt Knochensalzmedizin. Es hat ihn schlimm erwischt. Der alte Heiler hat seine liebe Not mit ihm. Hier, esst.“ Er hielt Crimson einen Löffel mit einer leicht dampfenden, grünen Substanz vor den Mund.

Das Zeug sah unappetitlich aus und schmeckte auch so. Nach Tümpelschlamm und Fisch. Nur die Aussicht auf bessere Gesundheit brachte Crimson dazu, den Brei zu schlucken.

„Wir haben das ganze Menü im Angebot,“ plauderte Ray. „Wer noch fiebert, kriegt Strandlotustee, der aus den frischen Blüten hergestellt wird. Nach dem Aufwachen, da seid Ihr jetzt gerade, bieten wir Strandlotusbrei aus den grünen Blättern an. Alternativ gibt es Strandlotussuppe, aber davon muss man mehr essen, um die gleiche Wirkung zu erzielen, es ist im Prinzip Brei mit mehr Wasser. Strandlotusscheiben vom Stiel in der Pfanne geschwenkt sollen lecker sein. Roh ist er etwas schwer zu kauen.“

Der Brei war durchsetzt von zähen Fasern, die zwischen den Zähnen hängen blieben. Was nicht Faser war, hatte eine schleimige, zusammenhängende Konsistenz. Crimson hätte zu gerne gewusst, wie die Knochensalzbrühe schmeckte. Gewiss konnte das nicht schlimmer sein.

„Seit wann seid Ihr schon hier, Ray?“ erkundigte er sich. Eins musste man dem Lotusbrei lassen, er beruhigte den Hals.

„Seit gestern früh,“ gab der Prinz Auskunft. „Die Trauben sollten bis dann geliefert werden.“

Crimson hielt im Kauen inne und schluckte den Rest runter. „Dann... dann waren es sechs Tage! Oh, verdammt!“

Ray hob eine seiner aristokratischen, hellen Augenbrauen. „Natürlich! Und es werden noch viele weitere Tage hinzukommen, wenn Ihr nicht aufesst, Direktor. Schattenfieber ist gefährlich, weil die ersten Anzeichen unterschätzt werden, die dann schon ansteckend sind, aber auch das Ausklingen der Krankheit ist ein Risiko – die meisten Patienten stehen zu früh wieder auf, stecken ihre Mitmenschen an und bekommen einen Rückschlag.“

Der Typ hatte den gleichen belehrenden Tonfall an sich wie Sorc, befand Crimson. Folgsam aß er mehr von dem ekligen Brei und versuchte, mit wenig Kauen auszukommen.

„Geht es den Mädchen einigermaßen gut? Rosi und Saambell...“ fragte er in einer Pause.

„Oh ja,“ nickte Ray eifrig. „Wir haben meinem Bruder die Aufgabe übertragen, die beiden mit dem Brei und dem Tee zu versorgen. Er scheint der Einzige zu sein, der sie dazu überreden kann. Sie schlafen auf seinem Schoß ein und lassen sich von ihm herumtragen... Ihr solltet ihn sehen. Aber er hat genug eigene Kinder großgezogen, dann muss es wohl so sein.“

Von Darks Bett aus schaute Kuro finster herüber, sagte aber nichts dazu. Ray saß mit dem Rücken zu ihm und merkte es nicht.

Crimson musste unwillkürlich an Runa und Demise denken. Zählten die auch mit dazu? Hingegen fiel dann wohl Blacky aus der Rechnung raus... Da Kuro anwesend war und ja generell alles missbilligte, was mit Sorc zu tun hatte, verzichtete er darauf, weitere Fragen zu dem Chaosmagier zu stellen, obwohl er das zu gerne getan hätte.

„Seid Ihr der Thronerbe der Eisigen Inseln, Ray?“ wechselte er statt dessen das Thema.

Der Lichtmagier sah zumindest sehr danach aus. Er trug sein Haar offen, und es hing gepflegt über seine Schultern. Seine Robe bestand aus einem Untergewand und einem Überwurf, die locker geschnittenen Ärmel verschwanden unter Armschienen aus weiß gefärbtem Metall mit blauen Rändern.

„Die Thronfolge steht noch nicht fest,“ gab Ray bereitwillig Auskunft. „Tatsache ist jedoch, dass Mutter sich eigentlich keinen Magier als ihren Nachfolger wünscht und dass keiner von uns Geschwistern sich darum reißt.“

Das war ja mal was ganz Neues... normalerweise wurde sich doch eher um die Herrschaft gestritten, aber vielleicht war ein Eiskönigreich nicht so attraktiv. Anscheinend gab es noch genug Gesprächsstoff für die nächsten Tage. Crimson fühlte sich soweit ganz gut, glaubte seinem Gast aber, dass mit Schattenfieber nicht zu spaßen war. Außerdem hatte er nicht die Absicht, den Worten des Prinzen zu widersprechen... also legte er sich nach dem Frühstück wieder hin, versuchte, den Gechmack aus dem Mund zu bekommen und sich nicht zu sehr zu sorgen...

Nachts im Schloss

Irgendetwas weckte ihn mitten in der Nacht... Crimson setzte sich auf uns sah sich um. Es war dunkel, aber seine Magieraugen konnten dennoch alles in ausreichender Form erkennen. Dark schlief auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt. Mava lag auf dem Rücken und schnarchte leise. Auf der anderen Seite Yami... er war noch immer in einem komatösen Zustand, und das nach sieben Tagen... oder nein, er hatte schon vorher die Symptome gezeigt. Für Crimson waren es jetzt sieben Tage. Wenn er nicht bald aufstehen durfte, drehte er noch durch... vor allem aber wollte er nicht mehr dieses Lotuszeug essen müssen.

Da er jetzt nicht mehr ständig im Fieberwahn war, konnte er durchaus auch andere Nahrung zu sich nehmen, was er auch musste, damit er nicht zu sehr geschwächt wurde. Aber dreimal am Tag gab es Lotus in unterschiedlichen Zubereitungsformen. Soweit Crimson das mitbekommen hatte, war sein Großvater für die Küche zuständig, denn das war sein größtes Hobby. Der große Dunkle Gelehrte, Vater der Skill-Brüder, einer der ganz Großen im Zirkel des Bösen, verbrachte seine Freizeit damit, im Schloss seines Enkels eklige Hausmittelchen zuzubereiten.

Nun ja, von irgendwem muss ich es ja haben, dachte Crimson. Und gegen das andere Essen von Opa Sage konnte man nichts sagen. Besonders seine Kräuterkekse waren unvergleichlich.

Ah! Da war es wieder! Als würde jemand in der Ecke tuscheln... aber niemand außer den vier Kranken war hier... außerdem waren die Worte schwer zu verstehen, es klang wie durch eine geschlossene Tür. Es dauerte eine Weile, bis er darauf kam, was er da hörte. Nämlich etwas, das er gar nicht hören sollte.

Etwas zögerlich kroch er aus dem Bett, zog sich den bereitliegenden Morgenmantel über und verließ in Hausschuhen das Zimmer. Nicht dass es im Schloss kalt war, aber doch etwas kühl um diese Zeit, und sowohl Olvin als auch Lily würden schimpfen, wenn er sich nur im Nachthemd herumtrieb. Zumindest hatte er jetzt ein Nachthemd – die Bewohner des Dorfes, das das Schloss mit Nahrungsmitteln belieferte, hatte eine Ladung mitgeschickt.

Leise erreichte er das Nebenzimmer und schlüpfte vorsichtig hinein. Auch dieses war mit vier Personen belegt: Blacky, Appi, Cross und Yugi. Es gab noch ein weiteres Zimmer für die weiblichen Patienten, aber Crimson interessierte sich nur für eine bestimmte Person. Er schlich zu dessen Bett.

„Hey, Yugi... kannst du nicht schlafen?“

Der Junge erschrak ein bisschen. „Huch, Crimson! Ich hab dich gar nicht kommen hören!“

„Du warst vermutlich zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, Yami zu erreichen.“

„Ja, ich mache mir Sorgen um ihn...“

„Ich bin ja selber nicht allzu geschickt in Telepathie, aber du schirmst deine Versuche nicht besonders gut ab.“

„Oh,,, tut mir Leid. Ich kann anscheinend nicht schlafen. Hast du nicht irgendwas, das hilft?“

Das wusste Crimson gar nicht so genau. „Vermutlich ist im Krankenzimmer noch was. Aber da war ich seit einer Weile nicht mehr.“

Yugi stand auf. „Lass uns zusammen gehen... dann kann ich mir etwas die Beine vertreten.“ Der Junge hatte keinen Morgenmantel, aber seine Jacke aus seiner Welt, und zog diese und ein Paar Hausschuhe über. Anscheinend war auch ihm eingebläut worden, nur so außerhalb des Bettes herumzulaufen. Er trug ansonsten einen gemusterten, blauen Schlafanzug, der Crimson fast besser gefiel als die robenähnlichen Nachthemden.

Leise schlossen sie von außen die Tür. Ein kleines Funkeln erregte Crimsons Aufmerksamkeit. „Nanu? Da ist irgendwas...“ Seine Augen sahen ganz gut im Dunkeln, doch er verwendete trotzdem ein Licht für Einzelheiten, zumal Yugi kein Finsternismagier war. „Siehst du das?“

Auf die Tür und an die Wand waren mit Kreide Runensymbole gemalt. Sie schimmerten einmal der Reihe nach, als die Tür sicher verschlossen war. Die Zeichen waren in einer sehr sauberen, regelmäßigen Handschrift geschrieben. Als sie die andere Tür überprüften, fanden sie auch dort welche, allerdings hatte er das beim Verlassen des Raumes gar nicht bemerkt – was vielleicht daran lag, dass diese hier von einem anderen Magier stammten, die Schrift sah anders aus. Sie war grober, weiter auseinandergezogen. Aber beides war das gleiche Siegel.

„Jemand hat es für nötig gehalten, ein Schutzsiegel gegen unbefugte Eindringlinge an der Tür anzubringen,“ stellte Crimson fest, nachdem er sich die Schrift etwas genauer angesehen hatte. „Dieses hier könnte von Onkel Kuro sein. Die andere Handschrift kenne ich nicht.“

Yugi und Crimson tauschten einen verwunderten Blick aus und zuckten mit den Schultern. Es war keineswegs zu abwegig, ein Zimmer mit kranken Magiern auf diese Weise zu schützen.

Die Krankenstation war nicht weit entfernt, praktisch nur um die Ecke. Das Schloss war ruhig, wie es sich gehörte.

„Gruselig,“ murmelte Yugi auf einmal und klammerte sich an Crimsons Arm. Er war nicht mehr so klein, dass er als Kind durchging, insofern war es merkwürdig.

„Alles in Ordnung?“ hakte Crimson nach. Allerdings fühlte auch er sich seltsam, als wäre er auf verbotenem Gelände. Eventuell lag es nur daran, dass er eigentlich noch nicht aufstehen sollte.

Auch die Krankenstation hatte ein Schutzsiegel auf der Tür. In diesem Fall war es die auf groteske Weise kleine, pingelig saubere Handschrift von Olvin. Der Mann hatte eine eigentümliche Art, die Runen zu formen, aber das Schriftbild wirkte einheitlich.

Sie huschten schnell hinein, holten eine Phiole mit Schlaftrunk und huschten wieder hinaus. Drinnen herrschte ein Gefühl der Geborgenheit vor, während auf dem Flur eine gewisse Bedrohung zu spüren war. Etwas war nicht wie sonst. Normalerweise streunte Crimson nachts durch das Schloss und fühlte sich so sicher wie in Begleitung seiner ganzen Familie.

„Uhm... Crimson...“ Yugi schaute den Gang hinunter, entgegen der Richtung, aus der sie gekommen waren. „Da war etwas... ein Schatten... Ob noch jemand wach ist?“

Crimson löschte sein Licht. Er fühlte sich in der Finsternis sicherer, was in seinen Augen logisch war, wenn man nicht entdeckt werden wollte. „Nimm meine Hand, Yugi. Oder möchtest du lieber ins Zimmer zurück?“

„Auf keinen Fall! Nicht, wenn sich Unbefugte hier herumtreiben!“ Yugi ergriff seine Hand mit festem Druck.

Der Schlossherr streckte seinen Geist nach Cathy aus... und erhielt keine Antwort. Cathy war beschäftigt, aber womit, fand er nicht heraus. Dafür hatte er das Gefühl, dass er störte, und mischte sich lieber nicht weiter ein.

Die beiden Magier schlichen lauschend weiter. Vor ihnen war ein leises Geräusch zu hören... doch Crimson fiel kein Tier ein, das es verursachen könnte. Es klang eher wie der leise Ton, den eine Robe oder ein Umhang aus edlem Stoff machte, wenn er über glatten Boden schleifte. Es fehlten die Schritte der Person, die das Kleidungsstück trug.

Plötzlich bewegte sich etwas neben ihm – ein dunkler Fleck an der Wand, dunkler als seine Umgebung, und seine Ränder stießen ganz feine Blitze aus, als das Ding sich ihm näherte. Als nächstes klatschte etwas gegen Crimsons Kopf und Oberkörper wie ein nasses Handtuch, kalt und... Die Oberfläche war nicht zu beschreiben, es gab nur das Gefühl von Kälte. Er schrie erschrocken auf, ließ sich instinktiv zu Boden fallen, um dem Angriff zu entgehen, aber das Ding klebte an ihm. Wo es Kontakt mit seiner bloßen Haut hatte, am Hals und an seiner linken Gesichtshälfte, entstand ein unangenehm prickelndes Gefühl, als würden winzige Nadeln blitzschnell immer wieder zustechen.

Dann explodierte der ganze Korridor in gleißendem Licht. Er hörte wieder das Geräusch von schleifendem Stoff und ein entsetztes Zischen. Der Angreifer war von einer Sekunde auf die andere verschwunden, und Crimson lag zitternd vor Schreck auf dem kühlen Schlossfußboden, der sich aber wesentlich angenehmer anfühlte als das von eben. Geblendet stellte er fest, dass Yugi beide Hände hell leuchtend erhoben hatte. Das Licht ließ nach, erlosch aber nicht ganz, so dass Crimson Yugis große, vor Furcht geweiteten Augen erkennen konnte.

Vorsichtig erhob er sich auf die Füße. „Hier ist definitiv... irgendwas nicht in Ordnung...“

Yugi nickte eifrig. Ohne dass sie ein Wort darüber verloren, behielt er eine Lichtkugel in der Hand, die einen Umkreis von drei Metern erhellte. Umkehren kam für beide trotz allem nicht in Frage. Wenn es einen Feind gab, würden sie ihn finden und konfrontieren.

Sie schlichen weiter, lugten um jede Ecke, in jeden Seitengang. Aber anscheinend waren sie nicht in Gefahr, solange sie ein Licht hatten. Crimson war geneigt, es zu löschen und abzuwarten, aber er konnte Yugi nicht in Gefahr bringen, solange sie nicht wussten, womit sie es zu tun hatten.

„Warte, hörst du das?“ flüsterte der Junge plötzlich.

Crimson war in Gedanken gewesen, doch da war etwas... ein Geräusch von schleifendem Stoff. Das Licht zu löschen, kam somit nicht mehr in Frage. Gebannt blieben sie stehen und starrten nach vorne. Crimson machte sich auf einen Angriff gefasst und bereitete schon einen Verteidigungszauber vor, als sich ein Schatten um die Ecke schob. Er war größer als der andere, und soweit man das beurteilen konnte, sah er dreidimensional aus... Crimson hob die Hand, um einen Zauber zu werfen, der den Gegner bannen und festsetzen sollte.

„Was bitte tust du da, Jungchen?“

“Wah!“ Crimson zuckte beim Klang der Stimme unwillkürlich zusammen, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ihn das Ding ansprach. Seit Zauber verpuffte an der Decke.

Yugis Licht flackerte ein wenig, aber insgesamt hielt der Junge sich gut.

Olvin trat in den Lichtschein. „Könnt ihr zwei mir mal sagen, was ihr hier treibt, statt im Bett zu liegen? Ihr braucht noch mindestens zwei Tage Ruhe, wenn nicht sogar drei oder vier!“

Beide machten sich schuldbewusst etwas kleiner. „Wir wollten nur... also es ist so... da war ein komisches Schattending...“ stammelte Crimson.

„Schattending?“ Olvin wirkte alarmiert. „Hat es euch berührt?“

„Es hat mich angefallen, ja...“

„Zieh dich aus.“

„Wie bitte?“ Zweifellos hatte er sich verhört, oder Olvin trieb mal wieder Scherze mit ihm.

„Zieh dich aus!“ wiederholte der untersetzte Necromant. „Ich muss nachsehen, ob es noch an dir klebt.“

„Aber... ich habe es mit dem Licht verscheucht,“ bemerkte Yugi vorsichtig.

„Bürschchen!“ wandte sich der Alte an ihn. „Ich muss nachsehen, ob es noch an ihm klebt. Ende der Diskussion. Zieh dich am besten auch gleich aus, nur zur Vorsicht.“

„Waaaaah...?!“

„Olvin, hast du etwas... oh!“ Eine zweite Gestalt tauchte auf: Aqua Madoor, Erias Vater. Crimson war ihm noch nicht begegnet, seit er hier war, er hatte nur erfahren, dass der Mann seine Körpertemperatur so niedrig halten konnte, dass Schattenfieber bei ihm nicht gedeihen konnte, bevor das Immunsystem den Erreger beseitigte. Leider hatte Eria den Trick wohl noch nicht drauf.

Mit Mads Auftritt wurde es gleich fünf Grad kühler. Und da sollten sie sich ausziehen?!

„Was ist hier eigentlich los?“ wollte Crimson endlich wissen.

„Merasfresser,“ sagte Olvin, als würde das alles erklären.

Crimson dachte scharf nach, denn er wollte sich nicht schon wieder sagen lassen, dass er im Unterricht nie aufpasste. „Ähm... Meras ist diese Einheit, in der Magie gemessen wird, oder?“

„Kann man so sagen,“ nickte Olvin. „Es ist die wissenschaftliche Bezeichnung für das, was der Laie einfach nur Magie nennt. Dabei wird unterschieden zwischen der Magie, die ein Magier benutzt, und jener, die zum Beispiel ein Unterweltler hat... aber ich schweife ab. Merasfresser befallen Schlossherzen. Sie saugen die gespeicherte Energie aus den Speichertanks und vermehren sich durch eine Art Zellteilung. Anfangs mag der Befall harmlos erscheinen, aber wenn sie zu viele werden, können sie mit Leichtigkeit den Energiekern lahmlegen.“

Crimson spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich. „Warum hat mir das keiner gesagt? Wie lange ist das schon so?“

Olvin seufzte, als hätte er es mit einem unbelehrbaren Kind zu tun. „Jungchen... du bist krank. Die Aufregung ist deiner Genesung nicht förderlich. Catherine hat uns gestern davon in Kenntnis gesetzt. Er hat erst versucht, selbst damit fertig zu werden, es aber nicht geschafft. Anscheinend war es ihm peinlich, so dass er nichts sagen wollte... etwa so, als hättest du eine Geschlechtskrankheit.“

„Aber wo kommen diese Dinger denn her?“ fragte Yugi verständnislos. „Hat sie jemand von uns eingeschleppt?“

„Das wäre möglich, aber es kann auch gut sein, dass sie schon länger im Schloss waren. Manchmal überdauern sie in einem Ruhezustand, der erst aufgehoben wird, wenn das Schlossherz genug Energie hat.“ Olvin rieb sich ernst das Kinn, wobei man hörte, dass er Bartstoppeln hatte. „Catherine hat vor etwa einer Woche angefangen, Tank vier zu füllen.“

„Als all die Magier und Krieger da draußen ihr Lager aufgeschlagen haben,“ begriff Crimson. „Seitdem hat er keine Energieprobleme mehr.“

„Stimmt,“ nickte Olvin. „Inzwischen ist Tank vier stillgelegt, aber die Tanks eins bis drei sind befallen.“

Crimson spürte sein Herz rasen. „Was ist mit dem Energiekern?“

„Da haben wir natürlich zuerst nachgesehen,“ versicherte Mad. „Dieses Schloss ist ziemlich alt, also befürchteten wir, dass die Schutzmechanismen vielleicht versagt haben. Aber es gibt einen inaktiven Runenzauber in dem Raum. Er scheint so gestaltet zu sein, dass er sich aktiviert, wenn dem Kern Gefahr droht. Allerdings kann niemand diese Zeichen lesen außer Ray, und wir haben sie überhaupt nur entdeckt, weil wir nach so etwas gesucht haben. Ray meinte, wir müssten uns keine Sorgen machen. Wir haben diese Zeichen auch an vielen Wänden entdeckt und vermuten, dass es sich um das Werk eines früheren Schlossherrn handelt.“

Dazu hätte Crimson sich äußern können, doch er schwieg lieber, da nicht jeder von der Information begeistert gewesen wäre, die er zu bieten hatte. „Wo ist Sorc?“ fragte er statt dessen.

„Hat sich mit deinem oberwichtigen Trank im Alchemieturm verschanzt,“ gab Olvin Auskunft. „Das ist wohl auch ganz ratsam, denn sonst könnte niemand garantieren, dass das Gebräu unbeschadet bleibt.“

Überraschenderweise schien der Alte das zu befürworten. Obwohl... er wusste, dass es in seinem Interesse war, dass der Trank erhalten blieb, insofern war das so verwunderlich dann nun auch wieder nicht.

„Die Merasfresser können sich vermehren, indem sie Ableger auf einen Wirt legen, normalerweise einen Magier,“ deutete er an. „Also, Jungchen... genierst du dich zu sehr vor einem Heiler oder...“

Crimson zog sich aus. Er glaubte sogar, dass er noch nie so schnell seine Klamotten losgeworden war. Seine ganze Haut fing an zu kribbeln allein bei der Vorstellung, dass so ein Ding an ihm saß. Wie musste sich da erst Cathy fühlen? Crimson hatte noch nie diese Energiespeicher gesehen, aber er stellte sie sich vor wie einen Arm oder ein Bein.

Mad und Olvin suchten im Schein des Lichtzaubers seinen Körper nach verdächtigen Stellen ab, und es dauerte nicht lange.

„Da!“ Mad holte etwas aus seiner Gürteltasche und hantierte in Crimsons Nackenbereich, wobei er einen Spruch murmelte.

Es gab ein schlürfendes Geräusch und ein ziehendes Gefühl, das den Eindruck erweckte, die ganze Haut ginge mit ab. Crimson biss die Zähne zusammen. Nach wenigen Sekunden war es überstanden. Mad zeigte ihm eine kleine verkorkte Glasflasche, in der sich ein winziger Merasfresser befand. Wie eine gefangene Spinne suchte er nach einem Ausgang. Crimson rieb sich unbewusst den Nacken, der sich ziemlich wund anfühlte. Dann erinnerte er sich daran, sich wieder anzuziehen.

Yugi war im Anschluss nicht schwer dazu zu überreden, die gleiche Untersuchung auf sich zu nehmen, aber bei ihm war nichts zu finden.

„Ihr solltet wieder ins Bett gehen,“ befand Mad. „Wir haben die Türen mit Siegeln versehen, in den Zimmern seid ihr sicher.“

„Ich kann mich doch jetzt nicht wieder hinlegen, als wäre nichts geschehen!“ protestierte Crimson. „Hier geht es um mein Schlossherz...“

„Wir haben für diese Nacht eine Offensive gegen die Merasfresser geplant, dabei wärt ihr vielleicht im Weg,“ gab der Wassermagier zu bedenken.

Olvin nickte bedächtig. „Wir patrouillieren das Schloss in Zweierteams, um die Merasfresser auszumerzen, die sich im Schloss herumtreiben. Feuer und Licht kann sie vernichten. Dieser junge Bursche, den Ray mitgebracht hat, ist ein Feuermagier, der einzige, den wir momentan haben. Er und Ray sind auf dem Weg zu den Energiekontainern, um dort aufzuräumen.“

Crimson war verwirrt. „Welcher junge Bursche?“

Mad tauschte einen Blick mit Olvin aus. „Oh... hat er dir den noch nicht vorgestellt?“

„Nein, keineswegs.“ Doch dann erinnerte Crimson sich: „Oh! Ist das der ehemalige Schüler der Eisigen Universität, den er erwähnt hat?“

Doch das wussten die beiden nicht. Es war auch im Moment nicht wichtig. Olvin bestand darauf, dass Yugi und Crimson ins Bett zurückkehrten. Er drohte ihnen sogar an, seine Heilerkenntnisse zu missbrauchen, um sie zu betäuben und wegtragen zu lassen. Also hatten sie keine Wahl und gaben nach.

Für den Schlossherrn war die Situation völlig unbefriedigend. Yugi konnte mit dem Schlaftrunk wahrscheinlich zur Ruhe kommen, aber er nicht. Vielleicht sollte er sich auch nicht darüber wundern – sein Schlossherz war beunruhigt, und das färbte immer ein wenig auf ihn ab. Cathy ließ ihn jedoch nicht an seinem Problem teilhaben. Er fand es vermutlich wirklich ziemlich peinlich, von Parasiten befallen zu sein. Oder hatten sie ihm gesagt, dass Crimson nicht gestört werden sollte?

Nun ja... es war ja wohl möglich, dass ein paar erfahrene Magier mit so etwas fertig wurden, nicht wahr? Er machte sich wahrscheinlich zu viele Sorgen. War es nicht die Aufgabe eines Anführers, sich darauf zu verlassen, dass seine Lakeien auch mal was hinbekamen? So langsam begriff Crimson, was damit gemeint war, wenn jemand von der Last der Verantwortung sprach, die ein Anführer hatte.
 

Am Morgen kam wieder Ray mit dem Essen. Er trug einen Verband an der Stirn und hatte deshalb seine Haare zusammengebunden. Mit dieser Frisur sah er besonders ernst aus, fand Crimson. Aber so wurde auch deutlich, dass Rays Gesicht etwas weichere Konturen hatte als Sorcs, wobei es natürlich möglich war, dass die Hautfarbe optisch ihren Teil dazu beitrug. Bisher fehlte noch der direkte Vergleich.

„Obstsalat mit ganz kleinen Stücken Lotus drin!“ verkündete der Lichtmagier. „Er ist gut durchgekocht, du bemerkst ihn vielleicht gar nicht.“

Sie waren inzwischen längst beim Du, Crimson hätte es auch komisch gefunden, Sorcs Bruder die ganze Zeit so förmlich anzureden, wo der Mann doch so einen offenherzigen Eindruck machte.

Skeptisch schaute er in den Salat. Wenn er sich einbildete, dass die grünen Dinger irgendwas anderes waren... Aber nein, der Geschmack war einfach zu penetrant und der Lotus verlieh dem ganzen Gericht eine schleimige Konsistenz. Bloß gut, dass jeder nur einmal im Leben Schattenfieber bekommen konnte.

Er aß brav, während Ray auch an die anderen eine Portion verteilte. Nur Yami bekam noch einen Becher mit dem Knochensalzgebräu. Er war wach, aber nur so weit, dass seine Augen offen waren. Anscheinend war er noch nicht ganz klar im Kopf.

„Ist mit Yami alles in Ordnung oder gibt es Probleme?“ erkundigte Crimson sich leise.

„Olvin meint, es liegt nur daran, dass Yami aus der Welt des Blauen Lichts stammt,“ informierte Ray ihn. „Es ist sein erster Besuch hier, und er kennt die Krankheitserreger überhaupt nicht. Aber sein Wille ist stark...“ Der Lichtmagier lies jetzt das Tuch auf Yamis Stirn weg, dafür stellte er ihm einen Vitamintrunk auf den Nachttisch.

„Wer hat eigentlich diese Medizin gekocht?“ wollte Crimson neugierig wissen.

Ray hob eine Augenbraue. „Weiß ich gar nicht... wahrscheinlich Olvin, der Heiler. Vielleicht aber auch einer von denen da draußen, da gibt es sicher auch Alchemisten.“

Ah, die hatten sicherlich auch das Knochensalz mitgebracht... oder gleich den fertigen Trank.

„Du hast mir gar nicht erzählt, das du einen Jungen von der Universität mitgebracht hast,“ erinnerte Crimson sich. „Wie ist es heute Nacht gelaufen?“

Ray seufzte, lächelte aber dabei. „Ich wollte dir Fire vorstellen, wenn du wieder bessere Nerven hast, denn er ist etwas anstrengend. Wir konnten leider nicht alle Parasiten beseitigen. Beim zweiten Energiebehälter sind sie erfolgreich über uns hergefallen und haben all unsere Magie abgesaugt. Nach so einem Erlebnis weißt du erstmal, wie lange es braucht, den körpereigenen Speicher wieder aufzufüllen. Ganz zu schweigen davon, dass es eine halbe Stunde gedauert hat, alle Ableger von uns zu entfernen.“

Obwohl mit dem Thema an sich nicht zu spaßen war, entfuhr Crimson ein Kichern.

„Du hast Parasiten Im Schloss?“ mischte Dark sich in das Gespräch ein. „Klingt wie Merasfresser.“ Er verzog schmerzlich das Gesicht. „Drakoniel lacht sich kaputt.“

„Der soll lieber mit ein paar Tipps zu dem Thema rausrücken, wenn er es so viel besser weiß,“ zischte Crimson seinen Cousin an, wobei er eigentlich das arrogante Schlossherz meinte.

Dark schwieg eine Weile, in der sein Blick abwesend wirkte, und sagte dann: „Drakoniel warnt uns davor, dass die Viecher eine Schwarmintelligenz haben. Das heißt...“

„Ja, ich weiß, was das bedeutet,“ unterbrach Crimson ihn. „Sie lernen, und zwar die ganze Population, weil sie ein kollektives Bewusstsein haben oder so. Mist.“

„Hm, ich hätte sonst die Idee gehabt, dass wir sie in eine Falle locken,“ teilte Ray ihnen mit. „Sie gehen auf Magier los, also benutzen wir einen als Lockvogel und vernichten sie mit einem Bannkreis oder so. Wie Motten.“

„Das gilt dann aber wohl nur für die, die ins Schloss entwischt sind, statt bei den Speichern vernichtet zu werden,“ vermutete Crimson.

„Im Moment sind wir einfach zu wenige, sonst wären wir gewiss erfolgreicher gewesen,“ meinte Ray. „Ein Schloss zu durchsuchen und alle zu vernichten, die an den Energiespeichern kleben, ist einfach nicht zu schaffen für... ich glaube acht waren wir. Und da kannst du Sorc abziehen, weil er den Alchemieturm verteidigt hat.“

Dark war etwas verwirrt. „Bestand Gefahr für den Turm?“

„Ja, weil Crimson da oben Glutsteine benutzt, die Merasfresser interessieren, und es sollte generell keines dieser... uhm... Wesen in einem Raum sein, wo ein wichtiges alchemistisches Werk stattfindet,“ antwortete Ray.

„Wir sollten darauf warten, dass die meisten von uns genesen sind, und es dann noch einmal versuchen,“ beschloss Crimson. „Bis dahin halten wir die Population so gut wie möglich in Grenzen.“

„Wir machen das schon,“ versprach Ray. „Ich verlasse euch dann mal wieder, denn Olvin will, dass ich mich ausruhe...“

Crimson grinste. „Ja, kann ich mir vorstellen.“ Während der Lichtmagier sich verabschiedete, legte er sich auch wieder hin, aber er hatte so eine Ahnung, dass es ein langweiliger Tag werden würde, wenn er wieder nicht aufstehen durfte...

Väter und Söhne

Am nächsten Morgen brachte Ray Fire mit.

„Yo, Alder!“ Der Bursche begrüßte Crimson auf Kriegerart, nur dass er noch die andere Hand dazu nahm und die des Schlossherrn ordentlich schüttelte.

„Ah... freut mich.“ Crimson überprüfte sein Ellenbogengelenk auf Beschädigungen.

Fire blieb neben dem Bett stehen, verschränkte lässig die Hände vor dem Unterleib und lächelte selbstgefällig. Er hatte einen sonnengebräunten Teint, glutrote Augen und ebensolches Haar. Letzteres bestand aus kleinen Zöpfen, die zur Zeit über seine Schultern hingen und auf der Vorderseite locker seine Brust bedeckten. Es war eine ordentlich gemachte Frisur, die ihn aber insgesamt wild aussehen ließ. Dieser Eindruck kam aber vielleicht auch durch die mittelbraune Lederkleidung zustande, die aussah, wie sehr oft getragen und gelegentlich ausgebessert. Sein Oberteil war ärmellos, dafür trug er zahlreiche schmale Lederarmbänder und Lederschnüre mit bunten Steinen um beide Handgelenke. Fire wirkte kräftig und gut trainiert und schien vor Selbstbewusstsein nur so zu strotzen.

„Der Junge ist erst mit sechs auf die Schule gegangen, aber er hätte bald seinen Abschluss an der Eisigen Universität gemacht,“ erzählte Ray. „Hat den kleinen Abschluss schon geschafft, der dem an der Akademie entspricht. Aber danach hat ihn offensichtlich die Geduld verlassen.“

Der Prinz saß wie immer neben Crimsons Bett auf einem Stuhl und hielt ein kleines Pläuschchen mit ihm, während er ihm sein Frühstück zuteilte. Der Verband an seinem Kopf war etwas weniger geworden. Weniger war auch der Anteil an Lotus geworden. Crimson kam mit einem kleinen Glas Saft davon. Der Saft war rosa.

„Der wird aus den Blüten gekocht,“ erklärte Ray, da er den verwunderten Blick seines Gesprächspartners bemerkte. „Wir hatten inzwischen genug Zeit, um welchen herzustellen, aber am Anfang musste alles ganz schnell gehen. Der wird dir schmecken, denke ich.“

Der Geschmack war wirklich nicht übel, aber Crimson hatte das Gefühl, Parfüm zu trinken. Er konnte seinen Eindruck nur als blumig bezeichnen, und etwas medizinisch frisch. Wie bei einem Hustensaft, den ein Kind ganz gut ertragen kann.

„Wenn ich das richtig verstehe, hat Fire im Prinzip eine abgeschlossene Grundausbildung,“ kam er schließlich wieder auf den neuen Schüler zu sprechen.

Ray nickte. „Danach kann sich ein junger Magier einen Lehrmeister suchen, aber einen persönlichen Lehrer zu haben, ist doch sehr stressig...“

„Ey, red nich, als wär ich faul!“ grummelte Fire. „Ich hab nur kein' Bock mehr auf das Unigeschwafel, das wird mir jetz' voll zu speziell. Lieber'n bisserl relaxen und ab und zu mal was lern'n. Ach ja un' ich will meine Homies auch herhol'n. Keine Angst, sind alle voll korrekt.“

„Ähm... ja, kein Problem... denke ich,“ antwortete Crimson ihm. Er fand den Sprachstil etwas gewöhnungsbedürftig. „Deine Freunde sind aber auch alles Magier, oder?“

„Und wennich? Ich sach dir, Alder, die kannste alle gut gebrauchen! Aba ich hab versprochen dassich für ne Bleibe sorg und das machich auch!“

„Ist schon klar... ich seh sie mir mal an,“ lenkte Crimson ein. Da Fire eine große Hilfe in der Bekämpfung der Merasfresser war, wollte er ihn nicht vor den Kopf stoßen.

„Wenn du gefrühstückt hast, darfst du das Bett verlassen,“ teilte Ray ihm mit, als die Sache mit Fire einigermaßen geklärt war. Er hatte eine Tagesrobe für Crimson mitgebracht.

„Und was ist mit mir?“ beschwerte Mava sich vom Rand des Zimmers.

„Du bleibst noch zur Beobachtung, denn dich konnten wir nicht von Anfang an behandeln. Laut Olvin kann sich die Dauer der Krankheit dann verlängern,“ richtete Ray ihm aus.

„Och menno,“ maulte der junge Lichtmagier und ließ sich zurück ins Kissen fallen. „Das tut mir so Leid, Crimson... hätte ich mal besser aufgepasst.“

„Die Diskussion hatten wir schon,“ winkte Crimson ab. „Und du hättest ja wohl schlecht einem Kranken nicht helfen können, oder?“ Er frühstückte in Ruhe fertig und zog sich dann um.

Auch Dark schickte sich an, aus dem Bett zu steigen. Natürlich gab es keine Robe für ihn, aber er zog sich den Umhang von Opa Sage über und verkündete, er werde sich eine holen.

„Du sollst auch noch einen Tag liegen bleiben!“ protestierte Ray.

„Dann versuch mal, mich aufzuhalten,“ gab Dark zurück und verließ das Zimmer noch vor Crimson.

„Vermutlich will er nur zu Blacky,“ überlegte Crimson. Vielleicht hatte Dark auch eine bessere Konstitution als andere. Oder er war einfach nur störrisch.

Als er das Zimmer verließ, stieß er fast mit Yugi zusammen, der ihn kurz angrinste und dann zu Yamis Bett huschte. Appi folgte ihm auf dem Fuße, aber er ging zu seinem Bruder. Beide Jungen trugen noch Schlafsachen, waren also offenbar auch noch nicht entlassen worden. Vielleicht konnte ja jetzt die Aufteilung der Betten etwas angepasst werden, andererseits lohnte das kaum noch.
 

Crimsons erster Weg führte ihn in den Turm. Wenn Cathy ihm nichts von den Parasiten erzählt hatte, wer konnte dann schon wissen, ob mit dem Trank noch alles in Ordnung war? Er hatte nicht mehr nachgefragt, obwohl es ihm schwerfiel, aber er ging davon aus, dass seine Leute die Merasfresser im Griff hatten.

Im Alchemieturm waren alle Türen mit dem gleichen Siegel geschützt, das auch die Krankenzimmer gesichert hatte. Auf jeder Etage gab es nur ein Zimmer.

Ab dem dritten Stockwerk (das erste war das Erdgeschoss) sah das Siegel anders aus. Crimson konnte die Schrift gar nicht mehr lesen, aber sie kam ihm vom Schriftbild her bekannt vor. Höchstwahrscheinlich stammte sie von Sorc, und er musste wieder an die Schriftzüge an den Schlosswänden denken. Das war aber nicht der einzige Unterschied. Andere Siegel waren für gewöhnlich rund, dieses aber hatte eine völlig unregelmäßige Form.

Auf der vierten Etage und schließlich ganz oben, wo das Labor war, sah das Siegel wieder etwas anders aus. Darin war kein Sinn zu erkennen. Aber als Crimson vor der oberen Tür stand und die Hand nach der Klinke ausstreckte, war es ihm, als wehe ihm ein unangenehm kalter Wind entgegen, ein übler Geruch und ein schriller Ton. Er wusste, dass all das nicht real war, aber sein Körper schaltete automatisch auf Abneigung. Der Effekt war so schlimm, dass es ihm nicht gelang, die Klinke wirklich zu berühren.

Nach einer halben Minute wurde die Tür von innen geöffnet. „Hallo, Direktor,“ begrüßte Sorc ihn. „Wie gut, dass du kommst. Ich kann mich eine Weile mit Alchemie befassen, aber auf die Dauer verliere ich die Geduld, und das ist gefährlich bei mir. Insofern übergebe ich dieses Projekt mit Freuden zurück an dich.“

„Direeeektoooor!“ Vom Sessel sprangen Rosi und Saambell auf. Beide trugen ein Nachthemd, das ein paar Nummern zu groß war, und eine kleine Decke als Umhang.

Crimson war verwirrt. „Was macht ihr denn hier?“

Er entdeckte ein Beistelltischchen, das vorher nicht hier gewesen war. Darauf standen eine Kanne und Gläser mit Lotussaft und eine Schüssel mit Keksen. Auf einem Tablett auf dem seitlichen Arbeitstisch befand sich gebrauchtes Geschirr, zu dem auch alchemistische Teile gehörten. Aber abgesehen von dieser kleinen Ecke sah es recht aufgeräumt aus, wenn man bedachte, dass hier das Chaos regiert hatte.

„Die Kinder hatten Angst vor all den fremden Leuten und wollten nicht alleine bleiben,“ erklärte Sorc. Er trug eine bis zu den Füßen reichende Robe mit langen, schmalen Ärmeln, was Crimson befürwortete, denn das schützte einen Alchemisten vor Verletzungen durch gefährliche Zutaten und heiße Spritzer. Die Haare hatte er sich zusammengebunden, so dass sie nicht in den Kessel hingen.

„Hab schon gehört, dass du ganz gut mit ihnen klarkommst,“ bemerkte Crimson.

„Es muss schwierig für die Kleinen sein, ohne ihre Eltern... aber andererseits haben wir Magier das alle mitgemacht.“ Sorc kippte eine blaue Flüssigkeit in den Kessel und rührte dabei langsam um. „In dem Alter kamen doch unsere Eltern immer noch regelmäßig zu Besuch, und die Schulen bieten so kleinen Kindern mehr Ferien. Sofern man sie denn dann schon auf die Schule schicken will. Naja... für mich war die Schule fast schöner als die Ferien, weil ich dort zumindest Freunde hatte. Als Prinz aufzuwachsen hat seine Nachteile.“

„Verstehst du dich gut mit Ray?“ wollte Crimson wissen. Er mochte es, wenn Sorc in Plauderstimmung war, und momentan machte der Mann den Eindruck, dass er sich mal wieder nach einem vernünftigen Gespräch sehnte. Vielleicht hatte er in den letzten Tagen keine Gelegenheit gehabt.

„Oh ja.“ Sorc nickte eifrig. „Er ist schließlich mein Bruder. Familie. Mutter und Vater haben uns so erzogen, dass Familie über alles geht.“

„Aber...“

„Ich weiß, was du jetzt sagen willst. Kayos ist mein Sohn. Als wir auf verschiedenen Seiten gekämpft haben, habe ich mich darauf verlassen, dass er alle Gefahren überleben wird. Wir Chaosmagier erreichen manchmal Dinge, indem wir schlicht und einfach dem Universum mitteilen, dass es so kommen wird. Es war... eine Gratwanderung. Ich habe ihn benutzt, und er wurde stärker, während er gegen mich kämpfte. Das zu beobachten war aufregend für mich und machte mich stolz. Du musst das nicht verstehen, Direktor. Aus deiner Sicht ist es gewiss eine verquere Logik.“

Crimson war auf jeden Fall fasziniert davon, dass Sorc erstmals mit ihm über diese Sache sprach. „Hast du von Anfang an gewusst, dass er dein Sohn ist?“

„Sobald ich ihn traf, ja. Das war auf der Astralebene... ich gelangte so einfach in seine Gedanken, dass überhaupt kein Zweifel an der Verwandtschaft bestand. Aber ich wusste nicht von Anfang an, dass er einer meiner Hauptgegner sein würde, falls du das meinst.“ Sorc sah ihn offen an, bereit, mehr zu erzählen, falls er gefragt wurde. „Fire ist auch mein Sohn,“ sagte er.

Crimson hob erstaunt die Augenbrauen. „Der Feuermagier? Das hätte ich nie erraten. Der sieht dir kein bisschen ähnlich!“

„Naja... das sagen viele,“ meinte Sorc schulterzuckend. „Er war gut in der Schule – ich frage mich, was passiert ist.“

„Ich kann schon verstehen, dass jemand schlicht und einfach keine Lust mehr auf Schule hat,“ grinste der Schlossherr. Was er allerdings zugeben musste, war, dass er nicht sicher wusste, ob er jemandem, der seine Schule praktisch schon abgeschlossen hatte, noch etwas bieten konnte.

Eine kleine Bewegung in seinen Gedanken machte ihn darauf aufmerksam, dass Sorc selbige verfolgte.

„Verzeihung,“ sagte der Chaosmagier dazu. „Du musst wirklich lernen, dich besser abzuschirmen... Naja, was ich sagen wollte: Vielleicht solltest du darüber nachdenken, ob das hier wirklich eine Schule werden soll. Wenn ja, musst du kompetente Lehrer einstellen, solche, die jeweils auf einem Gebiet sehr gut sind. So planlos, wie du an die Sache rangegangen bist, solltest du nie wieder von mir behaupten, ich sei planlos.“

„Ich wollte einfach nur das Schloss haben... Das mit der Schule kam irgendwie aus Trotz,“ gestand Crimson.

„Du würdest dich wundern, wie viele Dinge aus Trotz geschehen,“ deutete Sorc an. Er fügte nichts weiter hinzu, aber sollte das ein Hinweis darauf sein, dass manche Entscheidungen noch einmal überdacht werden sollten?

Der Trank brauchte für einige Stunden keine Zuwendung, und Sorc zeigte Crimson, wie er den Schutzbann mit einer kleinen Geste soweit deaktivieren konnte, dass er von außen die Tür öffnen konnte. Er brauchte ein bisschen Übung, bis es klappte.

„Du schaltest ihn mit einem Schnipsen aus? Wo lernt man denn sowas!“ rief Crimson entgeistert.

„Sorcs persönliche Schule des Chaos,“ freute der Ältere sich. „Spart ziemlich viel Zeit, die du nicht damit zubringen musst, lange Sprüche zu rezitieren.“

Sie gingen den Turm hinunter, nachdem sie sichergestellt hatten, dass der Bann nach dem Schließen der Tür wieder aktiv wurde. Am Tag war die Gefahr durch die Merasfresser ziemlich gering, weil sie das Licht in jeder Form scheuten.

Sorc trug Rosi auf einem Arm, wobei sie sich zutraulich an seinem Hals festhielt, und hatte Saambell an der Hand. Crimson fand es gefährlich, denn so hatte der Chaoshexer selbst gar keinen Halt am Geländer, aber seine Schritte waren auch auf der steilen Treppe sicher.

„Uhm... hast du schon öfter mal zwei kleine Kinder gleichzeitig gehabt?“ fragte Crimson ihn, als sie das Erdgeschoss erreichten, denn wie Sorc mit den Mädchen umging, ließ ihn das vermuten.

Der Blauhäutige machte eine nachdenkliche Mine. „Öfters, ja... Ich hatte zum Beispiel Ruin und Demise gleichzeitig, und manchmal sogar drei oder vier... dann aber natürlich nicht alles meine. Sie haben ab und zu die Nachbarskinder zu Besuch gehabt.“

Sie brachten Saambell und Rosi in das Zimmer für Frauen, wo sich auch Lily, Eria und Atria befanden. Während Sorc die Kleinen zu einem besonders breiten Bett ganz rechts geleitete und ihnen erklärte, dass sie ein bisschen ohne ihn auskommen mussten, ging Crimson nach seiner Schülerin schauen. Sie hatte die Krankheit noch nicht so gut überstanden wie er, da sie erst später krank geworden war. Außerdem war sie fast noch in einem Alter, das sie für Schattenpocken qualifizierte, aber das wollte sie nicht hören.

Lily hatte das Bett neben den Mädchen, dann kam die Amazone, dann Eria. Sie hatte sich dieses Bett ausgesucht, damit sie zumindest an einer Seite eine Wand hatte, besonders, da sie rechtzeitig mitbekommen hatte, dass Sorc ein und aus ging. In allen Einzelheiten berichtete sie Crimson von seinen Machenschaften.

„Er hat ab und zu das Essen für Lily und die Kleinen gebracht, und Rosi und Saambell sind ja noch so jung, die haben sich total von ihm einwickeln lassen! Er hat sie sogar immer mitgenommen, wenn er am Tag was zu tun hatte, manchmal war er auch ganz lange hier bei ihnen!“ Eria redete leise und schnell, so dass Crimson sich mit dem Zuhören anstrengen musste.

Mit einem liebenswürdigen Lächeln tauchte Sorc neben dem Bett auf, denn ihm war das natürlich nicht entgangen. „Sie hat sich schon einen Tag früher krank gestellt, damit sie aufhören konnte, das Bad zu putzen,“ petzte er.

Eria blies empört die Wangen auf. „Hey! Lüg hier nicht rum! Ich hab die meiste Arbeit gemacht! Ich hab den Abfluss gereinigt, in dem sich lauter Steinchen verfangen hatten!“

„Ja, mit Wassermagie, mit der du auch den Raum ausgespült hast. Ohne mir vorher zu sagen, was du vorhast.“

„Hättest eben besser aufpassen müssen...“

„Von der Wucht sind die größeren Steine, die ich schon zusammengetragen hatte, wieder überall verteilt worden.“

„Du hast doch sonst für alles ne Lösung!“

„Ich glaube, dass der Abfluss nicht verstopft worden wäre, wenn wir den Dreck vorher weggebracht hätten.“

„Du warst eben zu langsam!“

Crimson konnte sich vorstellen, wie das in etwa abgelaufen war. Allerdings war der Raum wohl zumindest benutzbar, schließlich hatte Eria ihn ja gespült...

„Hört auf zu zanken!“ verlangte er. „Sorc. Ich hab dich mit der Sicherheit beauftragt, aber dazu gehört nicht, dich mit meiner Schülerin zu streiten!“

Der Chaosmagier warf ihm einen glühenden Blick zu, doch seine Mine verriet wieder einmal nichts. „Verstanden, Direktor,“ sagte er betont förmlich.

Eria streckte ihm die Zunge raus.

„Und du, meine Schülerin, wirst aufhören, den Rehabilitanden zu provozieren,“ fuhr Crimson fort. Er sah, dass sie protestieren wollte, und schnitt ihr vorsorglich mit einer Geste das Wort ab. „Ende der Diskussion!

„Ich werde mich dann verabschieden, um weitere Unruhe zu vermeiden.“ Sorc verneigte sich ansatzweise und entschwand schwungvollen Schrittes durch die Tür.

„Hm, der wäre vielleicht was für meine Tante, weißt du, ob er frei ist?“ fragte Atria.

„Er ist ein Verbrecher!“ zischte Eria, doch das beeindruckte die Amazone offenbar nicht.

„Ich hab gehört, er ist schon fest gebunden,“ antwortete Lily plötzlich, was Crimson überraschte. Andererseits... zwischen den beiden lief doch was!

Er hielt sich aber nicht mehr allzu lange bei den weiblichen Patienten auf, sondern fand noch ein paar nette Worte für sie und setzte dann seinen Weg zum Büro fort. Es kam ihm seltsam vor, an sein eigenes Büro zu klopfen, aber er tat es höflich und schob die Tür auf, als man ihn herein rief.

„Guten Morgen, Crimson!“ rief Luster ihm sogleich entgegen. Er saß hinter dem Schreibtisch und besprach mit Sage, Olvin und Kuro – letzterer stand hinter ihm – einige Notizen, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte, hauptsächlich Skizzen, die wie Angriffspläne aussahen.

Sage wollte für Crimson Platz machen, doch dieser hielt ihn davon ab. „Du wirst doch wohl nicht einem jungen Burschen wie mir den Stuhl anbieten, Opa!“

„Du sollst mich doch nicht so nennen, mein Lieber, da fühle ich mich alt,“ lachte der weise Magier. „Ach, es ist so schön, meine beiden Enkel und Söhne mal wieder am selben Ort zu haben.“ Er tätschelte Crimsons Rücken, ehe er sich wieder dem Problem auf dem Schreibtisch zuwandte.

Luster sah den Schlossherrn kurz fragend an, aber da dieser schwieg, fuhr er mit der Besprechung fort. Sie machten Pläne für die Bekämpfung der Parasiten. Es klang sehr logisch, aber Crimson stellte fest, dass sein Hirn den großen Zusammenhang noch nicht wieder begreifen konnte, also gab er sich irgendwann keine Mühe mehr. Wenn er gebraucht wurde, würde es ihm schon jemand sagen. Eigentlich war er ganz froh darüber, dass andere ihm eine Sorge abnahmen – was vermutlich auch ein Zeichen dafür war, dass er sich noch etwas auskurieren musste.

„Ich glaube, ich gönne mir ein Bad, wenn von euch keiner was dagegen hat,“ teilte er der Gruppe mit.

„Aber nicht im Keller, das ist im Moment zu gefährlich,“ warnte Luster ihn.

Da Crimson ihm das gerne glaubte und nun wirklich kein Verlangen nach einer weiteren Begegnung mit einem Merasfresser im Dunkeln hatte, machte er sich auf den Weg zum Strand. Dieses Schloss brauchte dringend ein Tageslichtbad.

Obwohl es einen Seitenausgang gab, der den Weg zum Strand verkürzt hätte, nahm Crimson das Haupttor, weil er auf diesem Wege das Lager draußen sehen konnte. Die Magier hatten an der Grenze der Quarantänezone in Abständen von einem halben Meter auffällige Steine verteilt. Es gab auch eine magische Sperre, aber es war immer besser, wenn diese nicht aktiviert werden musste. Ob die Merasfresser wohl auch eine Gefahr für die Lagernden waren?

Crimson stand eine Weile in der Nähe der Steinlinie herum, ehe sein Vater auftauchte. Shiro näherte sich in flotten Schritten, hielt dann aber von der anderen Seite einen Sicherheitsabstand ein.

„Ah, ich bin erleichtert, dich wohlauf zu sehen, mein Sohn!“ sagte er lächelnd.

„Ihr alle habt mir sehr geholfen,“ meinte Crimson verlegen. „Außerdem bin ich noch nicht wieder ganz der Alte, also gönne ich mir noch einen Tag Erholung und kümmere mich einfach nur um den Trank.“

Er musste wohl etwas gesagt haben, das dem Lichtmagier bisher nicht aufgegangen war, denn diesem entglitten alle Gesichtszüge. „Ach du meine Güte, der Trank! Ist damit alles in Ordnung? Aber wen hast du damit betraut? War nicht Dark auch krank?“

„Dem Elixier geht es gut, keine Sorge. Ich war vorhin dort. Es hat die Farbe, die es haben soll, die Konsistenz ist okay und es riecht heute nach einem unterirdischen Salzsee... zumindest ist alles so, wie es in dem Buch steht. Sorc hat sich gut darum gekümmert.“ Crimson hatte keine Erfahrung mit diesem Projekt, deshalb musste er sich auf die Angaben im Rezept verlassen.

„Du hast es Sorc machen lassen?“ Shiro sah ihn an, als wäre er nicht ganz bei Sinnen. „Versteh mich nicht falsch, Junge... du wirst deine Gründe gehabt haben, aber ich hätte nicht gedacht... naja.“

Crimson äußerte sich nicht dazu, denn zumindest vor seinem Vater wollte er nicht erklären müssen, warum er ausgerechnet Sorc mit wichtigen Aufgaben betraute. Statt dessen fragte er: „Hat euch jemand über... das andere Problem informiert?“

„Die Parasiten? Ja doch... wir lassen nachts Lichter brennen, weil wir nicht sicher sind, ob sie von der Quarantänegrenze abgehalten werden. Leider kann ich dir gar keine Tipps geben, ich hatte das Problem noch nie. Linda und Xenia haben ein Selbstdiagnoseprogramm, das einmal täglich überprüft, ob alles in Ordnung ist.“

Crimson versuchte, nicht allzu schockiert zu wirken, denn er hatte keine Ahnung, ob Cathy sowas besaß. Vielleicht gab es das erst bei neueren Schlossherzen. „Wie konntest du das am Laufen halten, als du ganz alleine im Schloss warst?“

Shiro lächelte und legte neckisch den Kopf schief. „Na wie, he? Wir generieren Energie durch den Wasserfall. Jetzt tu mal nicht so, als wäre dir das alles neu. Jedes Schlossherz hat eine natürliche Energiequelle. Außer Drachenfels vielleicht, es wurde schließlich gebaut, um Exodia zu versiegeln.“

„Klar... mein Hirn ist noch nicht wieder auf der Höhe,“ redete Crimson sich heraus.

„Ich freu mich schon auf den Moment, wenn der Quarantänemodus beendet wird und ich dich wieder auf Trab bringen kann. Ich werde mir gut ansehen, wie es bei dir so läuft,“ prophezeite Shiro.

„Tu das, Paps. Ich gehe jetzt eine Runde schwimmen...“ Crimson streckte die Hand aus, wich aber gleichzeitig zurück, so dass es zu keiner Berührung kam. Er war nicht der Typ, der seinem Vater seine Liebe in Worten bekundete, aber Shiro wusste es, denn er kannte seinen Sohn gut. Manchmal fragte er sich, warum der Mann eigentlich keine weiteren Kinder hatte.

Ein Tag am Strand

Der zum Schloss gehörige Strandabschnitt war durch eine natürliche Felsformation ein wenig vor Eindringlingen und neugierigen Blicken geschützt, so dass Crimson auf dem Weg, den er genommen hatte, seinerseits nicht gleich bemerkt wurde. Das war auch gut so, denn er war nicht der Erste am Strand, wie er anhand von lautem Gelächter schon von weitem erkennen konnte. Er duckte sich erstmal hinter ein paar größere Felsbrocken und lugte um sie herum zum Wasser, das etwa zehn Meter von seinem Versteck entfernt begann.

Jemand saß in sicherer Entfernung am Strand und passte anscheinend auf die Kleidungsstücke auf, die neben ihm aufgetürmt waren. Das musste Fire sein, denn niemand sonst hatte kleine, rote Zöpfe. Sein Rücken war von der rechten Hüfte bis zur linken Schulter mit einem stilisierten, blutroten Flammenmuster tätowiert.

Die Typen, deren Lachen Crimson gehört hatte, befanden sich bis zu den Schultern im Wasser und versuchten, sich gegenseitig unterzutauchen. Den Haarfarben nach musste es sich um Sorc und Ray handeln. Sie bekriegten sich noch ein paar Minuten, bis sie anscheinend genug hatten.

„Fire, komm ins Wasser! Es ist gut temperiert!“ rief Ray.

„Lass mal, Onkel... ich bin hier ganz zufrieden,“ antwortete der junge Feuermagier.

„Du musst mal baden!“ entgegnete Sorc.

Er und sein Bruder waren dabei, zurück zum Strand zu schwimmen. Erst, als sie nicht weiter schwimmen konnten, weil es zu flach wurde, standen sie auf und rannten auf Fire zu.

Dieser war reaktionsschnell auf den Beinen und auf der Flucht, aber die älteren Männer verfolgten ihn gnadenlos und schreckten vor dem Einsatz von Magie nicht zurück. Ray traf ihn mit einem Lichtball im Kreuz und streckte ihn damit nieder. Beide stürzten sich auf ihn, wobei jeder sich einen Arm und ein Bein schnappte.

„Nicht doch, lasst mich runter! Hey! Ich bin kein Kind mehr, das könnt ihr nicht machen!“ jammerte Fire, klang dabei aber so, als würde er sich amüsieren. Außerdem wehrte er sich nur halbherzig.

Sorc und Ray trugen ihn zügig so weit zum Wasser, dass es ihnen bis zu den Waden reichte, schwangen ihn dann zwischen sich, um Schwung aufzubauen, und warfen ihn schließlich im hohen Bogen in die Wellen. Fire kreischte, bis das Wasser über ihm zusammenschlug. Indessen waren Vater und Onkel schon wieder hinter ihm her, damit er nicht gleich wieder flüchten konnte.

Crimson erwischte sich dabei, dass er ein Grinsen auf dem Gesicht hatte, und beschloss, dass es ein guter Zeitpunkt war, um sich zu zeigen. Im Gehen zog er sich aus und ließ seine Kleidung neben die andere fallen. Dabei fiel sein Blick auf den Stapel, der Rays weiße Edelrobe war. Der Griff eines Schwertes schaute unter dem Stoff hervor. Nun... er war ein Prinz, es war vielleicht nicht verwunderlich, wenn er bewaffnet war. Crimson machte sich keine weiteren Gedanken darüber, sondern marschierte zum Wasser.

Fire hatte sich auf Sorcs Rücken festgekrallt wie ein Kind, das huckepack getragen werden wollte, und zog an den schwarzen Haaren. Der Chaosmagier ließ sich nach hinten fallen. Beide gingen unter und kamen separat wieder hoch, laut kichernd. So war es Ray, der Crimson zuerst entdeckte. In seinem momentanen Zustand – brusttief im Meer – sah er nicht viel königlicher aus als irgendjemand sonst.

„Crimsoooon! Wie schön, dass du zu uns kommst!“ Er winkte eifrig und wirkte dabei mindestens zehn Zyklen jünger, als er war. An seiner Stirn, wo der Verband fehlte, war eine kleine, verschorfte Platzwunde mit bläulich verfärbter Umgebung zu sehen.

Crimson mochte das Gefühl von nassem Sand unter seinen Füßen, der im Wasser aufgewirbelt wurde. Das stetige Wellenrauschen war beruhigend und inspirierend. Und die Gesellschaft war... etwas Neues. Er hatte das Gefühl, dass er in eine familiäre Szene hineinplatzte, aber die Betroffenen nahmen ihn gerne bei sich auf.

„Hey, Onkel! Der Kerl ist ja noch ganz trocken,“ meinte Fire über Sorcs Schulter hinweg.

Drei Augenpaare wandten sich Crimson lauernd zu. Dann verschwand die Gruppe kollektiv unter Wasser. Crimson hatte einen Moment Zeit, sich zu wundern, ehe er von mehreren Händen an Füßen und Beinen gepackt und nach unten gezogen wurde. Er schnappte reaktionsschnell nach Luft. Die Hände hielten ihn fest, fingen sogar an, ihn am Bauch zu kitzeln, dennoch stellte er überrascht fest, dass er keine Angst verspürte. Als ihm die Luft knapp wurde, ließen sie ihn los und schubsten ihn aufwärts. Sorc gab sich in seinen Gedanken zu erkennen. Das schien seine neueste Angewohnheit zu sein, aber Crimson wusste es zu schätzen, wenn er das tat. Er tauchte auf und wischte sich die weißen Haare aus dem Gesicht.

Fire war der Einzige, der lediglich einmal den Kopf zurückwerfen musste, um seine Haare nach hinten zu befördern. Zwischen ihm und Sorc, der kurz darauf neben ihm stand und grinste, bestand überhaupt keine offensichtliche Ähnlichkeit. Aber als er zu lachen anfing, stimmte sein Vater mit ein, und beide klangen auf die gleiche Art sorglos, ehrlich amüsiert und auf liebenswerte Art ein wenig albern. Wenn die Gesichter voller Lachfalten waren, hatten die Augen das gleiche schalkhafte Blitzen in den roten Pupillen. Die ganze Art, wie sie miteinander umgingen, sprach von einer großen Vertrautheit, und das bezog auch Ray mit ein.

Letzterer war im Moment frei für ein Gespräch, daher fragte Crimson ihn: „Hast du eigentlich auch Kinder? Ihr erinnert mich an mich, wenn ich mit meinem Vater und meinem Onkel im Kristallschloss bin... oder war, früher. Manchmal war Dark auch dabei. Aber Kuro ist schon immer viel gereist, daher war es selten, dass wir alle zusammen waren.“

„Ich habe zwei Töchter,“ antwortete Ray. „Sie sind bei mir aufgewachsen. Aber die Mutter wollte nicht mit mir zusammen leben. Sie hat einen anderen Mann, mit dem sie inzwischen noch einen Sohn hat. Wir haben gelegentlich Kontakt.“

„Komisch, wollte sie keinen Prinzen?“

„Eventuell wollte sie meiner Mutter aus dem Weg gehen... aber ich sag's mal so: Wenn ein Wille dagewesen wäre, hätten wir einen Weg gefunden. Es sollte halt nicht sein.“

Sie bekamen eine Ladung Wasser ab, als Sorc neben ihnen erneut auf Tauchstation ging, weil Fire ihn niederrang. Jemand riss Crimson die Füße weg, und er konnte sich gerade noch schwimmend abfangen.

„Ich glaube, ich behalte Fire gerne hier, der bringt bestimmt Leben in die Bude!“ prustete er.

„Darauf kannst du wetten, besonders in Kombination mit Sorc,“ stimmte Ray zu. „Und wenn erst noch die Homies da sind, wirst du keine Langeweile mehr haben. Die Jungs sind ganz in Ordnung, keine Sorge.“

Sorc tauchte hinter Ray auf und hielt sich hustend an seinen Schultern fest. „Was quatscht ihr hier? Das könnt ihr an Land tun!“ Er zeigte seine Zähne mit einem berechnenden, heiteren Grinsen.

„Ich habe dich noch nie so ausgelassen gesehen, Sorc,“ merkte Crimson an.

„Du wirst Sorc auch nie so sehen,“ entgegnete der Chaosmagier. „Sorc ist ein fieser Hexer der Finsternis, der stets ein ernstes Gesicht macht und keine Schwäche zeigen will. Niemand würde dir glauben, dass er anders lachen kann als böse, deshalb tut er es nicht, merk dir das. Mit anderen Worten, wenn du jemals jemandem erzählst, dass du mich so gesehen hast, werde ich alles abstreiten und dich in dein letztes Leben zurückhexen.“

„Mein letztes Leben? Woher willst du wissen, dass ich eins hatte?“

„Tja, das wäre dann gegebenenfalls ein Problem,“ kicherte Sorc. „Für dich, meine ich.“

Crimson schlug mit der flachen Hand auf das Wasser, so dass Sorc die Spritzer abbekam, doch jener ging hinter Ray in Deckung. Dafür war er dann wieder vor Fire auf der Flucht. Bei dem Gerangel wurde Ray geschubst und setzte zu einer Racheaktion an. Natürlich war es für Crimson nicht möglich, als Einziger unbeteiligt daneben zu stehen. Hier war jeder gegen jeden angesagt, bis die Gruppe sich ausgetobt hatte.
 

„In der Welt des Blauen Lichts gibt es eine Sonne, vor deren Licht man sich schützen muss, wenn man helle Haut hat,“ sagte Sorc. Er lag auf dem Rücken und blickte die Schattensphäre an, die sich in einem strahlenden Lavendelton zeigte. „Etwas in der Art muss da oben auch sein.“

Crimson lag zwischen ihm und Ray auf dem Bauch und hatte die Augen geschlossen. Sein Haar fühlte sich warm auf seinem Rücken an. „Ist es schön dort?“

Der Chaosmagier ließ sich mit der Antwort etwas Zeit. „Nein, finde ich nicht... jedenfalls nicht in der großen Stadt. Sie mag ihre eigene Art der Wunder haben, aber die Magie ist müde... sie wird nicht geschätzt, nicht erkannt und dennoch ausgebeutet, auf eine indirekte Art. Aber wenn man sich von der Stadt entfernt, dem unaufhörlichen Trubel der Menschenmassen und den grellen Kunstlichtern entflieht und den Nachthimmel betrachtet, sieht man die Sterne. Die Sterne besitzen noch die Urkraft des Cosmos, das Geheimnis der Schöpfung. Ich badete in ihrem Licht, lauschte ihrem Lied und spürte das pure Leben jener Welt. Seither frage ich mich, wie es wohl über der Schattensphäre aussieht. Es muss dort auch Sterne geben, denn wenn ich in ruhigen Nächten genau hinhöre, kann ich das Lied wahrnehmen...“

Crimson richtete sich erstaunt auf die Ellenbogen auf und sah Sorc in die dämonisch anmutenden Augen. Diese hatten im Moment einen verträumten Ausdruck und begegneten dem Blick des Weißhaarigen ohne Vorbehalte.

„Als ich die Welt des Blauen Lichts betrat, wusste ich sofort, dass ich dort nicht hingehöre,“ fuhr Sorc fort. „Malice hat davon geschwärmt, wie einfach es wäre, sie zu erobern, weil die meisten Menschen dort einen schwachen Willen haben und leicht zu beeinflussen sind. Aber alles, was er wollte, war ein Weg zurück, um Rache zu nehmen. Er hat mich belogen, und ich wusste es im Grunde auch... aber ich war neugierig. Wenn ich meine größte Schwäche benennen sollte, dann würde ich sagen, es ist meine Neugier. Und damit meine ich nicht den Wunsch, Wissen anzuhäufen, sondern alles einmal ausprobieren zu wollen. Meine Neugier hat Aceria vernichtet.“

Sorc schloss einen Moment lang die Augen, als durchlebte er eine schmerzhafte Erinnerung. Unbewusst rieb er sich den Fleck am Handgelenk, der von seinem Schlossherz übrig war. Dann setzte er sich mit einem Ruck auf.

Crimson hingegen hatte noch keine Lust, sich zu erheben, und ließ sein Kinn auf seine Hände sinken. Auf der Seite, wo Sorc gelegen hatte, kam es ihm kalt vor. Fire, der bäuchlings auf seines Vaters anderer Seite gedöst hatte, blinzelte träge in seine Richtung.

„Darauf war ich auch neugierig,“ murmelte Sorc.

„Hm?“ machte Crimson.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Zögernd, zuerst nur die Finger, und als er das duldete, auch der Rest. Sorc strich Crimsons Haare zur Seite und fuhr denn sachte über das Siegeltattoo. „Wer hat das verändert?“

„Dark. Er kann diese Hyroglyphen lesen,“ antwortete Crimson unumwunden. Außerdem stellte er fest, dass er Sorcs Berührung ertragen konnte, obwohl er anfangs sogar die Berührung seines Vaters gescheut hatte, kurz nachdem er das Siegel erhalten hatte.

„Es ist gute Arbeit... er hat das Bannsiegel mit seiner eigenen Magie von Malices Einfluss gereinigt,“ sagte Sorc. „Faszinierend.“

„Was meinst du damit? Ist das ungewöhnlich?“ wunderte Crimson sich.

Sorc fuhr vorsichtig die Konturen nach. „Malice ist ein Unterweltler. Seine Art von Magie hat eine andere Farbe als die, die das Tattoo jetzt erfüllt. Ich hatte erwartet, dass die Zeichen, die ergänzt wurden, in einer anderen Farbe leuchten. Um... Farbe meint in dem Fall nicht unbedingt eine Farbe in dem Sinne, aber diese Beschreibung ist am verständlichsten, denke ich.“

„Du siehst Dinge,“ sprach Crimson das Thema zum ersten Mal offen an. „Ich hatte schon oft den Eindruck, dass du mehr siehst als andere...“

„Das kommt, weil ich hinsehe, Direktor. Die meisten Menschen sind zu sehr auf das fixiert, was in ihren Augen normal ist. Sogar hier im Schattenreich.“

„War das bei dir schon immer so?“

„Ja... ich musste als Kind aufpassen, was ich sage, denn ich merkte schnell, dass nicht jeder das gleiche sieht wie ich. Oft wurde ich belächelt, ein spielendes Kind eben, aber manchmal wurde mir gesagt, dass ich nicht lügen darf...“

„Das ist möglicherweise der Unterweltleranteil,“ meldete sich Ray zu Wort. „Wenn du nicht ein Magier wärst, wärst du ein Unterweltler, Bruder.“ Er grinste schelmisch. „Und ich bestimmt ein Krieger. Mutter glaubt, dass sie dazu verflucht ist, Magier zu gebären. Naja, darauf kommt es nicht an. Sie wurde im Laufe ihrer Karriere als Chaosjägerin sehr oft von ihren Feinden verflucht...“

„Aber du siehst auch, Ray,“ wandte Sorc ein.

Der Lichtmagier wälzte sich auf den Rücken und streckte sich gähnend. „Schon, Auren und sowas. Aber du siehst sogar Geister, die außer für Feen und Unterweltler unsichtbar sein sollten. Und du siehst die Strömungen der Magie nicht nur, sondern unterscheidest ihre Farben!“

Sorc runzelte die Stirn. „Ach, das ist nichts anderes, als verschiedene Familienmitglieder voneinander zu unterscheiden.“

„Das ist es wohl. Die Magie ist für dich Familie,“ stellte Ray fest, aber er klang nicht eifersüchtig, sondern wie jemand, der es seinem Bruder von Herzen gönnte, wenn er mit seinen Gaben glücklich war.

Auren zu sehen musste ein Magier normalerweise extra lernen, und die meisten konnten das nur, wenn sie sich darauf konzentrierten, da bildete auch Crimson keine Ausnahme. Die Strömungen der Magie, wie die allgegenwärtigen Kräfte der Natur genannt wurden, spürte Crimson eher, als dass er sie sah. Er wusste es, wenn er sich an einem Ort mit besonders starker Finsternismagie befand, und konnte sein Gegenelement Licht herausspüren, aber die anderen unterschied er kaum.

Fire hatte sich neugierig erhoben und betrachtete eingehend das Tattoo. „Voll krass... Im Ernst, das gefällt mir gut!“

„Na danke... ich kann den Künstler leider nicht weiter empfehlen.“ Crimson brachte es fertig, darüber zu lachen. Vor ein paar Monaten hätte er das nicht für möglich gehalten. Er biss sich auf die Lippe, denn ihm fiel plötzlich ein, dass er Olvin gegenüber noch eine Schuld zu begleichen hatte. Er wollte sich dadurch jetzt nicht die Stimmung vermiesen lassen. Vielleicht konnte er den Alten umstimmen, wenn erst das Elixier fertig war.

„Hey, was ist? Was machst du für ein Gesicht, wenn ich dein Tattoo bewundere?“ beschwerte Fire sich.

„Es ist nicht wegen dir, ich habe an etwas Unangenehmes gedacht,“ versicherte Crimson.

„An etwas Unangenehmes, das du nicht ändern kannst?“ hakte Sorc nach.

„Ich weiß nicht...“

„Willst du darüber reden?“

„Nicht jetzt, glaube ich...“ Nein, Crimson wollte lieber noch ein wenig den Moment genießen. Kumpelhaft mit anderen Männern nackt am Strand zu liegen, hatte etwas Entspannendes.

„Wenn es soweit ist, zögere nicht,“ nahm Ray den Faden auf. „Es ist keine Schande zu wissen, wann man sprechen und wann man schweigen sollte.“ Seine Stimme klang irgendwie komisch.

Crimson drückte sich mit einem Arm hoch, so dass er dann auf der Seite lag und stirnrunzelnd Ray ansehen konnte. „Was bitte?“

Ray schüttelte den Kopf, wie um einen Gedanken loszuwerden. „Ach, nichts.“

Sorc, der noch immer seine Hand auf Crimsons Rücken gehabt hatte, ließ diese zu seiner Schulter wandern und stützte gemütlich sein Kinn darauf. „Ray sieht auch, wie ich schon sagte, aber manchmal seltsame Dinge.“

„Ach, hör auf.“ Der jüngere Bruder klang verlegen.

„Dinge, die noch nicht passiert sind,“ führte Sorc seine Andeutungen weiter aus. „Nur erkennt man oft erst hinterher, was er gemeint hat.“

„Ist also völlig nutzlos,“ meinte Ray.

„Mir hat er mal gesagt, ich würde das Wasser lieben lernen,“ warf Fire ein. „Aber ich mag das Wasser noch nicht mehr als früher. Ist auch logisch für einen Feuermagier.“

„Das kann doch noch kommen,“ entgegnete sein Vater. „Das Dumme ist ja, dass man nie weiß, wie lange es dauert, bis seine Andeutungen eintreffen.“

„Aaah, Schluss jetzt!“ Ray hielt sich die Ohren zu.

Ein paar schwarze Haare fielen vor Crimsons Brust herunter, und ihm ging auf, dass Sorc ihm sehr nahe war, aber es machte ihm nichts aus. Er hatte ein sicheres Gefühl in Gegenwart der drei Prinzen der Eisigen Inseln – Fire war ja streng genommen auch einer. Es war interessant, nach und nach ihre Geheimnisse zu erfahren, in persönliche Angelegenheiten eingeweiht zu werden und mit ihnen herumzualbern. Fast wie mit Brüdern, die er nie gehabt hatte, obgleich Sorc und Ray vom Alter her eher seine Onkel sein konnten.

Als ob das Ablegen der Kleider alle Schranken aufhob, dachte Crimson. Schon allein dadurch, dass man jemandem auf die bloße Haut blicken konnte, erfuhr man manchmal vieles, was man sonst nie herausgefunden hätte. Jeder gab sich eine Blöße und wurde verwundbar, dafür konnte aber auch niemand Waffen am Körper verstecken. Es gab keine Rangabzeichen, keine Statussymbole. Alle stellten sich auf die gleiche Stufe.

Crimson hatte sich nie für einen Philosophen gehalten, aber seine Gedanken gefielen ihm.

Sorg lachte leise dicht an seinem Ohr. Wahrscheinlich hatte er wieder telepathisch gelauscht. „Fühl dich nicht zu sicher mit uns,“ sagte er in einem kryptischen Tonfall. „Wir könnten eine Verschwörung gegen dich planen.“

„Verdirb mir doch nicht diesen kuscheligen Moment,“ seufzte Crimson theatralisch. „Du planst keine Verschwörung gegen mich. Ich habe das Wort von Prinz Soach.“

„Und du sagst noch, du vertraust mir nicht,“ stellte Sorc fest. Er schien zufrieden mit dem Gesprächsverlauf zu sein.

„In meiner Familie ist das königliche Wort bindend,“ bemerkte Ray. „Es geht sogar über Familienbande, obwohl die sonst das Wichtigste für uns sind. Aber wenn Soach sein Wort bricht, wird es Schande über uns alle bringen, weil es dann heißt, das Wort eines Prinzen der Eisigen Inseln sei nichts wert. Insofern erwarten wir, dass er sich daran hält, selbst wenn es bedeutet, dass er gegen uns handeln muss.“

Crimson war überrascht. Er hatte erwartet, dass die Familie im Zweifelsfall vor ging. Aber Rays Erklärung war auch einleuchtend. „Also habe ich im Prinzip jetzt schon ein Bündnis mit euch allen,“ stellte er fest.

„Nicht unbedingt,“ klärte Ray ihn auf. „Es ist nur so, dass Soach auf deiner Seite wäre, sollte es zu einem Konflikt zwischen dir und den Inseln kommen. Das Einzige, was zwischen ihm und seiner Treue zu dir stehen könnte, ist ein früherer Schwur, denn alle, denen er vor dir sein Wort gegeben hat, haben Vorrecht.“

„Uhm... wie viele sind das denn?“ Nicht dass dann dauernd Leute ankamen, die alle was von Sorc wollten und seinen Schwur untergruben.

„Nur noch einer,“ antwortete Sorc. „Mein Wort als Prinz der Eisigen Inseln vergebe ich nicht leichtfertig.“

Crimson nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis und kam sich schon etwas wichtig vor, weil er quasi ein seltenes Gut bekommen hatte. Eines, dessen Wert er unterschätzt hatte, aber sein Unterbewusstsein musste das schon vor ihm erkannt haben. Er fühlte sich von Sorc in keiner Weise bedroht, obwohl ihm die Logik zur Vorsicht riet.

Fire stand auf und wischte sich Sand vom Körper. „Onkel Ray, warum machen wir nicht gleich alles fest? Das wolltest du doch."

„Ja... aber jetzt? Na, warum nicht.“ Auch Ray erhob sich. Er hielt Crimson eine Hand hin. „Komm, reiß dich einen Augenblick von meinem Bruderherz los.“

Crimson nahm neugierig die Hand und ließ sich hoch helfen. Nur Sorc blieb sitzen und beobachtete das Geschehen.

Ray legte Crimson die Linke Hand mitten auf die Brust und die rechte auf seine eigene. Dazu senkte er ein wenig den Kopf, blickte dem Weißhaarigen aber weiterhin in die Augen. „Ich bin dir dankbar, weil du meinen Bruder hier aufgenommen hast, Crimson vom Lotusschloss. Soach bedeutet mir sehr viel. Zögere nicht, im Gegenzug einen Gefallen von mir einzufordern, was immer es sei. Du hast das Wort von Lichal, Prinz der Eisigen Inseln.“

Er trat elegant zurück und überließ Fire das Feld. Dieser stand etwas unschlüssig vor ihm. „Ich hab das erst einmal gemacht, und da war es nicht so förmlich... Also, du hast meinen Vater wahrscheinlich vor der Hinrichtung bewahrt oder vor einem tragischen Unfall in irgendeiner anderen Rehabilitationsstelle... glaube ich... und das sehe ich nicht als selbstverständlich an. Tja, dann...“ Er machte es wie Ray, legte eine Hand auf Crimsons Brust und die andere auf seine, nur dass es bei ihm etwas unbeholfen wirkte. „Crimson vom Lotusschloss. Ich schulde dir was, weil du meinem Vater geholfen hast. Solange ich unter deinem Dach wohne, werde ich alle beschützen, für die du verantwortlich bist. Du hast das Wort von Nyrador, Prinz der Eisigen Inseln.“ Er neigte feierlich den Kopf und trat zurück. „Ein Hinweis noch... dieser Schwur ist begrenzt durch ein Versprechen, das ich meinem Vater gegeben habe: Ich werde nicht mein Leben riskieren, wenn ich es vermeiden kann.“

„Dein Schwur schließt ja auch dich selbst mit ein,“ befand Crimson zustimmend.

Sorc ließ verpeinlicht seine Stirn auf seine angezogenen Knie sinken. „Ihr seid verrückt, wegen mir solche Schwüre zu leisten.“

„Wir wollen ja nicht wissen, wie genau der Wortlaut deines Schwures an Crimson war,“ entgegnete Ray. „Zweifellos war das überaus dramatisch, wie ich dich kenne.“

„Pah, macht doch alle, was ihr wollt.“ Sorc stand nun auch auf und schritt auf das Wasser zu. „Lasst uns noch eine Runde schwimmen und den Sand loswerden, dann aber sollten wir wieder rein gehen... Crimson muss sich um sein Elixier kümmern.

Alle vier fingen wie auf ein geheimes Zeichen an zu rennen und stürzten sich in die Wellen wie die Kinder. Crimson speicherte diesen Tag in seinem Gedächtnis, denn wer konnte sagen, ob etwas wie das jemals wiederkommen würde?

Später zogen sie die Kleidung über ihre noch feuchten Körper, und mit ihnen das Erwachsensein. Crimson beobachtete, wie Ray während des Vorgangs mehrere Messer und Dolche in seiner Kleidung verschwinden ließ, ehe er sich sein Schwert auf den Rücken schnallte. Genau genommen war es ein Kurzschwert, das samt Griff etwa so lang war wie seine Hüften breit. Es war hinten an seinem Gürtel befestigt und somit kaum zu sehen, wenn er auch noch einen Umhang darüber trug. Auch Fire hatte das ein oder andere versteckte Teil aus Metall. Der Schlossherr bekam so eine Ahnung, warum Sorc die schlosseigenen Roben trug, seit er hier war, denn irgendwo in den Notizen über Rehabilitanden gab es einen Punkt, der das Mitführen von Waffen ohne Erlaubnis des Stellenanbieters verbot. Crimson hatte immer angenommen, das wäre für Sorc nicht von Bedeutung, aber da irrte er sich vielleicht.

Auf dem Weg nach drinnen wurden sie alle allmählich wieder ernst, am ehesten natürlich Sorc, der Übung darin hatte, neutral auszusehen.

„Ach ja, ich habe ja ganz vergessen, dass ich dich von Mutter grüßen soll, Sorc,“ ergriff Ray das Wort. „Und natürlich von Iquenee.“ Der Lichtmagier ließ mit einer Bewegung etwas aus der Luft erscheinen, ein Trick, den Crimson auch schon bei Sorc gesehen hatte. „Und Vater sendet dir dies.“ Er reichte seinem Bruder einen Löffel.

Sorc nahm ihn an sich. „Äh, ja?“

„Das ist sein Lieblingsfrühstückslöffel. Er findet, es ist Zeit, dass du ihn kriegst. Ich bin so neidisch!“

„Vater hat den Löffel abgegeben?“ staunte Sorc.

Beide Prinzen starrten einander an und brachen plötzlich in Gelächter aus, das sie mit Mühe unter Kontrolle brachten. Kein Wunder, dass Ray auf eine geeignete Gelegenheit gewartet hatte, den Löffel zu übergeben, überlegte Crimson. Das Besteckteil schien so eine Art Insiderwitz zu sein, denn auch Fire konnte damit offensichtlich nichts anfangen.

Sorc ließ den Löffel verschwinden, so dass Crimson sich fragte, ob es etwas mit der Handbewegung zu tun hatte. Vielleicht ein Familienzauber.

„Ich werde ihn in Ehren halten, das kannst du Vater versichern,“ verkündete der Chaoshexer. Als sie in den Bereich des Schlosses gelangten, in dem ihnen andere Bewohner über den Weg laufen konnten, waren er und Ray ganz die ernsten Magier, für die alle sie hielten, und Fire fing wieder an, in Gossenslang zu reden.

Crimson indessen stieg seinen Turm hinauf, um dort für den Rest des Tages und die Nacht lang die Stellung zu halten.

Schweigen ist nicht immer Gold

Crimson hatte seit zwei Tagen wieder das Komando über sein Schloss, doch er ließ sich gerne von Luster und den anderen beraten, die schon mehr Erfahrung mit den Merasfressern hatten. Allerdings beschränkten diese Erfahrungen sich hauptsächlich auf das, was Crimson schon selber wusste.

Sie hatten es mit einer Falle versucht – die Parasiten mit einem Köder, einem Magier, anlocken und vernichten – aber die unförmigen Wesen waren nicht dumm genug dafür. Nur einige waren auf den Köder losgegangen, und nach deren Tod hatten die anderen sich nicht mehr auf die gleiche Art hereinlegen lassen. Das war das, was Draconiel mit Schwarmintelligenz meinte.

Am Tag zogen sich die Merasfresser in die dunklen Bereiche des Schlosses zurück, doch auch wenn die Magier die Energiekammern aufsuchten und die schwarzen Kreaturen dort vernichteten, blieben immer genug übrig, um für Nachschub zu sorgen. Das war Crimson unbegreiflich. Inzwischen war Cathy am Rande eines Nervenzusammenbruchs, soweit man bei einem Schlossherz davon sprechen konnte. Crimson fand es unter diesen Umständen schwierig, sich auf seine Arbeit mit dem Elixier zu konzentrieren.

Olvin meinte, dass das Schloss sich selbst von dem Befall befreien müsste... aber Cathy schaffte es nicht. Er war wie ein Mensch, dem es an Immunsystem fehlte, aber niemand wusste, woran das lag. Der alte Necromant wälzte Bücher, seit ihm der Verlauf der Epidemie wieder Zeit dafür ließ. Alle, deren Gesundheitszustand es wieder erlaubte, halfen ihm dabei, wenn sie nicht anderweitig zu tun hatten.

Auch Sorc ließ das Problem nicht kalt. Er musste sein eigenes Projekt, was immer es war, auf den Tag verlegen und dann in hellen Räumen und in den Außenbereichen arbeiten, und immer, wenn er nicht gerade schlief, denn er war etwas im Rückstand mit seiner Zeitplanung, nachdem er sich vorrangig um Crimsons Elixier gekümmert hatte. Da er noch in einigen Kellerräumen seine seltsamen Zeichen anbringen musste, gefiel ihm die Anwesenheit der Merasfresser nicht besonders. Ab und zu in den letzten drei Tagen war er in Begleitung von Fire und Ray dennoch in die dunkleren Gefilde hinabgestiegen, weil diese an der Reihe waren, wie er es ausdrückte.

Heute hatte Olvin verkündet, dass der Quarantänemodus im Laufe des Tages aufgehoben werden konnte, denn das Schattenfieber war von allen Patienten gut überstanden und auskuriert worden. Die Betroffenen waren teilweise noch etwas schwach auf den Beinen, das war alles. Crimson freute sich darauf, endlich wieder seinen Vater umarmen zu können. Mit Hilfe der Magier, die noch draußen kampierten, konnten sie vielleicht auch endlich die Merasfresser beseitigen.

Gegen Mittag war dann alles geklärt – Olvin hatte alle noch einmal kurz untersucht und Crimson versichert, dass auch wirklich nichts dagegen sprach, dennoch zögerte der Schlossherr, Catherine wieder in den normalen Modus wechseln zu lassen. Er suchte Sorc auf einem der Abflugtürme auf, wo dieser zur Zeit seine Symbole aufmalte.

Der Erste, der ihm auffiel, als er ins Freie trat, war allerdings Lichtblitz. Der weiße Drache döste im Tageslicht und lag zu diesem Zweck lang ausgestreckt an der runden Kante der Plattform, wobei ein Flügel über den Rand ragte. Als er Crimson bemerkte, stand er auf und stieß ihn mit dem Kopf an. [Direktor! Ich habe einen Riiiiesenfisch erlegt!]

„Guter Junge. Denk daran, nicht immer die gleichen zu fressen.“ Crimson tätschelte den Hals und strich hinter dem Nackenschild entlang. Lichtblitz hielt still und fing an, tief in seiner Kehle zu knurren, was wohl das Äquivalent eines felinen Schnurrens war. Crimson streichelte noch eine Weile den Drachenkopf. Im Vergleich zu einem ausgewachsenen Exemplar war dieses hier ja noch relativ klein, nur ungefähr so groß wie ein Elefant.

Sorc war nicht mit Schreiben beschäftigt... oder Malen, was immer es eher traf. Er stand an jener Seite der Plattform, von der aus er ins Landesinnere blicken konnte. Von hier sah er die versammelten Krieger und Magier. Auf der anderen Seite war das Meer.

Crimson trat neben den Mann und folgte seinem Blick. „Ich dachte, du arbeitest. Aber es beruhigt mich, dass du Pausen einlegst... wo ist dein Farbeimer?“

Sorc schnaufte amüsiert. „Der ist nur dafür da, dass die Leute sich nicht wundern. Eigentlich brauche ich keinen. Dir wird schon aufgefallen sein, dass ich keine Farbe benutze.“

„Schon, aber... etwas bleibt an der Wand zurück.“

Sorc nickte, ging aber nicht weiter darauf ein. „Ich bin etwas besorgt, Direktor. Dies ist ein Stufe drei Rehabilitationsplatz, somit darf ich mich nicht beschweren, aber ich wäre nützlicher für dich, wenn ich... unverletzt bliebe. Da draußen sind viele Personen, die das anders sehen...“

Crimson hob überrascht eine Augenbraue. Er wusste durchaus noch, dass Kuro alle Magier vom Kristallschloss über den speziellen Gast von Schloss Lotusblüte informiert hatte. Aber es erstaunte ihn, dass Sorc das Thema von sich aus anschnitt. „Ich kann dafür sorgen, dass sie dich in Ruhe lassen,“ schlug er vor.

Sorc schüttelte den Kopf. „Jemand, der sich an mir rächen will, wird sich nicht von deinem Wort davon abhalten lassen. Außerdem will ich nicht dafür verantwortlich sein, wenn du mit deinen Freunden in Streit gerätst.“

„Aber du bist mein Chaoshexer!“ erwiderte Crimson trotzig. „Du hast genau wie alle anderen in diesem Schloss das Recht auf Unversehrtheit, Rehabilitant oder nicht!“

Sorc lächelte. „Lieb von dir. Aber ich kann mich durchaus wehren – wenn du es nicht verbietest.“

„Wie bitte? Über dieses Thema müssen wir doch wohl nicht reden.“

„Ich möchte darüber eine ganz klare Aussage von dir, so wie Cathy,“ beharrte der Magier.

„Und wenn dir meine Antwort nicht gefällt, was dann? Was hättest du beispielsweise getan, wenn es mein Wunsch gewesen wäre, dass Eria dich tötet?“ Crimson hatte diese Frage nicht stellen wollen, aber sein Unterbewusstsein dachte da wohl anders.

Sorc sah ihn drei Sekunden lang schweigend an, als müsse er erst abwägen, wie ehrlich er antworten sollte. Doch er entschied sich wieder für brutale Offenheit: „Ich hätte meine Haut so teuer wie nötig verkauft und wahrscheinlich das Mädchen getötet. Danach hätte ich keine Chance mehr gehabt... als ihr Lehrer hättest du sie rächen müssen, und wenn nicht du, dann wären genug andere dazu bereit gewesen. Aber ich wäre kämpfend untergegangen. Von einem Prinzen der Eisigen Inseln wird nichts anderes erwartet.“

„Also ist es sowas wie ein Glückspiel mit dir,“ stellte Crimson fest. „Wenn ich etwas anordne, was du nicht mit deinem Stolz vereinbaren kannst, wirst du dich widersetzen.“

„So sieht es aus,“ gab Sorc zu. „Ich könnte mich beispielsweise nie verprügeln lassen, ohne mich in irgendeiner Form zu wehren.“

Crimson zuckte mit den Schultern, seltsamerweise überhaupt nicht beunruhigt deswegen. „Wie gesagt... darüber müssen wir gar nicht reden. Ich würde das nie von dir verlangen.“ Er war von seinen eigenen Worten überrascht... noch vor ein paar Wochen hätte er sicherlich anders darüber gedacht.

Sorc wirkte erleichtert. „Danke.“

„Ich werde den anderen sagen, dass ich Schlägereien in meinem Schloss nicht wünsche, und wenn sie dich doch angreifen, tun sie es auf eigene Gefahr,“ beschloss Crimson.

„Damit kann ich mich arrangieren,“ versicherte Sorc mit einem Lächeln. Er saß inzwischen locker auf der relativ niedrigen Mauer. Seine Sorgen schienen verflogen zu sein.

„Wie lange brauchst du denn eigentlich noch für dein Werk?“ erkundigte Crimson sich.

„Ein paar Tage schon noch,“ informierte Sorc ihn. „Möchtest du Ergebnisse sehen, bevor das Elixier fertig ist?“

„Du meinst, falls ich versage und mich Olvins Rache stellen muss?“

„Naja... wäre schade, wenn ich mir die Mühe umsonst gemacht hätte, weil du es gar nicht siehst. Aber ich habe vollstes Vertrauen in deine Alchemiekünste.“

In diesem Moment materialisierte sich Cathy und sagte: „Meister... Olvin möchte dich im Krankenflügel sehen. Und zwar, bevor du den Quarantänemodus aufhebst.“

Crimson seufzte. „Als hätte er uns belauscht. Bestimmt will er mich nochmal durchchecken. Naja. Wir sehen uns später, Sorc. Vergiss nicht zu essen.“

„Keine Sorge. Ich bin hier fertig und mache gleich in deinem Büro weiter, wenn du erlaubst.“

Der Weißhaarige nickte einfach und fragte nicht nach, ob die Reihenfolge sinnvoll war. Das wusste Sorc sicherlich am besten.

Cathy schwebte neben ihm her, während er unterwegs war. „Meister... meint Ihr, dass Ihr heute Nacht genug Helfer haben werdet?“ Das Schlossherz hatte die Angewohnheit, das Problem nicht direkt anzusprechen, so als wäre das etwas sehr Verwerfliches.

„Es hat sicherlich die ganze Zeit nur daran gelegen, dass nicht genügend Helfer da waren,“ nickte Crimson. „Wir schaffen es schon. Wenn ich hier bei Olvin fertig bin, kannst du den Quarantänemodus aufheben... ich sage dann nochmal Bescheid.“

„Ja, Meister.“ Catherine klang nicht überzeugt. Er dematerialisierte sich langsam, als Crimson die Krankenstation erreichte.
 

Olvin befand sich an der seitlichen Wand, wo die Behandlungsliege stand, die man mit einem Vorhang verbergen konnte. Er war damit beschäftigt, eine kleine Wunde auf Rays Handrücken zu heilen. „So... das war's schon,“ verkündete er zufrieden.

Ray bedankte sich und stand auf, um zu gehen. Als er Crimson sah, weiteten sich seine hellen Augen. Gleich darauf nahmen seine Züge einen neutralen Ausdruck an, in dem sogar das sonst stets vorhandene, gütige Lächeln fehlte. Crimson hatte den Vorgang oft bei Sorc gesehen, aber noch nie bei Ray.

„Alles in Ordnung?“ fragte er ihn.

„Natürlich. Ich werde noch etwas ruhen, bevor wir nachher an die Arbeit gehen.“ Er verließ die Krankenstation.

Crimson wunderte sich, tat das aber als Einbildung ab. Was sollte schon sein?

„Willkommen, Jungchen,“ lenkte Olvin seine Aufmerksamkeit dann auf sich. Er zog den Vorhang zu. „Ich dachte mir, wir sollten die Zeit nutzen, die jetzt noch Ruhe ist. Es trifft sich sehr gut, dass wir noch immer im Quarantänemodus sind, ich hatte ja fast vergessen, dass da noch eine Sache ansteht... Du hast doch gerade nichts zu tun, oder?“

Das Elixier musste erst in drei Stunden wieder versorgt werden. Crimson hoffte, dass Legend rechtzeitig ankam. Aber da machte er sich eigentlich keine Sorgen. „Nein, im Moment nicht.“

„Fein. Zieh dich aus und leg dich hin, auf den Bauch.“

Crimson erbleichte, als ihm klar wurde, was hier vorging. Nun fiel ihm auch bewusst auf, dass Skalpelle in mehreren Größen auf dem Beistelltischchen bereit lagen.

Olvin hatte ihn beobachtet. „Jetzt sag nicht, dass es dich überraschend trifft. Ich habe dir lange genug Aufschub gegeben, und es soll erledigt sein, bevor die ganze Meute hier reinkommt. Und natürlich, bevor dein Projekt fertig ist. Dein Effekt war schließlich der Preis dafür, dass ich dich zufrieden lasse.“

Crimson riss sich zusammen und versuchte, sich ein Beispiel an Sorc zu nehmen... der würde es einfach hinter sich bringen, vermutete er. Davon abgesehen befanden sie sich nicht in einem Kerker, wo ein Ritual aufgebaut war, sondern in einer sauberen Heilerumgebung. Er brauchte sich also nicht zu fürchten, es würde nur etwas wehtun...

Er fühlte die ganze Zeit die Augen des alten Necromanten auf sich, als er die Robe auszog, aber die Unterhosen anbehielt. Er legte sich hin wie zu einer normalen Untersuchung... doch er konnte sich nichts vormachen.

Olvin lächelte schadenfroh. „Ich muss dich nicht einmal berühren, um dir sagen zu können, dass dein Herz beschleunigt schlägt und deine Atemfrequenz sich erhöht hat. Du solltest dem Schlossherz befehlen, die Tür zu verschließen, damit wir nicht gestört werden. Vielleicht rutscht mir sonst das Messer aus.“

Er wartete nicht, ob Crimson es tat, sondern nahm mit der Rechten ein Skalpell und betrachtete es nachdenklich, dann schob er den Stuhl näher heran, kletterte darauf und berührte das Tattoo mit der Linken. „Soll ich es schnell machen, damit es nicht so lange schmerzt, hm? Ach, das entscheide ich wohl besser spontan. Ich höre dich so gerne schreien.“

Kaum zu glauben, dass dieser Mann Heiler war! Nun... vor allem war er wohl Necromant. Crimson wollte ihn gerne bitten, die Stelle zu betäuben – schließlich ging es ja nur um die Zerstörung des Siegels und damit des Effekts. Aber Olvin hatte früher schon durchblicken lassen, dass er es viel zu sehr genoss, wenn sein Opfer litt. Lieber schwieg er, statt sich auch noch lächerlich zu machen.

Olvin rieb eine Stelle unterhalb der Rippen mit einem kalten Tuch ab. Es roch nach desinfizierenden Kräutern, wie die Salbe damals, als Malice das Messer geführt hatte... Crimson erbebte bei der Erinnerung daran.

*Es ist keine Schande zu wissen, wann man sprechen und wann man schweigen sollte*, erinnerte er sich plötzlich an Rays Worte. Das half ihm jetzt auch nicht weiter, er musste nur wieder daran denken, dass der Prinz ihn gerade so komisch angesehen hatte.

Crimson hatte noch kein Wort gesprochen, seit er hier war. Was sollte er auch sagen? Alles würde nur dazu beitragen, sich Olvins Spott zuzuziehen. Darauf legte er keinen Wert.

Der Alte setzte das Skalpell an der erwählten Stelle an. „Jetzt halt still. Wenn du zuckst, verletze ich dich nur mehr... obwohl... soll mir recht sein...“

Das kalte Metall drückte in Crimsons Rücken, durchstach die Haut und forderte Blut. „Nicht!“ schrie er auf, was ihn selbst erstaunte. Er kam sich gleich darauf wie ein Feigling vor. Andererseits... „Ich bitte dich, Olvin... Gnade. Bitte erspare mir das...“ Seine Stimme klang viel zu hoch. War das peinlich... Aber zumindest hielt Olvin inne.

Und ließ ihn warten, während die Klinge noch in seinem Fleisch steckte.

Schließlich hörte er ein abfälliges Schnauben. „Ich hoffe, das hat dich Überwindung gekostet, Jungchen.“ Er wackelte an dem Skalpell und entlockte Crimson ein unterdrücktes Stöhnen. „Was ist dir wichtiger... dein Effekt oder dein Stolz?“

„Der Effekt!“ jammerte Crimson, der allmählich begriff, worauf Olvin hinaus wollte. „Ich... ich halte mich an die Vereinbarung, wenn du darauf bestehst, aber... ich flehe dich an, gewähre mir Gnade und verzichte darauf... bitte!“

Wieder vergingen endlose Sekunden. Dann klirrte das Skalpell auf den Boden, so stark, dass Olvin es hingeworfen haben musste. „Verdammt. Und ich hatte mich so gefreut.“

Crimson spürte das Kribbeln und Ziehen eines Heilzaubers an der verletzten Stelle. Er drehte sich auf die Seite und schaute zu Olvin hoch, der seinem Blick grimmig begegnete.

„Ich wollte es tun,“ knurrte der Necromant. „Wirklich. Ganz egal, wie sehr ich dich inzwischen mag. Das ist ziemlich wenig!“ Er beeilte sich, den letzten Teil zu betonen. „Ich dachte ja, dass du noch einmal um eine Betäubung bittest... aber gleich um Gnade? Nachdem du neuerdings immer mit Sorc und Ray rumhängst, die das Wort in dem Zusammenhang gar nicht kennen? Pah! Manchmal ist es unklug zu schweigen. Schön zu wissen, dass du das weißt.“

Crimson konnte es nicht fassen. War das dann nur ein Test? Nein... wohl eher ein Experiment. Olvin hätte sich darüber gefreut, Crimson leiden lassen zu können, freute sich aber jetzt auch über das Ergebnis... das zumindest vermutete der Schlossherr. Er rollte sich auf den Rücken und atmete erleichtert durch.

„Das ändert nichts daran, was ich mit dir mache, wenn mir deine Ergebnisse nach dem gewährten Monat nicht gefallen!“ teilte Olvin ihm mit. „Und jetzt lass schon die Leute rein, ich glaube, dein Vater wartet schon.“

„Ich danke dir, Olvin,“ sagte Crimson.

Der Alte grummelte etwas Unverständliches, während er sich entfernte.

„Cathy... du kannst den Quarantänemodus aufheben,“ verkündete der Magier der Luft, aber der Geist hatte seine Worte vernommen und ließ ihn das auch wissen. Gleich darauf spürte Crimson die Veränderung. Cathy teilte seine Energie jetzt wieder anders ein und nahm nicht mehr so viel von jedem Einzelnen. Die generelle Aura des Schlosses wirkte auf einmal entspannter.

Vielleicht wäre ein Modus zur Parasitenabwehr gut gewesen, aber erst einmal wollte Crimson versuchen, die Viecher mit möglichst vielen Helfern auszulöschen. Wenn es einen Parasitenbekämpfungsmodus gab, würde Cathy ihm das schon sagen. Aber erst einmal zog er seine Robe wieder über und eilte zu den Toren, um seinen Vater zu begrüßen. Er hatte jetzt gute Laune und konnte in etwa nachvollziehen, wie es Sorc gehen mochte, wenn er ihm sagte, dass er ihn nicht verletzt sehen wollte. Gnade zu erhalten war zwar peinlich, jedoch der Tortur vorzuziehen.
 

Shiro war selbstredend der Erste, der in das Schloss stürmte, Crimson in eine knochenbrecherische Umarmung zog und ihm mitteilte, was für Sorgen er sich gemacht hatte.

„Aber Paps! Wir haben gestern noch miteinander geredet!“ protestierte der Weißhaarige.

„Es ist trotzdem was anderes, wenn ich dich endlich wieder in den Armen halten kann! Vielleicht sollten Kuro und ich mal tauschen, dann kann jeder von uns bei seinem Sohn sein.“

„Du meinst, er soll dann im Kristallschloss leben und die Geheimnisse hüten? Das wäre nichts für ihn, weißt du doch. Und für dich wäre diese Herumtreiberei nichts.“

„Das kannst du vorher nicht wissen,“ grinste Shiro. „Ich hätte auch nie gedacht, dass du mal die Verantwortung für ein ganzes Schloss übernimmst.“

Crimson tat gekränkt. „Was? Hattest du mich nicht als deinen Erben eingeplant?“

„Das wäre ja nur ein halbes Schloss, und nein, eigentlich will ich so lange leben, dass ich meine Enkel oder Urenkel einplanen kann,“ erklärte der Lichtmagier.

„Ich schaue mal, was ich tun kann,“ versprach Crimson.

Nach Shiro sprang ihn Magi an. „Hey, lange nicht gesehen, und dann kommst du uns mit Schattenfieber, also echt!“ Sie knuffte ihn in die Seite. „Wo ist mein Bruder?“

„Schon, da, Kleines.“ Dark betrat den Schauplatz. „Ich hab gerade erst erfahren, dass wir wieder im Normalmodus sind.“

Magi schloss ihn in die Arme. „Bruder! Ich wollte bei dir sein, aber sie haben mich nicht gelassen. Seh ich ja ein, aber... trotzdem!“

Crimson riss sich von der herzergreifenden Szene los und wandte sich den weiteren Gästen zu. Unter ihnen waren einige Mitglieder des Drachenhauchordens, die er kannte, etwa Breaker oder die Gilford-Brüder.

Neo kam mit seinen Eltern. „Grüß dich, Crimson. Wo stecken meine Brüder?“ fragte er in ähnlicher Manier wie Magi.“

„Cathy kann sie gleich für dich ausfindig machen.“ Crimson schüttelte Neo, Shadow und Freed auf Kriegerart die Hände. Im Hinterkopf ließ Cathy ihn mitbekommen, dass er nicht nur Mava und Appi, sondern auch Yugi und Yami verständigte, und kurz darauf tauchten alle vier beim Haupttor auf und begrüßten ihre Freunde herzlich.

Auch Mystic war da, sogar Arienne. Beide schauten sich suchend um und wurden schließlich von Blacky zuerst entdeckt. „Mutter! Schwester!“ Er umarmte beide gleichzeitig mit je einem Arm.

Crimson erinnerte sich vage, dass Blacky von seinem Heimatorden verbannt worden war und eigentlich nach Ansicht der Mitglieder nicht mehr als Familie der beiden zählte, aber das schien ihn nicht länger zu interessieren. Allerdings existierte der Friedenslicht-Orden ja auch irgendwie nicht mehr so richtig, oder zumindest fühlte seine Mutter sich nicht mehr zugehörig.

Sorc meldete sich telepathisch. [Direktor, soll ich auch zum Haupttor kommen?]

Crimson dachte darüber kurz nach. Es war vielleicht sinnvoll, die Konfrontation gleich jetzt zu wagen, denn er würde sicherlich eine Menge Kritik dafür ernten, dass er den Chaoshexer im Schloss hatte. Allerdings entschied er sich dann doch dagegen, denn er wusste nicht, wie viel Unterstützung er von den Neuankömmlingen zu erwarten hatte.

[Bleib vorerst, wo du bist,] antwortete er Sorc. [Ich werde später eine Versammlung einberufen, um mit allen über das weitere Vorgehen zu beratschlagen.]

[Ich bin in der Küche. Anscheinend hat Mutter zwei ihrer Dienerinnen geschickt, damit sie sich um das Essen kümmern. Du dürftest die Mädels kennen...]

Das Bild von zwei mageren, rothaarigen Mädchen blitzte in Crimsons Kopf auf. [Och nööö... Die sind doch so auf Geld aus! Ich kann sie nicht bezahlen!]

[Abgesehen davon, dass du eine Schatzkammer im Keller hast, werden sie von Lady Charoselle dafür entlohnt, dass sie für sie spionieren.]

[Spionieren? Schatzkammer? Cathy! Ich glaube, wir müssen uns unterhalten!]

Anfeindungen

Legend nahm sich eine freundliche Umarmung heraus. „Direktor Crimson, Ihr seid wohlauf! Wie schön, Euch endlich wieder zu sehen.“ Er reichte einen schweren Leinenbeutel an den Alchemisten weiter.

„Wir haben alle das Schattenfieber gut überstanden,“ freute sich dieser. „Es ist faszinierend zu sehen, wie ihr alle ohne mich klargekommen seid.“

Der blonde Jüngling grinste frech. „Wir können eben auch alle mitdenken, besonders dieser Yugi und sein Kumpel Yami. Die haben alles durchorganisiert, wir mussten nur noch die Anweisungen entgegen nehmen. Yugi hat uns Aufgaben für zwei Wochen gegeben und dabei sogar die Gäste da draußen eingeplant. Alleine hätten wir es auch nicht geschafft, schließlich waren wir zu wenig Leute. Sorc hat Euch gut vertreten, denke ich. Aber ich hatte nur einmal mit ihm zu tun und bin dann wieder losgezogen.“

„Ihr seid alle unentbehrlich,“ versicherte Crimson. „Ich wäre total aufgeschmissen gewesen ohne Hilfe. Diesen Trank kann niemand alleine machen, jedenfalls wüsste ich nicht, wie.“

„Ich geh was essen und dann ne Runde schwimmen, okay?“

„Mach das, wir haben keinen Unterricht im Moment. Nachher wird eine Versammlung im Speisesaal stattfinden, Cathy sagt dir noch Bescheid. Ach ja... geh nicht ins Bad, es ist zur Zeit nicht benutzbar wegen der Merasfresser. Außerdem sind die Renovierungsarbeiten noch nicht abgeschlossen.“

„Ist gut!“ Legend entfernte sich Richtung Küche.

Crimson begab sich in den Alchemieturm und packte die Ware aus. Es waren auf den ersten Blick grob zerkleinerte, glitzernde Steine mit einer glatten, undurchsichtig schwarzen Oberfläche. Jedoch handelte es sich um Mineralien, die nur in bestimmten Gebirgsketten vorkamen. Wenn mit dem Elixier alles gelungen war, mussten sie sich darin auflösen. Zur Zeit war das Zeug nämlich nicht besonders bekömmlich. Deshalb passte er auch auf, dass er nichts an die Finger bekam.

Er nahm einen Löffel und ließ damit eine Portion in den Kessel fallen. Es gab keine sichtbare Reaktion, also folgte noch ein Löffel voll. Auch hier war keine Veränderung zu erkennen. Gut. Crimson rührte um. Die Farbe änderte sich um ein oder zwei Nuancen, aber ansonsten blieb alles gleich. So sollte es sein. In seinem Buch wurde davor gewarnt, dass ihm das Gebräu um die Ohren fliegen konnte, wenn er an dieser Stelle etwas falsch machte. Es roch nach Straßenstaub. Alles in Ordnung. Er packte die restlichen Steine zu seinen Vorräten.

Die nächste Zutat war erst in der Nacht fällig, aber er musste zwischendurch ab und zu umrühren. Die Hitzezufuhr konnte niedrig bleiben. Crimson nahm einige der Glutsteine unter dem Kessel weg. Leider konnte man sie nicht löschen, wenn sie in Gebrauch waren. Manchmal war es schade drum, aber er setzte einfach in einer anderen Ecke einen regulären Heiltrank an, damit die Energie genutzt wurde. So. Alles fertig für den Moment.

Er fühlte sich sehr ausgeruht, weil das Schloss im Normalmodus war und viele Besucher hatte, die ihm mit Energie aushalfen. Ärgerlich war bloß, dass sie damit die Merasfresser fütterten, aber genau um dieses Problem gedachte er sich jetzt zu kümmern.
 

Als Crimson den Raum erreichte, der sich zum Speisesaal entwickelt hatte (obwohl Saal etwas übertrieben war), traf er Sorc dort bereits an. Der Magier kniete am Boden und malte seine Zeichen auf die Steine. Was immer er dafür benutzte, trocknete schnell und war schon nicht mehr zu sehen, als er an der Wand ankam und die Linie dort nach oben führte. Momentan hatte er wieder Eimer und Pinsel dabei, aber er steckte den Pinsel nie in den Eimer.

Sorc unterbrach seine Tätigkeit, während Crimson die Tische betrachtete, die als Rechteck angeordnet waren. Er ließ Eimer und Pinsel mit der bereits bekannten Bewegung seiner Hand in einem Riss in der Luft verschwinden. „Sollen wir die Tische anders hinstellen?“ fragte er.

„Ich glaube, wir lassen es lieber so... eventuell reichen die Stühle nicht,“ überlegte Crimson.

„Sechs oder sieben könnten wir wohl noch brauchen,“ stimmte Sorc zu. Er machte erneut eine wedelnde Handbewegung, worauf sogar acht Stühle aus dem Nichts erschienen.

Crimson sah fragend zu Sorc hinüber, der nun die Stühle gleichmäßig im Raum verteilte. „Hast du die... aus einem anderen Raum geholt?“

Der Ältere nickte. „Klar. Nicht einmal ich kann Materie erschaffen, die vorher nicht existiert hat. Ich kann es so aussehen lassen, aber im Prinzip kommt alles, was ein Magier herbeizaubert, irgendwo her.“

Crimson erinnerte sich, eine derartige Formulierung mal gelernt zu haben... irgendwann ganz zu Anfang, beim Thema Grundregeln der Magie oder so. „Dazu musst du aber wissen, dass es dort ist, oder?“

„Oh, muss ich?“ fragte Sorc mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck.

Crimson ließ das Thema lieber fallen, bevor der Mann alles, was er über Magie wusste, auf den Kopf stellte. Bis das Elixier fertig war, musste er noch all seine Sinne beisammen halten. Statt dessen sagte er: „Diese Schatzkammer zeigst du mir nachher bitte mal.“

„Ich kann nicht fassen, dass du davon nichts wusstest,“ grinste Sorc.

Crimson verdrehte die Augen. Er hatte das Gefühl, dass der Chaosmagier sein Schloss besser kannte als er selbst. Konnte auch gut sein, schließlich hatte er früher hier geherrscht. Ihm fiel auf, dass Cathy sich nicht einmischte, um seinen besserwisserischen Kommentar zu dem Thema abzugeben. Aber ein Schlossherz konnte nicht vergessen, dass es eine Schatzkammer hatte, oder?

Crimson suchte sich einen Platz an der Fensterseite aus, um auf seine Helferlein zu warten. Sorc baute sich neben ihm auf, ohne sich zu setzen. Darüber diskutierte er mal einfach nicht mit ihm. Es fühlte sich an, als stünde ein treuer Wächter neben ihm, das gefiel Crimson.

Blacky tauchte als Erster auf, zusammen mit Arienne. „Sorc, ich möchte dir jemanden vorstellen... obwohl ihr euch wohl gewissermaßen schon kennt, nehme ich an.“

Sorc ging interessiert auf die beiden zu. „Ja, ich... erinnere mich.“ Er streckte eine Hand aus, wie um galant die ihre zu küssen, doch dazu kam es nicht, denn Arienne machte einen großen Schritt auf ihn zu, holte weit aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

Crimson war überrascht, dass sie damit durchkam. Sorc hatte nicht im Geringsten reagiert. Allerdings hatte er wahrscheinlich genug Zeit gehabt, Ariennes Vorhaben zu erahnen, denn ihre Ausholbewegung hatte einige Millisekunden in Anspruch genommen.

„Das ist dafür, dass du dich in mein Bett gemogelt hast!“ zischte sie. „Nicht dass der Sex nicht gut war, aber du hättest mich wenigstens fragen können, ob ich die Mutter eines Chaosmagiers sein will!“

Crimson spürte, dass er rot anlief, und auch Blacky war von ihren offenen Worten anscheinend gelinde schockiert, aber auch amüsiert.

„Das Ergebnis gefällt dir doch aber, oder?“ nutzte Sorc ihre Vorlage.

Arienne schaute zu ihrem Sohn, als müsse sie erst überlegen. „Ja, er ist ganz gut geraten. Danke dafür.“ Sie hob erneut die Hand, doch diesmal, um Sorc kurz, aber zärtlich über die von ihrem Schlag gerötete Wange zu streichen. Gleich darauf trat sie einen Schritt zurück. „Dass wir einen gemeinsamen Sohn haben, heißt aber nicht, dass ich mehr als nötig mit dir zu tun haben will!“

„Natürlich.“ Sorc nickte, nahm ihre Worte zur Kenntnis.

Arienne wandte sich so schwungvoll um, dass ihr Kleid beeindruckend flog, und schritt zur gegenüberliegenden Seite des Tisches, wo sie sich – zufällig? – auf einen der Stühle setzte, die er herbeigezaubert hatte.

Blacky zuckte mit den Schultern und grinste breit. „Na, ist doch super gelaufen.“

Sorc hatte gerade wieder seine alte Position eingenommen, als weitere Personen den Raum erreichten. Mystic und Magi kamen zusammen mit Dark und setzten sich neben Blacky. Es folgten Luster, die Gilfords, die Skill-Brüder und Sage. Der alte Magier setzte sich neben seinen Enkel. Shiro nahm auf Crimsons anderer Seite Platz, Kuro dagegen neben Arienne, die er sogleich ein bisschen anbaggerte. Crimson hoffte, dass es nicht klappte. Darks Vater und Blackys Mutter, das wäre zu seltsam. Seine Schüler verteilten sich auf vereinzelte freie Stühle. Rosi und Saambell bestanden auf einen Platz an Crimsons Seite des Tisches. Er ließ sie gewähren, obwohl er nicht vorhatte, die Kinder überhaupt an der Parasitenbekämpfungsaktion teilhaben zu lassen.

Der Raum füllte sich weiter: Lily, Olvin, Mad und Eria, Ray, Fire und mehrere andere, die Crimson nicht im Einzelnen wahrnahm. Yugi und Yami kamen mit Appi, Neo und Mava als Nachzügler an und mussten sich aufteilen, weil keine fünf Plätze mehr nebeneinander frei waren.

Neo setzte sich nicht gleich hin, sondern starrte mit einem hasserfüllte Ausdruck im Gesicht zu Sorc hinüber. „Als ich hörte, dass du hier bist, konnte ich mein Glück ja kaum fassen, aber ich verstehe auch nicht, wie Crimson sich darauf einlassen konnte! Du gehörst in Ketten in ein Verlies!“

Crimson konnte Sorc nicht sehen, ohne sich umzudrehen, aber dessen Stimme klang, als würde er ein wenig lächeln, als er sagte: „Ketten halten mich nicht, Neo.“

„Das kommt auf einen Versuch an,“ zischte der blonde Magier.

Crimson schielte schräg hinter sich. Sorc hatte ein ziemlich arrogantes Lächeln im Gesicht. Es war vielleicht nicht gut, Neo herauszufordern, aber wie er den Älteren kannte, konnte dieser auch nicht aus seiner Haut. „Der Zirkel des Bösen hat anders entschieden, Neo,“ wandte er ein.

Neos Aufmerksamkeit wandte sich ihm zu. „Der Zirkel des Bösen! Was berechtigt den eigentlich dazu, über den Kerl zu richten?“

„Die Tatsache, dass es ihnen keiner verwehrt hat. Wir haben ihnen Sorc überlassen, und sie haben ihn abgeurteilt, wie es ihren Regeln entspricht,“ erklärte der Schlossherr.

Neben ihm hob Sage eine Augenbraue und lächelte hintergründig, äußerte sich aber nicht dazu.

Kuro seufzte vernehmlich. „Diskutier nicht mit ihm darüber, Junge, er hat seinen Standpunkt zu dem Thema bereits deutlich gemacht.“

„Sorc ist ganz umgänglich, mach dir keine Sorgen,“ fügte Yugi hinzu.

„Du bist viel zu gutmütig!“ fuhr Neo den Jungen an.

Sofort ging Yami dazwischen. „Jetzt musst du aber nicht Yugi deswegen anschnauzen!“

„Ja, ja, schon gut,“ gab Neo nach. „Ich will ja nur nicht, dass du hinterher enttäuscht wirst, Yugi. Du darfst nicht jedem immer gleich vertrauen!“

„Von Vertrauen habe ich nichts gesagt,“ erwiderte Yugi. „Aber ich gebe ihm eine Chance.“

„Danke für deine Unterstützung, Yugi,“ mischte Crimson sich wieder in das Gespräch ein. „Neo hat allerdings Recht, Vertrauen darf nicht leichtfertig vergeben werden. Aber ich vertraue Sorc. Und ihr könnt mir glauben – leichtfertig habe ich mich nicht darauf eingelassen.“

Neo starrte ihn sekundenlang ungläubig an, warf einen Blick auf den Chaoshexer und dann wieder auf Crimson. „Du redest hier von dem Kerl, der dich fast umgebracht hätte, das ist dir schon klar, nicht? Er hätte uns alle fast umgebracht!“

„Lass gut sein, Neo,“ bat Mava. „Ich habe mich damit abgefunden, dass er sich hier aufhält.“

„Ihr wart alle zu lange seinem Einfluss ausgesetzt,“ stellte Neo fest. „Mutter, Vater! Sagt doch auch mal was!“

Freed seufzte. „Neo, wir sind auch nicht begeistert davon, dass Mava mit Sorc unter einem Dach wohnt, aber wenn Crimson sagt, dass es in Ordnung ist...“

„Wie soll Crimson das beurteilen können?“ unterbrach der Blonde seinen Vater.

Crimson wünschte, er hätte seinen Zauberstab dabei, um damit nachdrücklich auf den Boden pochen zu können. „Ich kann das beurteilen,“ erwiderte er. „Sorc hat mir sein Vertrauen zuerst gegeben. Deshalb habe ich mich darauf eingelassen. Warum macht ihr es nicht alle wie Yugi und gebt ihm einfach eine Chance?“

„Wenn du einen Bruder hättest, der fast in deinen Armen gestorben wäre, würdest du anders darüber denken!“ meinte Neo bissig. „Aber gut, von mir aus... geben wir ihm eine Chance.“

Crimson hob überrascht die Augenbrauen. „Ähm... danke, Neo.“

Der Blonde verschränkte die Arme und sah weg. „Pah! Sorc ist ein arroganter Kotzbrocken, der dir eines Tages noch sein wahres Gesicht zeigen wird, und zwar, wenn du schon nicht mehr damit rechnest! Dann komm nicht zu mir zum Jammern!“

Ray saß zwei Plätze entfernt von Neo, sagte aber nichts. Sein Kiefer war angespannt, obgleich er ansonsten eine lockere Haltung zur Schau trug. Die anderen wussten nicht, dass er Sorcs Bruder war, erkannte Crimson. So wie auch niemand wusste, dass Fire Sorcs Sohn war. Wahrscheinlich vermieden sie solche Enthüllungen, um die Familie vor Voreingenommenheit zu schützen.

Blacky spielte mit einer Haarsträhne und schien sich gar nicht für die Unterhaltung zu interessieren. Es war auch besser, wenn er in diesem Fall nicht gezwungen war, zwischen Vater und Freund zu wählen.

„Er ist gut im Bett,“ warf Arienne plötzlich ein, was ihr sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden einbrachte. Sie studierte sachlich ihre Fingernägel.

„Sie hat Recht,“ stimmte Lily zu, den leisesten Hauch von Aggression gegen die Rivalin in der Stimme.

Crimson fasste sich an den Kopf.

„In der Tat,“ nickte Appi.

Alle – einschließlich Sorc – fuhren zu ihm herum, teilweise mit offenen Mündern. Appi immitierte Arienne und sah ungerührt auf seine Fingernägel.

Freed war aufgesprungen. „Junge, das ist nicht dein Ernst!“

„Ich wusste immer, dass du es in dir hast.“ Luster, der neben Appi saß, stieß ihn feixend mit dem Ellenbogen an.

„Appi!“ rief Shadow in einem flehenden Tonfall. „Sag, dass du uns auf den Arm nimmst!“

Appi schlug seine beiden Hände flach auf den Tisch und stand auf. „Ich bin schlicht und einfach der Meinung, dass wir Wichtigeres zu tun haben, als über Crimsons Menschenkenntnis zu diskutieren! Wenn er Sorc vertraut, tue ich das auch, und sollte sich das als Fehler erweisen, werde ich den Kerl eigenhändig auseinandernehmen, Chaoshexer oder nicht! Das schwöre ich als Apokalyptischer Magier!“

Für zwei oder drei Sekunden herrschte absolute Stille.

Sorc selbst war es, der sie brach. „Danke, Apokalyptischer Magier. Sollte ich jemals Crimsons Vertrauen beschmutzen, lasse ich dich mich auseinandernehmen.“ Er neigte den Kopf und legte eine Hand über sein Herz. „Das schwöre ich dir als Chaoshexer.“

Die Luft veränderte sich, als wäre sie plötzlich elektrisch aufgeladen. Crimson hatte ein ähnliches Phänomen schon einmal erlebt, als Sorc einen Schwur ausgesprochen hatte. Offenbar reagierte die Magie im Raum, wenn er so etwas tat, und band ihn an sein Wort. Ohne Zweifel war ihm das bewusst – unvorstellbar, dass er es nicht merkte.

Anscheinend hatte auch der Großteil der restlichen Anwesenden etwas bemerkt, denn niemand argumentierte weiter.

Crimson ergriff die Gelegenheit. „Ich gebe Appi Recht, wir sind nicht hier, um über Sorc und mein Vertrauen in ehemalige Feinde zu reden,“ sagte er in einem nicht übermäßig lauten Tonfall, so dass er die anderen zwang, sich leise zu verhalten. „Als Schlossherr bin ich dafür verantwortlich, dass niemand gefährdet wird. Dennoch muss ich euch um Hilfe in einer potentiell gefährlichen Angelegenheit bitten. Wie ihr alle wisst, haben wir Merasfresser hier.“

Er spürte ein unbehagliches Kribbeln in seiner Brust. Cathy mochte seine Worte offenbar nicht, konnte aber auch nichts dagegen anbringen.

Crimson fuhr fort: „Diese Parasiten sehen aus wie Schleimklekse und fühlen sich an wie rohes Fleisch, wie ich schon feststellen durfte. Sie leben von Magie, die sie einem Magier aussaugen, idealerweise aber einem Schlossherz. Gegen Licht- und Feuermagie sind sie anfällig; Eis ist ganz wirkungsvoll, vernichtet sie aber nicht. Soweit wir wissen, lernt der ganze Schwarm aus dem, was einem Individuum zustößt. Es scheint keine Patentmethode zu geben, um sie loszuwerden. Fallen haben wir ausprobiert, die kennen sie schon. Deshalb möchte ich, dass wir Teams bilden und sie schlicht und einfach bei den Energietanks auslöschen. Jedes Team sollte mindestens einen Magier mit den Elementen Feuer, Licht oder Eis beziehungsweise Wasser enthalten. Wir werden das Schloss durchkämmen und jede Ecke von ihnen säubern. Das Schlossherz wird uns melden, wenn wir etwas übersehen haben.“

Auch wenn es ihm nicht passt, ergänzte er in Gedanken. Cathy musste dann eben Prioritäten setzen.

„Schloss Lotusblüte hat sieben Energietanks mit einem Fassungsvermögen von durchschnittlich zehntausend Meraseinheiten. Die tatsächlichen Größen jedes einzelnen variieren leicht, beispielsweise kann Tank sieben dazu benutzt werden, Kapall abzuspeichern, aber er ist etwas kleiner als die anderen, weil er in einem Magierschloss selten gebraucht wird,“ erklärte Crimson.

„Was ist Kapall?“ fragte Yugi in die Runde.

„Das kann ich dir sagen,“ meldete Lily sich. „Kapall ist im Prinzip das gleiche wie Meras. Beides ist eine Manifestation magischer Energie, die von Lebewesen genutzt werden kann. Magier benutzen Meras. Auch manche Krieger und Drachen. Feen und Unterweltler hingegen speisen ihre Fähigkeiten mit Kapall. Aus diesem Grund sind die Merasfresser an mir nicht interessiert. Sie können meine magische Energie nicht verdauen.“

„Kapall und Meras finden wir in allem, was lebt,“ fügte Sage hinzu. „Allerdings sind bei weitem nicht alle Wesen in der Lage, eins davon bewusst zu benutzen. Bei manchen wirkt es sich einfach als Effekt aus, bei anderen ist es sowas wie ein sechster Sinn. Wie groß der Bestand an Meras und Kapall bei jedem Individuum von Geburt an ist, hängt von den Eltern und verschiedenen anderen Faktoren ab. Das Kind eines Magiers wird normalerweise mit mehr Meras geboren als das Junge seiner Hauskatze.“

Die Runde lachte amüsiert über diesen Vergleich.

„Könnte man das vielleicht als... angeborenes Talent bezeichnen?“ fragte Yami nach.

Sage nickte. „Tatsächlich wird oft gesagt, dass manches Kind ein besonders großes Talent für die Magie hat. Das bedeutet schlicht und einfach, dass die Fähigkeit seines Körpers, Meras zu speichern, von Anfang an groß war. Dabei kann im Prinzip jeder die Magie erlernen, nur braucht es bei manchen mehr Übung, damit der Merasspeicher sich vergrößert.“

„Ah!“ Yugi hob einen Finger wie in der Schule. „Das ist wie in einem Rollenspiel-Adventure, wo man mit zunehmender Erfahrung ein höheres Level erreicht und dann auch mehr MP hat. Nicht wahr?“

Crimson konnte ihm selber nicht folgen, aber es war auf jeden Fall sehr amüsant für ihn, seinen weisen Großvater einmal sprachlos zu sehen. Zweifellos ging es um etwas aus der Welt des Blauen Lichts, das mit einem Spiel zu tun hatte.

Yugi errötete verlegen, als ihm wohl klar wurde, dass niemand hier wusste, was er meinte.„Ähm... wenn man das Spiel beginnt, hat der Charakter, also die Spielfigur, nur ganz wenige Magiepunkte und Lebenspunkte. Wenn er aber Erfahrung sammelt, erreicht er nach und nach andere Level... äh, Entwicklungsstufen. Dann steigt die Lebensenergie, also die Ausdauer, und auch die Menge an Magiepunkten. Er kann mehr Zauber ausführen und auch mächtigere.“

Sage strich sich nachdenklich durch den Bart. „Das ist wohl entfernt vergleichbar. Du hast es auch selber gemerkt, Yugi. Je mehr du mit Magie umgehst, umso leichter fällt es dir. Dann sind deine, uhm... Magiepunkte mehr geworden.“

Yugi nickte auf eine Art, wie es Schüler oft tun, wenn sie eine erstaunliche Erkenntnis verdauen. „Gibt es einen erreichbaren Maximalwert? Und ist der immer gleich oder für jeden anders?“ fragte er.

„Darüber streiten sich die Gelehrten,“ winkte Sage ab. „Tatsächlich gibt die Theorie, dass jeder mit einem persönlichen Maximalpotential geboren wird, das er zu nutzen erlernen kann. Dies würde bedeuten, dass einige von uns irgendwann an ihre Grenzen stoßen, während andere noch mühelos weiterkommen. Eine andere Theorie besagt, dass das magisches Potential unbegrenzt ist und lediglich von persönlichen Faktoren wie zum Beispiel Ausbildung, Leistungsfähigkeit, Risikobereitschaft, Selbstvertrauen und Willenskraft abhängt.“

Nicht nur Yami und Yugi hingen andächtig an seinen Lippen, sondern generell die jüngeren Magier. Crimson hatte diese Erklärung noch nie gehört oder wieder vergessen. Vielleicht hatte er in der Stunde gefehlt. Dark jedenfalls nickte die ganze Zeit zustimmend.

„Sobald du Meras verbrauchst, versucht dein Körper, den Vorrat wieder aufzufüllen, und dafür verbraucht er Energie,“ erläuterte sein Großvater weiter. „Deshalb muss ein Magier sich auch körperlich fit halten. Prinzipiell gilt, dass deine magischen Handlungen deine körperliche Belastbarkeit nicht überschreiten dürfen, sonst bringen sie dich um. Wenn du einen Zauber einsetzt, für den du nicht genug Meras hast, wird nämlich deine Lebenskraft umgewandelt. Du kannst also durchaus etwas tun, wofür deine magische Kraft nicht ausreicht, aber es wird vermutlich eine einmalige Sache bleiben.“

„Soweit die Theorie,“ meldete Olvin sich zu Wort. „Natürlich kann die Leistung durch den Einsatz von Artefakten, Drogen und Ritualen erhöht werden.“

„Necromanten,“ spöttelte Sage, aber er meinte es wohl nicht böse, denn er lächelte dabei.

„Großvater, willst du vielleicht für mich arbeiten?“ bot Crimson ihm halb ernst an.

„In meinem Alter nicht mehr,“ lachte Sage.

Crimson nickte und setzte ein selbstbewusstes Gesicht auf, aber ihm wurde zunehmend klar, dass er gar nicht genug Wissen hatte, um ein guter Lehrer zu sein. Er konnte nur die Kenntnisse eines Rebellen vermitteln und all das, was er sich gemerkt hatte, weil es ihn interessierte. Aber im Prinzip war die Lösung einfach – er musste Leute finden, die das benötigte Wissen hatten.

Aber nicht heute. Heute rettete er sein Schloss vor einem Parasitenbefall.

„Mava, Neo, Ray, Yugi, Shiro, Mystic und Fire. Bitte stellt euch jeder ein Team zusammen. Jedes Team wird einen Energietank aufsuchen und ihn von den Merasfressern säubern,“ ordnete er an. „Die Krieger verteilen sich bitte auf die Teams. Sie dürften von den Parasiten nicht betroffen werden, können aber eingreifen, wenn es Komplikationen gibt.“

Wenn also das restliche Team ausgeschaltet wurde. Er hatte als Teamführer jeweils einen Lichtmagier ausgewählt, bis auf Fire, der mit Feuer aber auch ein Element beherrschte, das den Parasiten schadete. Obwohl er den Jungen kaum kannte, vertraute er darauf, dass er seine Rolle gut machen würde, schließlich kam er von der Eisigen Universität – vor allem aber aus dem dortigen Königshaus.

Yugi wirkte etwas überrascht von seiner Ernennung, widersprach aber nicht, sondern pickte sich Blacky, Appi und Luster für sein Team heraus. Seltsamerweise schien der Chaosmagier ihm an die Gurgel gehen zu wollen.

„Olvin, Lily und Arienne, bitte bleibt auf der Krankenstation im Einsatz,“ ordnete Crimson weiter an.

„Ich will gegen die Monster kämpfen!“ rief Rosi.

„Ja, ich auch!“ verlangte Saambell sofort.

Crimson überlegte kurz und entschied entgegen seiner vorigen Meinung, dass Merasfresser vielleicht nicht das Schlechteste waren, um zwei kleine Mädchen erste Erfahrungen machen zu lassen. „Einverstanden. Fragt die Gruppenleiter, ob sie euch mitnehmen.“

Neo räusperte sich. „Also... zum Zeichen, dass ich nicht nachtragend bin, wähle ich außer Kuro und Mad noch Sorc für meine Gruppe. Ich bin sicher, dass seine überragenden Fähigkeiten uns helfen werden. Er steht doch zur Verfügung, oder?“

„Sicher.“ Crimson gab sich alle Mühe, neutral und unbesorgt zu klingen. Aber er traute dem Frieden nicht. Auf der anderen Seite wollte er seinen Freunden nichts unterstellen. Sie würden doch die Mission an erster Stelle stehen lassen, oder?

Er wies Cathy an, alle Energietanks in Betrieb zu nehmen, damit die Merasfresser sich aufteilten. Dadurch vermehrten sie sich möglicherweise stärker, aber viel Zeit ließ er ihnen ja nicht. Erfahrungsgemäß brauchte ein Ableger durchschnittlich einen Tag, um sich voll zu entwickeln.

Es war ein bisschen laut geworden, während alle kurz die Gruppeneinteilungen festlegten, aber dann trat wieder erwartungsvolle Stille ein. Viel zu sagen hatte Crimson nicht mehr. „Wir treffen uns in der Eingangshalle, wenn es dunkel wird. Bis dahin gönnt euch noch etwas Ruhe und esst etwas. Soweit ich informiert bin, haben wir zwei talentierte junge Köchinnen...“

Die ihn Sorc auch noch vorstellen musste.

Damit war das Treffen beendet, und die Teilnehmer zerstreuten sich langsam wieder.

Crimson wandte sich Sorc zu. „Schatzkammer.“

Der Chaoshexer ging vor...

Parasitenbeseitigung erster Teil

Der Schlossherr warf Sorc einen skeptischen Blick zu. Sie standen vor einer kahlen, gemauerten Wand am Ende eines Ganges, der im Keller an mehreren Türen vorbei führte, unter anderem an einem ehemaligen Kerker. Hinter ihnen hielt Ray mit einer hellen Lichtkugel die Stellung, um Merasfresser abzuwehren, die sich in diesen Teil des Schlosses verirrt haben mochten.

Sorc berührte die Wand mit der flachen Hand. Von dort ausgehend flammten einige Linien auf den Steinen auf, bevor die Materie sich bewegte und eine schwere Metalltür ohne Fenster bildete.

„Wow,“ staunte Crimson. „Heftiger Illusionszauber.“

Sorc zuckte mit den Schultern. „Es ist umso einfacher, das Auge zu täuschen, je mehr es das erwartet, was es zu sehen glaubt.“

Also mit anderen Worten, wenn er davon ausging, dass da eine Wand war oder sein könnte, dann war es unwahrscheinlich, dass er den Trick durchschaute. Crimson blies frustriert die Luft aus. Ihm fehlte eindeutig mehr praktische Erfahrung.

„Zu meiner Zeit hier habe ich diese Tür mit diesem Zauber versehen, damit nicht alles, was in dem Raum ist, Beine kriegt. Ich habe einmal eine Fuhre Gold rausgeholt und das war's. Das hab' ich dann in einer Truhe aufbewahrt und meine Handlanger damit bezahlt,“ erzählte Sorc. Er sagte etwas zu der Türklinke, worauf sich ein elektrisch anmutender Geruch ausbreitete. Dann erst berührte er sie und schob die Tür nach innen auf.

Crimson klappte der Mund auf, noch bevor Ray mit seinem Licht näher kam und das Innere ausleuchtete. Als Finsternismagier konnte er im Dunkeln sehen, solange die Finsternis nicht absolut war. Deshalb bekam er sofort einen ersten Eindruck des Inventars.

Es gab Truhen, aber ein Haufen Goldmünzen lag lose im Eingangsbereich, vermischt mit Juwelen und Schmuck. Sein erster Gedanke war, dass jemand dieses Sammelsurium mal sortieren müsste. Warum waren Schätze immer ein Durcheinander aus Wertsachen?

Er trat vorsichtig ein, dicht gefolgt von den beiden Brüdern. Ray teilte seine Lichtkugel in mehrere kleine auf, die sich im Raum verteilten.

Raum war leicht untertrieben. Es war eine Halle. Die Decke war gut fünf Meter hoch, während der Gang, aus dem sie kamen, vielleicht die halbe Höhe vorzuweisen hatte. Die Tiefe und Breite der Schatzkammer übertrafen Crimsons Erwartungen bei weitem. Andere Leute hatten einen Ballsaal in diesem Format.

Ganz vorne lagen die Goldhaufen. Auch weiter hinten gab es Schätze, sie konzentrierten sich vornehmlich auf die Seiten des Raumes. Dabei handelte es sich keineswegs nur um Gold, sondern auch um Statuen aus verschiedenen Steinmaterialien, kunstvolle Holzmöbel, Buchständer der Luxusklasse und sogar einen Thron. Letzterer bestand ebenfalls aus Holz, war jedoch mit protzigen Goldbeschlägen versehen und traf nicht ganz Crimsons Geschmack. Des weiteren fanden sich Kristallgegenstände wie Karaffen, Trinkgläser und Kelche. Geschirr gab es in den Ausführungen Silber, Gold, Holz, Steingut und andere. Einige kleinere, marmorne Monsterstatuen sahen so aus, als gehörten sie eigentlich in den Garten. Geschlossene Schatztruhen verbargen momentan ihren Inhalt noch. Es gab einige Zauberstäbe aus unterschiedlichen Materialien, mit oder ohne eingefasste Steine. Sie lehnten an den Wänden oder an Statuen oder lagen am Boden.

Mittig standen stabile Regale aus massivem Holz. Sie waren voll mit Büchern und Schriftrollen. Daneben befanden sich Arbeitstische, auf denen ebenfalls Bücher gestapelt waren, und schlichte Buchständer mit je einem zugeklappten Buch darauf. Aus manchen lugten mehrere Lesezeichen hervor. Crimson interessierte sich besonders für diesen Teil – vielleicht war ein alchemistisches Werk dabei!

„Können wir uns umsehen, ohne Fallen befürchten zu müssen?“ fragte er seinen Chaoshexer.

Sorc sah sich aufmerksam um. „Es scheint so. Aber du solltest das Schlossherz fragen. Er kann vielleicht deaktivieren, was deine Vorgänger hier hinterlassen haben. Ansonsten würde ich vorschlagen, nichts vorschnell anzufassen.“

Crimson nickte und betrat einen Pfad, der zwischen den Schätzen entlang führte. Dabei kontaktierte er Catherine, aber das Schlossherz gab an, dass es mit diesem Raum nicht verbunden war. Wie konnte denn das sein?

Sorc und Ray folgten ihm auf dem Fuße. Die drei Männer sahen sich erst einmal um, indem sie die Runde machten und einige der Querwege ausprobierten. Dann begannen sie, Aufdeckungsbeschwörungen, Bannlösezauber und Fluchbrecher auf Gegenstände auszusprechen, die so aussahen, als könnte jemand sie verflucht haben. Nur zur Vorsicht, denn Sorc sah nie etwas, aber er warnte, dass auch er sich nicht zu sehr auf seine Augen verlassen durfte.

Trotz aller Zurückhaltung waren sie eine halbe Stunde später davon überzeugt, dass nichts passieren konnte, und sahen sich um wie ein Haufen Kinder, die den Dachboden entdeckt hatten. Es waren jede Menge magische Gegenstände dabei, aber umso besser!

Ray versuchte, die Statuen einem Künstler zuzuordnen, aber auf den wenigsten stand ein Name drauf. Daraufhin untersuchte er sie nach Zustand und Material und machte Vorschläge, wofür man sie benutzen könnte.

Sorc untersuchte die Zauberstäbe, obwohl er nie einen benutzte. Aber sie waren magisch, das machte ihn neugierig. Er testete einige, indem er prüfte, wie sie in der Hand lagen, wie gut man sie herumwirbeln konnte und welche coolen Posen sie erlaubten. Doch er verlor das Interesse, bevor er alle durch hatte, und begutachtete das Geschirr.

Crimson sah die Bücher durch. Auf den ersten Blick fand er nichts Besonderes, was aber auch damit zusammenhing, dass die meisten Bände keinen Titel auf dem Rücken trugen. Er musste sie also aus dem Regal nehmen, um zu erfahren, was darin stand. Ohne ein bestimmtes System für die Befriedigung seiner Neugier fing er bei einem beliebigen Exemplar an.

Es war leer. Dabei sahen die Seiten aus, als wäre das Buch oft gelesen worden. Schulterzuckend legte Crimson es auf den Tisch und nahm das nächste. Dieses trug auf der ersten Innenseite den Titel *Die Erweiterung des Geistes. Kräuter anbauen für den Laien.* Das Buch war offenbar ein Original. Der Name des Autors (Mathys der Hinterlistige) stand drin, aber kein Kopiervermerk. Es war auch sehr unsauber geschrieben. Crimson blätterte darin herum und fand schnell heraus, dass es sich mehr oder weniger um die Kladde eines Schülers handelte, der in seiner Jugend die berauschende Wirkung von Pflanzen erforscht hatte. Möglicherweise zu rein persönlichen Zwecken.

Er stellte das Buch zurück und untersuchte erst einmal die, welche ohnehin auf dem Tisch lagen. Ein paar davon waren ältere Kopien von Werken, die er selbst besaß. Ab und zu waren weitere leere dabei. Er sortierte diese aus. Ein Stapel entstand für Werke in Schriften, die er nicht lesen konnte, wobei er aber annahm, dass er wohl irgendwo einen Übersetzer finden konnte.

Und dann gab es das Buch, das ihm vor Schreck fast aus der Hand gefallen wäre.

Er konnte es nicht lesen. Aber er wusste, was es war. Denn es enthielt Schriftzeichen wie die auf seinem Rücken. Das würde er für Dark mitnehmen, denn er war neugierig, was darin stand. Vielleicht alte Zauberrituale der Ägypter?

Ray gesellte sich zu ihm. „Was gefunden?“

Crimson zuckte mit den Schultern und zeigte ihm das ägyptische Buch. „Vielleicht. Kannst du Fremdsprachen, Ray?“

„Ein paar, aber die da nicht,“ antwortete der Prinz.

„Der Stapel dort... das sind alles Bücher in anderen Sprachen, oder vielleicht sind es auch Geheimschriften.“

Ray wandte sich den Büchern zu, die Crimson meinte, und schlug das oberste auf. „Oh... ich glaube, das ist die Geheimschrift des Zirkels des Bösen.“

„Dann werde ich es Sage zeigen,“ überlegte Crimson. „Aber sag mal... woher kennst du diese Schrift? Außenstehenden werden sie die ja kaum beibringen.“

Ray lächelte geheimnisvoll. „Mutter hatte mal ein solches Buch in ihrem Besitz. Ich weiß allerdings nicht, wo sie es her hatte. Sie hat es nie erzählt. Möglicherweise konnte sie es irgendwo erbeuten.“

„Hm, wie kommt dieses dann wohl hierher?“

„Tja, wer weiß... ich vermute, dass auch Zirkelmitglieder manchmal beraubt werden oder Dinge irgendwo verlieren, und dann gelangen die Sachen an die unwahrscheinlichsten Orte.“

Crimson legte das Buch zu dem anderen, das er mitnehmen wollte.

Ray sah sich die übrigen fremdsprachigen Werke auf dem Tisch an. Insgesamt gab es derer noch sechs, von denen er vier einordnen und drei sogar lesen konnte. „Dies ist ein Kochbuch aus dem Kristallgebirge. Vermutlich kannst du es wieder einmotten, diese Sachen gibt es hier eh alle nicht.“

„Sicher, dass es kein getarntes Alchemiewerk ist?“ fragte Crimson hoffnungsvoll.

„Selbst wenn... die Zutaten gibt es hier nicht, es würde sich kaum lohnen. Im Moment hast du auch keine Zeit dafür, oder?“

Das stimmte allerdings, wie Crimson zugeben musste. Er machte ein übertrieben schmollendes Gesicht. „Hmpf. Naja, ich weiß ja, wo es ist.“

Sorc schlenderte herbei. „Na, haben wir irgendein geheimes Werk dabei, dessen Besitz mit Verfolgung und Vernichtung geahndet wird?“

„Gibt es sowas?“ rief Ray aus. „Mach die Kammer nachher ja wieder zu!“

Sorc zuckte mit den Schultern und nahm ein willkürliches Buch aus dem Regal. Er schlug es in der Mitte auf, wobei das Buch in der Luft schweben blieb, als läge es auf einem unsichtbaren Buchständer. Seine Augen wurden schmal, während er schweigend den Blick über die Seite schweifen ließ.

Crimson trat neben ihn und schaute in das Buch. Es war eins von den leeren. Oder nicht? „Was siehst du?“

Sorc blätterte die Seite um, las etwas Unsichtbares und schlug das Buch dann zu, um sich den Titel anzusehen – nur dass da keiner war. „Mein Weg an die Macht,“ las er vor. „Autobiographie von Ariella, Zauberin der Arkanen Mächte.“

Der Name sagte Crimson nichts, und auch Ray sah ratlos aus.

„Da, wo ich geblättert habe, beschreibt sie, wie sie ihren zweiten Gefährten zu Tode gefoltert hat. Es liest sich, als hätte sie darüber Buch geführt, während sie es tat,“ sagte Sorc. „Ariella muss eine Schreckensherrscherin gewesen sein.“

„Dann muss sie in irgendwelchen Büchern über mächtige Magier der Geschichte stehen,“ meinte Ray. „Aber ich habe den Namen noch nie gehört. Vielleicht ist es ein Deckname?“

Crimson schielte zu dem Regal und dem Stapel leerer Bücher. „Sind das alles... ihre?“

„Die Aufmachung ist zumindest ähnlich,“ stellte Sorc fest. Er stellte seinen Band wieder ins Regal und nahm sich den nächsten. „Ja... das scheint die Fortsetzung zu sein. Hier berichtet sie, wie sie eine Rivalin beseitigt hat.“

„Warum siehst du da überhaupt was?“ grummelte Ray. „Mit was ist das geschrieben? Geheimtinte?“

„Ach herrje... sie hat es einer anderen Rivalin in die Schuhe geschoben und war daraufhin beide los...“ Sorc räusperte sich und stellte auch dieses Buch weg. „Ich weiß es nicht, aber die Seiten sind für mich grün beschriftet. Und irgendwie finde ich die Lektüre... verlockend.“

„Dann lässt du besser die Finger davon,“ beschloss Ray. „Hier, nimm das.“ Er reichte seinem Bruder eines mit dem Titel *Zeitgenössische Artefaktmagie*.

Sorc verdrehte die Augen. „Ich finde die Lektüre verlockend, weil ich neugierig bin, was ist daran schlecht?“ Er legte das Buch in die Luft und blätterte ein wenig. „Hm... allzu zeitgenössisch ist das nicht mehr, aber... hm... da scheinen längst überholte Theorien drinzustehen...“

„Vielleicht hätten wir ihm doch das Tagebuch von Ariella lassen sollen,“ überlegte Crimson, während Sorc völlig fasziniert die veraltete Artefaktmagie studierte.

Ray zuckte mit den Schultern. „Er hatte ne Eins in Artefaktmagie. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass wir demnächst mit magischen Gegenständen überhäuft werden, die irgendwas Komisches können.“

Crimson stellte sich unwillkürlich vor, dass sein gesamter Hausrat seltsame Fähigkeiten entwickelte. „Lasst uns das lieber ein andermal fortsetzen und statt dessen die Merasfresserjagd vorbereiten.“ Er nahm die beiden Bücher mit, die er dafür vorgemerkt hatte, und ließ Sorc das Artefaktbuch behalten.

Die Schatzkammer wurde wieder verschlossen. Crimson blieb sehr nachdenklich. Gab es noch viele Räume, die Cathy nicht auf seinem Plan hatte? Warum?
 

Bei Einbruch der Dunkelheit trafen sich die Magier und die teilnehmenden Krieger in der Eingangshalle.

Ray und Sorc achteten darauf, dass sie nicht zusammen gesehen wurden und nicht zu dicht beieinander standen, während die Teams sich versammelten, denn die Familienähnlichkeit war doch recht auffällig. Ray band seine Haare zusammen und Sorc trug seine offen, so dass der Eindruck abgeschwächt wurde. Es war nicht so, dass sie ihre Verwandtschaft abstritten. Sie banden es nur nicht jedem auf die Nase.

Crimson sah sich in der Verantwortung, seine Teams zu koordinieren und aufzuteilen. Es war tatsächlich etwas anderes, großkotzig zu tun und sich selbst in Gefahr zu begeben, als ruhig zu bleiben und andere in Gefahr zu schicken. Nicht dass es allzu gefährlich war. Trotzdem.

„Ich habe Karten mit Nummern vorbereitet. Jeder Teamleiter zieht eine und begibt sich zu dem entsprechenden Tank,“ erklärte er. „Cathy wird euch den Weg weisen, wenn ihr nicht hinfindet.

Die Männer und Frauen traten nacheinander auf Crimson zu und nahmen sich ein Los.

„Jetzt sind alle Nummern verteilt,“ verkündete Crimson im Anschluss. „Team Eins geht bitte nach links und dort die Treppen runter in den Keller... zwei und drei ebenfalls. Cathy wird euch dann weiterschicken. Vier bis sieben nehmen die rechte Treppe.“ Es wäre zu kompliziert gewesen, alle im Einzelnen zu erklären, denn der Keller war ein kleines Labyrinth, die Tanks teilweise durch einen langen Gang erreichbar, der weit vom Schloss weg führte.

Die Gruppen machten sich auf den Weg. Crimson befahl Cathy, ihn zu informieren, wenn ein Team den betreffenden Tank erreichte, er wollte ab und zu nach dem Rechten sehen. Außerdem hatte das Schlossherz die Aufgabe, die Heiler zu alarmieren, wenn etwas schiefging. Einige der übrigen Krieger standen bereit, um bei Bedarf einzuschreiten.

Crimson wartete, bis alle außer Sichtweite waren, und ging dann in seinen Turm, wo er um diese Zeit den Trank mit einer weiteren Zutat versehen musste. Er konnte sich einigermaßen konzentrieren, obwohl er im Hinterkopf den Weg seiner Freunde mitverfolgte, während er Wurzeln kleinhackte.

Rays Team erreichte das Ziel zuerst, denn Tank Eins war das Speichermedium für Energie, die aus der Lavaquelle in den Höhlen unter dem Schloss gewonnen wurde, und befand sich vollständig unter dem Gemäuer. Außerdem war er besonders groß. Der Prinz und Sage gingen fachmännisch zu Werke, während Gilford auf die Mädchen aufpasste, die heldinnenhaft zwei oder drei Merasfresser bekämpften. Dort schien alles glatt zu gehen.

Shiros Team Zwei war noch unterwegs. Die Männer hatten es etwas weiter, denn der Tank war tiefer unter der Erde als der erste und weiter weg vom Schloss, und Drei befand sich ganz in der Nähe – Neos Team hatte teilweise den gleichen Weg, aber dieser gabelte sich alsbald. Es handelte sich um reguläre Merastanks, wo die Energie gespeichert wurde, die von den Einwohnern abgezapft wurde.

Yugis Team musste tief in den Untergrund steigen, um Tank Vier zu erreichen, dorthin ging es weiter runter als zu irgendeinem anderen Tank. Sie wurden noch ein Stück weit von Mystic und ihrer Gruppe Sieben begleitet, allerdings blieb diese dann auf einer höheren Etage.

Mavas und Fires Gruppen teilten sich relativ früh auf, eigentlich gleich, nachdem sie in das zweite Kellergeschoss vorgedrungen waren. Die Tanks Fünf und Sechs befanden sich leicht nach außen versetzt unter dem eigentliche Schlosskeller. Alle Tanks bildeten von oben betrachtet ganz grob ein Sternmuster, dessen Zentrum der Energiekern darstellte.

Crimson beobachtete, wie sein Vater rasch zur Tat schritt – seine Gruppe gab den Ungeziefern kaum eine Chance zur Flucht. Eria arbeitete sehr konzenztriert. Crimson war stolz auf sie. Yami diente als Rückendeckung, und Magi hielt sich etwas zurück, aber alles ging gut.

Mit Neos Team war Crimson außer durch Cathy noch durch seine Gedankenverbindung zu Sorc verbunden. Entgegen seiner Befürchtungen kam das Team in einheitlicher Formation dort unten an und begann mit der Bekämpfung des Befalls.

Kuro blieb im Hintergrund, während die anderen drei ihre Magie wirkten. „Noch weitere dort in der Ecke... Oben drauf, Sorc... vergesst nicht die Decke der Kammer.“

Da war alles in bester Ordnung, also wandte Crimson seine Aufmerksamkeit Yugis Gruppe bei Tank Vier zu.

„Boah! So sehen die aus?“ staunte Yugi gerade.

„Dieser ist noch eher klein,“ sagte Blacky. „Seht ihr dieses Schild hier an der Seite? Das Fassungsvermögen beträgt nur sechstausend Einheiten. Zwei, drei, fünf und sechs sind größer, und eins erst recht. Sieh mal, der hier hat einen Kapallumwandler. Wenn viele Kapallnutzer im Schloss sind, kann er Kapall aufnehmen und umwandeln.“

„Ich dachte, das wäre Tank sieben, der das macht“ warf Appi ein.

„Der auch,“ nickte Blacky. „Vielleicht ist sieben eine Reserveeinheit.“

„Wieso kennst du dich so gut damit aus?“ wollte Luster wissen.

Der Magier zuckte mit den Schultern. „Ich bin der Partner eines Schlossherrn. Da blieb es nicht aus, dass ich das mitbekam. Hm... das Schild ist aber schon etwas verrostet, man kann die Tanknummer kaum entziffern... Naja, lasst uns anfangen.“

Yugi hüllte den Tank in Lichtblitze ein und betrachtete das Gebilde immer wieder neugierig. Dabei handelte es sich nur um einen großen, mit der Längsseite auf dem Boden liegenden Zylinder, der außen mit Stein verkleidet war, innen hingegen mit einer speziellen Beschichtung. An manchen Stellen konnte ein Fenster aufgeschoben werden, um den Füllstand zu betrachten, aber der Anblick von reinem Meras war nicht für jedermanns Augen gedacht. An der vom Team aus rechten Seite führte eine Leitung in die Wand, daneben befand sich die Tür zu der Kammer. Sie bestand aus magisch gehärtetem Schwertstahl. Die Kammer an sich war vier Meter hoch, denn allein der Tank überragte Luster um einen halben Meter, somit musste noch Raum für die Atemluft bleiben. Die war hier unten nicht gerade frisch, aber zumindest gab es wohl so etwas wie ein Belüftungssystem. Auch war es ziemlich warm durch die Nähe zum Lavafluss und die tiefe Lage. Selbst Frischluft wärmte sich auf, während sie unterwegs in diese Gefilde war.

Mava ließ bei seinem Tank Fünf Veiler und Milla einen Großteil der Arbeit machen, zweifellos aus pädagogischen Gründen. Freed musste hingegen nur zuschauen.

Der junge Fire machte sich ganz gut als Teamleiter, da zeigte sich die gute Ausbildung. Er machte mit Legend zusammen die Hauptarbeit und ließ Dark die flüchtigen Merasfresser erledigen, während Gilford der Blitz alles im Auge behielt.

Mystic hatte mit Nummer Sieben auch einen kleineren Tank und kam dort mit ihrem Team gut zurecht. Die Mission sah insgesamt gut aus.

Aber natürlich blieb es nicht so. Crimson hätte sich sehr gewundert, wenn es anders gewesen wäre.

Als Team Drei alles erledigt hatte, wandte Neo sich Sorc zu. „Sag mal... du warst nicht wirklich mit meinem kleinen Bruder im Bett, oder?“

Sorc verdrehte die Augen. „Das hat Appi nur so gesagt, Neo... weil er die Diskussion unterbrechen wollte.“

Neo nickte nachdenklich. „Okay... Kuro... schließ die Tür.“

Der Blonde wartete, bis Kuro fertig war, zog sein Schwert und richtete die Spitze auf Sorc. „Ich schätze, du hast das meiste deiner Kraft verbraucht, denn wir haben dafür gesorgt, dass du die Hauptarbeit machst... du magst ja der stärkste Magier von uns sein, aber wir sind zu dritt und Kuro ist noch ganz frisch. Mad hat den Schild-und-Schwert-Zauber auf sich, somit solltest du keine Dummheiten machen, wenn wir jetzt deine Gerichtsverhandlung nachholen... Das, was der Zirkel des Bösen gemacht hat, ist ja wohl ein Witz! Schickt dich in ein Schloss am Meer, damit du Urlaub machen kannst! Also bitte mal!“

Kuro und Mad schlossen zu ihm auf und näherten sich Sorc, um jeder einen Arm zu packen, doch der Chaoshexer wich vor ihnen zurück. Sie beließen es vorerst dabei, ihn notdürftig zu umzingeln, mit dem Rücken zur Wand.

Crimson sah die Entwicklung mit Entsetzen. [„Sorc! Ich schicke Hilfe!“] Er befahl Cathy, jemanden zu finden, der möglichst schnell zu Sorc gelangen konnte, um die Situation zu entschärfen.

[„Ist schon gut, Crimson. Ich werde sie nicht allzu sehr verletzen. Normalerweise würde ich als Erster angreifen, sobald ich mich bedroht sehe, aber als braver Rehabilitant werde ich warten, bis sie handgreiflich werden... oder das deutlich planen.“]

Das klang, als wäre die Hilfe für die drei anderen Männer. So hatte es Crimson nicht gemeint, aber zweifellos wusste Sorc das auch. [„In Ordnung. Aber... warne sie noch einmal. Es ist sonst zu unfair.“]

Sorc seufzte ergeben, aber nur in Gedanken. Er gab sich nach außen hin ernst, aber gelassen. „Was immer ihr vorhabt... ich weise darauf hin, dass ich es nicht widerstandslos geschehen lassen werde. Und jetzt erzählt mir nicht, dass ihr nur reden wollt.“

„Reden schon,“ versicherte Neo. „Aber im Anschluss sollst du für alles zahlen.“

„Na fein, dann sag mir, was dir auf dem Herzen liegt. Jedoch hättest du das tun können, als ich vor Gericht stand!“

„Ist ja nicht so, als wären wir eingeladen gewesen!“ Neo sprach plötzlich viel lauter, da er sich merklich aufregte. „Ich für meinen Teil bin davon ausgegangen, dass sie dich unschädlich machen, so dass du nie wieder eine Bedrohung sein kannst! Aber anscheinend sind sie der Meinung, dass man dich auf Schulkinder loslassen kann! Sogar Crimson hast du rumgekriegt, dabei sollte er es doch besser wissen nach allem, was du ihm angetan hast...“

Crimson verspürte Sorcs Reflex zu betonen, dass Malice das Tatoo in Crimsons Rücken geritzt hatte, nicht er. Doch er schwieg und schob die Schuld nicht dem damaligen Partner in die Schuhe. Davon abgesehen, dachte Crimson, hatte er es ja auch nicht verhindert.

Der Chaoshexer hob das Kinn und verengte die Augen. „Also, du warst nicht eingeladen, bist aber unzufrieden mit dem Ergebnis? Nun... du hättest der Verhandlung beiwohnen können, obwohl du nicht eingeladen warst. Das gleiche gilt für euch alle. Kuro, ich dachte, wir hätten uns auf einen Waffenstillstand geeinigt. Aber anscheinend hast du dich von einem Jungspund wieder anstacheln lassen. Dein Sohn war übrigens da, als der Zirkel des Bösen über mich richtete, und hat das Urteil nicht angefochten. Und Mad, du willst vermutlich Rache für deine Tochter, aber sie hat schon selbst dafür gesorgt. Also. Wenn ihr darauf besteht, mir eure ganz persönliche Rache angedeien zu lassen, dann tut, was ihr könnt, ich bin gespannt, ob es reichen wird.“

Neo fehlten für einen Moment offensichtlich die Worte. Doch er hielt weiterhin sein Schwert auf den anderen gerichtet.

Kuro trat von einem Bein aufs andere. „Also, uhm... vielleicht sollten wir...“

„Nein, Kuro, lass dich nicht einwickeln! Er weiß seine Worte sehr manipulativ zu wählen, aber darauf dürfen wir nicht hereinfallen!“ unterbrach Neo ihn, nun seinerseits aus seiner Starre gerissen. „Packt ihn, wir werden es so machen wie besprochen!“

Sorc wartete nicht länger ab, ob sie auf den Blonden hörten oder nicht. Er hob die geballten Fäuste auf Brusthöhe und ließ die Finger hervorschnellen.

Neo und Kuro wurden zu Boden geschleudert von einer unsichtbaren Druckwelle, aber Mad, der ein bisschen wankte, konnte sich auf den Beinen halten. Er ließ eine Ansammlung schwebender Eiszapfen erscheinen.

„Ich bin beeindruckt, wo doch kaum Wasser in unmittelbarer Nähe ist,“ stellte Sorc mit einem fast schon erfreut wirkenden Lächeln fest. Sogleich flogen die Eiszapfen auf ihn zu, doch bevor sie ihn erreichten, verschwanden sie in einem verschwommenen Feld in der Luft und tauchten an anderer Stelle wieder auf – direkt über Neo, der sich daraufhin aus dem Weg rollen musste.

„Das Meer ist hier nahe genug, dass die Luft leicht feucht ist,“ erklärte Mad. „Dieses Höhlensystem ist ein Kreislauf, der immer für genügend Atemluft sorgt!“

„Gut beobachtet,“ stellte Sorc fest.

Mad versuchte es nochmal, doch waren die Eiszapfen noch größer und mehr. „Du kannst nicht ewig meine Angriffe umlenken!“

„Wer sagt dir, dass ich das will?“ Sorc machte eine Bewegung mit beiden Händen. Zwischen ihnen entstand eine kleine Flamme, die zu einem Inferno anwuchs, als er sie in des Eismagiers Richtung warf. Die Eiszapfen schmolzen, Mad musste sich ducken.

Crimson, der die Szene durch Cathy beobachtete, war überrascht... andererseits auch wieder nicht. Warum sollte ein Finsternismagier keine Feuertricks beherrschen? Die Spezialisierung auf ein Element schloss andere keineswegs aus.

Doch die Aktion hatte Sorcs Aufmerksamkeit abgelenkt. Als er Neos Lichtblitz kommen sah, hatte dieser ihn schon fast erreicht. Er warf sich zu Boden und ließ ihn über sich hinweg schießen, so dass er harmlos an der Wand aufschlug. Kuro war sofort über ihm und drückte ihm seinen Zauberstab unters Kinn, denn der Chaoshexer hatte sich auf den Rücken gerollt – wahrscheinlich, um sich rasch aufzusetzen und auf die Füße zu kommen. Oder als taktische Maßnahme, denn diese Pose ließ ihm viel mehr Möglichkeiten: Er griff ohne zu zögern nach dem Stab des anderen und stieß ihn nach oben, weg von sich selbst. Kuro war reichlich überrumpelt und taumelte kurz.

Neo versuchte es erneut mit einem Lichtblitz, ehe sein Gegner aufstehen konnte. Sorc erschuf mit gekreuzten Armen ein Spiegelschild, an dem der Zauber abprallte und in alle Richtungen reflektiert wurde.

Kuro, der ihm am nächsten gestanden hatte, sprang eilig aus dem Weg, doch ein Ausläufer erwischte ihn. „Au! Bloß gut, dass Rundumzauber meistens nicht so stark sind...“ Er rieb sich den Hintern.

Sorc richtete den Oberkörper schwungvoll auf und kam in der Bewegung gleich auf die Füße. Er wandte seine Aufmerksamkeit seinen Angreifern zu, so dass er anschließend den Energietank im Rücken hatte.

Die anderen sammelten sich, bauten sich abermals in angemessener Entfernung von etwa drei Metern zu ihm auf.

„Das kann nicht wahr sein, dass wir zu dritt nicht mit ihm fertig werden,“ zischte Neo.

„Vorsicht!“ rief Kuro, denn Sorc ließ ihnen keine Verschnaufpause, sondern attackierte sie mit einem breit gefächerten, schwarzviolett leuchtenden Finsternisangriff.

Mad machte einen Ausfallschritt nach vorne und erschuf ein Schutzfeld aus eisblauer Energie, auf das die Attacke knisternd aufschlug, ohne Schaden anzurichten. „Ich habe den Schild-und-Schwert-Zauber aufgehoben... hier ist es zu warm, als dass ich weiterhin von Nutzen sein könnte, dann besser so.“

Die anderen beiden nickten.

Sorc verzichtete für den Augenblick auf weitere Angriffe, da Mad den Schild nicht senkte. „Ihr hättet jemanden aussuchen sollen, der Kampferfahrung hat,“ kommentierte er. „Ein magisches Schwert macht eben noch keinen Helden, Neo. Auch sichert zahlenmäßige Überlegenheit keineswegs den Sieg.“

„Du Bastard!“ schrie Neo und schleuderte seine Waffe.

Sorc wich reflexartig aus, und Excalibur bohrte sich mit zwei Dritteln seiner Klinge in die Behälterwand.

In Crimsons Kopf stieß Cathy einen schrillen Schrei aus. „Der Tank! Dieser Mistkerl hat den Tank beschädigt!“

Absolute Stille breitete sich in der Höhle aus, Mad ließ sogar seinen Schild sinken, so dass das leise Summen der magischen Energie nicht mehr zu hören war.

Doch etwas anderes vernahmen sie deutlich. Es knirschte und knackte wie brechendes Eis...

Das Gift der Magie

Crimson hoffte, dass Cathy sich irrte, denn er konnte nicht sehen, dass etwas aus dem Tank herauskam. Vielleicht ließ sich der Schaden reparieren... war vielleicht ganz harmlos...

„Uh...“ Sorc hob eine Hand vor die Augen und wandte das Gesicht ab. „Der Behälter hat einen Sprung! Raus hier!“

Soviel dazu.

Kuro war der Erste, der reagierte, vermutlich, weil er als Schlossherr des Kristallschlosses am ehesten wusste, was das zu bedeuten hatte. Er rannte zur Tür und packte schon den Griff, doch Sorc hielt ihn zurück.

„Warte! Hinter dem Behälter entlang ist noch ein Ausgang.“ Sorc deutete in die Richtung. „Wir müssen die Bewohner des Schlosses schützen. Lass diese Tür zu.“

Niemand beschwerte sich oder widersprach. Mad und Kuro nahmen die Beine in die Hand und drängten sich an der schmalen Seite des Tankes durch einen unscheinbaren Zwischenraum. Mittlerweile konnten sie eine dünne, gezackte Linie erkennen, die sich senkrecht am Behälter entlang zog und durch die Licht in variablen Farben schimmerte.

Neo rannte zu seinem Schwert und packte den Griff. Dieser befand sich etwa eine Handbreit über seiner Kopfhöhe. Er stemmte sich mit den Füßen gegen den Tank und zog mit aller Kraft.

„Lass es sein!“ rief Sorc ihm zu. „Meras ist giftig, wenn man sich der Strahlung ungeschützt aussetzt!“

„Ich kann nicht zulassen, dass das Schwert zerstört wird!“ presste Neo durch zusammengebissene Zähne hervor. Er versuchte, den Griff nach oben und unten zu bewegen, nach links und rechts. Endlich gab es nach... und ein Stück der Außenhülle brach aus dem Tank heraus. Aus dem Loch ergoss sich Licht wie ein durchsichtiger Regenbogen. Neo indessen fiel mit dem Schwert in der Hand auf den Hintern.

Sorc zerrte ihn am Arm auf die Füße. Der Riss im Tank wurde zusehends breiter. Ausgehend vom Loch bildeten sich weitere Risse in alle Richtungen. Neo starrte gebannt auf eine Stelle weiter unten, wo nun eine durchsichtige, irisierende Masse hervorquoll.

„Steh da nicht rum, lauf!“ Sorc riss ihn aus seinen Gedanken und packte ihn am Kragen, um ihn vor sich her zu schieben.

Indessen war Cathy völlig außer sich. „Ich muss den Raum versiegeln, egal wer drin ist!“

„Nur noch kurz!“ Crimson war auf die Bilder in seinem Kopf konzentriert. Er beobachtete, wie Sorc Neo den anderen Ausgang zeigte. Die Magier versuchten, den Durchgang hinter sich zu verschließen, aber die dortige Tür war verzogen und rührte sich nicht.

„Weiter! Da hinten ist noch eine andere Tür... wir müssen die nächste Höhle ebenfalls aufgeben!“ drängte Sorc.

Die nächste Höhle war eher ein breiter Gang. Mad und Kuro warteten dort mit furchtsamen Gesichtern auf sie. Zusammen rannten sie weiter zu einer Stelle, wo der Gang sich kurz verengte und dann in eine besonders große Höhle mündete. Sie erfüllte keinen erkennbaren Zweck, war aber Teil des natürlichen Höhlensystems des Ortes.

Kuro schob dort eine ebenfalls nicht mehr ganz intakte Metalltür zu, so gut es ging, und scheuchte die Gruppe weiter.

Crimson verlor den Blick auf die Freunde. „Was ist los?“

„Dort endet der Bereich, auf den ich Einfluss nehmen kann,“ teilte Cathy ihm mit.

„Wie weit bist du mit der Versiegelung?“ hakte Crimson nach.

„Dadurch, dass die Tür nicht funktioniert, dauert es länger. Ich arbeite daran. Die Leitungen für die Energie zur Versiegelung wurden leider lange nicht mehr benutzt.“

„Ja, ja. Beeil dich.“ Crimson stellte telepathischen Kontakt zu Sorc her, so dass er durch dessen Augen sehen konnte. Kleine helle Punkte schwirrten störend durch das Blickfeld.

Der Chaoshexer und die drei anderen stürmten gerade auf der Suche nach einem Ausgang in die angrenzende Höhle – und blieben wie angewurzelt stehen.

„Oh... verdammt noch eins!“ murmelte Mad.

Vor ihnen wuselte eine Fläche aus schwarzen, flachen, unförmigen... Dingern umher. Sie türmten sich auf wie eine Flutwelle, die dann über die Männer hereinbrach. Letztere warfen sich allesamt zu Boden, das Gesicht in den Staub. Hunderte von Merasfressern flossen über sie hinweg. Es dauerte nur Sekunden, aber sie blieben fast fünf Minuten so liegen. Selbst für Crimson, der nur gedanklich dabei war, fühlte sich der Vorgang widerlich an.

Allmählich rührten seine Freunde sich wieder. Sorc blickte auf, drückte sich mit den Armen hoch und blieb auf den Knien hocken. Den anderen ging es nicht viel besser als ihm, allerdings schienen sie nicht ihre magische Energie eingebüßt zu haben. Jedenfalls Sorc nicht, daraus schloss Crimson, dass dies auch auf den Rest der Gruppe zutraf.

„Ist das... ein Tank?“ fragte Neo schließlich und deutete auf ein zylindrisches Objekt, das fast genau so aussah wie das, welches sie eben hinter sich gelassen hatten.

„War wohl mal einer,“ nickte Kuro.

„Ich wusste nicht, dass das Ding noch interessant für die Viecher sein könnte,“ murmelte Sorc. Er blinzelte. Die Lichtpunkte waren noch da und ergänzten seine spezielle Sichtweise.

[„Was ist das? Diese Punkte meine ich,“] fragte Crimson ihn.

Sorc antwortete nicht, denn Neo wandte sich ihm erbost zu. „Wie... du wusstest davon?“ Er kämpfte sich auf die Beine und hob taumelnd sein Schwert, um Sorc damit zu bedrohen, aber ein rundliches Stück von Tank Drei befand sich noch an der Klinge. „Oh...“ Er schüttelte die Waffe, aber es ging nicht ab.

„Ich habe hier mal gewohnt, ich kenne alle Räume hier. Aber diesen Bereich habe ich für einen stillgelegten Tank gehalten. Das Schlossherz war nicht aktiv, aber ich kann dennoch spüren, auf welche Orte es Einfluss hat und auf welche nicht,“ gab Sorc Auskunft.

Kuro stand auf und ging vorsichtig auf den Tank zu, dann auch darum herum. „Man kann keine offensichtliche Beschädigung erkennen... vielleicht ist die Zuleitung undicht oder so.“ Er öffnete ein Sichtfenster. „Aha... da ist noch eine kleine Pfütze drin. Anscheinend wird er noch geringfügig befüllt, wenn auch nicht absichtlich. Das erklärt, warum die Merasfresser hier waren... und warum wir sie nicht losgeworden sind. Wir haben hier einfach nicht gesucht!“

„Aber... warum haben sie uns nicht ausgesaugt?“ stammelte Mad. Genau wie Sorc zog auch er es vor, auf dem Boden zu bleiben. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Steinhaufen.

„Sie haben vermutlich eine interessantere Nahrungsquelle wahrgenommen,“ überlegte Kuro.

Da hatte er wohl Recht...

„Sie dringen in die Kammer Drei ein!“ kreischte Cathy in Crimsons Kopf. „Die sollen verschwinden!“

„Beruhige dich!“ ermahnte Crimson den Geist. „Versiegele die Kammer, was macht es schon, wenn sie drin sind? Ist es nicht umso besser, wenn sie das austretende Meras fressen?“

„Sie absorbieren aber die Energie, die ich benutzen könnte, um ein Energiefeld vor der Kammer zu erschaffen! Jemand muss die Tür schließen!“ beharrte Cathy. „Außerdem sind die eklig!“

„Ich weiß ja nicht, ob flüssiges Meras durch ein magisches Energiefeld aufzuhalten wäre.“ Crimson ließ Sorc das Gespräch gleich mithören, um sich nicht wiederholen zu müssen. Er konnte sich ohnehin nicht genug konzentrieren, um den anderen auszuschließen.

„Natürlich geht das, diese Felder wurden extra für diesen Zweck erfunden!“ Cathy knallte Crimson die entsprechenden Daten ins Hirn, und das nicht gerade sanft.

„Uh... aber... warum hält das Siegel denn die Viecher nicht auch ab?“

„Ist halt so! Was ist mit der Tüüüühüüüür?“

„Das Schlossherz kann die Kammer wegen der Merasfresser nicht magisch versiegeln,“ gab Sorc die Botschaft weiter. „Wir müssen eine Tür von Hand schließen.“

„Warum weißt du Dinge vom Schlossherz?“ fuhr Neo ihn an und richtete die Schwertspitze auf ihn, ungeachtet des daran hängenden Materials. Er wankte kurz und musste sich daraufhin breitbeinig hinstellen, um das Gleichgewicht zu halten.

„Man nennt das Telepathie,“ sagte Sorc.

„Wie... du bist im Kopf meines Neffen?“ Das rief nun auch Kuro auf den Plan. „Wie kannst du es wagen! Wahrscheinlich hast du ihn beeinflusst, dass er jetzt so vertrauensselig zu dir ist!“

„Schnapp ihn dir, Kuro, dann gebe ich ihm den Rest!“ Neos Schwert verfehlte den Feind meterweit. „Wieso... hockst du arroganter Pinkel eigentlich noch da unten? Das ist ja so gar nicht deine Art!“ lachte der Blonde.

„Ich habe eine leichte Merasvergiftung,“ erläuterte Sorc ungerührt. „Bevor ich mich lang auf die Fresse lege, knie ich lieber. Du solltest das auch in Erwägung ziehen, immerhin dürfte es dir schlechter gehen als mir.“

„Was... redest du da... für einen Unsinn!“

„Kuro und Mad, könntet ihr euch bitte um die Tür kümmern?“

Der Finsternismagier blickte von einem zum anderen und nickte schließlich zögernd. „Ist gut. Mad? Kommst du?“

Der Blauhaarige schob sich umständlich aus seiner Sitzhaltung hoch. „Ja, kann schon losgehen. Kommt ihr beide klar?“

„Geht ihr nur.“ Neo lallte inzwischen. „Ich hacke dem Angeklagten die Hände ab, wie er es verdient...“ Er schwang sein Schwert mit solcher Wucht, dass er taumelte und der Schwung ihn zu Boden riss. Allerdings besaß er noch soviel Geistesgegenwart, sich so abzufangen, dass er sich den Kopf nicht an den herumliegenden Steinen aufschlug.

„Lass uns schnell machen,“ murmelte Mad.

Kuro nickte und ging mit ihm mit. „Seltsam... die Siegel dürften durch die Merasfresser nicht behindert werden...“

Er verschwand aus Sorcs Hörweite, deshalb konnte Crimson ebenfalls nichts mehr verstehen.

„Aha... Onkel Kuro meint auch, dass diese Siegel nicht von den Parasiten absorbiert werden,“ hielt er Cathy vor.

Das Schlossherz kochte vor Wut. „Das ist vielleicht bei diesen neumodischen Schlossherzen so, aber wer rechnet schon damit, dass diese beiden Sachen gleichzeitig passieren? Ich weiß ja wohl am besten, was in diesem Schloss geht und was nicht!“

Crimson verzichtete auf eine Frage nach der Schatzkammer, oder warum der achte Tank nicht mehr in Cathys Einflussbereich war. Hier stimmte einiges nicht. Aber er hatte dringendere Sorgen.
 

Oft verband ein Tunnelnetzwerk alle Tanks eines Schlosses, aber manche Erbauer fanden es sicherer, sie in Gruppen zu unterteilen. So auch bei diesem Schloss, und da war es vielleicht auch organisatorisch gar nicht anders machbar. Natürlich ergaben sich daraus auch Nachteile.

Die von Crimson organisierten Helfer hatten ihre liebe Not, den verwaisten Tank zu erreichen, zumal Cathy diesen nicht mehr im System hatte, aber es gab zumindest noch einen Zugang von außen, einen Geheimeingang, den Sorc kannte. Er gewährte Crimson bereitwillig Zugriff auf sein Wissen, wirkte aber zusehends unkonzentrierter. Wenn er konnte, hielt er die Augen geschlossen, denn die hellen Punkte vermehrten sich.

Allerdings war das nicht so einfach. Bis Kuro und Mad zurückkehrten, brauchte Neo seine Hilfe. Und das, obwohl er immer noch plante, dem Chaosmagier zu schaden.

„Ich... ich werde dir die Hände... abhacken... oder sumindest... durchbooooohren. Ja, jenau. Dazz du... Schmersen hast... wie mein... Bruder...“ Neo benahm sich, als wäre er volltrunken.

[Er hat sich der austretenden Merasstrahlung zu sehr ausgesetzt, als er sein Schwert herausgezogen hat,“] sandte Sorc. [„Aber er kann noch sprechen... das ist ein gutes Zeichen. Glaube ich...“] Er musste ausweichen, als der Jüngere mit unkontrolliert herumschwingendem Schwert an ihm vorbei taumelte. „Neo... setz dich hin. Du kannst später meine Hände durchbohren... jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.“

[„Sorc, wie schlimm ist es bei dir?“] erkundigte Crimson sich.

[„Hält sich in Grenzen. Mir ist schwindelig... übel... Ich hoffe sehr, dass mich jemand hier rausholt, bevor ich sowas Peinliches mache wie mich zu übergeben oder so.]

[„Ray und Shiro sind mit ihren Teams zu dir unterwegs. Sie waren schon wieder zurück von ihrem Einsatz. Also dachte ich mir, dein Bruder kommt für den Zweck ganz gelegen. Besser als zum Beispiel Atria und Cross.]

[„Ja... danke.“]

[„Dafür nicht, mein Freund.“]

Huch? Zu was für einer gefühlsduseligen Bemerkung hatte er sich denn da hinreißen lassen? Nun ja... es tat Sorc sicher gut zu wissen, dass nicht alle gegen ihn waren. Hauptsache, er interpretierte da jetzt nicht zu viel hinein.

Crimson hielt die Verbindung zu Sorc für den Fall, dass er mehr Informationen brauchte, und weil er sichergehen wollte, dass mit dem Team alles in Ordnung war. Als Kuro und Mad mit der Tür fertig waren, tauchten sie wieder in der stillgelegten Kammer auf und rangen Neo nieder, der dann endlich keuchend irgendwo liegen blieb. Crimson konnte keine Einzelheiten erkennen, weil Sorc sich etwas abseits aufhielt. Die Punkte machten ihm zu schaffen. Sie blieben selbst bei geschlossenen Augen sichtbar.

Als es an der Tür zu seinem Alchemielabor zaghaft klopfte, achtete er darauf, die Verbindung im Hintergrund noch zu halten, während er zugleich die nächste Zutat für seinen Trank vorbereitete. „Herein?“

Dark betrat den Raum. „Hier... ich bringe dir die Kräuter aus dem Garten, um die du gebeten hast.“

„Danke... aber sind das nicht etwas viele?“

Dark packte den Inhalt eines Weidenkorbes auf Crimsons Arbeitsplatte aus. „Die sind teilweise für was anderes. Die Heiler unten bereiten eines der Zimmer vor, in denen die Schattenfieberfälle untergebracht waren. Merasvergiftungen sind nicht direkt ansteckend, aber es ist besser, wenn die Gruppe isoliert wird. Auch Vater und Mad werden zur Beobachtung dabehalten. Ich habe hier ein Rezept für dich, das du zubereiten sollst.“

Crimson nahm den Notizzettel an sich und überflog die Anweisungen. Es war Lilys Handschrift. „Sollte kein Problem sein. Brauchen sie noch etwas?“

„Erstmal nicht, Schlafmittel und sowas sind noch genug da und die kann ich zur Not auch machen.“ Dark ließ sich auf dem Sessel nieder, der nach wie vor für Crimsons Ruhepausen dort stand. „Hm... nett hast du es hier. Was ich dir sagen wollte... dein Necromant, Olvin...“

„Er ist nicht mein Necromant,“ unterbrach Crimson. „Er ist eigentlich hier nur Gast, hilft aber Lily mit den Heilerarbeiten.“

„Wie auch immer... er ist todkrank.“

Crimson seufzte. „Ich weiß. Necromanten schädigen ihr eigenes Gewebe und deswegen...“

„Schon, aber ich meine nicht nur das. Er stirbt,“ beharrte Dark. „Draconiel hat das zuerst vermutet, daraufhin fragte ich Sorc, weil ich weiß, dass er Auren sieht. Er konnte mir bestätigen, dass Olvin im Vergleich zu früher schwächer geworden ist, besonders in letzter Zeit. Er kennt ihn ja schon länger.“

„Aber...“ Crimson warf einen Blick auf seinen Trank. „Er darf jetzt nicht... ich meine... wie lange hat er noch?“

„Schwer zu sagen, da musst du wirklich einen Heiler fragen.“

„Er weiß, dass ich hier für ihn arbeite. Er... wird schon nicht vorher aufgeben. Schon um mich zu verspotten, falls ich versagen sollte.“ Doch Crimson zweifelte... wie stark war Olvin noch? Was, wenn der Alte beschloss, auf seine Rache zu verzichten und lieber in Ruhe zu sterben, so wie er auch darauf verzichtet hatte, Crimsons Effekt zu zerstören? „Meinst du, ich sollte mit ihm darüber reden?“

Dark schüttelte entschieden den Kopf. „Ich schätze ihn so ein, dass er nicht bemitleidet werden will, geschweige denn seine Angelegenheiten regeln oder so.“

„Ich werde mit Lily reden,“ versprach Crimson. „Wenn ich hier fertig bin. Danke für den Hinweis, Dark.“

„Kein Problem... ich dachte mir schon, dass du es nicht bemerkt hast, weil du mit den Gedanken woanders bist.“

In diesem Moment erschien Cathy. „Ja, mit den Gedanken überall, nur nicht bei mir!“ Das Schlossherz trug eine ungeordnete Frisur zur Schau, aus der sich viele Strähnen gelöst hatten, und seine Erscheinung wirkte sehr durchscheinend. „Tank drei läuft aus! Der Riss hat sich weiter fortgesetzt, das Ding ist komplett hin! Und mein Schlossherr kümmert sich nur um seinen eigenen Kram!“

„Cathy. Wenn ich den Trank nicht hinkriege, dann...“ Crimson unterbrach sich, denn Dark war ja noch da. „Naja, du weißt doch, wie wichtig der ist.“

„Meine Energieversorgung ist auch wichtig!“ beharrte der Geist. „Außerdem sind die Parasiten da unten und fressen das Meras!“

„Ähm... gut, Cathy, was tut man denn normalerweise, wenn ein Tank ausläuft?“ erkundigte Crimson sich. „Ich meine... versickert das Meras im Erdboden oder was passiert damit?“

„Im Erdboden? Das wäre ja noch schöner! Hast du eine Ahnung, was passieren könnte, wenn Meras unkontrolliert versickert? Womöglich ins Meer läuft? Das ist eine Katastrophe! Es muss verbraucht werden, bevor es dazu kommt!“ regte Cathy sich auf. „Das wollte ich als Nächstes sagen! Ich erbitte Erlaubnis, in den Meras-Notfallmodus zu gehen. Dabei wird der Vorrat an Meras in Tank Drei so schnell wie möglich komplett verbraucht. Ich werde mich fast ausschließlich auf diese Aufgabe konzentrieren müssen.“

„In Ordnung, mach das.“

Cathy schniefte noch einmal, nickte und ordnete seine Frisur. Das Hologramm gewann an Klarheit und Schärfe, ja sogar an Leuchtkraft.

Sekunden später flackerte es draußen am Himmel, so dass die beiden Magier verwundert zu einem Fenster eilten. „Was ist das denn, ein Feuerwerk?“ staunte Crimson.

„Nein... ich glaube, das gehört zu dem Vorgang, das Meras zu verbrauchen. Dein Schloss schleudert magische Energie von sich,“ erklärte Dark.

„Wow...“ Beide beobachteten den Vorgang noch ein wenig.

Es gab keine Knalleffekte wie bei einem Feuerwerk mit Sprengstoff, aber es sah fast genauso aus. Nach einer Weile fing das ganze Gemäuer an, an der Außenwand magisch zu leuchten, als wäre es aus fluoreszierendem Gestein gebaut. Crimsons Drachen flogen verunsichert von ihrem Plätzen auf den Türmen auf, so dass er ihnen erst einmal das Problem erklären musste.

„Vergiss deine Arbeit nicht,“ erinnerte Dark letztendlich seinen Cousin. „Ich bleibe hier und helfe dir, wenn ich etwas tun kann.“

Crimson nickte und teilte ihm ein paar Zutaten zum Zerhacken und Kleinmahlen zu. Insgeheim genoss er es, etwas mit Dark zusammen zu tun... besonders, da er sich damit besser auskannte als der andere.

Auch Cathy blieb bei ihnen, aber er beachtete sie kaum, sondern veränderte nur dauernd seine Frisur, die Form seiner Blumenranken und manchmal auch all seine Farben. Das alles in hochauflösender Grafik.
 

Crimson verlor nach und nach seine Gedankenverbindung zu Sorc. Der Mann versuchte seinerseits, sich auf ihn zu konzentrieren, aber man merkte ihm immer mehr an, dass er nicht in Ordnung war. Deshalb ließ Crimson ihn schließlich in Ruhe, als er sicher war, dass die Helfer das Team erreicht hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren er und Dark mit einem Trank gegen Merasvergiftungen fertig, den sie noch in kleine Gefäße abfüllten und dann nach unten trugen. Sie kamen dort noch rechtzeitig an, dass Crimson Lily beiseite nehmen konnte.

„Hast du kurz Zeit?“ Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Flur, während Arienne und Olvin mit den Vorbereitungen für die Ankunft der Patienten fortfuhren. Auf dem Gang schwebten Lichtorbs umher, die ihm noch nie zuvor aufgefallen waren und ständig hübsch die Farbe wechselten. Magische Energie lag wie die Spannung vor einem Gewitter in der Luft.

Lily folgte ihm. „Was gibt es?“

Crimson redete nicht lange drum herum. „Es ist wegen Olvin... geht es ihm gut?“

Die Fee wirkte überrascht. „Das weißt du nicht? Nun, ich nehme an, du hast andere Probleme... Aber dir muss ja klar sein, dass er ziemlich krank ist.“

„Ja, sicher. Allerdings meinte Dark, dass es ihm noch schlechter geht als sonst.“

„Aha, dein Cousin hat dich also darauf hingewiesen.“

„Warum nicht du?“

„Erstens hast du nicht gefragt, und außerdem wollte Olvin nicht, dass ich seinen Gesundheitszustand mit dir von mir aus bespreche. Aber er nimmt in letzter Zeit immer häufiger Tränke zu sich, die er sich selber zusammenbraut. Wahrscheinlich irgendein necromantisches Zeug. Dein Trank braucht noch etwa acht Tage, nicht wahr? Kann er ihm helfen? Ich meine... ernsthaft.“

Crimson nickte bedächtig. „Ja... heute ist der zweiundzwanzigste Tag von dreißig. Und bevor du fragst, ich kann mich nicht sonderlich beeilen. Höchstens ein paar Stunden oder Minuten gewinnen.“

„Tu das, wenn du kannst,“ kommentierte Lily schlicht. „Manchmal kommt es auf jede Minute an in diesem Job.“

„Ich versuch's,“ nickte Crimson und ging in Gedanken durch, was er beschleunigen konnte und was nicht. Ihm war nicht ganz wohl dabei, denn sowas barg immer das Risiko, alles zu verderben. Besonders, wenn man auf halbem Wege damit anfing. Und in diesem Fall hing auch noch tatsächlich ein Leben davon ab. Crimson konnte den Trank wiederholen, wenn er nicht gelang, aber Olvin hatte keine Zeit mehr.

Lily kehrte zu den anderen zurück, um die Vorbereitungen abzuschließen.

Crimson blieb auf dem Gang stehen und beobachtete die Orbs, die zweifellos zur Energievergeudung dienten. Im Grunde musste es ihn nicht kümmern, ob Olvin starb, im Gegenteil... aber Crimson wollte sich all die Mühe nicht umsonst gemacht haben. All die Aufregung, die Planung, die Probleme sollten nicht für nichts sein! Sowas hasste Crimson, auch wenn das für ihn vorteilhaft wäre. Er wollte die Anerkennung für seine Mühen.

Seine Grübeleien wurden unterbrochen, als Dark aus dem Krankenzimmer kam. „Die sind da drin fertig,“ teilte er ihm mit. „Kann ich noch irgendwie helfen?“

Die Gelegenheit nahm Crimson gerne wahr. „Du könntest mir erklären, was eine Merasvergiftung ist und wie man die kriegt... Vielleicht hat Cathy eine Datenbank, aber ich störe ihn jetzt lieber nicht.“

„Das kann ich machen,“ stimmte Dark zu. „Gehen wir ein Stück spazieren?“

Crimson ging voraus, durch zufällige Gänge. Wohin sie gingen, war eher nebensächlich, solange sie nicht herumstanden und alle anderen Schlossbewohner mit dem Gespräch unterhielten.

„Eine Merasvergiftung ist zwar keine alltägliche Erkrankung, kommt aber in ihrer harmlosesten Form relativ oft vor bei Schlossherren und anderen Personen, die mit den Tanks zu tun haben,“ begann Dark zu erzählen. „Außerdem gibt es natürliche Merasvorkommen, die eine solche Vergiftung auslösen können, oder fehlerhafte Artefakte. Manche Magier erkennen gar nicht, dass sie eine Merasvergiftung haben, und kommen schnell darüber hinweg. Man hat dann leichte Kopfschmerzen, Sehstörungen, Schwindelgefühle, solche Sachen.“

„Also... wie eine kleine Erkältung oder so,“ stellte Crimson fest.

„Ja, das passiert zum Beispiel, wenn du dich zu lange bei den Tanks aufhältst. Etwas von der Strahlung kommt immer durch, ist aber harmlos. Problematisch wird es, wenn du ungeschützten Kontakt dazu hast. Meras ist quasi der Stoff, aus dem Magie besteht, das, was wir allgemein als unsere magische Energiereserve bezeichnen. Wir produzieren es in unseren Körpern und verbrauchen es bei unseren magischen Tätigkeiten. Wenn das Schlossherz es uns abzapft und einlagert, ist das ein größtenteils magischer Vorgang, den wir kaum spüren. Aber im Prinzip ist Meras nicht dafür gedacht, dass man es pur irgendwo lagert. Es funktioniert insofern, als dass diese Schlösser sowas wie Körper sind, die Meras verbrauchen... also genau wie wir das auch mit unseren Körpern tun.“

„Aber das Schloss kann nicht selber Meras erschaffen,“ warf Crimson ein.

„Deins nicht,“ bestätigte Dark. „Meins schon. Denn es hat eine Seele. Sowas hat ein paar große Vorteile. Besonders, wenn es eine Drachenseele ist. Draconiel wollte, dass ich das betone.“

Sie lachten über die Arroganz dieses speziellen Schlossgeistes. Aber zumindest etwas arrogant schienen sie alle zu sein. Vielleicht war das auch nötig – schließlich sollte der Geist eines Schlosses ja auch ernst genommen werden.

„Also produziert er seine Energie immer selber?“ hakte Crimson nach.

„Teilweise,“ nickte Dark. „Er muss quasi auch essen... also Magie von uns nehmen und als Meras abspeichern. Nun könnte man meinen, Meras wäre nicht schädlich, aber es ist wie mit allem: Es kommt auf die Menge und die Verwendungsart an. Wie bei Feuer. Wie bei Licht.“

„Verstehe... wie ich mich an Feuer verbrenne, wenn ich es ohne Schutz handhabe, vergifte ich mich am puren Meras,“ schloss Crimson.

Sie blieben an einer Weggabelung stehen, wo es auch eine kleine Fensternische gab, die einen Blick auf einen Innengarten gewährte. Die Helligkeit des Morgens kroch bereits über den fliederfarbenen Himmel.

„Beschreibe mir, was du gesehen hast,“ forderte Dark seinen Cousin auf. „Du sagtest, Sorc und Neo hätten eine Merasvergiftung... wie schwer?“

„Sorc meinte, es wäre eine leichte,“ überlegte Crimson, „Er hat ungewöhnliche Punkte vor den Augen gesehen und ihm war schlecht. Neo dagegen... er hat sich benommen, als stünde er unter Drogen oder so. Bei ihm ist es schlimmer. Er muss die Strahlung abbekommen haben, die durch den Riss drang, denn er wollte unbedingt sein Schwert losbrechen. Ob das Schwert noch zu gebrauchen ist, weiß momentan auch niemand. Ein Stück der Tankwand ist daran hängen geblieben.“

Dark grinste. „Echt? Excalibur, oder? Bei einem legendären Schwert ist es ja fraglich, ob er das je wieder gebrauchen kann.“

„Wenn das eins von den Dingern ist, die auf Ehre und sowas Wert legen, dann hat er das wohl verspielt, indem er Sorc angegriffen hat.“ Crimson seufzte. „Was soll ich machen, Dark? Ich weiß nichtmal, wer mich bei diesem Programm des Zirkels angemeldet hat, ich war es jedenfalls nicht. Und nun fühle ich mich langsam mit allem überfordert... soll ich den Rehabilitanden beschützen oder es ihn selber ausfechten lassen? Ich... ich glaube nicht mehr, dass Sorc grundsätzlich ein böser Mensch ist. Er hat eine zweite Chance bekommen und scheint sie nutzen zu wollen...“

„Aber nicht jeder kann ihm so verzeihen wie du,“ schloss Dark. „Und nicht jeder kann deine Ansicht nachvollziehen.“

„Ja... offensichtlich,“ gab Crimson ihm Recht. „Zuerst war ich auch nicht begeistert von der Idee, ihn hier zu haben. Aber jetzt fühle ich mich... sicher. Weil er da ist und mir den Rücken frei hält. Sowohl durch seine Magie als auch durch sein Wissen. Ich erwische mich dabei, dass ich denke, ich hätte vielleicht doch die Schule fertig machen sollen, wenn ich eine eigene betreiben will...“

„Ja, das denken viele, glaub mir,“ bestätigte Dark. „Aber du kannst auch eine gute Ausbildung von einem Lehrmeister haben. Du hattest deinen Vater.“

„Ja, schon... aber er war immer mehr mein Vater als mein Lehrer.“

„Verstehe. Crimson, wenn du dich dieser Sache nicht gewachsen fühlst, ist es keine Schande, das zuzugeben. Du kannst etwas anderes aus dem Schloss machen. Denk gut darüber nach. Es ist deine Entscheidung. Und ich kann dir auch die Entscheidung bezüglich Sorc nicht abnehmen. Nur... Blacky ist recht begeistert von ihm, seit er ihn näher kennen gelernt hat. Ich persönlich kann dem Mann, der meine Burg vernichtet hat, nicht einfach so vergeben, zumal mein Schlossherz es nicht tut. Aber ich hege auch keinen Groll gegen ihn.“

Crimson hob eine Augenbraue. „Geht das? Jemandem weder zu vergeben noch einen Groll gegen ihn zu hegen? Schließt sich das nicht aus?“

„Anscheinend nicht,“ meinte Dark. „Ich, uhm... verspüre kein Rachebedürfnis. Ja, das trifft es eher. Weil ich sehe, wie sehr es Blacky guttut, seinen Vater zu kennen.“

Crimson lehnte sich gegen den Bogen eines Fensters und blickte durch die farblosen Segmente der Buntglasscheiben. Der Garten draußen war ziemlich verwildert, stellte er fest. Mit zunehmender Helligkeit wurde das gut sichtbar.

„Wie hast du es geschafft, die Verantwortung schon so lange zu tragen?“ fragte er seinen Cousin.

„Ich habe mich einfach am Anfang nicht entmutigen lassen,“ sagte Dark leichthin mit einem Schulterzucken. „Da musst du jetzt auch durch. Wichtig ist, dass du ein sicheres Auftreten hast. Auch wenn du dich einmal irrst, lass nicht zu, dass du unsicher wirkst. Dann nehmen andere dich auch ernst. Dir sollte das eigentlich nicht schwerfallen.“

„Ah... danke.“

„Doch, ich meine das ernst. Du konntest immer großkotzig tun.“

„Das ist einfach, wenn man nur ein Schuljunge ist. Vielleicht habe ich vergessen, erwachsen zu werden.“

„Es ist schon gut so, wie es ist. Komm, wir sollten zurück gehen. Bestimmt sind die Jungs allmählich angekommen.“

Crimson nickte, und beide begab sich gemächlichen Schrittes zu dem Zimmer, das die Heiler für die vier Männer hergerichtet hatten. Er hatte eine gewisse Ahnung, dass es wieder Zoff geben würde.

Bücher

Die beiden Magier kamen gerade rechtzeitig, um zu erleben, wie die Gruppe eintraf. Kuro und Mad konnten alleine gehen und wollten eigentlich gar nicht behandelt werden, aber Lily, Olvin und Arienne bugsierten sie jeweils in ein Bett, wo sie zur Beobachtung bleiben sollten.

„Ihr wart in der Nähe eines beschädigten Tanks, also ist eine leichte Vergiftung nicht auszuschließen,“ ließ Olvin sie wissen.

„Kümmer dich lieber um Neo!“ verlangte Mad.

„Ja, ja, nun mal nicht aufregen.“ Olvin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Gilford trug Neo herein, während Sage das Schwert in Gewahrsam nahm. Der blonde Magier brabbelte vor sich hin, war aber kaum noch klar bei sich.

Sorc konnte auf Ray gestützt gehen. Sein Gesicht wirkte angestrengt, und er kniff die Augen zusammen und blinzelte häufig. Crimson vermutete, dass er den Weg lieber ohne Hilfe zurückgelegt hätte, aber so minimierte er das Risiko eines peinlichen Sturzes.

Als sie das Zimmer erreichten, zögerte Ray. „Soll er in dasselbe Zimmer wie die anderen?“

„Nur zu,“ ermutigte Eria ihn mit einem schiefen Grinsen. Sie spazierte vorbei zu ihrem Vater.

Rosi und Saambell, die auch zu Rays Einsatzteam gehörten, verstanden den Ernst der Lage noch nicht richtig. Sie gingen schon einmal vor, um sicher zu stellen, dass das Bett schön weich war. „Wir kümmern uns gut um Sorc, wie er sich um uns gekümmert hat, als wir krank waren,“ versprach Rosi.

„Bleib bei ihm,“ sagte Crimson zu Ray. „Magi, bitte sage Blacky und Fire Bescheid, dass sie Ray später ablösen sollen.“

Das Magiermädchen hob eine Augenbraue. „Fire? Okay...“

„Soll ich auch etwas machen?“ fragte Yami, der als Letzter aus Shiros Team übrig blieb.

„Frag die Heiler, ob du ihnen irgendwie zur Hand gehen kannst,“ bat Crimson ihn.

Er selbst überwachte, wie die Patienten mit dem Gegenmittel versorgt wurden. Neo musste beinahe zu seinem Glück gezwungen werden. Er begriff nicht, warum er das Zeug trinken sollte – es schmeckte nicht besonders. Olvin nahm sich seiner an, untersuchte ihn genau und nutzte auch seine Heilmagie, um den Schaden zu begrenzen.

Nach einigen Minuten fuhr der Alte herum. „Was gibt’s zu glotzen, Jungchen?“

„Ah... nichts, ich wundere mich nur, ob das wieder in Ordnung kommt...“ redete Crimson sich heraus.

„Er wird viel Ruhe brauchen und eventuell noch eine andere Medizin, aber ansonsten bin ich da zuversichtlich,“ versprach Olvin. „Ich lasse es dich wissen, wenn wir deine Alchemistenkünste brauchen. Oder warte... nein, ich geb dir gleich das Rezept, sobald ich hier fertig bin. Hol es dir später ab.“

Crimson nickte und wandte sich zu Sorc um, weil er keinen weiteren Verdacht erregen wollte.

Der Chaoshexer saß auf dem Bett neben der rechten Wand und starrte mit gerunzelter Stirn ins Leere. Lily leuchtete mit einem Lichtstrahl, der von einem kleinen Stab ausging, in seine Augen und beobachtete die Reaktion.

„Folge meinem Finger,“ sagte sie und bewegte einen Zeigefinger vor seinem Gesicht hin und her.

Sorcs Pupillen bewegten sich, er verengte die Augen, bis sie nur noch halb offen waren, aber so richtig zufrieden war Lily mit ihm anscheinend nicht.

„Wie viele Finger halte ich hoch?“ fragte sie ihn.

Er blickte in ihre Richtung, zögerte mit der Antwort und schüttelte schließlich den Kopf. „Ich sehe nur diese Punkte...“

Die Fee nickte bedächtig. „Mit deinen Augen ist alles in Ordnung, es liegt an dem Meras. Empfindest du es als leuchtend?“

„Ja, ihr denn nicht? Ach nein... wahrscheinlich nicht. Ich vergesse das immer.“ Sorc seufzte. „Hat auch Nachteile, es sehen zu können...“

„Leg dich hin,“ wies Lily ihn an. „Ich komme gleich wieder. Mit einem Becher Medizin. Ich kann nichts anderes für dich tun als zu warten, dass die Merasvergiftung nachlässt.“

„Ja, schon gut.“ Falls Sorc sich Sorgen machte, ließ er es sich nicht anmerken.

Ray hingegen sah sich skeptisch um. „Wenigstens hast du das Bett ganz außen... Lily, kann er nicht ein anderes Zimmer bekommen?“

Sein Bruder griff nach ihm und bekam einen Arm zu fassen. „Lass es gut sein, Ray.“

„So ist das also... die stecken unter einer Decke!“ rief Kuro vom zweiten Bett von links aus.

„Kuro, bitte... verhalt dich ruhig.“ Shiro versuchte, ihn in eine liegende Position zu bringen.

Doch Kuro ließ es nicht dabei bewenden. „Crimson, du solltest den Kerl endlich loswerden, und schmeiß das blonde Prinzchen auch gleich raus!“

Ray machte einen Schritt in seine Richtung, mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er ihm an die Gurgel, doch Sorc ließ seinen Arm nicht los.

„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte Dark zu den beiden. „Mein Vater ist anscheinend ebenfalls etwas angeschlagen durch das Meras...“

Crimson trat an das Bett seines Onkels. „Hör endlich damit auf, Onkel Kuro. Sorc wollte zwar nicht, dass ich mich einmische, aber jetzt reicht es. Mein Schloss hat einen Tank verloren wegen euch dreien!“ In seinem Hinterkopf nickte Cathy eifrig, sagte aber nichts. Er ließ seinen Blick auch über Mad und Neo schweifen, wobei letzterer es wohl kaum bemerkte. Zumindest dachte Crimson das.

„Sorc... is schuld,“ lallte Neo. „Is ausgewischen, sonst wär's Schwert nich in 'n Tank gefahrn... dann wärn wir'n jetz los und es gäb kein Problem mehr...“

Crimson drehte sich verärgert zu ihm um. „Sorc hat dich von dem Tank weggezogen, sonst würdest du immer noch da sitzen und die Strahlung genießen!“

„Wär ja nix passiert wenner... nich ausgewischen wär... Wegn ihm... is Ekskalibuuhr kaputt!“ entgegnete Neo trotzig.

„Er wird nicht mehr angerührt, verstanden?“ setzte Crimson fest.

„Junge, du weißt ja nicht, was du...“

Shiro unterbrach Kuro. „Lass es jetzt. Dies ist ein Krankenzimmer. Benimm dich!“

„Sorc hat nicht alles gegeben,“ murmelte Mad, der sich in dem Bett an der linken Wand befand. „Wenn man den Werten auf seiner Karte glauben darf, hätte er noch mehr drauf gehabt...“

„Woher willst du das wissen?“ zischte Kuro.

„Ich kenne mich mit Schutzschilden aus und kann in etwa beurteilen, wie stark ein Angriff ist, der auf meinen Schild trifft,“ klärte Mad ihn auf. Er griff nach der Hand seiner Tochter, die neben ihm stand. „Eria, du warst vorhin wütend, weil Sorc gegen mich gekämpft hat, aber das muss jetzt aufhören. Wir sind schuld daran, dass das alles passiert ist... Kuro, Neo und ich. Wir hatten uns zuvor untereinander abgesprochen, dass wir ihm eine Abreibung verpassen wollten, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Da kam die Sache mit den Merasfressern uns sehr gelegen. Wir dachten, wir kämen zu dritt leicht gegen ihn an, aber um sicher zu gehen, haben wir ihn da unten die meiste Arbeit machen lassen, damit er müde wird, bevor wir zuschlagen.“

An der Stelle musste Crimson glatt grinsen. „Da habt ihr euch anscheinend ein bisschen überschätzt... oder den Gegner unterschätzt. Ein großer Prozentsatz der Energie, die dieses Schloss seinen Bewohnern abzapft, kommt von Sorc. Er benutzt mehr Magie im Alltag als jeder andere von uns, und vermutlich wurde er schon als Kind darauf trainiert, sich gegen mehrere Angreifer zur Wehr zu setzen. Also wenn ihr ihn ein bisschen die Merasfresser erledigen lasst, ist das kaum mehr als eine Fingerübung für ihn.“ Crimson stellte überrascht fest, dass er Stolz verspürte, als er das sagte. Merkwürdig.

Die Reaktion seines Onkels entsprach nicht ganz seinen Erwartungen. „Der hat dich wirklich voll in seinem Bann,“ murmelte Kuro. „Merkst du das denn nicht? Shiro, sag du doch mal was dazu! Es geht hier schließlich um deinen Sohn! Wusstest du, dass er eine telepathische Verbindung zu Sorc hat? Zu einem, der Leute durch Gedankenmanipulation steuern kann?“

Shiro drehte sich mit einer ruckartigen Bewegung zu Crimson um. „Stimmt das?“

Crimson nickte. Er wollte sich rechtfertigen, doch er bremste sich gerade noch. Wer sich rechtfertigte, wirkte schwach. Statt dessen gab er sich Mühe, so auszusehen, als wäre das ein offenes Geheimnis. Zweifellos hatte jeder Schlossherr eine telepathische Verbindung zu seinem Chaoshexer. Genau.

Sein Schweigen gab den Skill-Brüdern keinen Angriffspunkt – dachte er jedenfalls. Als Shiro nichts dazu sagte, stürzte sich Kuro auf seinen fehlenden Kommentar: „Das ist alles? Du bist wohl auch noch stolz darauf, was? Lässt er es für dich so aussehen, als müsstest du dich geehrt fühlen, auf diese Art mit ihm verbunden zu sein? Fall nicht auf seine Manipulationen herein, Crimson!“

„Ich bin sicher, dein Sohn kann dir bestätigen, dass Telepathie mit einem Chaosmagier nichts Schlimmes ist,“ entgegnete Crimson sachlich.

Kuro starrte ihn mit offenem Mund an.

„Kuro... lass ihn, wenn er das für richtig hält,“ mischte Mad sich ein. „Ich habe allen Grund, Sorc zu hassen. Aber er hat uns da unten nicht verletzt, obwohl er es wahrscheinlich gekonnt hätte.“

„Ein Trick!“ beharrte Kuro. „Er will dich einwickeln! Leute wie der warten nur darauf, dass alle ihnen wieder vertrauen, und dann schlagen sie zu! Gerade von dir hätte ich mehr Vernunft erwartet, Mad! Schließlich lebt deine Tochter hier!“

Der Wassermagier nickte bedächtig. „Ja. Aber sie steht unter dem Schutz ihres Lehrmeisters.“

„Aber der Lehrmeister lässt den Feind in seinen Kopf! Eria ist hier nicht sicher!“ Kuro wirkte verzweifelt, wie jemand, dem niemand glaubte, obwohl er als Einziger die Wahrheit erkannte.

Da gesellte sich Ray zu der Gruppe. Er wirkte angespannt. „Mein Bruder ist ein guter Mensch,“ sagte er in die Runde. „Er hat in der Vergangenheit einen schweren Fehler begangen, aber er hat keinen Grund, euch zu hintergehen. Ich verbürge mich für ihn.“

Crimson wusste nicht, woher und seit wann sein Vater und sein Onkel den Prinzen kannten, aber dessen Wort schien doch für sie Gewicht zu haben. Zumindest für Shiro.

Kuro hingegen hatte offensichtlich ein Stadium erreicht, das sich jenseits allen rationalen Denkens befand. Er wollte unbedingt seine Verdächtigungen bestätigt sehen. „Es ist ganz klar, dass du ihn verteidigst, Lichal! Warum hast du uns verschwiegen, dass Sorc dein Bruder ist?“

„Weil er vermeiden wollte, dass ein schlechtes Licht auf mich fällt. Als der Jüngere habe ich seinen Wunsch respektiert, obwohl meine Familie größten Wert auf ihren Zusammenhalt legt.“

„Hast du das nicht gewusst?“ fragte Shiro. „Dass Lichal und Sorc Brüder sind, meine ich.“

Kuro starrte seinen eigenen Bruder verwirrt an. „Nein. Du etwa?“

„Ja, denn im Gegensatz zu dir mache ich meine Hausaufgaben.“ Shiro lächelte. „Daran hat sich anscheinend seit unserer Schulzeit nichts geändert.“

Kuro schnaubte mit zornesfunkelnden Augen. „Jedenfalls hat der Prinz leicht reden! Er hat ja auch nicht unter Sorcs Machenschaften zu leiden gehabt!“

Shiro legte ihm brüderlich eine Hand auf die Schulter. „Warum versuchst du nicht, mit ihm auszukommen? Es ist nun schon eine Weile her, und ich glaube, der Zirkel des Bösen hat Sorc schon allein dadurch bestraft, dass sie ihn lange über sein Schicksal im Unklaren ließen. Er war gut neun Monate lang ihr Gefangener.“

„Ich glaube nicht, dass es ihm dabei schlecht ging,“ knurrte Kuro. „Schließlich war Genesis sein Gastgeber. Weiches Bett, gutes Essen, angenehme Gesellschaft! Pah! Wie kannst du so ruhig bleiben, Shiro, wenn du weißt, dass der Kerl mit deinem Sohn unter einem Dach wohnt?“

„Ich habe immer Crimsons Entscheidungen respektiert,“ erklärte der Lichtmagier. „Und wenn Lichal sich für Sorc verbürgt, bekräftigt mich das in meiner Ansicht. Crimson braucht mich nicht, falls er Rache üben will. Er könnte es jederzeit tun.“

„Falls der Bursche ihn lässt, du hast ja gesehen, was er mit uns gemacht hat!“ widersprach Kuro vehement.

„Danke für deine Unterstützung, Paps,“ ergriff Crimson endlich das Wort. „Zur allgemeinen Information: Sorc genießt mein vollstes Vertrauen. Er hat meine Erlaubnis, sich gegen Angriffe zu wehren. Für ein reibungsloses Zusammenleben in diesem Schloss wäre es angebracht, dass jeder ihn seine Arbeit machen lässt.“

„Arbeit? Was bitte arbeitet der---“

„Und das gilt auch für dich, Onkel Kuro. Dies ist mein Schloss. Hier gelten meine Regeln. Davon abgesehen war es nicht Sorc, der den Tank Drei zerstört hat. Ihr habt entschieden, ihn in einer Tankkammer anzugreifen. Du hättest es besser wissen müssen.“ Crimson sah mit gemischten Gefühlen den ungläubigen Ausdruck in Kuros Gesicht. Fühlte sein Onkel sich von ihm verraten? Verletzt? Sollte er sich vielleicht entschuldigen oder irgendetwas Versöhnliches sagen? Er tat es nicht. Diese internen Stänkereien mussten endlich aufhören.

„Heißt das, du ziehst deinen ehemaligen Feind deiner eigenen Familie vor?“ Kuros Stimme klang nun ganz leise.

Mit dieser Frage hatte Crimson schon früher gerechnet, aber dass sie ihm wirklich gestellt wurde, fühlte sich wie ein Schlag ins Gesicht an. „Zwing mich nicht zu wählen,“ sagte er.

Einige unangenehme Sekunden lang schwiegen alle betreten. Dann kam zum Glück Lily dazu.

„Schämt ihr euch gar nicht, in einem Krankenzimmer solchen Lärm zu machen? Kuro, hast du schon deine Medizin getrunken? Hier, nimm noch einen Becher. Mad? Für dich habe ich auch noch einen. Eria, du solltest ins Bett gehen und eine Runde schlafen. Ray, wenn du bei Sorc bleiben willst, halte dich an den Stuhl, der dort steht. Alle, die nichts zu tun haben, bitte raus!“

„Ich bleibe bei meinem Bruder,“ setzte Shiro fest. Ob er das für Kuro tat, oder um andere vor Kuro zu beschützen, ging nicht klar daraus hervor.

Crimson nahm einen Hauch vom Geruch des Trankes wahr, den Lily Kuro brachte. Es war nicht das Mittel gegen die Vergiftung, sondern ein Schlaftrunk, aber sein Onkel merkte es in seiner Wut nicht und trank mürrisch alles aus. Der Schlossherr sah sich nach Neo um, aber dieser schlief bereits und brauchte wohl keinen Aufpasser. Im Bett neben ihm schien auch Sorc schon zu schlafen, aber bei ihm war es nicht mit Sicherheit erkennbar, denn die Heiler hatten seine Augen verbunden. Crimson runzelte verwundert die Stirn. Sorcs Augen zeigten doch keine Verletzungen, warum also?

Er schlenderte zu Olvin hinüber, der gerade die restlichen Bandagen aufrollte und in eine kleine Kiste legte, die Yami in den Händen hielt. „Olvin. Ist das nicht etwas übertrieben?“ Er deutete mit einer Kopfbewegung in Sorcs Richtung.

„Er war ständig am Blinzeln und probierte ununterbrochen aus, ob er irgendetwas erkennen kann. So wird er leichter zur Ruhe kommen. Wir haben etwas von dem Gegenmittel auf seine Augenlider aufgetragen, das hilft vielleicht,“ informierte der Necromant ihn.

„Wirkt der Trank auch bei äußerlicher Anwendung?“ fragte Crimson überrascht.

Olvin zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise.“

Aha. Vermutlich war das alles rein psychologisch.

Eria ging gähnend an ihnen vorbei. Auch alle anderen außer Shiro und Ray verließen den Raum. Fire und Blacky wollten hinein, aber Lily vertröstete sie auf später. Endlich kehrte etwas Ruhe ein. Auf dem Gang hingegen war noch allerhand los. Neugierig standen die Mitglieder der zurückgekehrten Einsatzgruppen herum und versuchten, Informationen aus erster Hand zu erhaschen.

Sage nahm Crimson beiseite. „Crimson, ich spreche als Mitglied des Zirkels des Bösen, da ich nun einmal zufällig hier bin. Möchtest du diesen Vorfall melden? Ich würde das dann an Lord Belial weiterleiten, damit er sich um entsprechende Maßnahmen kümmern kann.“

Auf diese Idee war Crimson noch gar nicht gekommen. „Aber nein... nein, das ist nichts, was den Zirkel betrifft,“ antwortete er sofort.

Sage hob eine Augenbraue. „Aber dieser Vorfall hat mit dem Rehabilitanden Sorc zu tun.“

Crimson sah ihn fest an, ohne seine Worte zu wiederholen.

„In Ordnung,“ nickte sein Großvater schließlich. „Dann geht es mich als Zirkelmitglied auch nichts weiter an. Ähm... was machen wir hiermit?“ Er deutete auf Excalibur, das er noch in Verwahrung hatte.

„Es muss eventuell von Spuren des Meras in dem Tank gereinigt werden. Kannst du das übernehmen? Danach werde ich es aufbewahren, bis wir wissen, ob Neo es weiter benutzen kann.“

„Sicher, da fällt mir schon was ein.“

„Ach, Großvater... ich habe wahrscheinlich Onkel Kuro ein bisschen vor den Kopf gestoßen... er glaubt jetzt bestimmt, dass ich gegen ihn bin, weil ich Sorc verteidigt habe. Kannst du... mal mit ihm reden?“ Crimson hoffte, dass Kuro vielleicht auf seinen eigenen Vater hörte.

„Weißt du was? Er hat mich auch gebeten, mal mit dir zu reden. Aber ich bin bis jetzt nicht so wirklich dazu gekommen. Außerdem sagte ich ihm, dass du erwachsen bist und er deinem Urteil vertrauen soll. Falls du dich irrst, wirst du um eine Erfahrung reicher sein.“ Der Alte lächelte auf diese schelmische Art, wie es Großväter häufig tun.

„Hat er dir vorgeworfen, dass du zu sehr wie ein Zirkelmitglied denkst?“ hakte Crimson nach.

„So ähnlich,“ bestätigte Sage.

„Was ist nur los mit ihm... und auch mit Neo? Was muss passieren, damit sie zufrieden sind?“ Crimson schüttelte ratlos den Kopf.

„Was ist denn passiert, damit du keinen Rachewunsch mehr verspürst?“ erkundigte Sage sich.

„Ich weiß nicht... vielleicht lasse ich einfach nicht zu, dass der Rest meines Lebens von diesen Erlebnissen bestimmt wird,“ überlegte Crimson. „Davon abgesehen konnte ich sogar noch einen Vorteil daraus ziehen. Ich bekam einen Effekt, ein Schloss... und eine Schülerin.“ Er sagte Sage jedoch nichts von den Zweifeln, die in letzter Zeit manchmal an ihm nagten, wenn er sich fragte, ob er wohl als Lehrer etwas taugte. Dafür gab es eine einfache Lösung – er würde sich die Kenntnisse einfach aneignen, sobald wieder Ruhe eingekehrt war. „Ach ja... ich habe im Inventar einige Bücher gefunden, von denen ein paar in fremden Sprachen sind. Eins habe ich für dich mitgenommen und eins für Dark. Ich gebe sie euch lieber gleich... damit ich es nicht noch vergesse.“

Crimson sah sich nach Dark um und rief ihn zu sich. Der Magier kam in Begleitung von Blacky zu ihm geschlendert, und gemeinsam gingen sie in Crimsons Büro. Der Weißhaarige erinnerte sich auf halbem Wege, dass er dort den Plan für den Trank aufbewahrte, aber soweit er wusste, war dieser irgendwie abgedeckt worden... er widerstand der Versuchung, voraus zu rennen und nachzusehen. Da war es unauffälliger, wenn er sich nicht darum kümmerte, dann achtete vielleicht auch niemand darauf.

Die Bücher lagen auf seinem Schreibtisch unter einigen anderen Büchern, damit sie nicht auffielen. Crimson machte sich nicht die Mühe, auf seine Seite des Tisches zu gehen, sondern holte sie einfach hervor und gab Dark und Sage jeweils eines.

Blacky schaute Dark über die Schulter, als dieser seines aufschlug und einen neugierigen Blick hinein warf. „Wow, das sieht nach Ägyptisch aus,“ meinte der Chaosmagier. Durch seine Beziehung mit dem Diener des Pharaos wusste er sicherlich gut, wie diese Schriftzeichen aussahen.

Dark bestätigte das mit einem Nicken. „Ja... eventuell Zauberformeln, aber ich müsste mich eine Weile damit beschäftigen, um sicher sein zu können.“

„Nur zu, ich kann damit nichts anfangen,“ ermutigte Crimson ihn.

„Danke,“ freute Dark sich. „Ich sag dir Bescheid, wenn ich was rausfinde!“

„Ihr beiden solltet euch jetzt auch noch ein bisschen aufs Ohr legen,“ schlug Sage dem Pärchen vor. „Ich bin selber ziemlich müde, aber ich habe noch kurz was mit Crimson zu besprechen.“

Crimson hob eine Augenbraue. Was meinte sein Großvater denn?

Dark verstand den Hinweis und verließ mit Blacky das Büro.

Hoffentlich hat er nicht die Pinnwand bemerkt, dachte Crimson. Obwohl er nur über die Schulter des Älteren blicken musste, wagte er nicht nachzusehen, ob das Ding verdeckt war, sondern konzentrierte sich auf den alten Mann, der auf einmal ein sehr ernstes Gesicht zur Schau trug. Bei ihm war das geradezu gruselig. Als sein Enkel kannte Crimson ihn fast nur mit einem großväterlichen Lächeln hinter dem Bart.

Sage schlug das Buch zu und hielt es Crimson hin. „Wo hast du das her?“ Er hob schnell die Hand, als Crimson den Mund aufklappte, und unterbrach ihn damit. „Nein, vergiss die Frage. Vergiss, dass du mir das Buch gezeigt hast, dann vergesse ich es auch. Bring es da hin, wo du es gefunden hast, sofern das ein Ort ist, wo es niemand sonst findet.“

Crimson runzelte verwirrt die Stirn. „Großvater... was ist denn damit? Stimmt etwas nicht?“

„Erzähle niemandem, dass du das Buch hast, und wenn es bereits jemand weiß, sag ihm, was ich dir gesagt habe. Halte das Buch unter Verschluss, dann hast du keinen Ärger,“ beharrte Sage.

Sein Enkel wurde durch dieses geheimnistuerische Verhalten erst recht neugierig. „Was ist mit dem Buch, ist es eine geheime Schrift?“

Doch Sage war nicht zu weiterer Auskunft bereit. „Du musst nur so viel wissen: Als Zirkelmitglied müsste ich dich eigentlich befragen, wie du in den Besitz gekommen bist. Oder wie einer der Vorbesitzer wohl in den Besitz gekommen sein könnte.“

Crimson wusste nicht, ob das ein warnender Hinweis sein sollte, aber er verbuchte es als solchen. Auch Sorc gehörte zu den Vorbesitzern des Schlosses, und er durfte sich keinen weiteren Ärger einhandeln. Also nahm er das Buch wieder an sich und legte auf dem Schreibtisch drei andere oben drauf. „Ach, das war das falsche... dieses wollte ich dir zeigen.“ Er reichte Sage ein willkürliches Exemplar.

„Alchemie für Eintöpfe und Suppen. Gesunde Lebensmittel richtig zubereitet,“ las der alte Magier. „Interessant, ich nehme an, du willst meine Meinung zu diesem Werk hören.“

„Äh... ja, genau, vielleicht kannst du mal nachsehen, ob es wohl was taugt...“ Die Antwort wusste Crimson eigentlich schon, erkennbar an etlichen verknickten Lesezeichen, die aus dem Gesamtwerk hervorschauten, und Flecken unterschiedlichster Art auf den einzelnen Seiten.

„Ich behalte das mal und sage dir dann, was ich dazu meine,“ entschied Sage, und damit war die Sache dann hoffentlich beendet.

„Ach übrigens... deine Strandlotus-Variationen waren... interessant,“ versuchte Crimson, das Gespräch in sichere Bahnen zu lenken. Zugleich ging er wieder auf die Tür zu, um seinen Großvater unauffällig hinaus zu befördern. Ob Sage es merkte, war nicht ersichtlich, aber er ließ sich das Vorgehen jedenfalls gefallen und sie unterhielten sich über unverfängliche Themen, während sie sich vom Büro entfernten.

Sage verabschiedete sich bei den Treppen von Crimson, um schlafen zu gehen, denn alle hatten eine durchwachte Nacht hinter sich. Der Schlossherr gab vor, sich noch um etwas kümmern zu müssen, und wartete, bis sein Großvater außer Sicht war. Dann hetzte er in sein Büro zurück und sah nach der Pinnwand.

Ein Laken hing vor den Auftragszetteln. Ein Glück! Crimson nahm es weg und studierte die noch offenen Arbeitsschritte für seine Boten. Yugis Handschrift zierte die meisten mit einer Bemerkung, wer wann wo hinreisen sollte.

Moment mal... laut diesen Notizen sollte Mava bereits seit gestern unterwegs sein, um die Samen des Duranostrauches zu besorgen, die Crimson in zwei Tagen brauchte! Aber Mava war definitiv nicht unterwegs, sondern gehörte zu den Teams für die Parasitenbekämpfung!

Crimson fühlte einen kalten Schauer auf der Haut und zugleich ein inneres Brennen wie von einer heißen Klinge, die in ihn drang. Jemand musste sich sofort auf den Weg machen, sonst war sein Projekt verloren!

Er wollte gerade Cathy den Befehl geben, jemanden zu suchen, der sich dafür eignete, als ein leichtes Beben das Schloss erschütterte. Sekunden später wiederholte es sich etwas stärker. Crimson ließ seine Sinne wandern, weitete sie auf das Gemäuer aus und musste sich an der Wand abstützen, als die nächste Erschütterung kam.

[„Meister! Ein Monster ist in meinem Tankraum!“] meldete das Schlossherz ihm. [„Ich wusste gleich, dass es keine gute Idee sein kann, die Merasfresser bei dem puren Meras einzusperren!“]

Crimson empfing ein Bild vom inneren der Tankkammer. Ein Geschöpf, das keinem ähnelte, das er je gesehen hatte, nahm einen Großteil des Platzes ein. Es war größtenteils schwarz, wies aber auch bunte Körperbereiche auf. Mäuler, Klauen und Füße wuchsen an unmöglichen Stellen und in unlogischer Anzahl aus einem unförmigen Körper, bei dem es keinen richtigen Kopf und kein Schwanzende zu geben schien. Es war grotesk.

[„Die Merasfresser sind mutiert, weil sie das austretende Meras gefressen haben. Ich konnte nur etwa drei Viertel der Tankfüllmenge selber verbrauchen,“] erklärte Cathy. [„Bitte unternehmt etwas, Meister! Es versucht zu entkommen!“]

Während Crimson zusah, warf sich das Geschöpf gegen eine Wand, und erneut erbebte die ganze Konstruktion unter dem Aufprall. Der Magier ließ sich zu Boden sinken und starrte ins Leere, während sich die Szene vor seinem inneren Auge abspielte. Wenn dieses Monstrum entkam, würde es sich über die anderen Tanks hermachen und schließlich über den Energiekern. Das wäre das Ende. Während allgemein einem Schlossherz lediglich ein Bewusstsein zugesprochen wurde, das eine verwaltende Tätigkeit wahrnahm, merkte er in diesem Moment ganz deutlich, dass zumindest Catherine Panik empfinden konnte.

Parasitenbeseitigung zweiter Teil

Crimson hetzte durch die Kellergänge und fand den Weg zum Energiekern quasi von allein. Er hatte entschieden, das zuerst zu erledigen, aber die andere Angelegenheit ließ sich ja gleichzeitig angehen. [„Cathy, such nach Mava und sag ihm, dass er diesen Botenflug machen muss!“]

[„Gibt es jetzt nichts Wichtigeres?“] beschwerte das Schlossherz sich etwas heftiger als normalerweise üblich.

[„Es dürfte nicht in deinem Sinne sein, dass Olvin mich in einen Zombie verwandelt, wenn der Trank fehlschlägt!“] entgegnete der Weißhaarige. Vor der Tür kam er zum Stehen und entsicherte mechanische und magische Sperrvorrichtungen. Er betrat den Raum und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.

Cathys Energiekern zeigte sich unbeschädigt und umgeben von einem klaren, schimmernden Licht. Er sah aus wie eine mannshohe Kugel, in der sich Lava befand und die in einem Standsockel im Boden eingelassen war. Das Innere bewegte sich schlierenartig. Crimson fragte sich, was er tun konnte... er wollte sein Schlossherz irgendwie schützen, doch mit Siegelmagie von der Stärke, wie er sie hier benötigte, kannte er sich zu seiner Schande nicht gut genug aus. Jedoch erinnerte er sich daran, dass Ray ihm erzählt hatte, dass er hier einen Bannzauber gesehen hatte. In diesem Fall war es gut, dass er vor kurzem die Schatzkammer untersucht hatte, denn an den Zauber, der Banne anzeigte, erinnerte er sich noch.

Als er den Zauber leise vor sich hin murmelte und in der Umgebung des Kernes wirken ließ, zeigte sich ihm eine violett erstrahlende Magiestruktur rund um den Bereich, wo Cathys Herzstück den Boden berührte. Crimson ging in die Hocke und berührte die Schriftzeichen, deren Energie an seiner Hand kribbelte.

Cathy materialisierte sich. „Die waren schon da, als Ihr mich erweckt habt. Ich kann in meinem Erinnerungsspeicher nichts darüber finden, die Schriftzeichen sind fremdartig. Allerdings gleichen sie denen, die Sorc derzeit überall an die Wände malt, Meister.“

Dass Sorc die Zeichen angebracht hatte, konnte zutreffen, schließlich war er der ehemalige Schlossherr. „Wirken die? Ich will sie nicht beschädigen...“

„Als der Merasfresserbefall bekannt wurde, haben deine Freunde das überprüft und abgenickt, also muss es wohl in Ordnung sein,“ sagte Cathy. Als das Schloss wiederholt erbebte, schrie er quiekend auf. „Ich weiß nicht, wie lange ich es noch da unten einsperren kann!“

Crimson nickte grimmig. „Ich befreie uns von dem Problem.“ Er wusste nun, dass der Kern geschützt war, oder jedenfalls mit einem besseren Siegel, als er es auf die Schnelle hinbekommen konnte. Also eilte er als Nächstes mit seinem Stab bewaffnet zu dem versiegelten Tankraum. Dazu nahm er den Weg über das Außengelände – denselben, auf dem Sorc und seine Gruppe zurück gekommen waren. So musste er nicht vom Schloss aus in den Tankraum vordringen und verringerte das Risiko, dass der Schädling die anderen Tanks erreichte. Einmal verlief er sich fast. Zum Glück hatte er Sorc vorhin in Gedanken verfolgt. Dadurch kannte er den Weg, obwohl Cathy in diesem Bereich keinen Einfluss mehr hatte.

So nah an der Quelle der Erschütterungen fühlte Crimson das Phänomen schon deutlicher. Aber das Geschöpf war einfach nur groß. Mit all diesen Gliedmaßen, die aus ihm herauswuchsen, beschränkte sich sein Handlungsspielraum auf die Kammer mit dem zerstörten Tank. Nebenan befand sich noch der schmale Raum, der eigentlich mehr ein Gang war.

[„Cathy, entriegele diese Tür und verschließe sie hinter mir wieder.]

Das Schlossherz zierte sich. [„Aber wenn es nun entkommt?“]

[„Ich muss ohnehin da rein, sonst kann ich es nicht angreifen,“] entgegnete Crimson.

Das sah Cathy ein, aber während Crimson die Tür aufzog, sich durch einen Spalt quetschte und die Tür mühsam zuzog, wobei er sogar Magie einsetzen musste, fühlte er sich die ganze Zeit angespannt, als hinge sein Leben davon ab. Dieses Gefühl kam nicht von ihm – oder nicht nur.

Cathy erhellte für ihn den Raum, denn er selbst wollte lieber keine Lichtkugel erschaffen, um das Monster nicht noch weiter auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings hatte das Ding aufgehört, sich gegen die Wand zu werfen. Crimson hatte das Gefühl, dass es bereits eine Willkommensparty für ihn vorbereitete.

Er zögerte nicht länger, sondern schritt zügig voran zur nächsten Tür und ging dabei alle dramatischen Angriffszauber, die er beherrschte, im Schnellverfahren durch. Die schwachen ließ er aus, auch die besonders gefährlichen, damit blieb eine überschaubare Menge übrig. Und welche davon waren wohl gut, um ein Merasfressermonster zu besiegen? Das wusste niemand... schließlich war das vermutlich eine Premiere.

Crimson zerrte die andere Tür auf, die zu dem Tankraum führte. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft, den er nicht genau einordnen konnte. Vielleicht nach... Magie? Moment... nein, Kürbiskuchen! Warum bitte roch es nach Kürbiskuchen, wenn sich ein übermannsgroßes, krankhaft mutiertes, schwarzes Wesen vor ihm auftürmte, dass ihn inzwischen wohl schon erwartet hatte?

Schwer zu sagen, ob das da vor ihm ein Bein war oder ein Arm... oder ein Echsenschwanz. Jedenfalls wuchs es aus einem Körper, der Crimsons ganzes Blickfeld einnahm. Er legte langsam den Kopf in den Nacken. Ihm senkte sich so etwas wie ein Maul entgegen, das keine Zähne im eigentlichen Sinn enthielt, aber es wirkte dennoch bedrohlich, weil es ausreichte, um Crimson einfach so zu verschlucken! Es machte kein Geräusch, und das fand er verstörend – so sehr, dass seine Reflexe fast zu spät einsetzten.

Crimson wuchtete seinen Zauberstab in dieses Maul und ließ einen Lichtzauber in den Rachen los. Dieser fiel mangels Übung bei ihm nicht so stark aus, aber Merasfresser waren schließlich lichtempfindlich!

Tatsächlich fetzte der Zauber das Maul weg. Crimson erwartete ein Brüllen von einem anderen Kopf, aber er vernahm nur die Geräusche des Geschöpfes, als es sich auf dem Boden bewegte und an der Wand entlang schabte. Es klang wie Leder gegen Stein. Der schwarze Körper wabbelte ohne erkennbaren Sinn vor ihm herum. In seinem Kopf jubilierte Catherine.

Dann schoss ein Echsenschwanz auf ihn zu! Nein – ein Tentakel! Er wickelte sich um Crimsons Stab und zog ruckartig. Crimson weigerte sich loszulassen, statt dessen ließ er den Stab aufleuchten. Der Tentakel lockerte sich erwartungsgemäß, doch statt dessen griff er nach seiner Hand, dann schlang sich ein anderer um seine Taille. Crimson nahm den Stab in die andere Hand und stach mit dem unteren Ende in das Fleisch des Monsters. Er hatte das Gefühl, das Ding bestünde nur aus Gelee. Als er einen vernichtenden Finsterniszauber nachschicken wollte, zogen sich die Tentakel ruckartig eng zusammen. Durch sein rechtes Handgelenk schoss ein übler Schmerz, der ihn aufschreien ließ.

Die Luft aus seinen Lungen zu lassen, erwies sich als fataler Fehler. Crimson konnte kaum wieder einatmen, und der Versuch tat weh. Er konzentrierte sich trotzig auf seinen Zauber, aber die Schmerzen und der Luftmangel trieben ihm Tränen in die Augen, so dass er nicht erkannte, wohin er zielte. Es spielte auch keine Rolle, denn das Ziel war groß genug. Schwärze machte sich vor seinen Augen breit.

[„Meister! Bitte gebt nicht auf! Ihr habt es verletzt, schießt noch einmal in sein Zentrum!“] feuerte Cathy ihn an, aber Crimson war zu sehr damit beschäftigt, seine Lungen mit einem Mindestmaß an Sauerstoff zu versorgen.

Sein Zauberstab entglitt seinen Fingern. Das allein konnte er verkraften, Zauberstäbe dienten ohnehin hauptsächlich zum Angeben und um einen Angriff zu konzentrieren, aber in diesem Fall kam es kaum darauf an. Die linke Hand entließ einen halbherzigen Angriff. Crimson wollte mehr Energie aufwenden, versagte jedoch. Wahrscheinlich hielt sich der Erfolg in Grenzen. Das Geschöpf zog ihn zu sich heran. Er winkelte reaktionsschnell den linken Arm an und konnte sich somit etwas auf Abstand halten. Die Oberfläche unter seinen Fingern fühlte sich uneben und warm an, hatte seine Attacke dort getroffen? Blut schien es nicht zu geben, doch das war jetzt Crimsons geringste Sorge. [„Cathy... ich schaff's nicht... ich... Hilfe!“]

Etwas klatschte schwer auf seinen Rücken, und es fühlte sich so eklig kalt und glatt an wie der eine Merasfresser, der ihn vor ein paar Tagen angefallen hatte. Crimson rang mühsam nach Luft. Was folgte, hatte er schon einmal erlebt, aber bei diesem monströsen Merasfresser waren es keine winzigen Nadeln, die immer wieder in seinen Rücken stachen und seine magische Energie stahlen, sondern Dolche. Crimson schrie unter Qualen. Wahrscheinlich gab es keine echten Verletzungen, aber der Schmerz war real genug. Dazu kam noch die bittere Niederlage.

Der Vorgang dauerte nur wenige Sekunden. Als das Monster Crimsons Merasvorrat leergesaugt hatte, löste es gemächlich seine Tentakel von ihm. Er taumelte gegen die nächste Wand, und die Beine gaben unter ihm nach. Gierig holte er Luft, nur um festzustellen, dass dies auch jetzt nicht ohne Schmerzen möglich war. Sein ganzer Körper schmerzte, vor allem die rechte Hand und die unteren Rippen. Aber das Wesen interessierte sich nicht länger für ihn.

[„Meister, Hilfe ist unterwegs...“] flüsterte Cathy irgendwo in seinem Hinterkopf. [„Seht nur!“]

Der Geist zeigte Crimson eine Ansicht der Tankkammer Drei mit einem guten Blick auf das Geschöpf. Bei der jenseitigen Tür stand Dark. Die Kugel an seinem Zauberstab leuchtete in einem Finsternis-Violett, und er murmelte in Konzentration vor sich hin. Erst fragte Crimson sich, was er damit bezweckte, außer dass er das Monster zu sich lockte. Doch als es in der Mitte des Raumes ankam, erhob er den Stab und schickte einen Strahl schräg an dem Ding vorbei zu Appi, der ihn mit einer der Kugeln an seiner Sense auffing. Dann leitete er den Strahl zu Yugi, der in Ermangelung eines eigenen noch Darks früheren Stab benutzte. Von dort ging es weiter zu Blackys Zauberstab, und von dort zu Eria, die ebenfalls ihren Stab dabei hatte. Crimson erschrak, als er sie sah. Er konnte sie doch nicht in dieser Gefahr allein lassen! Doch sie gab souverän zurück an Dark, und damit schloss sich ein Pentagramm, in dessen Zentrum sich das Merasmonster aufhielt.

Alle hielten die Augen geschlossen und wirkten konzentriert. Dark rief seine Worte nun laut, und Blackys Stimme erklang ebenfalls. Sie benutzten die Sprache, in der Magier üblicherweise ihre Beschwörungen aufsagten. Anscheinend hatten sie alles unter Kontrolle... Appi machte ein entschlossenes, ernstes Gesicht. Crimson bewunderte seine erkennbaren Fortschritte als Darks Schüler. Aber auch Yugi machte sich gut. Dafür, dass er gar nicht aus dem Schattenreich kam, verdiente seine Leistung besondere Anerkennung. Und Eria... sie war so sehr bei der Sache, dass Crimson sich schämte, sie nicht darauf vorbereitet zu haben. Generell fühlte er sich wie der letzte Versager.

Das letzte Wort der Beschwörung hatte Blacky. Es gab eine Erschütterung des magischen Gefüges in der Luft, ähnlich wie das, was sich bemerkbar machte, wenn jemand einen magischen Schwur aussprach, nur heftiger. Magie umwirbelte das Merasgeschöpf in allen Farben, und es begann zu schrumpfen.

Crimson konnte aufatmen. Symbolisch gesehen, denn praktisch gestaltete sich schwierig. Er musste husten, wischte sich daraufhin automatisch etwas Warmes vom Mundwinkel und erkannte Blut an seiner Hand. Oh... sehr schlecht. Rippen in der Lunge vermutlich. Das verdarb ihm geringfügig die Freude, denn obwohl er daran glaubte, dass sie ihn retten würden, sah er sein Elixierprojekt schwinden. Sorc hätte ihn vertreten können, doch er war ebenfalls außer Gefecht. [Naja, ich bin selber Schuld, hätte besser aufpassen sollen,] dachte er noch, ehe er sich vollends zu Boden sinken ließ und sich darauf konzentrierte, nicht zu sterben.

Zu seinem Leidwesen wurde er nicht ohnmächtig. Zwar fand er es peinlich, ohnmächtig zu werden, aber zumindest hätte er dann später aufwachen und es hinter sich haben können. So aber zogen sich die Sekunden und Minuten dahin, ehe sich endlich jemand um ihn kümmern konnte. Von weit her drangen Stimmen an sein Ohr.

„Das kann nicht dein Ernst sein, Blacky.“

„Ach komm, Dark... Yugi wollte doch, dass wir...“

„Also ich find's süß.“

„Jaja, ich auch, aber wir wissen nicht, worauf wir uns einlassen.“

„Ist ja auch, streng genommen, nicht unser Problem, sondern Crimsons.“

„Wo ist er überhaupt? Meister!“

„Eri...a...“ Crimson bekam den Namen nicht laut genug über die Lippen, aber sie war schon kurz darauf bei ihm. Er öffnete die Augen einen Spaltbreit und konnte sie verschwommen erkennen.

„Hierher, kommt schnell! Bringt Olvin mit!“ Ihre zierlichen Hände strichen über seine Stirn. Sie schob ein Bündel Stoff unter seinen Kopf. „Bleib ruhig, Crimson. Olvin ist mit uns gekommen. Ich bin so stolz auf dich, mein Meister! Aber das war auch furchtbar dumm, was du gemacht hast. Musst du immer die dramatische Rolle in deinen Plänen haben?“

„Eria, mach ihm keine Vorwürfe, er hat es zum Wohle seines Schlosses getan. Und weil er sicherlich wusste, dass er bei Beschwörungen eine Niete ist.“ Das war Darks Stimme. Er klang ebenso nah wie Eria, befand sich aber außerhalb seines Blickfeldes.

Crimson wollte ihm widersprechen, sparte sich aber lieber den Sauerstoff. Wovon redeten die da eigentlich? Was für Pläne?

„Geht mal da weg, Kinder.“ Olvins grummelnder Tonfall erklang, dann tauchte der Necromant vor Crimsons Gesicht auf und ließ sich umständlich auf die Knie sinken, steckte die Finger in dessen Kragen und fühlte am Hals den Puls. „Macht euch nicht immer so viele Sorgen um den, der krepiert leider nicht so schnell.“ Er schloss konzentriert die Augen.

Crimson wusste, dass Heiler jemanden an einer beliebigen Körperstelle berühren und von dort aus den ganzen Körper untersuchen und sogar heilen konnten. Allerdings war zum Heilen direkter Kontakt zu einer Verletzung besser. Tatsächlich holte Olvin auch schon ein kleines Messer hervor und schlitzte Crimsons Robe vom Kragen bis zum Bauch auf. Vorsichtig legte er seine Hände auf den unteren Brustkorb.

„Nicht... Olvin,“ presste Crimson hervor. „Ich hab... kein Meras...“

„Ah, du hast doch mal aufgepasst,“ murmelte Olvin ernst. „Du, Mädchen.“ Er wandte sich an Eria. „Warum ist es wichtig, dass jemand Meras hat, wenn er von mir geheilt werden soll?“

Mads Tochter blinzelte verwirrt. „Weil der Heilvorgang den Merasvorrat desjenigen anzapft,“ sagte sie. „Aber... heißt das, du kannst ihm nicht helfen?“

„Sag du es mir.“

„Also, ich... glaube, dass du auch deine eigene Magie dafür einsetzen kannst. Aber... aber Crimson will es nicht! Die meisten Heiler respektieren die Wünsche ihrer Patienten, manchmal ist der Wille des Patienten auch so stark, dass sie ohne sein Einverständnis gar nichts tun können.“

„Sehr schön,“ nickte Olvin. „Dark, du kannst mich unterstützen.“ Der Alte hielt dem anderen Magier wie selbstverständlich eine Hand hin, die Dark sogleich ergriff, wobei er in die Hocke ging, um auf eine passende Größe zu kommen.

„Ich denke ja mal, so ist es in Ordnung, oder Jungchen?“ Olvins andere Hand verweilte noch auf Crimsons Körper. „Schweigen betrachte ich als Zustimmung.“

Crimson rang sich ein Lächeln ab und schloss die Augen. Der Heilzauber kribbelte durch seinen Bauch, tastete sich erst einmal vor. Aber Necromanten gingen leider mit ihren Patienten nicht besonders zartfühlend um, da diese meistens schon tot waren. Crimson merkte jede kleine Bewegung, als Olvin drei der unteren Rippen aus seiner Lunge zog und wieder an ihrem Platz anwachsen ließ. Jemand nahm seine gesunde Hand und hielt sie fest, auch als er sie drückte, während er die Zähne zusammenbiss und die Prozedur möglichst würdevoll über sich ergehen ließ. Anschießend konnte er wieder frei atmen, was all die Unannehmlichkeiten in den Hintergrund treten ließ.

„Die Hand?“ erkundigte Olvin sich.

Crimson öffnete die Augen und entdeckte, dass es Yugis Hand war, die er gequetscht hatte. Die meinte Olvin aber nicht. „Wenn...wenn es geht, bitte.“ Er richtete sich mit Erias Hilfe zum Sitzen auf und lehnte sich an die Wand. Jetzt die Verletzung los zu werden hielt er für besser, als damit zum Krankenzimmer zu laufen. Die Hand war geschwollen und unnatürlich gebogen, das konnte nicht gesund sein.

„Ich werde nur die Knochen richten und eine vorläufige Heilung vornehmen, das dürfte für heute genügen,“ bestimmte Olvin. „Den Rest schafft dein Körper allein, aber wenn du willst, kannst du wieder zu mir kommen, sobald dein Meras sich einigermaßen regeneriert hat.“

Die Schmerzen dieses Heilvorgangs zogen sich bis in den Arm hoch, einer der Knochen musste in der Länge oder schräg gebrochen sein. Ein Blick in Olvins Gesicht zeigte seine Zufriedenheit mit der Situation, gerade so, als empfände er sadistische Freude bei seiner Arbeit. Da spielte ein sehr feines, kaum erkennbares Lächeln um seine Lippen und die Augen hatten einen gewissen Glanz. Crimson gönnte es ihm und bemühte sich nicht mehr ganz so sehr, sich das Schreien und Jammern zu verkneifen, vielleicht konnte er ihn damit gnädig stimmen für den Moment, in dem er sein Versagen bezüglich des Elixiers eingestehen musste. Zum Glück wusste Olvin nicht, dass dieses Gebräu ihm eigentlich das Leben retten sollte.

Als er fertig war, zog der Necromant ein Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich das Gesicht ab. Dark half Crimson auf die Beine.

Endlich hatte der Schlossherr Gelegenheit, einen Blick in die Runde zu werfen. „Ich hab keine Ableger von dem Ding an mir, oder?“

„Das kannst du untersuchen lassen, wenn du dich jetzt zum Krankenzimmer begibst und dich ausruhst,“ teilte Olvin ihm mit.

Crimson wollte protestieren, schwieg aber lieber, um später eine Gelegenheit zu finden, in den Turm zu entkommen. Davon abgesehen wusste er ja noch gar nicht, ob sich das noch lohnte. Er stand auf, hielt die frisch geheilte Hand schützend mit der anderen fest und zog zugleich seine ruinierte Robe etwas zusammen. Blacky trug eine kleine, schwarze Katze auf dem Arm, stellte er fest.

„Cathy, überprüfe das gesamte Schloss auf Merasfresser,“ sagte er zur leeren Luft, doch das Schlossherz hörte ihn, wie er wusste.

Er ging auf etwas unsicheren Füßen in den verwüsteten Tankraum und betrachtete den Shaden. Von dem Tank waren nur noch Trümmer übrig. Das Merasmonster hatte ganze Arbeit geleistet. Crimson hatte das Gefühl, dass auch sein Leben in Trümmern lag. „Yugi... weißt du, ob Mava auf seinem Botenflug ist?“ fragte er den Jungen. „Er hätte schon längst unterwegs sein müssen.“

„Oh...“ Yugis Hand fuhr erschrocken zum Mund. „Ach herrje, das habe ich ganz verschwitzt. Das tut mir so Leid, Crimson... ich habe es nicht auf den Zettel geschrieben, oder? Statt Mava sind Atria und Cross auf diese Mission gegangen, weil Mava hier gebraucht wurde.“

„Du... du meinst... es ist alles in Ordnung?“ hakte Crimson nach.

Yugi nickte mit einem entschuldigenden Lächeln. „Ich habe vergessen, es dir zu sagen.“

„Aaah... ach so...“ Crimson starrte den Jungen ungläubig an. Es dauerte einige Sekunden, bis sein Hirn die Information verarbeitete. Ein Sorgenklumpen in seinen Eingeweiden verwandelte sich in Erleichterung und stieg tanzend nach oben. Die Emotion überwältigte ihn dermaßen, dass ihm Tränen in die Augen traten und ihm fast die Luft wegblieb.

„Ach du liebe Zeit, hast du dir solche Sorgen deswegen gemacht? Oje!“ Yugi trat auf ihn zu und umarmte ihn, wobei er ihm den Rücken tätschelte. Er ging Crimson gerade mal bis zur Brust, obwohl er schon deutlich gewachsen war.

„Ich glaub... ich glaub ich brauche einen Moment für mich,“ murmelte Crimson.

Doch Cathy machte ihm für's Erste einen Strich durch die Rechnung. Er materialisierte sich direkt neben ihm. „Meister, es gibt noch einen Merasfresser!“

Crimson machte sich sachte von Yugi los. „Wo?“

Cathy deutete auf Blacky.

„Was? Hat Blacky etwa einen Ableger von...“ Crimsons Blick fiel auf die schwarze Katze. Stirnrunzelnd musterte er sie einen Augenblick. Das Tier war ganz schwarz und schien gar kein Fell zu haben, oder nur ganz kurzes. Es wirkte eher wie ein Schatten und war kaum mehr als eine Handvoll. Crimson sah Blacky ins Gesicht. „Was hat das zu bedeuten?“

Cathy versteckte sich hinter seinem Rücken. „Macht es weg, Meister!“

„Ähm...“ Yugi blickte errötend auf seinen rechten Fuß, mit dem er am Boden scharrte. „Das war meine Idee. Ich habe darum gebeten, es nicht zu töten. Schließlich ist das der Rest des ganzen Schwarms, und diese Wesen können eigentlich nichts dafür, dass sie sich von Meras ernähren.“

„Yugi hat bestimmt auch Mitleid mit den Blattläusen im Garten seines Opas,“ vermutete Appi.

„Naja, ein bisschen,“ räumte der Junge ein. „Aber vor allem tat es mir Leid, dass diese Parasiten so mutiert waren. Vielleicht hatten sie auch Angst, weil jetzt das Futter alle war und so...“

„Futter ist ein gutes Stichwort,“ nahm Crimson den Faden auf. „Was frisst es?“

„Meras, vermutlich,“ antwortete Blacky. „Also... die Gestalt habe ich ausgesucht. Wir haben den gleichen Zauber benutzt wie damals bei Exodia, und das ging auch gut.“

„Ach wirklich? Ihr habt mir nie erzählt, was aus dem eigentlich geworden ist! Und wehe du behauptest jetzt, ich hätte nicht gefragt, das ist nicht wahr!“

„Naja...“ Dark grinste. „Er nennt sich jetzt Exxod und ist damit beschäftigt, Burg Drachenfels wieder aufzubauen. Der Größenunterschied ist beachtlich, er kann jetzt einen Spaziergang machen, ohne Wälder einzuebnen.“

„Ist nicht dein Ernst!“ entfuhr es Crimson. „Naja, aber... das ist nicht dasselbe! Wir haben gerade einen Befall mit Merasfressern ausgelöscht, da hole ich mir doch keinen neuen ins Schloss!“

„Meras vermehrt sich nicht wie die gewöhnlichen Merasfresser,“ versicherte Blacky.

„Meras?“ Crimson stöhnte auf und verdrehte die Augen. „Ach herrje, du hast ihm schon einen Namen gegeben!“ Irgendwie erwies es sich ja oft als schwieriger, etwas zu töten, das einen Namen hatte, als etwas Anonymes.

„Ich fand es passend, es Meras zu nennen, wenn man bedenkt, wie es entstanden ist.“ Blacky hob das Kätzchen hoch und betrachtete es von allen Seiten. „Ich, ähm... kann das Geschlecht nicht klar definieren.“

Das Viech bewegte sich nicht, sondern schien bewusstlos zu sein. Crimson wagte nicht zu hoffen, dass es tot war. Vermutlich war es das nicht, wenn Cathy es lokalisieren konnte.

„Draconiel teilt mir mit, dass du das schön hierlassen sollst,“ bemerkte Dark. „Also, Crimson... vielleicht wird es eine gute Wachkatze.“

„Aber woher wollt ihr denn wissen, dass es sich nicht vermehrt?“

„Das... hat Dark in den Zauber eingebaut,“ entgegnete Blacky schnell. „Hast du doch, Dark?“

„Ach... sollte ich das? Aber ja, habe ich.“

„Puh, jetzt hast du mich fast erschreckt!“

Dieser kurze Austausch überzeugte Crimson keineswegs. „Mein Schlossherz will dieses... Ding hier nicht haben. Beseitigt es, wie, ist mir egal!“

Blacky zog Meras schützend an seine Brust und setzte einen empörten Gesichtsausdruck auf. „Wie gemein! Das kleine Katzi kann doch nichts dafür!“

„Es wird sich mit größter Wahrscheinlichkeit nicht vermehren, Crimson,“ sagte Dark versöhnlich. „Dass du keine Ableger bekommen hast, obwohl es dich direkt berührt hat, weist darauf hin, dass diese Fähigkeit schon mit der Mutation verloren gegangen ist.“

„Aber es ist unberechenbar!“ beharrte Crimson, wobei er vor allem die Meinung seines Schlossherzes wiedergab, der er allerdings zustimmte.

„Dann ist es ja hier gut aufgehoben,“ warf Appi ein. „Wo du doch schon Sorc hast...“

„Eben, ich habe bereits Sorc, da brauche ich nicht noch einen Risikofaktor!“ gab der Schlossherr zurück. Im nächsten Moment befand er, dass seine Worte vielleicht zu hart klangen, aber niemand schien beleidigt zu sein.

„Du hast Recht, wir wissen nicht, wie es sich verhalten wird oder wie groß es wird, ob es vielleicht gefährlich wird... Aber ich weiß, dass es uns noch nützen kann,“ versicherte Blacky. „Ich vertraue völlig auf die Magie, die wir eingesetzt haben.“

„Das kling gerade so, als hättet ihr das Ergebnis dem Zufall überlassen. Du musst doch wissen, was ihr gemacht habt!“ wandte Crimson ein.

„Es gibt keine Zufälle in der Chaosmagie,“ freute Blacky sich. „Deshalb bin ich mir ja so sicher, dass es so geworden ist, wie es für uns gut ist. Oder speziell für dich und dieses Schloss.“

„Jungchen, steh da nicht rum,“ grummelte Olvin. „Du sollst ins Krankenzimmer gehen und dich ausruhen! In der Zwischenzeit kann unser Junior-Chaosmagier auf den Risikofaktor aufpassen. Wenn du mich fragst, kommt es auf einen mehr oder weniger nicht mehr an.“ Er watschelte an der Gruppe vorbei zur Tür und kicherte spöttisch dabei, doch das Geräusch ging in ein Husten über, als er schon aus der Kammer und um die Ecke war.

„Du hast das gar nicht zu entscheiden!“ motzte Cathy hinter ihm her.

Bevor er weitere Beschimpfungen gegen den Necromanten richten konnte, rief Crimson ihn zur Ordnung. [„Bleib ruhig, Cathy. Schließlich hängt mein Leben von seiner Gnade ab.“] Er sprach gedanklich, obwohl Cathy genau neben ihm schwebte.

[„Bei dem, was Ihr für ihn tun wollt, sollte er allein für das Vorhaben dankbar sein!“] antwortete der Schlossgeist auf die gleiche Weise. [„Ob Ihr es ihm nun schuldig seid oder nicht. Es ist ein hoher Preis, den Ihr anbietet.“]

„Na komm, ich bringe dich hin,“ bot Dark an und legte brüderlich einen Arm um seine Schultern.

Crimson ließ sich einfach wegführen, denn er hatte keine Energie mehr, um sich zu wehren. Die hob er lieber für später auf, wenn er sich wieder um das Elixier kümmern musste.

Problemanalyse

Olvin war in seinem Element. „Völlig verantwortungslos, geradezu dumm, aber was will man von dir anderes erwarten. Der große Alchemist kann ja alles, weiß alles, und vor allem alles besser! Du siehst ja, wo dich das hinführt!“

Er schimpfte seit einer Viertelstunde, aber durch seine lebenslange Erfahrung konnte er dennoch gleichzeitig Crimsons Handgelenk behandeln. Es kribbelte, zog, zwickte und fühlte sich generell unangenehm an, aber der Patient beschwerte sich mit keinem Wort.

Nach einer langen Ruhepause in einem Krankenbett, die er heimlich unterbrochen hatte, um seinen Trank zu bedienen, befand sich seine magische Energie, das Meras, wieder auf einem ausreichenden Stand, damit Olvin sie für die Heilung benutzen konnte. Crimson wollte eigentlich darauf verzichten, aber er konnte mit der Hand nicht vernünftig arbeiten. Er beobachtete, wie es Olvin ging, während er sein Werk tat, aber der Alte kam mit seiner Schimpftirade gerade erst so richtig in Fahrt und wirkte zumindest im Moment recht vital.

Was Olvin von sich gab, hatte Dark ihm auch schon gesagt, gestern, auf dem Weg ins Krankenzimmer. Im Nachhinein wusste Crimson auch so, dass er die Schuld an seinem Zustand selbst trug. Er war kein Mensch, der gerne mit anderen zusammenarbeitete und sich womöglich den Anweisungen eines anderen in der Gruppe unterordnete. Aber er hätte sich Hilfe holen müssen, um das Merasmonster zu besiegen, oder auch nur ein paar Leute, die ein bisschen auf ihn achtgeben konnten. Daran hatte er keinen Gedanken verschwendet, sondern einfach gedacht, dass er das mal eben erledigen konnte. Weit gefehlt. Crimson kam sich dumm vor, fühlte sich wie ein Versager und war tief beschämt darüber, dass seine Schülerin ihn trotz allem für einen Helden hielt, denn Dark hatte ihr erzählt, seine Tat sei nur ein Ablenkungsmanöver gewesen. Doch er wollte ihr die Wahrheit sagen... damit nicht wieder ein Geheimnis zwischen ihm und einem anderen Menschen stand.

„Hörst du mir überhaupt zu?“ Olvin schüttelte missbilligend den Kopf und gab es auf. „Sollte ich ja von dir gewohnt sein. Jetzt leg dich wieder hin, der Vorgang hat dich erschöpft.“

„Es geht schon,“ widersprach Crimson aus Prinzip, aber er ließ sich dennoch zurück auf das Kissen sinken. Sein Körper lechzte nach Ruhe in einem richtigen Bett, da er in letzter Zeit nur den Sessel in Crimsons Alchemieturm bekam. Die Decke bis zum Hals hochzuziehen fühlte sich wunderbar an.

Als er gerade die Augen schließen wollte, tauchte Shiro auf. „Crimson, kann ich dich kurz stören?“

„Du störst mich nicht, Paps. Was gibt es denn?“ Bei seinem Vater machte er sich nicht die Mühe, seine bequeme Lage aufzugeben.

„Kuro und Mad sind wieder in Ordnung und durften das Bett verlassen, aber Neo wird noch behandelt. Auch Sorc – und mit dem gibt es ein Problem.“

„Oha.“ Crimson machte sich auf neue Schreckensmeldungen gefasst. Mit wem mochte Sorc jetzt wieder aneinander geraten sein?

Shiro zog sich einen Stuhl an das Bett seines Sohnes. „Lily hat die Verbände um seine Augen entfernt, und er... Nun, ich frage mich, ob ich das richtig verstanden habe. Er ist zwar nicht blind, sieht aber auch nicht.“

Zuerst fand Crimson das auch merkwürdig, doch dann dämmerte es ihm. „Oh... er hat seine magische Sehweise verloren?“

„Magische Sehweise?“

„Ja, er... sieht die Magie. Er hat von Anfang an erkannt, dass ich der Schlossherr bin. Oder Auren. Er sieht sie, ohne sich dafür anzustrengen. Er sieht Dinge, die für andere unsichtbar sind.“

„Oh... naja, seine Mutter ist ja auch eine Unterweltlerin.“ Shiro nickte nachdenklich, während er die Information verarbeitete.

„Wird das wieder rückgängig zu machen sein?“ fragte Crimson. In gewisser Weise war er erleichtert, dass es nicht wieder Ärger mit Neo oder Kuro gab, aber er wusste auch, wie sehr Sorc es genoss, die Magie sehen zu können.

„Das wissen wir derzeit nicht,“ murmelte Shiro.

„Merasvergiftungen wirken sich unberechenbar aus,“ warf Olvin ein, der noch auf der anderen Seite des Bettes stand. Möglicherweise hatte Shiro ihn noch gar nicht gesehen, klein wie der Necromant war. „Allerdings ist es in den meisten Fällen eine vorübergehende Erscheinung. Sowohl Sorc als auch Neo haben das Meras nicht berührt. Ansonsten hätten wir jetzt echt unseren Spaß. Na, ich geh mir den Burschen mal ansehen. Shiro, lass deinen Jungen vorerst nicht aus dem Bett.“

Crimson seufzte, als Olvin die Tür hinter sich schloss. „Blindheit tritt doch oft temporär auf... nicht wahr? Und das ist ja sowas Ähnliches,“ vergewisserte er sich.

„Naja, das hört man oft,“ nickte Shiro.

„Wie nimmt er es auf?“ hakte Crimson nach.

„Uh... schwer zu sagen bei Sorc...“ Shiro lehnte sich zurück und starrte nachdenklich an die Zimmerdecke. „Ich kann ihn schwer einschätzen, aber ich glaube, er ist geschockt. Gerade weil er kaum etwas dazu gesagt hat. Er wollte, dass Lily ihm den Verband wieder anlegt. Wahrscheinlich hofft er, dass es beim nächsten Versuch wieder in Ordnung ist.“

„Ich hatte seit einer Weile keinen telepathischen Kontakt zu ihm... ob ich ihn kontaktieren und nachfragen soll?“ überlegte Crimson. „Oder... vielleicht ist der Zeitpunkt schlecht.“

Shiro sah ihn alarmiert an. „Junge, bist du sicher, dass du ihn in deine Gedanken lassen willst? Ich könnte Sage bitten, dass er dich lehrt, wie man sich dagegen abschirmt.“

„Das hatte ich ohnehin vor, aber nicht wegen Sorc. Der hat mir selbst gesagt, dass meine Gedanken zu offen sind. Er konnte praktisch ungehindert in sie eindringen. Seltsamerweise stört mich das nicht einmal mehr... Paps, warum ist Onkel Kuro so verbohrt wegen Sorc? Warum nimmt er nicht einfach hin, dass er nicht mehr unser Feind ist?“

„Da kann ich nur Vermutungen anstellen,“ begann Shiro vorsichtig. „Kuro ist recht sensibel... dieses vorlaute Gehabe ist hauptsächlich Fassade. Ich glaube, es hat ihn schwer getroffen, dass er dazu manipuliert werden konnte, gegen seine eigene Familie zu arbeiten. Durch ihn wurdest du gefangen genommen, seinetwegen musstest du die Schmerzen deines Bannsiegels erdulden, seinetwegen hättest du bei der Beschwörung des Fünfgötterdrachen sterben können. Er hätte widerstehen müssen, als Sorc ihn dazu zwang, dich ihm auszuliefern.“

„Aber das war Malice!“ widersprach Crimson sofort.

„Das macht für Kuro keinen Unterschied. Denn Malice ist für ihn unerreichbar, während Sorc praktisch in Messerwurf-Reichweite ist. So kann er jemand anderen beschuldigen als sich selbst und kommt besser damit zurecht.“

Crimson war überrascht. „Ausgerechnet Onkel Kuro kommt mit sowas nicht klar?“

Darks Vater war zwar ein Landstreicher und drückte sich gerne vor Pflichten, aber alle hielten ihn stets für mutig und stark. Seine vielen Reisen verschafften ihm ein umfangreiches Wissen, das sein Bruder nie für sich beanspruchen konnte, weil er das heimatliche Schloss nur selten verließ.

„Er hat sich immer sicher gefühlt, wenn er unterwegs war, aber es muss auf einer seiner Wanderungen passiert sein, dass jemand in seine Gedanken vorgedrungen ist. Deshalb... deshalb sind wir auch beide so erschrocken darüber, dass du willig telepathischen Kontakt mit Sorc hast. Ich bin fast neidisch auf ihn. Nicht einmal ich habe solch eine Verbindung zu dir, dabei bin ich dein Vater.“ Der Lichtmagier wirkte allerdings nicht wirklich gekränkt. Crimson wusste, dass er sich nur sorgte.

„Nun, ähm... Sorc ist mein persönlicher Chaoshexer. Ich habe sowas wie einen Treueeid von ihm. Von Prinz Soach.“ Crimson hoffte, dass diese Information seinen Vater beruhigte.

Tatsächlich sorgten seine Worte für Erstaunen. „Einen Treueeid von einem Prinzen der Eisigen Inseln?“ Shiros Augenbrauen erhoben sich fast bis zum Haaransatz.

„Ähm...“ Crimson druckste ein bisschen herum. „Von dreien, um genau zu sein. Zusätzlich von Lichal und Nyrador. Allerdings ist das bei denen eher ein Versprechen auf Unterstützung.“ Das war ja nicht direkt ein Geheimnis, nicht wahr? Er konnte es also ruhig erzählen.

„Lichal auch?“ Shiro wirkte beeindruckt und ein bisschen beruhigt. „Aber Nyrador kenne ich nicht.“

„Einer von Sorcs Söhnen,“ grinste Crimson, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Statt dessen sagte er: „Auch Lady Charoselle war mal zu Besuch hier. Ich glaube, sie mag mich.“

„Nun ja... es beruhigt mich, dass du gute Beziehungen zu den Eisigen Inseln hast, das kann nicht schaden,“ meinte Shiro. „Weißt du... ich habe überlegt, ob ich Sorc auch irgendwas antun soll, aber nichts davon könnte die Schmerzen ungeschehen machen, die du erlitten hast. Davon abgesehen kannst du dich selbst dafür rächen, wie ich es ja schon Kuro gegenüber betont habe. Und letztendlich respektiere ich deinen Wunsch, dass er nicht angegriffen werden soll. Obwohl angreifen nicht direkt das ist, was ich tun würde. Ich würde ihm einen Fluch aufbürden oder etwas in der Art.“

„Hm, subtilere Methoden waren schon immer eher dein Gebiet. Aber es ist nicht nötig, dass du Sorc bestrafst. Er ist mir am dienlichsten, wenn er ganz sein chaotisches Selbst sein kann.“

„Crimson...“ Shiro holte tief Luft und ließ sie geräuschvoll wieder hinaus strömen. „Ich... ich hoffe sehr, dass du dich nicht irrst. All diese Probleme, die du in letzter Zeit hast, und dann das Elixier... überleg dir gut, ob du es benutzen willst, bitte.“

„Da gibt es nichts mehr zu überlegen. Wir wissen beide, dass Olvin sonst keine Chance hat.“

„Es ist sicher unrecht, es zu sagen, aber... er ist alt. Du hast dein Leben noch vor dir.“

„Willst du neuerdings, dass ich mein Wort breche? Wenn ich versage, darf er mit mir machen, was er will, Paps. Also werde ich nicht versagen.“ Crimson verschwieg, dass er vor kurzem noch gedacht hatte, dass alles verloren war. „Hast du etwas über den Sohn herausgefunden?“

Shiro nickte. „Ja, ich habe ihm geschrieben und ihn gebeten, zum Kristallschloss zu kommen. Dort kannst du persönlich mit ihm reden. Oder ihr trefft euch auf halbem Wege, das wird man dann sehen. Verlass dich, was das betrifft, auf mich.“

„Ja.“ Crimson schloss mit einem Gefühl der Erleichterung die Augen. Auch von Cathy ging Ruhe aus. Der Schlossgeist schrie freundlicherweise nicht nach einem neuen Tank. Den würde er kriegen, aber nicht innerhalb der nächsten Woche.

„Schlaf,“ sagte sein Vater leise. „Cathy kann dich wecken, wenn du das nächste Mal in den Alchemieturm musst. Ich passe auf, dass keine Schlägereien entstehen.“

„Hmmmm...“ Crimson driftete in einen angenehmen Ruhezustand. Sein Körper benötigte die Pause.

Doch sein Geist blieb wach, zu aufgewühlt von allem, was er erlebt hatte und noch tun musste. In einem traumähnlichen Zustand sah er seinen eigenen Körper unter sich und Shiro, der noch kurz seine Hand nahm und väterlich drückte, ehe er sich leise entfernte. Crimson folgte ihm, beobachtete ihn aus der Sicht eines Schlossgeistes. Wie in Träumen oft üblich, dachte er überhaupt nicht weiter darüber nach.
 

Shiro begab sich in das Zimmer mit den beiden Meraspatienten, die brav das Bett hüteten. Jeder hatte mehrere Kissen, um nicht ganz flach zu liegen. Olvin stand auf einem Stuhl an Sorcs Bett und bewegte seine Hände an dessen Schläfen über dem Verband entlang, wobei er in Konzentration die Augen geschlossen hielt. Fire stand wachsam daneben.

Neo hatte Besuch von seinen beiden Brüdern Mava und Appi. Ihm schien es soweit ganz gut zu gehen, jedenfalls reichte es aus, dass er die ganze Zeit wettern konnte: „Geschieht ihm ganz recht, das ist zumindest mal ein kleiner Preis, den er zahlt! Vernichte am besten gleich ganz seinen Sehnerv, Olvin! Mach dir nicht die Mühe, ihn zu heilen!“

„Bruder, bitte hör auf zu schimpfen, wir sind nicht hergekommen, um uns das anzuhören,“ bat Appi.

„Genau, wir wissen ja langsam, was du über ihn denkst,“ nickte Mava.

Neo packte Mavas Handgelenk mit festem Griff und hielt es so, dass der Ärmel der Robe Richtung Ellenbogen rutschte. „Diese Narben hast du ihm zu verdanken, sie werden dich ewig daran erinnern, was passiert ist! Du wärst fast gestorben!“

„Ja. Aber das war meine Entscheidung,“ entgegnete Mava sachlich.

„Es ist seine Schuld!“ wiederholte Neo.

„Möglicherweise ist es seine Schuld, aber du verschwendest Energie mit deinem Rachedurst,“ sagte Appi. „Du kannst ja schon an nichts anderes mehr denken! Außerdem hört er dir zu.“

„Ist mir egal, soll er mich doch hören!“ Neos Stimme wurde lauter, bis er mehr rief als sprach. „Hörst du, Sorc? Du hast es verdient, blind zu sein! Ich wünschte, es hätte deine Augen komplett vernichtet! Aber deinesgleichen kommt immer ungeschoren davon, während wir die Leidtragenden sind, findest du das fair?“

„Neo!“ Mava entzog ihm seine Hand. „Das Meras muss deinen Verstand vernebelt haben, früher hättest du nicht so geredet!“

„Ah ja, das ist genau wie mit Kuro, was? Wir sagen, wie es ist, und dafür sind wir dann die Verrückten, die Durchgeknallten!“ Neo sah aus, als wollte er gleich auf seine Brüder losgehen.

Crimson, der alles nur aus einer Beobachterperspektive sah, erinnerte sich an Shiros Vermutung, dass Kuro aus Hilflosigkeit so reagierte. Er grämte sich, weil der Feind ihn benutzt hatte, und vielleicht ging es Neo auch so. Soweit Crimson mit der Geschichte vertraut war, hatte Neo zusehen müssen, wie Mava Sorcs Willen ausführte, während er selbst kaum mehr als eine Geisel war. Da konnte er gewisse Parallelen zu Kuros Problem erkennen, falls Shiro mit seiner Vermutung Recht hatte. Was konnte da Abhilfe schaffen? Was musste geschehen, um das Rachebedürfnis der beiden zu stillen?

Crimson wollte jedoch nicht von Sorc verlangen, irgendeine Rache über sich ergehen zu lassen. Wenn er das einmal zuließ, würden auch andere ihr Recht einfordern. Außerdem ging es Neo und Kuro vielleicht hinterher nicht besser, weil sie sich wahrscheinlich immer noch Vorwürfe machen würden und jemanden finden mussten, den sie dafür anklagten. Ein verzwickter Fall. Crimson konnte eigentlich nur darauf warten, dass sich das alles von selbst einrenkte.

Indessen stand Fire nur deswegen noch an seinem Platz, weil Sorc ihn am Saum seines Oberteils festhielt. Sicherlich hätte er sich befreien können, aber offenbar tat er es aus Respekt vor seinem Vater nicht. Mit buchstäblich glühenden Augen verfolgte er die Unterhaltung.

„Im Prinzip scheint alles in Ordnung zu sein,“ stellte Olvin fast, als er seine Untersuchung beendete. „An sich sind deine Augen nicht beschädigt, es scheint nur so, als hätten sich die Lichteffekte der Merasstrahlung auf der Netzhaut eingebrannt. Bei Meras ist das immer etwas schlecht zu sagen. Möglicherweise hat dein Körper den Aurenblick ausgeschaltet, damit du überhaupt etwas erkennen kannst.“

„Geht es wieder weg?“ Sorcs Stimme klang... besorgt?

„Ich hatte noch nie mit so einem Fall zu tun, deshalb will ich dir keine falschen Hoffnungen machen,“ sagte Olvin. „Ich denke, das ist weder sicher noch ausgeschlossen.“

Sorc nickte bedächtig. „Verstanden...“

„Ist das eine angeborene Fähigkeit?“ erkundigte Olvin sich.

Wieder nickte Sorc. „Ich habe lange Zeit nicht gewusst, dass ich anders sehe als die meisten Menschen. Während meiner Schulzeit habe ich mir antrainiert, diese Gabe auszuschalten, weil manchmal die einfache Sicht nötig war. Ich wollte nicht auffallen – damit hatte ich als Kind schon schlechte Erfahrungen gemacht. Aber seitdem habe ich das nicht mehr gemacht.“

„Also ist es für dich normal, den Aurenblick zu benutzen, den wir anderen uns mühsam erarbeiten müssen und dann nur kurz halten können,“ stellte Olvin fest.

Nach seinem Gespräch mit den drei Prinzen am Strand fragte Crimson sich nun, ob das, womit Sorc geboren worden war, wirklich der so genannte Aurenblick war, der es ermöglichte, die Aura einer Person zu sehen. Sah Sorc nicht sogar noch mehr? Aber der Chaoshexer widersprach Olvin nicht, stellte die Sache nicht klar, obwohl er sicherlich die Definition kannte.

„Ist denn die Merasvergiftung schon zurückgegangen?“ fragte Fire, der offensichtlich Respektspersonen gegenüber gesittet redete.

„Ich würde sagen, die Vergiftung ist schwächer geworden, aber noch nicht ganz überwunden,“ bestätigte Olvin. „Man erkennt es eigentlich vor allem daran, dass du dich wieder normal fühlst, Sorc. Ist dir noch übel?“

„Manchmal, aber es ist kaum der Rede wert.“

„Gut. Ich geh mal zu Neo rüber.“ Das tat Olvin, und Fire beanspruchte den frei werdenden Stuhl wieder für sich.

„Weiste... wenn's nich wieder normal wird, dann isses auch nich schlimm... oder? Bestimmt gibt’s ir'ndwelche Artefakte, mit denen de so seh'n kannst,“ teilte er Sorc seine Überlegungen mit.

Der Chaoshexer setzte ein Lächeln auf. „Mach dir deswegen keine Sorgen, Fire. Ich würde eine Weile brauchen, aber ich würde mich anpassen. Chaos ist so. Es sieht nur nach vorn, weil es den Rückweg ohnehin nicht finden würde.“

„Okay...“

Shiro trat an das Bett heran. „Verzeihung, ich wollte nicht lauschen, aber ich bekam die Unterhaltung eben mit. Eigentlich wollte ich nur mal schauen, wie es hier so läuft, damit ich es dann Crimson berichten kann.“

Sorc runzelte die Stirn. „Berichten? Aber er ist doch... oh. Nein, ich habe mich wohl geirrt, ich dachte, er wäre mit dir gekommen, Shiro.“

Crimson kicherte innerlich. Sorc spürte seine Anwesenheit. Die Telepathie funktionierte wahrscheinlich noch, wenn auch im Moment auf einem eher unterbewussten Level. Wie zur Antwort bemerkte er eine kleine Berührung in seinem Geist. Allerdings blieb es momentan dabei.

„Ich bin soweit in Ordnung,“ versicherte Sorc dem Lichtmagier. „Olvin meint, dass meine Augen wieder normal werden können, doch er will sich nicht festlegen. Mir scheint, Neo geht es auch gut, jedenfalls kann er sprechen und dabei zusammenhängende Sätze bilden.“

Die Schimpftiraden des Jüngeren waren im Moment nicht zu hören, denn Olvin untersuchte ihn gerade. Mava und Appi hielten sich aus diesem Anlass etwas abseits. Für kurze Zeit entstand Stille in dem Raum.

Diese wurde unterbrochen, als Blacky herein kam. Mit Meras auf dem Arm, wie Crimson missbilligend feststellte, aber gut... wenn Blacky die Katze bei sich hatte, trieb sie sich nicht im Schloss herum.

„Blacky! Ist das Meras? Es ist größer geworden, oder?“ rief Appi und ging ihm entgegen, um es sich näher anzusehen. Tatsächlich hatte Meras die Größe einer durchschnittlichen, normalen Hauskatze, aber es sah immer noch wie ein Kätzchen aus.

„Ja... sie wächst, während sie meine Magie anzapft,“ bestätigte Blacky.

Appi hob die Augenbrauen. „Sie?“

Blacky zuckte mit den Schultern. „Naja... es sind keine Anzeichen für männlich zu finden, also habe ich beschlossen, dass Meras weiblich ist. Das klingt doch netter als *es*, oder nicht?“

„Ist das die Katze, von der alle reden?“ erkundigte Sorc sich.

Das Ding bewegte sich. Es hob die Nase und schnüffelte. Es blinzelte mit violett glimmenden Augen. Für Crimson blieb Meras ein Es. Zugegeben, es sah ganz niedlich aus, aber spätestens die Augen verrieten, dass es keine echte Katze war. Nicht einmal die Katzen im Schattenreich hatten Augen in der Farbe von Finsternismagie.

Blacky setzte Meras auf Sorcs Schoß. „Hier, nimm sie mal... Keine Sorge, sie wird deine Magie anzapfen, also, uhm... dein Meras. Aber sie ist sehr lieb.“

Während Crimson die Szene beobachtete, wollte er am liebsten das Vieh packen und aus dem Fenster werfen. Es stahl von der Energie, die Sorc dem Schloss gab! Moment... wo kam der Gedanke her? Cathy zapfte Sorc und Neo zur Zeit doch ohnehin nicht an. Dennoch... unverzeihlich!

Sorc konnte Meras ja nicht sehen, daher tastete er nach dem Geschöpf und streichelte über den Körper, den Kopf, die Pfoten... es sah zumindest auf den ersten Blick so aus, aber Crimson entschied, dass es keine Liebkosungen waren, sondern der Versuch, die Gestalt des Tieres zu erfühlen. Meras ließ es sich gefallen und kniff die Augen zu. Es gab einen Laut von sich, der an ein Maunzen erinnerte.

„Oh... das ist das erste Geräusch, das ich von ihr gehört habe, abgesehen vom Schnurren,“ sagte Blacky.

Meras richtete sich auf wackelige Pfoten auf und krabbelte Sorcs Oberkörper hoch, um an seiner Nase und an seinen bandagierten Augen zu schnüffeln. Dann rieb es sich mit dem Kopf an seinem Kinn und fing laut an zu schnurren.

Olvin blickte von seiner Arbeit auf. „Was ist das für ein Geräusch? Oh... ach so.“ Er lächelte tatsächlich! „Gebt Neo noch was von dem Gegenmittel,“ bestimmte er schließlich, während er von dem Stuhl kletterte, den Mava vorher benutzt hatte. Er rieb sich nachdenklich das Kinn und beobachtete Meras.

Das Tier rollte sich nun an Sorc gekuschelt auf dessen Schoß zusammen. Der Chaoshexer bildete mit seinen Händen einen Halbkreis, fast wie ein Nest.

Blacky lächelte erfreut. „Sie fühlt sich anscheinend wohl bei dir.“

„Naja, meine Magie ähnelt deiner sehr,“ meinte Sorc schulterzuckend. „Sie nimmt nicht viel. Dafür aber anscheinend kontinuierlich.“

„Ich schätze, das wird anhalten, bis sie ausgewachsen ist, und sich dann irgendwie auf ein paar Mahlzeiten am Tag einpendeln,“ überlegte Blacky.

Shiro hob eine Augenbraue. „Wie groß wird sie denn? Und mit Mahlzeiten meinst du dann, dass sie von jemandem Magie absorbieren muss... oder wie?“

„Das weiß noch niemand. Wahrscheinlich wird sie etwa so groß wie ein Tiger.“ Blacky freute sich sichtlich darüber, so als wäre Meras ein neues Abenteuer. „Mag natürlich sein, dass sie dann mehr Nahrung braucht. Jemand mit meinem Magiepotential kriegt das sicherlich leicht hin. Aber ich kann nicht ewig hier bleiben, deshalb braucht sie eine andere Bezugsperson.“

„Ah, und ich bin der Auserwählte, hm?“ hakte Sorc nach.

Blacky zuckte mit den Schultern. „Naja... bis auf weiteres...“

Schmeißt es am besten gleich raus, dachte Crimson. Cathy wollte das Vieh nicht behalten, also musste es weg. Im Moment verschmolzen die Gedanken des Schlossherzes teilweise mit seinen und er konnte nicht ganz unterscheiden, wo er aufhörte und Cathy anfing.

Sorc blickte auf das Bündel auf seinem Schoß herab, oder besser gesagt, er neigte den Kopf so, dass es so aussah. Nach einigen Sekunden hob Meras die Nase und blinzelte zu ihm hoch.

Obwohl Crimson zur Zeit keine bewusste Telepathie zu seinem Chaoshexer pflegte, spürte er den Moment des Kontakts deutlich. Da war eine neue, fremdartige Präsenz in seiner Gedankenwelt, mit ihm verbunden über den anderen Magier. Vielleicht konnte Sorc sie nicht vor ihm abschirmen, weil er noch mit seiner Vergiftung kämpfte. Oder er wollte, dass er es merkte. Schließlich würde er nichts von solcher Tragweite vor ihm verheimlichen.

Oha... da war es wieder, das absolute Vertrauen. Crimson erkannte fasziniert, wie tief dieses Vertrauen reichte, und dann auch noch zu einem Mann, den er eigentlich kaum kannte. Andererseits hatte er Sorc in den letzten Wochen besser kennen gelernt als andere Personen in einem Jahr. Und so wusste er plötzlich mit untrüglicher Sicherheit, dass er Meras nicht mehr loswerden würde. Nicht, nachdem der Chaoshexer eine mentale Verbindung zu dem Wesen eingegangen war.

Entspannungsphase

Crimson seufzte. „Das konntest nur du hinkriegen. Mentale Verbindung mit einem Geschöpf, das es bisher gar nicht gab!“

Sorc grinste ihn an. „Aber nein, mein Sohn hätte es auch geschafft.“

Crimson musste nicht fragen, welchen er meinte.

Meras lag zufrieden ausgestreckt neben Sorc auf dem Bett wie die satte Katze, die sie war. Sie war inzwischen doppelt so groß und sah nicht mehr so kätzchenhaft aus, sondern beobachtete mit steil aufgerichteten Ohren alles in ihrer Umgebung. Sie hatte relativ große Ohren für eine Katze, dafür war das Fell sehr kurz und glänzte samtig. Der schlanke, drahtige Körper machte einen muskulösen Eindruck, und beim Gähnen zeigte Meras die typischen Raubtierzähne, die Crimson besonders spitz erschienen. Er war mittlerweile auch zu dem Pronomen „sie“ übergegangen.

Sorc streichelte ab und zu Meras' Kopf, dann schnurrte sie vernehmlich. „Sie hat mir eine Menge meiner Magie abgesaugt, aber ich fühle mich nicht geschwächt... im Gegenteil, es geht mir jetzt viel besser als vor ein paar Stunden noch.“

Das ergab auf einmal alles einen Sinn. „Nun ja... sie ist ein Merasfresser, nicht wahr? Vielleicht...“ Crimson war im Moment alleine bei Sorc, während seine Familie beim Abendessen war. Er griff nach dem Verband, hielt kurz inne und wartete, ob Sorc protestierte. Das tat er nicht, also zog Crimson das Material einfach von seinem Kopf, ohne sich die Mühe zu machen, alles abzuwickeln.

Sorc hielt die Augen noch geschlossen und ordnete erst einmal seine Haare. Er rieb die Haut, auf der noch die Abdrücke der Bandagen erkennbar waren. „Okay... es müsste...“ Er öffnete die Augen einen Spalt breit, vorsichtig, dann langsam weiter. Zuletzt erschien ein breites, ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht.

„Ich schließe daraus, dass alles in Ordnung ist,“ stellte Crimson fest.

Das Lächeln wurde noch breiter. „Sieht so aus. Dann kann ich heute Nacht vielleicht endlich meine Arbeit wieder aufnehmen. Ich bin im Rückstand. Also ich meine... falls du keine anderen Aufgaben für mich hast, Direktor.“

Meras machte ein Gurrgeräusch und drehte sich genüsslich auf den Rücken, Bauch und Beine nach oben streckend.

„Mach nur,“ erlaubte Crimson ihm. „Aber bleib noch hier, bis Olvin deinen Eindruck bestätigt.“

„Warum? Ich sehe wieder, das sollte Beweis genug sein, dass ich geheilt bin.“

„Ich seh schon, dich hält es auch nicht lange in einem Krankenbett.“ Crimson warf einen Blick zu Neos Bett hinüber. „Ich frage mich... hm... komm mal mit, Meras. Na komm!“

Bei der Nennung ihres Namens drehte Meras sich auf die Seite, um ihn anzusehen. Diese violetten Augen verpassten ihm immer aufs Neue einen Schock, daran musste er sich noch gewöhnen. Crimson ließ sie an seiner Hand schnüffeln und griff dann nach ihr. Sie hochzuheben erwies sich als einfach, denn sie war leichter als erwartet. Crimson trug sie zum anderen Bett.

Neo hatte Besuch von seinen Eltern Shadow und Freed, mit denen er sich leise unterhielt, aber als Crimson zu ihnen stieß, hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit. Er setzte Meras auf der Decke ab.

„Waaah, Hilfe! Nimm das Vieh weg!“ rief Neo erschrocken.

„Ich glaube, dass Meras den Rest der Vergiftung aus dir raussziehen kann,“ sagte Crimson, worauf er verständnislose Blicke erntete. „Behalt sie einfach für ein paar Stunden hier.“

Meras schnurrte, als sie Neo in Augenschein nahm. Vielleicht war sie mit der Energiequelle sehr zufrieden.

Neo streichelte sie probeweise und sehr vorsichtig. „Sie... absorbiert meine Magie, ich kann es spüren!“

„Lass es zu, dann wird sie auch die Merasvergiftung absorbieren,“ forderte Crimson ihn auf. Er wusste nicht, ob es stimmte, aber er tat zumindest so, damit Neo nicht diskutierte.

Bei Neo schien sich die Vergiftung lediglich durch Unwohlsein und Verwirrung auszudrücken, jedenfalls ließen sich andere Symptome für Crimson nicht feststellen. Was immer es war, der Blonde befand sich auch schon wieder auf dem Weg der Besserung, zu erkennen daran, dass er nicht mehr redete wie unter Drogen.

„Es ist ziemlich schade, Sorc,“ sagte Neo mit einem Blick zum anderen Bett. „Wir wollten dich eigentlich den Merasfressern vorwerfen, wenn es sich einrichten ließ, damit wir dich leichter erledigen können, aber es klappte nicht. Und jetzt haben wir die Katze hier... hat sie deine Kraft geschwächt?“

„Nicht ausreichend, dass du was erreichen könntest, Neo,“ erwiderte Sorc sachlich.

Crimson verdrehte die Augen. Offene Feindschaft, he? Naja, solange die beiden nicht handgreiflich wurden, konnte er damit leben. Vielleicht war das als Lösung im Moment ganz gut. Neo wohnte ja nicht im Schloss, sondern war nur zu Besuch da.

Shadow und Freed schwiegen zu der Sache. Sie merkten wohl auch, dass es keinen Sinn hatte, mit Neo darüber zu diskutieren. Crimson wartete, bis Ray auftauchte, um seinen Wachplatz neben seinem Bruder einzunehmen, dann begab er sich auf die Krankenstation.

Er wollte Olvin bitten, den Heilerfolg zu bestätigen, doch als er sich leise durch die Tür schob, um niemanden zu stören, der vielleicht gerade konzentriert arbeitete, fiel ihm als Erstes ein leicht modriger Kräutergeruch mit einer unterschwelligen scharfen Note auf. Eins von Olvins Gebräuen, erkannte seine geübte Nase.

„Ruhig noch etwas mehr... genau so,“ sagte Olvin. „Dieses Kraut muss immer frisch vom Strauch sein.“ Die Stimme kam aus der hinteren Ecke, die zur Medizinherstellung abgeteilt war.

„Ich fühle mich nicht wohl damit... soll nicht lieber Crimson es machen?“ fragte Lily.

„Du bist Ärztin, also ist es deine Sache.“

„Das hat aber mit Heilkunst nicht mehr viel zu tun!“

„Füll mir was in den Becher ab und stell den Rest weg. Es hält sich eine halbe Woche. Woran erkennst du, dass man das Zeug nicht mehr verwenden soll?“

„Äh... braune Verfärbung.“

„Genau, gut aufgepasst.“

Er brachte ihr bei, wie man seine necromantischen Tränke herstellte? Das konnte ein schlechtes Zeichen sein... vielleicht befürchtete er, es bald nicht mehr alleine zu können.

„Hier, ich zeig dir den Erhaltungszauber nochmal.“

„Olvin, muss das sein? Ich meine... ich will dir gerne helfen, aber als Fee habe ich Skrupel...“

„Mädchen, darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.“

Crimson überlegte es sich anders. Ohne sich bemerkbar zu machen, schlich er sich von der Krankenstation weg und kontaktierte Sorc telepathisch. [„Ich glaube, Olvin geht es nicht besonders gut. Ich will ihn nicht überfordern, also können wir sicherlich darauf verzichten, dass er nochmal zu dir kommt. Bitte behalte Meras im Auge, aber ansonsten zwinge ich dich nicht, länger dort zu bleiben.“]

[„Ist gut. Meras ist auf Neos Knien eingeschlafen. Ich frage mich, ob sie immer nur schlafen wird.“] Belustigung schwang in Sorcs Botschaft mit.

[„Mir wäre das recht,“] grummelte Crimson. Die Gedankenverbindung funktionierte wunderbar, auch ein Zeichen, dass der Mann wieder in Ordnung war.

[„Crimson, ich... ich möchte, dass du weißt, wie dankbar ich dir bin. Das sollte ich dir wohl besser persönlich sagen, aber... naja.“]

Der Weißhaarige war überrascht. [„Schon gut, Sorc, ich weiß es doch.“]

[„Es ist dennoch wichtig, es mal auszusprechen. Du hast dich sogar gegen deine Freunde und deine eigene Familie gestellt und dich für mich eingesetzt. Danke, Crimson. Du wirst es nicht bereuen.“]

[„Sorc... wie du das sagst, ist fast schon gruselig.“] Crimson errötete, obwohl er allein auf dem Gang unterwegs war.

[„Ich finde es auch gruselig, das zu sagen.“] Sorc sendete ein gedankliches Lachen, und es war geradezu herzerwärmend, wie offen und ehrlich das klang. Er trug auch seltener seine ernste Fassade in letzter Zeit, überlegte Crimson. Diese Entwicklung gefiel ihm.

[„Ach, Sorc... um den Kern herum ist ein Siegel auf dem Boden. Ist das deins?“]

[„Uhm... Ja, ich glaube ich habe eins geschaffen, als ich hier Schlossherr war. Denn so ein Kern ist für manche Mitarbeiter nur ein großer Edelstein.“]

[„Es macht einen stabilen Eindruck, aber ich kenne mich nicht so sehr damit aus, also... wie stark ist es?“]

[„Für einen Schlossherz-Energiekern würde ich nur mein bestes verwenden.“]

[„Aber es hat mich problemlos durchgelassen!“]

Crimson konnte praktisch sehen, dass Sorc selbstgefällig grinste, obwohl er ihn nicht vor sich hatte. [„Ich sag ja... ich gebe mein Bestes, wenn ich einen Energiekern schützen will. Vor dir musste er wohl kaum geschützt werden.“]

[„Naja... nein.“] Crimson versuchte, sich vorzustellen, wie solch ein Siegel beschaffen sein musste, um Sorcs Handlanger abzuwehren, nicht aber einen potentiellen Schlossherren, der mit der Absicht kam, sich mit dem Schlossherz zu verbinden. [„Lass mich mal raten... eine Eins in Siegelmagie?“]

[„Selbstredend.“]

[„Okay... ich bin schon gespannt, was das ist, was du hier im Schloss an alle Wände malst.“]

[„Das ist... Siegelmagie im weitesten Sinne. Sei versichert, dass ich auch dabei mein Bestes gebe.“] Sorcs Worte wurden von einer Emotion begleitet... Besorgnis? Warum?

Crimson dachte anscheinend hörbar, denn Sorc antwortete ihm: [Es ist nicht ungefährlich, aber ich sorge mich eher darum, dass es dir nicht gefallen könnte. Stell dir vor, du schenkst jemandem etwas, das du sorgfältig ausgesucht hast, und dann gefällt es ihm nicht.“]

[„Du solltest nicht zweifeln, mein Chaoshexer,“] scherzte Crimson. Sorc und Zweifel passte nicht wirklich in den gleichen Satz.

[„Du hast Recht,“] stimmte Sorc zu. Und damit war das Thema erledigt. Der große Aufwand, den er betrieb, konnte gar nicht in einer Enttäuschung enden.

Crimson erlaubte Soc, ihm weiter zu folgen, während er seinen Alchemieturm hinaufstieg. Nicht dass diese Verbindung jemals ganz abbrach, aber manchmal gefiel es ihm besser, das mentale Gespräch zu beenden.

Seine Drachen nutzten seinen offenen Geist, um ihm Statusberichte zukommen zu lassen. Lichtblitz plauderte eine Menge, während die anderen sich kurz fassten oder ihm auch nur ein Bild schickten. Da Crimson im Moment etwas Ruhe hatte, widmete er ihnen mehr Aufmerksamkeit als sonst. In seiner Endphase brauchte das Elixier nicht mehr ständig neue Zutaten, aber die, die es brauchte, waren dafür umso wichtiger.

Irgendwann im Laufe des Abends erschien dann auch Catherine bei ihm. Er hatte sich schon gewundert, warum der Geist so zurückhaltend war.

„Ich habe das Gelände um das Schloss durchleuchtet und auch das Innere überprüft. Durch das ausgelaufene Meras ist kein bleibender Schaden entstanden, abgesehen von dem zerstörten Tank.“

„Sehr gut, Cathy. Uhm... hast du in deiner Datenbank den Namen von jemandem, der neue Tanks bauen oder alte reparieren kann?“ Crimson ließ sich auf seinen Ruhesessel sinken und atmete entspannt durch nach all der vergangenen Aufregung.

„Ich dachte schon, Ihr würdet nie fragen!“ entgegnete der Geist. „Ich weiß ja, dass Ihr beschäftigt seid, aber Ihr wollt sicherlich nicht, dass ich dauerhaft geschädigt werde!“

„Ich habe den Eindruck, dass du bereits den ein oder anderen Schaden hast,“ gab Crimson zu bedenken. „Deine Schatzkammer ist für dich nicht vorhanden und auch nicht der verlassene Tankraum!“

Cathy plusterte sich empört auf. „Ich bin sicher, dafür gibt es Gründe, die irgendein ehemaliger Schlossherr zu verantworten hat! Also, was ist nun mit dem neuen Tank?“

„Gib mir die Daten, und ich werde jemanden schicken, der diese Leute kontaktiert.“

„Gut!“ Cathy schleuste die Namen und Wohnorte von zwei Personen in sein Hirn. „Diese beiden haben den besten Ruf, deshalb möchte ich sie zuerst ausprobieren.“

„In Ordnung. Ich werde morgen beim Frühstück fragen, wer die Reise machen kann und möchte. Die Reise scheint bei beiden mindestens einen ganzen Tag pro Strecke zu dauern.“ Fast hätte er gesagt, dass es ja nicht eilte, verkniff sich das dann jedoch lieber. Cathy konnte ziemlich empfindlich sein, wie er inzwischen wusste.

Der Geist stemmte die Hände in die Hüften, was nicht ganz so ernst aus sah wie bei jemandem, der dabei auf dem Boden stand. „Und was ist mit diesem Parasiten, dem Merasfressertier? Wann schafft Ihr das weg?“

„Es sieht so aus, als hätte Meras einen gewissen Nutzen, daher bin ich dafür, dass wir sie erstmal behalten,“ sagte Crimson. „Sorc passt auf sie auf, und ich habe ihn ja mit der Sicherheit betraut. Wenn wir feststellen, dass es nicht geht, dann können wir sie immer noch... uh... töten.“

Dieses Vorgehen erschien ihm nicht ganz richtig, aber es blieb kaum eine Alternative. Meras war hier erschaffen worden, und damit war Schloss Lotusblüte dafür verantwortlich.

„Ihr seid schon wieder weich geworden,“ zischte Cathy mit einem trotzigen Heben seines Kinns. „Wen nehmt Ihr als Nächstes auf?“

„Ja, ich habe mich wieder weichklopfen lassen,“ räumte Crimson ein. „Schätzungsweise musst du diese Eigenschaft von mir hinnehmen.“ Er zog die Decke über sich und schloss die Augen. „Weck mich für die nächste Zutat. Und lange genug vor dem Frühstück, dass ich rechtzeitig unten bin. Es gibt ein paar Dinge zu erledigen.“

„Wie Ihr meint.“ Cathy protestierte nicht, möglicherweise deshalb, weil es ja auch in seinem Interesse war, wenn Crimson Dinge erledigte.
 

Crimson kümmerte sich früh am Morgen um das Elixier und bereitete Zutaten für den nächsten Anlass vor, dann döste er noch etwas. Er fühlte sich relativ entspannt. Er ließ Cathy in der Küche Bescheid sagen, dass er herunterkommen würde, so dass sie für ihn kein Tablett herrichten mussten.

Seine Schüler unterhielten sich alle begeistert über das eine Thema: Meras die Katze. Sorc hatte sie mit zum Frühstück gebracht und ließ das Geschöpf von jedem streicheln, der das wollte. Meras war wieder gewachsen. Sie saß zwischen Sorcs und Blackys Stuhl und in dieser Pose konnte sie bequem den Tisch überblicken, interessierte sich aber nicht für das Essen.

Als Crimson erschien, sprang Milla im als Erste entgegen. „Direktor, schaut mal, wir haben ein Halsband für Meras gebastelt, weil Blacky gesagt hat, dass sie etwas gefährlich sein könnte!“

Sie deutete auf das Tier. Tatsächlich trug Meras eher ein Geschirr als ein Halsband. Es bestand aus blauem Stoff und hatte am Rücken einen Metallring, um eine Leine befestigen zu können.

„Oh... gute Idee,“ nickte Crimson. „Aber wir sollten etwas Stabileres aus Leder besorgen. Jemand von euch könnte in das Dorf gehen und etwas Passendes bestellen.“

„Wir kümmern uns darum!“ versprach Milla.

Er hatte sie schon lange nicht mehr so freudig gesehen, meistens trug sie einen etwas grummeligen Gesichtsausdruck zur Schau. Milla schlenderte zu ihrem Platz zurück und pausierte unterwegs, um Meras zu knuddeln. Das Tier ließ es sich schnurrend gefallen, schloss sogar die Augen und schmiegte sich an die junge Magierin. Reiner Egoismus vermutlich, schließlich gab es da überall Futter.

Sorc sah etwas übernächtigt aus, aber so neben Blacky wirkten sowohl er als auch sein Sohn sehr zufrieden, und beide lächelten Crimson synchron an.

„Siehst du,“ sagte Blacky.

„Deine Sorge war unbegründet,“ beendete Sorc.

Der Weißhaarige blieb bei Meras stehen und schaute sie von oben abschätzend an. „Wie groß wird sie noch?“

„Könnte noch etwas wachsen, sie absorbiert nach wie vor ununterbrochen Energie, wird aber nicht mehr so schnell größer wie zu Anfang,“ informierte Sorc ihn.

Meras stand auf und strich um Crimsons Beine, reichte dabei locker bis zu seinen Knien und warf ihn fast um. Er spürte den Energiediebstahl, tat aber nichts dagegen, sondern ging weiter zu einem freien Platz an einem anderen Tisch, neben seinem Vater. Die Katze wollte ihm folgen, aber die Chaosmagier hielten sie zurück. Meras nahm ihren alten Platz wieder ein.

Fast die ganze Belegschaft war versammelt. Die Tische standen so, dass sie Gruppen von bis zu sechs Personen bildeten. Neo befand sich möglichst weit von Sorc entfernt, aber so, dass er ihn im Blick hatte. Seine Familie war bei ihm. Offenbar ging es auch ihm wieder gut, aber leider wirkte er angespannt und misstrauisch.

Während Crimson einen Teller mit Essen belud, sagte er in die Runde: „Ich möchte zwei Merastankbauer kontaktieren und brauche dafür Freiwillige. Wer möchte?“

Seine Schüler waren gleich Feuer und Flamme, aber Mad meldete sich zu Wort: „Das mache ich. Und vielleicht möchten Kuro und Neo ja auch mit.“

Aha, er fühlte sich verantwortlich für die Zerstörung des Tanks. Crimson befürchtete schon, dass Kuro oder mindestens Neo sich weigern würde, aber die beiden nickten nur zustimmend.

„Okay, danke,“ freute sich Crimson. „Ich gebe euch nachher alle Daten, die ihr braucht. Ihr könnt die Reise so planen, wie es euch genehm ist, aber möglichst bald.“

[„Gut, wenigstens wissen sie, was sich gehört,“] kommentierte Cathy in seinem Hinterkopf.

Atria und Cross waren noch nicht zurück, aber das eilte noch nicht – Crimson brauchte die Duranosamen erst am frühen Nachmittag. Hoffentlich ging jetzt nicht doch noch etwas schief, nachdem er sich zuvor so unnötig aufgeregt hatte. Im Prinzip stand er ständig unter Spannung, weil er befürchten musste, dass jemand unterwegs aufgehalten wurde und sich verspätete, aber er nahm diese Spannung nicht immer bewusst wahr.

Auch Olvin frühstückte mit den anderen, doch er saß allein an einem Tisch, offenbar absichtlich. Er schien sich nicht ganz wohl zu fühlen, aber damit klarzukommen. Jedenfalls aß er genug, aber zwischendurch betrachtete er immer wieder stirnrunzelnd seine Fingernägel oder schloss die Augen, wie um kurz in sich zu gehen.

Vielleicht lag es daran, dass sein Schloss nun wieder parasitenfrei und alle Einwohner fieberfrei waren. Das entspannte das Schlossherz und wirkte sich damit auf die Gesamtstimmung positiv aus. Crimson jedenfalls fühlte sich sehr gut und mit allem zufrieden. Alle Probleme erschienen lösbar. Nun durfte er sich nur nicht zu sicher fühlen.
 

Der weitere Tagesverlauf gestaltete sich erfreulich. Zunächst nahm Sorc die Gelegenheit wahr, ihm endlich die Mädchen in der Küche vorzustellen, welche Charoselle geschickt hatte. Die Gören gaben ganz offen zu, dass sie für die Lady spionierten. Es störte ihn seltsamerweise nicht.

Kurz vor dem Mittag kam Silentia zu Besuch. Er empfing sie in seinem Büro, wo sie zusammen einen Tee tranken, während die Direktorin der Akademie berichtete, wie das Projekt Wahrheitsverbreitung gelaufen war.

„Ich habe deinen Brief auf meinem Schreibtisch liegen gelassen, und zwar immer ein bisschen versteckt, aber durchaus sichtbar. Dann rief ich mehrmals Schüler zu mir, um mit ihnen ein Gespräch zu führen. Teilweise musste ich mir was ausdenken oder auf eine Gelegenheit warten, aber dann konnte ich organisieren, dass der Brief auch mal wie runtergefallen auf dem Boden lag oder ich ihn eilig wegpackte, wenn die Kinder reinkamen, so dass sie neugierig wurden, dann drehte ich mich mal um oder ging kurz raus... Naja, was soll ich sagen?“ Die Akademiedirektorin grinste schelmisch, ein Gesichtsausdruck, den Crimson aus seiner Schulzeit kannte und mochte.

„Sie haben den Brief gelesen, kopiert und verbreitet?“ riet er.

Sie zuckte mit den Schultern. „Genau weiß ich es nicht, auf jeden Fall hat sich die Botschaft verbreitet. Ich fürchte, das gibt dir einen schlechten Ruf, Crimson.“

„Das ist schon in Ordnung. Irgendwann wird jemandem auffallen, dass es gut von mir war, die Wahrheit zu sagen.“

„In diesem Alter kann man das kaum erwarten. Aber vielleicht verstehen es die Eltern, das mag sein. Auf jeden Fall hast du jetzt, was du wolltest.“

„Sehr gut.“ Crimson atmete auf – ein Punkt weniger auf seiner Liste. „Danke für deine Hilfe, das war wirklich sehr wichtig.“

„Hauptsache, du bereust es später nicht. Ach ja...“ Silentia gab ihm den Rucksack, mit dem sie gekommen war. „Darin befinden sich einige seltene alchemistische Zutaten, die ich in die Finger bekommen habe seit unserem letzten Treffen. Vielleicht nützen sie dir irgendwas.“

Crimson konnte nicht anders, als breit zu grinsen. „Echt? Zeig!“ Er holte ein paar Sachen hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. „Wow... toll! Danke! Ich nehm den Rucksack mit nach oben und lass mich da noch weiter überraschen. Brauchst du den Rucksack dringend?“

„Naja, ich würde ihn schon gerne wieder mitnehmen. Wie wäre es, wenn du mir dein Lager zeigst, und wir packen gemeinsam aus?“

„Gerne.“ Crimson stand auf und ging vor.

Während die beiden noch schwatzend und lachend damit beschäftigt waren, die neuen Sachen zu verräumen und in Erinnerungen an ihre Schulzeit zu schwelgen, meldete Cathy, dass die Duranosamen in den Trank mussten. Passend dazu kam auch gerade Atria die Stufen hoch gehetzt. „Sind wir zu spät?“

„Genau rechtzeitig,“ versicherte Crimson. „Hattet ihr eine gute Reise?“

„Geht so. Mein Vogel wollte nicht mit Tyra zusammen fliegen, also musste ich mit Cross auf dem Drachen reisen. Ich bin das nicht gewohnt, aber... es hatte Vorteile.“

Das konnte sich Crimson denken. Wer weiß, was die beiden in ihren Pausen gemacht hatten.

Crimson erlaubte Silentia, mit in die oberste Etage zu kommen, wenn sie nicht so genau hinsah. Inzwischen fragte sie schon gar nicht mehr, ob er nicht doch etwas mit dem Erblühen ihres Einhorns zu tun hatte, so dass er vermutete, dass sie sich ihren Teil dazu dachte. Aber für die Direktorin der Akademie war es besser, wenn sie nicht über solche Dinge Bescheid wusste.

So nahm sie auf Crimsons Sessel Platz und sah sich nicht allzu genau um. Sie beobachtete, wie ihr früherer Schulkamerad professionell die Samenkörner zerrieb und dann das Pulver nach und nach in den Trank einrührte.

„Ich kenne mich ja nicht ganz so sehr mit illegalen Tränken aus – der ist doch illegal, oder?“ Silentia wartete nicht wirklich auf eine Antwort, und Crimson versuchte gar nicht erst, ihr eine zu geben. „Aber mir fallen nur eine Handvoll Tränke ein, die Duranosamen benötigen, illegal sind und ziemlich lange brauchen. Dann noch Einblums Blüten... Hmmm.“

„Denk einfach nicht weiter drüber nach,“ riet er ihr. „Es gibt sicherlich ein paar, die du nicht kennst.“

„Du hast Recht,“ nickte sie. „Ich habe auch Wichtigeres zu tun.“ Sie wickelte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger.

Crimson beendete seine Arbeit konzentriert und ohne sich von ihr abgelenkt zu fühlen. Schließlich kannte er sie seit seiner Kindheit, und er konnte unter viel ungünstigeren Bedingungen noch seine alchemistischen Tätigkeiten ausführen.

„Hast du hier ein Bad?“ fragte Silentia ihn. „Also ich meine so ein großes, heißes.“

„Oh ja, aber ich weiß gar nicht, ob es schon fertig renoviert ist...“ Cathy zeigte ihm zur Antwort ein Bild von dem betreffenden Raum, ohne dass er nachfragen musste. Nun ja... man konnte es wohl benutzen, aber schön sah es noch nicht wieder aus.

„Wenn du baden willst, warum dann nicht im Meer?“ schlug er ihr vor.

Silentia schmollte. „Nein... ich wollte dort Zeit mit dir allein verbringen, aber wenn das nicht geht, warum zeigst du mir nicht dein Turmzimmer? Wir könnte was trinken und auf alte Zeiten anstoßen...“

Die Idee gefiel Crimson. Er vergewisserte sich, dass mit dem Elixier alles in Ordnung war. Nur jetzt nicht unvorsichtig werden. „Hier entlang,“ sagte er schließlich und ließ Silentia sich bei ihm einhaken.

Unheimliche Träume

Der Besuch seiner alten Freundin erwies sich für Crimson als wahre Wohltat. Sie schaffte es, dass auch der letzte Rest vom Stress der letzten Tage zumindest vorübergehend von ihm abfiel. Sie leerten eine Karaffe Obstlikör, während sie abwechselnd Episoden aus ihrem Leben erzählten. Crimson berichtete hauptsächlich von seinen Abenteuern, die nach seiner Bekanntschaft mit Yugi zustande gekommen waren. Das führte natürlich dazu, dass sie sein Rückentattoo sehen wollte, was er ihr gerne gestattete.

„Wow... tut das weh?“ Sie strich mit den Fingerspitzen über die leicht dreidimensionale Struktur.

„Es ist gut verheilt,“ murmelte Crimson. „Ooh... streich da noch einmal lang.“

Silentia gab einen amüsierten Laut von sich. „Empfindliche Stelle?“ Sie ließ beide Hände über seinen Rücken gleiten, dann auch seine Schultern hinauf und wieder hinunter zu seinen Hüften, von dort nach vorne. Sie umschlang ihn mit den Armen und lehnte ihre rechte Wange gegen ihn. „Ich hab dich vermisst, Crimson. Warum... ist aus uns nie was geworden? Es gingen so viele Gerüchte über uns herum, dass ich dachte, eines Tages würde es so kommen...“

Er wollte sich zu ihr umdrehen, aber das Gefühl ihrer Wärme nicht verlieren. „Ich flog von der Schule. Deswegen vielleicht.“ Er schluckte und schloss kurz die Augen. Was hatte ihm der eine Fehler alles verdorben im Leben? Doch er lehnte es ab, sich in Selbstvorwürfen und Fragen nach dem Wenn zu ergehen. In seiner Situation konnte er nur nach vorne schauen.

Außerdem – warum beschweren? Er war jetzt hier mit ihr.

„Bist du noch... mit der Amazone zusammen?“ fragte sie leise.

„Nun, wir... waren nie richtig zusammen, aber ich wäre wohl schon für eine längere Beziehung zu haben gewesen...“ Bei Amazonen wusste ein Mann von Anfang an, dass es bei einer Affäre blieb.

Silentia kicherte. „Bist du sicher, das das jetzt, hier, die richtige Antwort ist?“

„Vielleicht nicht.“ Crimson fühlte sich ganz leicht, möglicherweise aufgrund des Alkohols. Er drehte sich um und versuchte dabei, nicht aus ihrer Umarmung zu rutschen. Dann umarmte er sie seinerseits und starrte auf ihre Lippen... Ehe er sich versah, kam sie ihm entgegen, und sie tauschten einen schüchternen Kuss aus.

„Was ist los?“ neckte Silentia ihn. „Mehr Likör?“

Nein, den brauchte er nicht wirklich...
 

„Na, schöne Nacht gehabt?“

Crimson erschrak fast zu Tode, als er in sein Turmlabor hetzte und Sorc ihn ansprach. Der Chaoshexer ruhte auf dem Sessel und wirkte noch leicht verschlafen. Aber zweifellos machte er einen besseren Eindruck als der Schlossherr, denn dieser trug nur seinen roten Morgenmantel zu einer total wirren Haarflut. Nicht einmal an Hausschuhe hatte er gedacht.

Crimsons Gesicht fühlte sich heiß an. „Ähm... ich hab schlecht geschlafen...“ Hastig überprüfte er seinen Arbeitsplatz.

„Aaaah... so nennt man das jetzt. Ich hab mir erlaubt, schonmal die Beeren auszupressen. Der Saft ist dort in dem Becher.“

„Okay... wie lange ist das her? Er darf nicht zu alt sein, weil er sonst eintrocknet und... oh, gut, ein Deckel ist drauf...“

Sorc warf ihm einen Blick zu, der ihn fragte, ob er ihn für einen kompletten Trottel hielt.

„Wie kommst du mit deinem Projekt voran?“ fragte Crimson ausweichend.

„Es läuft,“ antwortete Sorc. „Ich habe heute in der Nähe dieses Turms gearbeitet und die Gelegenheit genutzt, mich hier etwas auszuruhen, zumal mir bewusst wurde, dass du es vielleicht nicht rechtzeitig hierher schaffst.“

Wieder glühten Crimsons Wangen. Er brauchte nicht nachzufragen – seine mentale Abschirmung war praktisch nonexistent. Insofern ergab sich ein Problem für Personen, die konstante Verbindungen zu seinen Gedanken hatten. Allerdings konnte Sorc sich doch sicherlich abschirmen, oder?

Ohne sich umzudrehen, wusste er, dass der Hexer grinste. „Die Frage ist, ob ich das will.“

Nonexistent, genau.

„Mach dir nichts draus, Crimson. Du bist im Moment sehr unkonzentriert und mich betrachtest du nicht als Eindringling, deshalb habe ich leichtes Spiel mit dir. Du denkst aber auch laut...“

Crimson seufzte, störte sich aber nicht an der Tatsache. „Wo ist eigentlich Meras?“

„Bei Blacky und Dark, sie gehen mit ihr ein bisschen auf dem Gelände spazieren.“

„Um diese Zeit?“ rutschte es Crimson heraus. Allerdings wurde es draußen gerade hell, da machten viele Magier ihren Frühsport.

„Ich war heute auch schon draußen,“ teilte Sorc ihm mit.

„Hm... es gefällt mir nicht, dass Meras abhauen könnte,“ griff Crimson das eigentliche Thema wieder auf. Andererseits hatte der Gedanke, dass er sie loswurde, seinen Reiz. Jedoch war das unwahrscheinlich, weil das Tier sich doch viel zu gerne in der Nähe eines Merastanks aufhielt.

„Ich glaube nicht, dass Meras eine Gefahr für die Umwelt ist. Sie würde vielleicht sterben, wenn sie auf sich allein gestellt wäre,“ sagte Sorc.

Crimson konzentrierte sich darauf, den Saft langsam einzurühren, ehe er darauf einging. „Aber vielleicht würde sie auch noch weiter mutieren und zu einer Gefahr werden.“

„Auszuschließen ist das nicht,“ gab Sorc zu. „Aber die Magie der fünf Magier, die sie in diese Gestalt gezwungen haben, sollte ausreichen, um die Gestalt zu festigen. Mach dir keine Sorgen, ich kann es sehen, wenn etwas mit ihr nicht stimmt. Zur Zeit hat sie eine ganz dünne Aura, wahrscheinlich, weil sie noch nicht lange in dieser Form existiert.“

Crimson blickte von seinem Trank auf, in dem er rührte. „Ich will das auch lernen! Auren zu sehen. Kannst du es mir beibringen?“

„Nein. Ich weiß nicht, wie man Auren sieht, wenn es nicht angeboren ist.“

„Oh... okay... vielleicht frage ich Großvater.“

Jemand klopfte an die Tür. Um diese Zeit konnte das aber noch nicht das Frühstück sein!

„Darf ich reinkommen, Crimson? Ist Sorc bei dir?“

Oh... klang wie Ray. „Ja, er ist hier. Komm ruhig rein,“ rief Crimson.

Als er Ray erblickte, musste er prusten vor Lachen, denn der Mann trug nur ein Nachtgewand und Hauslatschen. Zerwühlte Haare hingen teilweise in ein Gesicht, das von Schlafmangel sprach. Ungefähr so stellte er sich sein eigenes Aussehen vor.

„Verzeihung, falls ich störe. Aber ich hatte einen Alptraum...“ begann Ray und blickte vom einen zum anderen.

Wenn Crimson nicht gewusst hätte, dass Ray manchmal Vorahnungen hatte, wäre das wohl ein neuer Grund zum Lachen gewesen, doch so wurde er rasch ernst und blickte den Blonden über seinen Kessel hinweg an. „Es muss wirklich wichtig sein, wenn du deswegen extra herkommst.“

„Ja, also...“ Ray sammelte sich kurz und wandte sich Sorc zu. „Es ging in dem Traum um dich, Bruder. Ich sah dich mit Tränen in den Augen und bandagierten Händen in einem Bett liegen... möglicherweise in einem der Krankenzimmer.“

Sorc hob eine Augenbraue. „Hast du mich jemals weinen sehen?“

„Nein, aber...“

„Siehst du, das war vermutlich nur einer dieser Träume, wo man Sachen durcheinander bringt. Es ist ja auch völlig unrealistisch, dass ich wegen einer Verletzung Tränen vergieße.“

„Aber es wäre doch denkbar, dass du weinst, weil jemandem etwas zugestoßen ist und du irgendwie auch dabei verletzt wurdest!“ beharrte Ray. „Außerdem ist dieser Neo hinter dir her. Er macht dich dafür verantwortlich, dass sein Bruder fast seine Hände verloren hätte...“

„Naja, indirekt bin ich dafür verantwortlich,“ räumte Sorc ein. „Auch wenn ich nichts dafür kann, wenn die Gegenseite keine erfahrenen Artefaktmagier hat oder nicht einmal fähige Heiler auffahren kann.“

Ray verdrehte die Augen. „Geh doch mal ernsthaft mit dem Problem um! Es könnte doch durchaus sein, dass er dir etwas antut, um dir das heimzuzahlen. Hände sind empfindlich. Er könnte dich so verletzen, dass du deine Finger nicht mehr bewegen kannst!“

„Nicht mit Olvin im Schloss,“ entgegnete Sorc. „Wie oft hattest du diesen Traum schon?“

„Das war das erste Mal. Aber er war so realistisch...“

„Noch einmal: Was ist realistisch daran, dass ich Tränen in den Augen habe?“

„Spiel das nicht herunter, Bruder. Es hat sich angefühlt wie damals, bevor Großvater den Unfall hatte. An jenem Tag hat mir auch keiner geglaubt.“

Sorc blickte den Jüngeren einige Sekunden lang schweigend an. „In Ordnung. Gab es noch mehr Bilder in dem Traum?“

Ray schüttelte den Kopf. „Nicht heute, aber vor ein paar Tagen träumte ich, dass du in einem Kerker angekettet bist. Ich habe mir nichts dabei gedacht... es hätte eine Szene von der Zeit sein können, als du auf deine Verhandlung gewartet hast. Dieser Traum fühlte sich auch anders an. Vielleicht... war er nur symbolisch.“

Sorc nickte. „Sicherlich. Du weißt ja...“

„Jaja, Ketten halten dich nicht,“ winkte Ray ab.

„Und ich war bei Lord Genesis oder generell dem Zirkel des Bösen ohnehin niemals irgendwo angekettet,“ ergänzte Sorc.

„Hast du oft Visionen im Traum?“ fragte Crimson interessiert.

Ray seufzte tief. „Sehr selten. Aber wenn, dann geht es um etwas Ernstes, Schwerwiegendes. Ich habe den Tod unseres Großvaters vorhergesehen, als ich fünf war. Später den Brand in einem Getreidelager. Beide Male wurde nichts unternommen – Großvater kam bei einem Unfall ums Leben, der vermeidbar gewesen wäre, und die Vernichtung des Getreidelagers verursachte eine Hungersnot, zumal die Handelswege im Winter noch schwieriger benutzbar sind als im Sommer. Als ich mit sechzehn die Jahrhundertlawine in einem Traum sah, ließ Mutter mehrere Dörfer evakuieren, so dass die Bewohner gerettet wurden. Verhindern konnten wir die Katastrophe nicht, aber es gab keinen Personenschaden.“

„Also war das mit den Ketten sicher keine Vision,“ beschloss Sorc. „Du hast dir nur Sorgen um mich gemacht und deine Vorstellungen haben in deinem Traum Gestalt angenommen.“

„Das... könnte sein,“ gab Ray nach. „Aber das andere... das mit den Tränen...“

„Okay, ich passe auf meine Hände auf. Danke für die Warnung, Ray. Hat der Traum irgendeinen Hinweis gegeben, wie es dazu gekommen ist?“

„Du meinst, damit du der Situation aus dem Weg gehen kannst?“ Ray runzelte die Stirn und blickte ins Leere, während er darüber nachdachte. „Nein... merkwürdig. Ich kann normalerweise erkennen, wie man dagegen angehen kann oder wie sich vielleicht der Schaden begrenzen lässt.“

„Nun... dann können wir es vielleicht nicht verhindern, folglich müssen wir uns auch keine Gedanken deswegen machen,“ wischte Sorc das Thema vom Tisch.

Ray sog empört die Luft ein. „Wie kannst du das so leicht nehmen?“

„Ich lehne es ab, mein Leben nach einer Prophezeiung auszurichten. Sollte dieses Ereignis eintreffen, dann reicht es völlig, sich mit den Folgen zu arrangieren, statt sich vorher schon verrückt zu machen.“

„Vermutlich hast du Recht,“ murmelte Ray. „Es war zu ungenau.“

„Ansonsten nehme ich deine Gabe durchaus ernst, Ray, wirklich,“ sagte Sorc. „Aber die Informationen sind zu wenig, als dass ich mich danach richten könnte. Außerdem weißt du ja, wie das ist... wenn wir versuchen, es zu verhindern, könnte es erst recht wahr werden.“

Der blonde Prinz nickte bedächtig. „Ja, bei dir sowieso. Na gut, ich werde mir keine Sorgen machen. Was ich noch sagen wollte... ich werde heute abreisen. Mutter wartet schon auf einen Lagebericht, aber Yugi hat mich gebeten, noch einen Botenflug für Crimson zu unternehmen. Der Junge scheint die Organisation hier ganz gut im Griff zu haben. Naja, zumindest einer im Schloss muss ja etwas Ahnung von Ordnung haben, nicht wahr, Bruder?“

Sorc erhob sich von dem Sessel. „Ich verstehe gar nicht, was du meinst. Wann musst du los?“

„In etwa einer Stunde.“

„Dann können wir die Zeit bis dahin noch zusammen verbringen. Crimson, du solltest nach deiner Freundin schauen.“ Sorc zwinkerte ihm zu und verließ mit Ray den Raum.

Crimson stellte fest, dass Sorc Recht hatte – bestimmt wunderte Silentia sich schon, wo er steckte. Davon abgesehen wollte er nicht in seinem momentanen Aufzug erwischt werden, daher beeilte er sich, in sein Turmzimmer zurück zu kommen.
 

Als er sich leise ins Zimmer schleichen wollte, fand er zu seiner Überraschung Silentia schon fertig angezogen vor.

„Ah, da bist du ja,“ stellte sie fest. „Dein Schlossherz hat mir erzählt, dass du im Alchemieturm bist. Ist alles in Ordnung? Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass etwas schiefgeht.“

„Ich hatte es ziemlich eilig, aber alles geht noch nach Plan,“ sagte er. Nicht gerade die romantischste Bemerkung, wie er fand. „Eigentlich dachte ich, dass ich nochmal unter die warme Decke kriechen kann.“

„Oh, das kannst du, bestimmt ist es da noch warm,“ meinte sie und streckte ihm neckisch die Zunge raus.

„Hm, deine Zunge würde sich jetzt gut anfühlen an meinem...“

Sie warf ein Kissen nach ihm, bevor er den Satz beenden konnte. „Ich muss los, Crimson. Aber es war schön mit dir, wir sollten uns öfter mal... treffen.“

„Das wird bestimmt möglich sein, schließlich sind wir jetzt quasi Kollegen.“ Crimson zog sich rasch richtig an und begleitete sie dann noch zum Tor. Er sah ihrem Drachen nach, bis er nicht mehr zu erkennen war, und analysierte seine Beziehung zu ihr. Freundschaft mit gelegentlichen Abenteuern... konnte es das geben? War es mehr? Wollte er mehr? Er konnte es nicht genau beurteilen. Dazu kam noch, dass sich wegen Paladia ein wenig das schlechte Gewissen breit machte... dabei gab es gar keinen Grund dafür.

„Oh... hallo Crimson.“ Yugi ging gähnend an ihm vorbei. „Bist du schon mit dem Frühsport fertig?“

„Äh... kann man so sagen,“ antwortete Crimson ausweichend. „Ist Yami nicht bei dir?“

„Oh... er kommt gleich nach, aber ich muss ihn immer dazu überreden. Er meint, als Nichtmagier muss er auch nichts machen.“

„Training kann ihm auch nicht schaden. Yugi, es ist gut, dass ich dich gerade treffe.“ Crimson begleitete den Jungen ein Stückchen. „Dein Organisationstalent hat mich gerettet, wirklich.“

„Ach...“ Yugi lief ein bisschen rötlich an. „Das hättest du schon hingekriegt. Aber du musst dir eins merken: Du hast deine Leute. Benutze sie. Das ist ganz normal!“

„Ja... du hast wahrscheinlich Recht. Ich hab es mir einfacher vorgestellt, Leute zu delegieren. Aber woher kannst du das so gut?“

Yugi lachte. „Ich hab's mir vom Pharao abgeguckt. Und von Seto.“

Aha. Wenn man mit den beiden in einer Dreierbeziehung lebte, durfte man vermutlich keine Schwächen zeigen, überlegte Crimson. „Gute Arbeit,“ antwortete er darauf nur.

Yugi zuckte mit einer Schulter. „Das zu organisieren ist eine gute Übung für mich. Bleibt nur zu hoffen, dass du nicht gleich im Anschluss wieder so etwas machst, denn ich werde nicht ewig da sein können.“

„Nein, ist nicht geplant,“ versicherte Crimson. Natürlich konnte man nie wissen bei diesem Schloss und seinen Bewohnern.

„Naja, ich geh mal zum Strand... kommst du mit? Man soll ja nicht alleine schwimmen gehen, und wer weiß, ob Yami nicht schon wieder pennt.“

Dagegen hatte Crimson nichts einzuwenden. Ein bisschen schwimmen würde vielleicht seine Gedanken klären, er konnte ein Bad vertragen, und außerdem war das das Mindeste, was er für Yugi tun konnte.

Als sie sich dem Strand näherten, fanden sie dort Dark und Blacky bereits vor – und Meras. Die Katze hatte ganz offensichtlich keine Angst vor Wasser, sondern eher Freude daran. Die Magier warfen Steinchen, Muscheln und Stöckchen, die sie spielerisch jagte. Sie war riesig geworden... Dark, der ja nun nicht zu den kleinen Personen gehörte, ging ihre Schulter bequem bis zur Hüfte.

Yugi, der, wie Crimson inzwischen wusste, der Blutsbruder von Dark und Blacky war, wurde von den beiden gleich freudig in Empfang genommen, und er ließ seine Kleidung fallen und gesellte sich zu ihnen ins Wasser.

Meras entdeckte Crimson und kam auf ihn zu gerannt. Er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht auszuweichen oder zu flüchten, doch es gelang ihm, aufrecht stehen zu bleiben, selbst als Meras sich laut schnurrend gegen ihn warf, um ihren Kopf an ihm zu reiben. Das sah nach normalem Katzenverhalten aus, was doch etwas verwunderte. Andererseits tat sie auch manchmal Dinge, die sich für eine Katze nicht unbedingt gehörten – dafür war das nasse Fell Beweis genug.

Crimson streichelte sie automatisch und stellte fest, dass sie ihm derzeit keine Energie absaugte. Na das ließ ja hoffen.

Die Katze leckte Crimsons Finger, an denen wahrscheinlich noch der Geschmack seiner alchemistischen Zutaten klebte. Nahm sie denn andere Nahrung zu sich außer in Form von Energie? Besaß sie eine Vorliebe für bestimmte Geschmäcker, auch wenn sie keine Nahrung brauchte? Nächste Frage... war sie stubenrein?

Während er sich mit ihr beschäftigte, fiel ihm auf, dass sie sehr einer richtigen Katze ähnelte, abgesehen von den auffallenden violetten Augen. Nicht nur vom Aussehen her, sondern auch wie sie sich verhielt. Dies war vermutlich das einzige Geschöpf dieser Art, vielleicht würden irgendwelche Moralapostel von der Akademie es als Gefahr einstufen. Er musste grinsen bei dem Gedanken. Vielleicht erwies es sich doch als praktisch, eine Merasfresserkatze zu haben.
 

Im Laufe des Tages musste er noch weitere Abschiede hinnehmen außer dem von Silentia. Shiro reiste mit seiner Gruppe zum Kristallschloss zurück, und auch die Helden um Black Luster gingen ihrer Wege. Lediglich Dark und Blacky sowie Appi, Yami und Yugi blieben noch, um ihm mit Meras und allen anderen Anliegen zu helfen. Er wusste das sehr zu schätzen.

Fire blieb als neuer Schüler, wie sie es vereinbart hatten. Ray ging noch einmal auf eine Mission und auch Neo, Kuro und Mad waren unterwegs. Als Sage das Schloss verließ, beschlich Crimson das Gefühl, dass Sorc sich darüber freute – schließlich war der alte Knacker im Zirkel des Bösen.

Die Schüler beschäftigten sich mit dem Projekt, Exkalibur in irgendeiner Form in einem Sockel aufzubauen und für jeden zugänglich zu machen, denn ganz offensichtlich brauchte das Schwert einen neuen Träger. Es steckte noch immer in dem Stück von Tank Drei fest. Sie versuchten, die Spitze in einen größeren Felsen zu rammen, aber das klappte nicht – oder zumindest konnte man die Klinge dann wieder herausziehen. Crimson ließ sie gewähren, schließlich beschäftigte das Projekt sie alle.

Er selbst gönnte sich einen ruhigen Tag mit viel Schlaf. In nächster Zeit musste er sich noch mit Olvins Sohn treffen – er wartete darauf, dass Shiro ihn deswegen kontaktierte. Da sich Kuro derzeit nicht im Schloss befand, ging es leider nicht über die Schlossherzen, das wäre ein einfacher Weg gewesen. Aber er konnte nicht alles haben, und wenn das der Preis dafür war, dass eine Weile Ruhe herrschte und niemand Sorc angriff, dann nahm er das gern in Kauf.

Sorc trieb sich die ganze Zeit irgendwo im Schloss herum und bemalte die Wände, Decken und Böden mit einer unendlichen Linie von unidentifizierten Symbolen. Er richtete sich dabei nach keiner ersichtlichen Reihenfolge. Manchmal war er mit einem Turmzimmer fertig und machte im Keller weiter. Crimson wunderte sich schon gar nicht mehr.

Am Abend tauchte der Chaoshexer wieder in Crimsons Alchemieturm auf. „Ich werde in zwei Tagen fertig sein,“ verkündete er. „Bitte sorge dafür, dass übermorgen nach Sonnenuntergang alle Schlossbewohner außer Haus sind. Vielleicht könntest du die Kinder auf eine Nachtwanderung schicken oder so etwas. Lily könnte mitgehen, und Olvin bitten wir unter irgendeinem Vorwand, im Dorf zu übernachten.“

Crimson sah ihn kurz an und überlegte, ob er nachfragen sollte, dann aber nickte er einfach nur. Er vertraute diesem Mann genug, um seinen Wünschen ohne Wenn und Aber nachzukommen. „Das lässt sich wohl einrichten,“ versprach er. „Benötigst du sonst noch etwas?“

„Hm...“ Sorc rieb sich grübelnd das Kinn. „Vielleicht kannst du an Tag zum Mittagessen einen deiner Fruchtkuchen machen, das wäre nett.“

Crimson hob überrascht eine Augenbraue. „Sicher...“

Sorc nahm seine Kooperation mit einem Lächeln zur Kenntnis. „Danke. Ich brauche dich ungefähr zu Sonnenuntergang in der Haupthalle des Schlosses. Es kommt nicht auf die Minute an, falls noch etwas mit dem Elixier zu tun ist um diese Zeit.“

„Das müsste klappen,“ stimmte Crimson zu. Er merkte, wie ihn die Neugier packte – endlich würde er erfahren, was Sorc schon die ganze Zeit im Schloss trieb! Es musste etwas ziemlich Bedeutendes sein, wenn es so lange zur Vorbereitung brauchte. Und vermutlich war es auch ziemlich ungewöhnlich, schließlich ging es hier um Sorc. Crimson fragte nicht nach den Gefahren. Die gab es immer, das wusste jeder Magier. Wie es schien, kalkulierte Sorc das alles schon ein.

„Bis es soweit ist, muss ich mich noch ein bisschen ranhalten, und ich will es hinkriegen, bevor Neo und seine Gruppe wiederkommen,“ sagte der Chaoshexer. „Also... ich mach mich wieder an die Arbeit.“

„Vergiss nicht zu schlafen, Sorc.“

„Das gleiche kann ich dir sagen, Crimson. Wir sollten beide versuchen, zu dem Ereignis ausgeschlafen zu sein.“

„In Ordnung.“

Crimson beobachtete, wie die Tür hinter Sorc ins Schloss fiel, und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Allerdings fühlte er sich aufgeregt wie in seinen Kindertagen kurz vor der Blüte seines ersten Kräuterbeetes. „Cathy, schick mir bitte Mava, Fire und Legend. Ich möchte was mit ihnen besprechen...“

Angewandte Seelenmagie

Sorc kniete am Boden und gab seiner Malerei den letzten Schliff. Das zumindest nahm Crimson an, als er die Haupthalle seines Schlosses betrat – jenen Ort, wo sich zahlreiche Gänge trafen und eine besonders schöne Treppe nach oben führte. Die Einlegearbeiten am Boden zeigten eine stilisierte achtblättrige Lotusblüte. Dass Cathy mit Rosen statt mit Lotus bekleidet war, ging vermutlich auch auf einen Planungsfehler zurück.

Dem prüfenden Blick nach zu urteilen, den Sorc immer wieder über sein Werk schweifen ließ, konnte er am Boden ein Muster erkennen. Den Chaoshexer kleidete nur eine lockere, dünne Kniebunthose, wie man sie normalerweise unter Roben trug. Er malte letzte Zeichen mit seinem bloßen Finger, der kurz eine leuchtende Spur hinterließ, die dann verblasste.

„Crimson!“ rief Sorc, als er seiner ansichtig wurde. „Ich muss dich auch noch vorbereiten! Zieh dich doch bitte aus und stell dich da drüben hin.“

Ach herrje. Crimson vergaß immer, dass die meisten großen Rituale ohne Kleidung abgehalten wurden, weil alle Welt annahm, dass dies den Magiefluss begünstigte. Sein letztes Erlebnis dieser Art war, für die Beschwörung des Fünfgötterdrachen geopfert zu werden. Keine gute Erinnerung. Er verdrängte sie und hoffte, heute eine neue zu erschaffen, um die alte zu ersetzen.

Falls Sorc etwas auffiel, ließ er es sich nicht anmerken, sondern wartete geduldig, bis Crimson nackt an der vorgegebenen Stelle stand. Er beendete sein Werk auf dem Boden und trat vor Crimson. „Hierfür musst du mir völlig vertrauen, Crimson. Wenn du irgendwelche Bedenken hast...“ Er unterbrach sich, denn er wusste es eigentlich besser, als dass er fragen musste. Außerdem dachte Crimson ja laut genug, nicht wahr?

„Ich habe dich so weit kommen lassen mit deinem Projekt, da werde ich dich jetzt nicht mehr aufhalten,“ versicherte Crimson.

Sorc nickte. „Gut. Jedoch werden wir heute einen großen Schritt gehen, wenn du mich lässt. Ich werde gleich die letzten Vorbereitungen abschließen und bitte dich, dabei zu schweigen, auch wenn es dir seltsam vorkommt. Wenn alle Vorbereitungen abgeschlossen sind, gehe ich da drüben hin und fange mit der Beschwörung an.“ Er deutete auf einen Punkt etwa fünf Meter entfernt. „Du darfst dich nicht von der Stelle rühren und nach Möglichkeit nichtmal deine Füße bewegen – auch nicht, wenn du annimmst, dass ich in Schwierigkeiten bin. Du bist Teil des Rituals. Wenn du ausbrichst, *dann* bin ich in Schwierigkeiten.“

„Verstanden,“ nickte Crimson. „Woran werde ich merken, dass das Ritual beendet ist und ich mich wieder bewegen kann?“

„Keine Ahnung!“ Sorc lächelte entschuldigend und rieb sich in einer Geste der Verlegenheit den Hinterkopf. „Ich denke mal, es wird deutlich, wenn die Magie sich legt.“ Er hielt kurz den Zeigefinger vor seinen Mund.

Crimson deutete das als Zeichen, dass jetzt die Schweigephase anfing, und presste die Lippen fest zusammen.

Sorc ging vor ihm auf ein Knie und korrigierte die Position seiner Füße. Dann fing er an, mit dem Finger Zeichen auf seinen rechten Fuß zu malen. Er begann bei den Zehenspitzen, als ob er das Muster vom Boden fortsetzte. Wie auch auf den Steinen zog der Finger eine leuchtende Spur hinter sich her, die dann verblasste und unsichtbar wurde. Crimson sträubten sich die Nackenhaare, aber er konnte nicht definieren, wieso. Die Schrift fühlte sich warm an und kribbelte auf der Haut wie leichte Blitzmagie.

Sorc setzte das Band aus Schriftzeichen über seinen inneren Knöchel fort, schrieb es insgesamt viermal um seine langen Beine herum. Beim letzten Mal befand er sich nah an Teilen, auf denen Crimson diese Schrift nicht unbedingt haben wollte, aber seine Sorge war unbegründet: Die Linie wanderte über seinen Po, den rechten Hüftknochen und über seinem Bauchnabel in einer steilen Linie zur linken Schulter. Sorc vermied es, auf sein Siegeltattoo zu schreiben, stellte er fest. Statt dessen ließ der Schwarzhaarige das unsichtbare Band von vorne über die Schulter laufen und dann dreimal um den Arm, um vorbei am Daumen auf den Handrücken zu gelangen und von dort auf den Zeigefinger. Während des Vorgangs bewegte Sorc sich mehrmals um Crimson herum, so dass der Schlossherr sich bald fühlte wie ein Kunstwerk, das noch nicht fertig war.

Sodann wiederholte der Chaoshexer den Vorgang beim linken Bein, zog die Linie vom Fuß aus mehrfach um das Bein herum und kam über die linke Hüfte nach vorne, führte die Schriftzeichen ein Stück über dem Bauchnabel zur rechten Schulter und mehrfach um den Arm herum zur Hand. Die beiden Linien überkreuzten sich ungefähr dort, wo das Brustbein endete, die Stelle kribbelte länger als der Rest. Aber zu sehen gab es nichts... jedenfalls nicht mit Crimsons ungeübten Augen.

Im Anschluss positionierte Sorc Crimsons Hände kurz vor seinem Körper in der Luft und gab ihm wortlos zu verstehen, dass er genau diese Pose halten sollte. Er trat von ihm zurück und begab sich zu seinem eigenen Platz. Dort angekommen, entledigte er sich unzeremoniell seiner restlichen Kleidung und warf sie zu seiner Robe, die schon an der Seite auf dem Boden lag.

Crimson spürte seinen Herzschlag bis in seinen Hals. Aber er freute sich darauf, an diesem Ritual teilzunehmen.

Sorc schloss die Augen und atmete tief, während er seine Hände mehrmals bedächtig zu Fäusten ballte und wieder öffnete. Er gehörte zu den Personen, die Nacktheit wie ein vornehmes Gewand tragen konnten. Fast hätte Crimson seine eigene Haltung korrigiert, doch er durfte sich nicht bewegen.

Nach wenigen Sekunden gab es einen spürbaren Anstieg der magischen Energie in der Luft. Sorcs Haar bauschte sich hinter ihm auf wie in Wasser. Die Magie schien sich bei ihm zu versammeln und nur auf seine Wünsche zu warten.

Wann fing er denn an zu beschwören?

Aber halt – er tat es schon! Crimson merkte es nur zu spät. Ein Beschwörungsspruch musste nicht unbedingt laut ausgesprochen werden, aber allgemein galt, dass er dann wirkungsvoller war, denn die Stimme verlieh ihm ein zusätzliches Gewicht. Das zumindest wusste Crimson noch aus der Schule. Damals hatte ihn immer gestört, dass ein möglicher Feind doch merkte, was man vorhatte, wenn man den Spruch aufsagte. Vielleicht gab es andere Theorien zu dem Thema in den höheren Klassenstufen – das konnte er ja nicht beurteilen.

Nach Minuten der Stille öffnete Sorc die Augen, deren Rot wie Glut leuchtete. Er spreizte die Arme seitlich ab, und zu seinen Füßen flammte ein in allen Farben schimmernder Bannkreis auf. Das Licht schoss von dort in alle Richtungen und machte die Linien der geheimen Schrift sichtbar.

Die Schrift war überall. Die Linien durchzogen die Halle, sowohl auf dem Boden als auch an den Wänden und in Höhen, wo niemand ohne Hilfsmittel hinkam. In Crimsons Kopf schreckte Cathy aus irgendeiner anderen Tätigkeit hoch. Durch das Schlossherz konnte Crimson sehen, wie alle Schriftlinien, die Sorc jemals erschaffen hatte, zu glühen anfingen. Das Phänomen breitete sich von Sorcs Standpunkt ausgehend weiter aus, erfasste alle Räume, jeden Korridor, jede Treppenstufe, alle Tankräume und sonstigen Kellerräume, sogar das Außengelände über die Grenzen von Cathys Einflussbereich hinaus. Kein Wunder, dass es fast einen Monat gedauert hatte, dieses Werk zu vollenden. Erstaunlich, dass Sorc es unter all den Umständen überhaupt in der Zeit geschafft hatte.

Auch auf Crimson Körper leuchteten die unbekannten Zeichenreihen. Sein Blick fiel auf seine Hände und er stellte fest, dass von ihnen Lichtschnüre aus Schriftzeichen zum Boden führten und sich dort in das Muster einreihten. Sorc stand in einem doppelten Bannkreis, den zahlreiche Schriftzüge mit jenem verbanden, in dem Crimson stand. Einzelne übergroße Symbole, welche wiederum aus Schriftlinien bestanden, zierten den Bereich darum herum. Die herbeigerufene Magieansammlung prickelte warm auf Crimsons Haut. Sein weißes Haar wehte in einem Wirbel aus Energie.

Auf Sorcs Stirn bildeten sich Falten, und sein Mund bewegte sich stumm zu den unausgesprochenen Worten seiner Beschwörung. Schweiß glänzte auf seinem Körper. Er suchte Blickkontakt.

„Crimson und Catherine, Schlossherr und Schlossgeist von Schloss Lotusblüte,“ sprach Sorc erstmals wieder laut aus. „Ich überschreibe meine Seele diesem Schloss, so dass das Schlossherz gleichwertig wird mit einem beseelten Schlossherz. Seid ihr einverstanden?“

Crimsons Augen weiteten sich. Was sagte er da? Seine Seele wollte er aufgeben?

Cathy blieb unsichtbar, aber auf das Geschehen konzentriert. Der Schlossgeist wirkte unsicher, hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, mit Draconiel mitziehen zu können, und dem Zweifel, ob gerade diese Seele sich für den Zweck eignete. Seine aufgewühlten Gedanken waren ein offenes Buch für Crimson.

[„Cathy. Einwände?“]

[„Entscheidet, Meister. Ich beuge mich Eurem Wunsch.“] Ein hoffnungsvoller Tonfall schwang in diesen Worten mit.

Crimson wusste nicht, was diese Tat für Sorc bedeutete. Vielleicht brachte es ihn um. Vielleicht konnte Cathy mit der Chaosseele nicht umgehen. Vielleicht wurde Crimson wahnsinnig mit einer solchen Bindung.

Aber es gab nur eine Antwort für ein solches Angebot. „Mein Schlossherz und ich sind einverstanden.“

Eine geschenkte Seele lehnte man einfach nicht ab.

Sorc lächelte, doch sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung. Der Moment, als er die angehaltene Magie losließ, damit sie ihr Werk tun konnte, war deutlich zu spüren.

Crimson hatte das Gefühl, dass er die Luft nicht mehr atmen konnte, so dick war sie mit Magie erfüllt. Sorc ballte die Hände zu Fäusten und biss mit zurückgezogenen Lippen die Zähne zusammen, doch seine Augen blieben offen und er verließ seinen Kreis nicht. Crimson begriff, warum er einen doppelten Bannkreis benutzte: Er war der Beschwörer und das Opfer der Beschwörung zugleich, zwei Eigenschaften, die sich eigentlich nicht miteinander vereinen ließen. Zu dieser Vorgehensweise passte es aber durchaus, dass er die nonverbale Beschwörung anwendete, denn so konnte er fortfahren, auch wenn er keine Worte mehr hervorbrachte.

Auch Crimson stellte fest, dass seine Hände Fäuste waren. Es fiel ihm schwer, sich das anzusehen, denn Sorc schien zu leiden. Es konnte nicht angenehm sein, sich bei vollem Bewusstsein die Seele aus dem Körper zu reißen und sich gleichzeitig auf die komplizierte Beschwörung zu konzentrieren.

Die Schriftzüge schillerten mit Energie. Das Gefühl auf seiner Haut kam Crimson heiß vor. Zumindest spielte es wohl keine Rolle, dass er seine Arme nicht mehr am selben Fleck hielt, denn die Zeichen in der Luft bewegten sich mit.

Unter seinen Füßen vibrierte der Boden wie ein großer Herzschlag. Das ganze Gemäuer schien einen tiefen Atemzug zu nehmen. All das geschah fast lautlos, abgesehen von feinen Tönen, die durch die Aktivität der Magie in der Luft und Druck auf das Trommelfell entstanden. Besorgt vernahm Crimson auch Sorcs schnelle Atmung immer deutlicher.

Der Chaoshexer wand und krümmte sich an seinem Platz in dem doppelten Bannkreis, blieb aber auf den Beinen. Er hatte den Platz im Inneren zum Glück großzügig bemessen, so dass er nicht auf die Linien trat. Durch die vielen Lichteffekte sah er bleich aus. Sein Gesicht zeigte immer noch einen konzentrierten Ausdruck. Schließlich warf er den Kopf zurück, öffnete die Arme weit und schloss die Augen. Der Schrei, den er die ganze Zeit unterdrückt hatte, entrang sich machtvoll seiner Kehle.

Crimson erkannte, dass in diesem Moment die Arbeit des Beschwörers aufhörte und das Ritual seinen Zweck vollendete. Er spürte es auch: Ein neues Gefühl ergriff das Schloss und seinen Herrn wie eine warme Decke, die sich um frierende Schultern legte. Crimson fühlte sich klein angesichts dessen, was er erleben durfte. Und sobald er diesen Gedanken fasste, verflüchtigte er sich auch schon wieder. Statt dessen erfuhr er, dass auch er Teil des Ganzen war, so wichtig wie alle anderen. Als er sich fragte, ob er in der Lage war, sich des Geschenkes würdig zu erweisen, das er erhielt, fegte etwas seine Zweifel hinweg. Sorc hielt ihn für würdig, und alles andere zählte nicht.

Die Chaosseele breitete sich in ihrem neuen Körper aus. Crimson spürte, wie es im Schloss bebte, wackelte, vibrierte, atmete. Vielleicht kam es nur ihm so vor, weil er der Schlossherr war, aber das Gemäuer nahm eine ganz andere Ausstrahlung an. Fasziniert drehte er sich auf der Stelle und sah sich um.

Im Prinzip gab es nichts zu sehen. Und dennoch glaubte er, das alles zum ersten Mal zu erblicken. Ohne sein bewusstes Zutun straffte er die Schultern, reckte seine Gestalt, um aufrechter zu stehen, und schloss den vor Staunen offen stehenden Mund. Er hob den Fuß und verließ seinen Kreis.

Sorc lag am Boden, das Gesicht hinter der schwarzen Haarfülle verborgen. Er atmete hörbar, doch den Umständen entsprechend ruhig. Die Kreise, die er für das Ritual benutzt hatte, verblassten, ihre Linien veränderten sich zu einem neuen Muster, das dann aber bald nicht mehr zu erkennen war.

Schon seit seiner Schulzeit wünschte er sich, die erlernte Seelenmagie einmal praktisch anzuwenden. Aber nicht irgendwie. Für ihn musste es immer im ganz großen Stil sein. Wie er dieses Ziel erreichen konnte, blieb ihm lange verborgen...

Crimson schüttelte den Kopf und fasste sich an die Stirn. Sorcs Erinnerungen. Zwar störten sie ihn nicht, aber er fand, dass ihn Sorcs tiefste Sehnsüchte nichts angingen... Etwas korrigierte ihn. Er versuchte nicht aus Rücksicht, sich zu sperren, sondern weil er Angst hatte, sich selbst zu verlieren, wenn er zu viel von einem anderen zuließ. Was ging da in ihm vor?

Er schob das Problem zur Seite, um sich um das drängendere zu kümmern. Sorc brauchte ihn jetzt, denn das Ritual hatte ihn geschwächt. Dennoch war er bei Bewusstsein. Er bewegte sich und versuchte aufzustehen. Als er sich die Haare aus dem Gesicht strich, zitterte seine Hand dabei, und den Augen fehlte völlig ihr gewohnter Glanz.

Crimson kniete sich vor ihn. „Sorc, kannst du mich hören? Weißt du, wer ich bin?“

Der Ältere nickte nur. Es sollte wohl eine Antwort auf beide Fragen sein.

Was machte er jetzt am besten mit ihm? Die Krankenstation? Aber das war ziemlich weit. Erstmal die Kleidung holen?

„Zweifel... sind unnötig,“ flüsterte Sorc. „Zerbrich dir nicht den Kopf. Hilf mir lieber hoch.“

Crimson tat es, wobei er ganz genau beobachtete, ob es dem anderen gut ging. Es schien so, obwohl seine Augen noch immer eher ausdruckslos aussahen. Aber das gehörte sich vielleicht so für jemanden, der seine Seele verschenkt hatte.

„Zweifelst du denn nie?“ fragte er.

„Ich erwäge meine Möglichkeiten... dann wähle ich die sinnvollste. Manchmal auch die, die am meisten Spaß macht,“ entgegnete Sorc. Er redete langsamer als sonst und stand wackelig, aber er stand und redete. Das wertete Crimson mal als gutes Zeichen.

„Ähm... wie fühlst du dich? Ich meine... ist alles wie früher?“

„Ich fühle...“ Sorc zögerte. „Im Moment fühle ich gar nichts. Und wie früher ist es natürlich nicht. Aber... ich kann es nicht beschreiben...“ Er wischte sich mit einer Hand durchs Gesicht.

Crimson ließ beide Kleidungssets zu sich fliegen und half Sorc in seine Sachen, ehe er sich selbst anzog. Danach schlug er mit ihm den Weg zur Krankenstation ein. Falls es irgendwelche Nebenwirkungen gab, wollte er alles Nötige parat haben. Doch er musste einen Augenblick überlegen, in welche Richtung er sich wenden sollte. Seltsam... seit wann fand er in seinem eigenen Schloss den Weg nicht? Aber die Erklärung ergab sich auch gleich: Nicht immer waren diese Räumlichkeiten die Krankenstation gewesen. Durch Sorcs Ritual kam alles durcheinander. Er, Sorc und Cathy mit seinen Datenbanken verschmolzen zu einem Ganzen, das verwirrte Crimsons Denken.

Sie kamen nur in Spaziergeschwindigkeit voran, aber Crimson wollte nicht drängen. Er hatte auch genug zu tun: Seine Gedanken waren mit vielen Erinnerungen durcheinandergewürfelt, die nicht ihm gehörten. Einmal bog er tatsächlich in den falschen Gang ab, und weder Sorc noch Cathy wiesen ihn darauf hin.

Cathy war beschäftigt. Crimson fragte sich, ob alles in Ordnung war, wollte aber nicht stören. Sorc schwieg ebenfalls, bis sie das Ziel erreichten und er ihn auf dem hintersten der Betten absetzte, wo er vor neugierigen Augen einigermaßen geschützt war. Sorc kroch brav unter die Decke.

„Wie kann es sein, dass du so normal wirkst?“ fragte Crimson ihn. Gut, wer Sorc kannte, bemerkte einen Unterschied... aber es war erstaunlich, dass jemand, der keine Seele mehr hatte, lebendig und wach neben ihm ging.

„Das Bewusstsein und die Seele hängen eng miteinander zusammen, sind aber nicht dasselbe. Für das Ritual habe ich mein Bewusstsein von der Seele gelöst und fest an meinen Körper gebunden, damit ich den Vorgang beenden kann, und damit ich diesen Körper weiter benutzen kann, auch wenn die Seele nicht mehr in ihm wohnt,“ erklärte Sorc.

„Also... ist das Bewusstsein normalerweise an die Seele gebunden?“ hakte Crimson nach.

„Genau,“ nickte Sorc. „Meistens unterscheiden wir beides nicht. Aber wenn ich darauf nicht geachtet hätte, wäre mein Körper jetzt eine leere Hülle, mein Bewusstsein mit der Seele im Schloss verankert. Vielleicht hätte ich es gar nicht geschafft, das Ritual zu beenden, wenn mir dieser Fehler unterlaufen wäre.“

„Denn eigentlich gibt es einen Beschwörer und ein Opfer... die Seele wird dem Opfer entzogen, noch während die Beschwörungsformeln gesprochen werden. Nicht hinterher.“

„Genau... wobei der Begriff Opfer sich etwas negativ anhört, aber auch zutreffend ist. Der Vorgang ist... nicht angenehm.“

„Dann hast du mir deshalb nicht gesagt, was du vorhast. Du dachtest, ich würde versuchen, es dir auszureden.“

Sorc antwortete darauf nicht, was Crimson als Zustimmung wertete. Ganz falsch lag Sorc nicht – auch wenn Crimson noch eher als andere bereit war, jemanden ein Risiko eingehen zu lassen, einfach weil er auch selber gerne mal riskante Dinge tat. Allerdings gewöhnte er sich das in seiner Eigenschaft als Schlossherr allmählich ab. Er hatte jetzt Verantwortung.

„Es war immer eine meiner Schwächen, dass ich neugierig bin und alles ausprobieren muss,“ sagte Sorc schließlich. „Zu meiner Schulzeit hat mich Seelenmagie sehr interessiert, aber das Fach war voller Theorie. Hier sah ich nun die Chance, zugleich mein theoretisches Wissen anzuwenden und zu beweisen, dass ich in guter Absicht hergekommen bin.“

„Ist es das? Hast du es wegen Kuro und Neo getan?“ fragte Crimson. Ihm zog sich der Magen zusammen bei der Vorstellung.

„Du solltest mich besser kennen. Diese beiden Unruhestifter könnten mich nicht dazu treiben. Aber dein Schlossherz wird jetzt nicht mehr an mir zweifeln. Und auch dein Vater nicht, denn ich nehme an, er wird es merken. Anfangs wollte ich auch dich damit überzeugen, aber das ist nicht mehr nötig.“

„Nein... ist es nicht,“ bestätigte Crimson.

Sorc schloss langsam die Augen und riss sie dann plötzlich wieder auf. „Entschuldige, ich bin ziemlich müde. Meine Banne, mit denen mein Bewusstsein im Körper gehalten wird, wirken nur noch für einige Minuten... es versucht, sich wieder mit meiner Seele zu vereinen. Ich kann dir das jetzt nicht genau erklären, Crimson. Lass mich ein bisschen schlafen. Es gibt noch Arbeit, die ich im Schlaf machen kann.“

Crimson verstand nicht, nickte aber. „Brauchst du noch etwas?“

„Ich wüsste einen Freund an meiner Seite zu schätzen. Eventuell brauche ich Hilfe.“

„Okay. Wenn's weiter nichts ist...“ Crimson hob die Hand, um einen Stuhl erscheinen zu lassen, doch er erinnerte sich noch rechtzeitig, dass er das nicht konnte. Er musste wirklich verwirrt sein.

Sorc schien seine Absicht zu erraten, denn er blickte auf die Stelle neben Crimson, und einer der Stühle, die für wartende Personen an der Seite standen, erschien dort. Sorcs linke Hand zuckte dabei, und Crimson sah, dass an der Seite nun ein Stuhl fehlte.

„Ich... bring's dir... bei,“ murmelte Sorc, dann schlossen sich seine Augen, und ein entspannter Ausdruck lockerte seine Gesichtsmuskeln. Er atmete leise und regelmäßig.

Crimson blieb allein zurück – außer ihm und Sorc war niemand mehr im Schloss. Aber ihn beschlich das Gefühl, von Gespenstern umgeben zu sein. Sie flüsterten in seinem Kopf, spielten Erinnerungen von längst verblichenen Schlossherren vor seinem inneren Auge ab und ließen ihn das ein oder andere Mal nervös über die Schulter blicken. Hatte er sich anfangs noch überlegt, vielleicht auch eine Runde in einem der Betten zu schlafen, so verwarf er diese Idee inzwischen wieder, denn zweifellos warteten wirre Träume auf ihn.

Als Cathy sich bei ihm einfand, fuhr er vor Schreck fast aus der Haut, zumal das Schlossherz ungewöhnlich aussah. Sein sonst rosenrotes Haar zeigte einen dunkleren Farbton und hing herunter, fast bis auf den Boden. Dahin war die blütenförmige Frisur. Wenn Cathy sich bewegte, schlängelte sich die Haarflut wie ein Bach in der Luft. Die Augen wirkten fast schwarz, weil die Pupillen stark geweitet waren, und die Haut grau. Kurz gesagt fand Crimson, dass sein Schlossherz krank aussah.

Cathy hingegen schien sich nicht an der Veränderung zu stören. Er sagte: „Meister, Tank Sechs hat angefangen, sich ohne mein Zutun zu füllen. Nun habe ich noch eine sichere Quelle außer Tank Eins, der durch die Lavaquelle betrieben wird!“

Crimson vergaß vor Überraschung, nach der äußerlichen Veränderung zu fragen. „Wie... der Tank füllt sich... einfach so?“

„Aber nein, Meister. Der Grund dafür ist die Seele, die ich bekommen habe!“ Cathy grinste breit, als wäre ihm ein besonders raffinierter Streich gelungen. „Wie im Körper eines Magiers Meras eingelagert wird, geschieht es jetzt auch hier! Es ist, als wäre das Schloss der Körper eines Magiers, und er bildet sein eigenes Meras!“

„Oh... das ist cool! Aber heißt das, du kannst jetzt auch zaubern?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich kann leider auch nicht lange bei Euch bleiben. Einige Veränderungen gehen mit mir vor...“ Der Geist betrachtete seine Hand. „Ich hoffe, das geht wieder weg, aber es ist bestimmt nur die Übergangsphase. Sorc hat übrigens meinen Einflussbereich vergrößert, indem er seine Zeichen sogar etwas weiter draußen aufgezeichnet hat. Und ich kann jetzt wieder in die Schatzkammer und den stillgelegten Tankraum sehen, und... nun, in ein paar andere Ecken.“

„Hm... anscheinend hattest du genug versteckte Ecken, dass Olvin sich vor dir verbergen konnte. Er muss davon gewusst haben.“ Crimson wollte zu dem Thema eine Frage stellen, aber sie entglitt ihm. Statt dessen kam ihm etwas anderes in den Sinn: „Sag mal... wenn Sorcs Seele jetzt für dich Meras produziert, was ist dann mit ihm selbst? Füllt sein Körper seine Reserven nicht mehr auf?“ Das wäre ja entsetzlich – er konnte sich nicht vorstellen, dass Sorc das nicht bedacht hatte.

Cathy schwieg einen Moment und bekam dabei einen ganz abwesenden Gesichtsausdruck. „Ich glaube, das geht in Ordnung,“ antwortete er dann. „Es ist schwer zu erklären... Sorcs Seele ist immer noch Sorcs Seele, aber ich bewahre sie quasi für ihn auf und kann sie dabei mit benutzen.“

„Das funktioniert?“ staunte Crimson.

„Möglicherweise wird sich Sorcs Merasspeicher ein bisschen langsamer aufladen als früher, vielleicht auch deutlich langsamer. Aber er wird den Unterschied kaum bemerken,“ spekulierte Cathy. „Soweit ich das beurteilen kann, ist alles in Ordnung, das glaubt er auch. Sein Bewusstsein ist bei mir... er tut irgendwas, um den Bindezauber zu optimieren. Mit Eurer Erlaubnis werde ich meine Leistung herunterfahren und etwas ruhen. Die Seele muss erst... wie soll ich sagen... in mir gefestigt werden.“

„Na gut,“ stimmte Crimson zu. „Aber sag mir noch, Cathy: Bist du mit der Situation zufrieden oder hättest du lieber keine Seele gewollt?“

„Oh ja, ich bin zufrieden,“ kam sofort die Antwort. „Schon allein wegen des selbst befüllenden Tanks hat es sich gelohnt. Wisst Ihr... ich hatte Angst davor, obwohl ich gerne eine Seele wollte... Ich hatte Angst, dass Sorcs Bewusstsein mich verdrängt. Aber Euer Vertrauen in Sorc hat mich ermutigt. Und nun, da ich seine Seele besitze, kenne ich all seine Gedanken, wenn ich das will. Soll ich seine Gedanken durchforsten, um sicher zu gehen, dass er nichts gegen Euch plant?“

Crimson warf einen Blick auf den schlafenden Mann in dem Bett. „Nein. Vertrauen heißt, dass man jemandem glaubt, ohne die Bestätigung zu suchen.“

„Oh... ich verstehe.“

„Kümmere dich jetzt um alles Nötige, Cathy. Ich schaue gleich noch einmal nach dem Elixier und komme dann wieder her.“

„Ist gut, Meister. Legt Euch ruhig etwas schlafen, ich behalte die Umgebung im Auge, auch wenn ich zu tun habe oder ruhe.“

„Ja, werde ich. Danke.“ Crimson begab sich in gemächlichem Tempo in seinen Alchemieturm, bereitete dort so gut es ging alles für den nächsten Einsatz vor und machte sich dann wieder auf den Rückweg.

Selten herrschte im Schloss so eine Stille wie in dieser Nacht, fand er. Dabei war es gar nicht wirklich still. Das Schloss bebte kaum merklich, passte sich der neuen Situation an, nahm hier und da Reparaturen und Korrekturen vor. Doch kein weiterer Mensch hielt sich hier auf außer ihm und Sorc, und letzterer zählte momentan kaum. Irgendwie umgab das Gemäuer eine andere Aura, wenn es bewohnt war. Doch Crimson schob das leichte Gruselgefühl zur Seite. Das lag nur an dem ungewohnten Gefühl, dass dieses Schloss nun beseelt war. Vermutlich fiel es außer ihm gar niemandem auf.

Zurück an Sorcs Bett, setzte er sich auf den Stuhl und ließ sich die Ereignisse des Tages noch einmal durch den Kopf gehen. Das erwies sich als relativ schwierig, denn immer wieder mischten sich Gedankenfetzen dazu, die aus Cathys Erinnerungsspeicher zu stammen schienen. Unwillkürlich musste Crimson sich vorstellen, dass es nach ihm vielleicht einmal einen jungen Schlossherrn gab, der in der Rolle des jetzigen Schlossherrn von dieser Nacht träumte, der Nacht der Beseelung. Huuuh... die Nacht der Beseelung. Der Ausdruck gefiel Crimson, und wenn er ein Tagebuch geführt hätte, wäre das definitiv einen Eintrag wert gewesen. Zweifellos legte aber Cathy einen an.

Crimson war viel zu aufgewühlt, um zu schlafen. Er besorgte eine Kanne Wasser und einen Becher und stellte beides auf den Nachttisch. Er kochte sich einen Tee und machte einen kurzen Rundgang, wobei er das Getränk ziehen ließ. Der Tee wurde kalt, während er ihn grübelnd in der Hand hielt, so dass er zu guter Letzt einfach den ganzen Rest austrank. Der Tee hatte einen ziemlich blumigen Geruch, fand er. Anscheinend hatte er im Regal daneben gegriffen und nicht den gewünschten Kräutertee erwischt. Aber das war nicht so schlimm – im Teeregal gab es nichts, was ein gesunder Mensch nicht trinken durfte. Als ihm die Augenlider schwer wurden und er vermutete, dass es wohl ein Beruhigungstee gewesen war, wehrte er sich nicht gegen die Wirkung, sondern ließ seinen Oberkörper nach vorn auf die Bettkante sinken und gestattete dem Schlaf, ihn einzulullen.

Kaum zwei Minuten schienen vergangen zu sein, als ein Schwall kalten Wassers ihn in die Realität zurückholte. Er wollte sich die Augen reiben, doch er konnte sich nicht bewegen – er war an den Stuhl gefesselt. Jemand packte brutal in seine Haare und riss seinen Kopf nach hinten. Eine kalte Klinge legte sich an seinen Hals.

„So sehen wir uns wieder, Crimson,“ zischte eine bekannte Frauenstimme in sein Ohr. Dann schrie sie ihn an: „Was hast du meinem Vater angetan?“

Familienbande

Als er erkannte, dass er sich in der Gewalt von Ruin und Demise befand, die ihn fälschlich beschuldigten, etwas mit Sorcs Zustand zu tun zu haben, konnte Crimson gut nachvollziehen, wie sich Sorc fühlte, wenn ihm Kuro oder Neo böse Absichten unterstellten. Allerdings war seine Lage noch etwas ungemütlicher. Sie mussten etwas mit seinem Tee gemacht haben, als er ihn unbeaufsichtigt gelassen hatte. Wie sonst hätten sie ihn dermaßen verschnüren können, ohne dass er das mitbekam? Seine Hände und Füße waren jeweils einzeln an ein Stuhlbein beziehungsweise an die Stangen der Stuhllehne gefesselt, der Oberkörper noch einmal an die Lehne gebunden. Aber das schlimmste war das Banneisen. Es löste in Verbindung mit der Tatsache, dass er sich nicht bewegen konnte, regelrechte Panikattacken in ihm aus, so dass er schneller atmete und Schweißausbrüche bekam. Ziemlich peinlich. Außerdem hielt das Banneisen, obgleich um seinen Hals befindlich, nicht die Schwertklinge von seiner Haut ab.

„Rede!“ verlangte Ruin nachdrücklich.

Demise stellte gerade den leeren Wassereimer zur Seite. Crimson hatte den Mann noch nie ohne Rüstung gesehen. Er war ein großer, gut bemuskelter Kriegertyp, der wirklich nur Ruins Bruder im Geiste war, wie sie ihn selbst einmal bezeichnet hatte. Er sah ihr gar nicht ähnlich – mit dunkelbrauner Haut und krausen Rasterzöpfen bildete er einen krassen Gegensatz zu der weißhaarigen Frau. Im Moment massierte er seine Finger, als müsse er sie davon abhalten, den Kontakt zu Crimsons Kiefer zu suchen.

„Ich habe Sorc nichts angetan,“ teilte Crimson den beiden sachlich mit. „Er ist in diesem Zustand, weil er ein aufwändiges Ritual durchgeführt hat.“

Ruin ruckte an seinem Haar, dass sie immer noch in ihrer Faust hielt. „Erzähl keinen Mist! Er ist dein Feind! Warum solltest du zulassen, dass er hier ein Ritual veranstaltet? Zufällig weiß ich, dass du heute alle von hier weggeschickt hast! Weißt du, was ich glaube? Du hast versucht, ihn loszuwerden, weil deine Freunde sich über ihn beschwert haben. Dafür hast du dich gut vorbereitet und dann alle anderen in Sicherheit gebracht. Du musst irgendwas gemacht haben, um seinen Widerstand zu brechen und sein Bewusstsein wegzusperren...“

„Du irrst dich! Die Mühe müsste ich mir gar nicht machen, ich könnte einfach dem Zirkel des Bösen sagen, dass er mich stört!“ protestierte Crimson.

„Gib es doch zu... das gehört alles zu deinem Racheplan!“ Ruin ging auf seine Argumentation überhaupt nicht ein.

„Lass mich versuchen, ihn zu überzeugen, Schwester,“ sagte Demise mit tiefer Stimme und schob sie sanft aus dem Weg.

Als sie Crimson losließ und das Schwert von seinem Kinn nahm, konnte er sehen, dass es vor dem Fenster schon hell wurde. Das Elixier! Er musste dem Elixier bei Tagesanbruch etwas Wasser hinzufügen und die Hitze unter dem Kessel reduzieren! Später benötigte er dann...

„Hey!“ lenkte Demise seine Aufmerksamkeit auf sich. Er krempelte den Ärmel seines Hemdes hoch und zeigte seine Faust. „Wie können wir Vater aus diesem Zustand befreien? Spuck's aus, oder ich sorge dafür, dass du zuerst deine Zähne ausspuckst!“

„Er ist nur erschöpft, er wird eine Weile schlafen und dann wieder aufwachen,“ versicherte Crimson. Es gelang ihm, die Ruhe zu bewahren, denn irgendwie glaubte er nicht daran, dass die beiden so gewalttätig waren, wie sie vorgaben.

„Vater würde niemals riskieren, so außer Gefecht gesetzt zu werden,“ widersprach Ruin, die nun mit verschränkten Armen etwas seitlich stand. Das Schwert ruhte auf dem leeren Bett neben ihr.

„Sorc vertraut mir,“ teilte Crimson ihr mit. „Und euch anscheinend auch, denn wie bitte seid ihr hier hereingekommen?“

„Durch das Haupttor,“ sagte die Fee. „Niemand hat uns aufgehalten. Nicht einmal das Schlossherz. Wie nachlässig von dir, bist du nicht jetzt der Schlossherr?“

Crimson versuchte, eine etwas selbstsichererer Pose einzunehmen, doch seine Haltung war durch die Fesseln deutlichen Beschränkungen unterworfen. Eigentlich sollte er sich wohl fürchten, aber statt dessen beruhigte er sich langsam. „Wenn das Schlossherz euch nicht aufgehalten hat, dann stuft es euch nicht als Bedrohung ein. Es kennt euch, schätze ich.“

„Blödsinn!“ zischte Ruin. „Es war nicht aktiv, als wir hier gelebt haben!“

Crimson überlegte, ihnen die Wahrheit zu sagen, befand aber, dass sie das vielleicht falsch verstehen würden. „Ich habe Sorc nichts getan!“ wiederholte er statt dessen. „Ich habe ihn sogar vor den Gegnern, die er hier hat, in Schutz genommen. Meiner Verantwortung als Schlossherr obliegt es, für die Sicherheit meiner Untergebenen zu sorgen und...“

„Untergebenen?“ unterbrach Demise ihn. „Vater unterwirft sich niemandem!“

„Doch, tut er,“ erwiderte Crimson. „Es ist ja nicht so, als würde ich ihn unterjochen! Er hat mir die Treue geschworen, indem er mir sein Wort als Prinz der Eisigen Inseln gab!“

Seine letzte Bemerkung bewirkte zum ersten Mal, dass die Geschwister einander zweifelnde Blicke zuwarfen. Hoffentlich einigten sie sich schnell zu seinen Gunsten. Das Elixier brauchte Zuwendung! Zwar ging es dieses Mal nicht um eine fehlende Zutat, aber wenn er es zu lange zu heiß köcheln ließ, konnte es zu sehr eindicken.

„Sorc bat mich darum, alle wegzuschicken, damit er sein Ritual durchführen konnte,“ fuhr Crimson möglichst ruhig fort. „Ich war allein mit ihm und wusste nicht, was er plante, aber ich ließ es ihn tun. So sehr vertraue ich ihm.“ Crimsons Stimme klang in seinen eigenen Ohren fest und glaubwürdig, er war selber überrascht.

Wieder tauschten die Geschwister Blicke aus. Aber sie konnten sich wohl nicht recht dazu durchringen, ihm zu glauben.

„Ach, da sind ja alle!“ kam eine weitere Stimme hinzu. „Du liebe Zeit, Jungchen, die sind ja leicht mit dir fertig geworden.“

„Olvin! Du hast gewusst, dass sie herkommen wollten?“

„Wir haben uns gestern im Dorf getroffen und uns unterhalten. Daher wussten sie ja auch, dass niemand hier ist, aber ich dachte nicht, dass sie so leichtes Spiel mit dir haben.“ Olvin legte sein weniges Reisegepäck ab und baute sich vor Crimson auf, ohne dass Ruin oder Demise ihn davon abhielten. „Ich muss sagen, der Anblick hat was.“

„Du kommst gerade zur rechten Zeit, Olvin,“ reagierte Ruin endlich. „Wir fanden Vater hier im Krankenbett bewusstlos vor! Angeblich durch sein eigenes Verschulden, ein Ritual! Hast du ein Mittel, um die Wahrheit aus Crimson herauszubekommen?“

„Ich habe euch bereits wahrheitsgemäß geantwortet!“ beschwerte Crimson sich.

„Ach, Sorc und Crimson sind in letzter Zeit ganz dicke Kumpel,“ winkte Olvin ab. „Vielleicht haben sie irgendwas ausgeheckt, und es ist ein bisschen schiefgegangen. Demise, sei so gut, hol mir einen Stuhl, ja? Danke.“ Der Alte stieg auf den Stuhl, den der Unterweltlerkrieger ihm neben Sorcs Bett stellte, und warf einen Blick auf den Patienten. Er atmete scharf ein.

Crimson konnte sein Gesicht nicht sehen, aber Demise und Ruin standen mit am Bett und warteten ungeduldig auf eine Diagnose.

„Was ist denn?“ fragte Ruin in einem alarmierten Tonfall. „Olvin, bitte sag doch was! Was hat Vater?“

Olvin beugte sich über Sorc und vollführte ein paar standardmäßige Handgriffe wie den Puls fühlen, ein Augenlid anheben. „Deshalb also,“ murmelte er vor sich hin. „Er stellte mir in letzter Zeit hin und wieder mal seltsame Fragen... aber er war immer neugierig, daher...“

Crimson befand, dass sich die Situation nicht zu seinen Gunsten entwickelte. Sorcs Adoptivkinder sahen feindselig in seine Richtung, wenn nicht besorgt auf ihren Vater.

„Keine Sorge, mit dem ist körperlich alles in Ordnung, bis auf die Erschöpfung,“ konnte Olvin sie jedoch beruhigen. „Ich bin auch sehr sicher, dass der Idiot das selber verbockt hat. Aber Jungchen, ich glaube, du solltest uns erklären, warum du ihn nicht aufgehalten hast.“

Drei Augenpaare wandten sich abwartend ihm zu.

„Er wollte nicht aufgehalten werden, deshalb hat er es mir nicht vorher erklärt. Und ich habe ihm genug vertraut, um das zu akzeptieren,“ gab Crimson Auskunft. „Könnte mich wohl jemand losbinden? Es ist unbequem und ich friere in den nassen Klamotten.“

„Lass mich den Anblick noch ein paar Minuten genießen.“ Olvin grinste ihn fies an und musterte ihn von oben bis unten. „Das Ritual war aber ein Erfolg... ja? Kannst du das mit Sicherheit sagen?“

Crimson nickte. „Sorc ist auf seinen eigenen Füßen hierher gegangen, nachdem er fertig war.“

„Um was für ein Ritual geht es denn eigentlich?“ wollte Ruin wissen.

Olvin tätschelte ihre Hand. „Das soll dir dein Vater mal selber erklären, Kindchen. Demise, lass jetzt Crimson frei, ich glaube, der hat was zu tun.“

Überrascht beobachtete Crimson den großväterlichen Umgang von Olvin gegenüber den beiden. Demise hörte tatsächlich auf den Alten und band ihn los. Crimson bewegte probeweise die versteiften Gelenke und stand erst auf, als er es seinen Knöcheln zutraute, sein Gewicht zu tragen.

„Ich muss in den Turm. Ihr beide könnt hier bleiben, wenn ihr wollt,“ sagte er zu den Geschwistern. „Aber dann will ich kein Genörgel hören, bis Sorc euch alles erklären konnte!“

„Jetzt hab keine große Klappe, bloß weil du wieder frei bist!“ schnauzte Ruin ihn an.

„Ihr habt übrigens was vergessen!“ motzte Crimson zurück und deutete auf das Banneisen.

Freundlicherweise entfernte Demise auch dieses, aber nicht gerade vorsichtig.

Olvin stieg von seinem Stuhl, und der Schlossherr musste wohl oder übel einen Moment das Feld räumen, denn das Elixier wartete schon. Unterwegs trocknete er magisch seine Kleidung, und als er Wasser in den Kessel gegeben und das Feuer darunter leicht reduziert hatte, schlotterten ihm auf einmal die Knie als nachträgliche Reaktion auf den Stress, so dass er sich setzen musste.

Weder Cathy noch Sorc machten sich derzeit in seinem Kopf bemerkbar. Die Ruhe war ungewohnt. Sogar die Drachen schwiegen. Aber vielleicht wussten sie noch gar nichts von der Veränderung, denn seine Schüler waren mit ihnen unterwegs. Als Crimson den Kontakt suchte, erfuhr er, dass beim Abenteuerausflug alles in Ordnung war. Mava, Lily und die älteren Schüler hatten alles im Griff. Auch Appi, Yugi, Yami und Blacky als Aufpasser für Meras nahmen an dem Ausflug teil, es gab also keinen Grund zur Beunruhigung – die Kinder waren in guten Händen. Bis die Gruppe wieder nach Hause kam, musste Crimson etwas einfallen, wie er mit den neuen Besuchern umgehen sollte. Aber eigentlich gab es kein Problem. Sie waren eben Besucher. Vielleicht konnten sie im Dorf wohnen, um Ärger im Schloss zu vermeiden, andererseits sah Crimson es nicht mehr ein, immer erst zu überlegen, ob seine Entscheidungen jemandem nicht passen könnten.

Als er seinen Beinen wieder traute, begab er sich zurück nach unten. Im Moment konnte er nicht durch Cathy überall hinschauen und versuchte es auch nicht, während das Schlossherz noch Anpassungen vornahm. Crimson musste selber noch richtig realisieren, was passiert war. Was bedeutete die Seele eines Chaoshexers für das Schloss? Unbegrenzte Möglichkeiten oder einen direkten Weg in den Abgrund? Etwas dazwischen? Er zuckte mit den Schultern und beschloss, es auf sich zukommen zu lassen.

Aufgrund der begrenzten Personenzahl nahm es Crimson gerne auf sich, das Frühstück zu machen, eine Arbeit, die ihn wie immer entspannte. Er lud eine Anzahl von schnellen Omelettes mit Marmeladenauswahl und mehrere Teller auf ein Tablett und schaffte sie zur Krankenstation. Nicht gerade ein anspruchsvolles Essen, aber so brauchte er nicht lange, ehe er wieder vor Ort sein konnte.

Ruin und Demise reagierten etwas misstrauisch, folgten aber Olvins Beispiel, als dieser sich am Essen gütlich tat. Sorc wachte nicht auf. Allerdings konnte er es verkraften, eine Mahlzeit ausfallen zu lassen, wie der Necromant versicherte. Sein körperlicher Zustand war stabil.

Crimson beobachtete Ruin beim Essen, bis sie ihm einen bösen Blick zuwarf. Als sie für ihn noch Runa gewesen war, hatte er sich ein bisschen in sie verliebt... aber dieses Gefühl wollte er nicht wieder zulassen. Zu tief saß noch die Enttäuschung über ihren Betrug. Verrat konnte man es wohl nicht nennen, schließlich hatte sie von Anfang an für Sorc gearbeitet, damals, als Sorc noch der Feind gewesen war. Dinge änderten sich, daher wusste Crimson, dass er ihr eines Tages vergeben würde, so wie ihrem Vater, aber eben jetzt noch nicht. Sie hatte bewusst mit seinen Gefühlen gespielt, das nagte noch an ihm.

In diesem Zusammenhang kam ihm der Gedanke, dass sie es auf Sorcs Anweisung getan hatte, da es zum Plan gehört hatte, dass Crimsons Gruppe sich mit ihr anfreundete. Natürlich hatte besonders er sich als williges Opfer dieses Plans erwiesen. Wie es schien, war Sorc zumindest unterschwellig in seinem Kopf und schickte ihm Ideen... oder zumindest schloss Crimson die Möglichkeit nicht aus. Vielleicht war das Sorcs Art, seine Kinder in Schutz zu nehmen.

Als das Essen verspeist war, schickte Olvin Demise und Ruin los, damit sie nachsahen, ob ihre früheren Zimmer bewohnbar waren. Seiner Meinung nach waren die Räume frei, aber mit Sicherheit sagen konnte er es nicht. Crimson ließ sie gewähren, obgleich er keine Ahnung hatte, von welchen Räumen sie hier sprachen. Wenn er sie im Moment nicht benutzte, sprach eigentlich nichts dagegen, dass sie sie wieder in Beschlag nahmen.

Er merkte allerdings, dass Olvin auf eine Gelegenheit wartete, mit ihm allein zu reden, deshalb ließ er sich Zeit damit, das Geschirr zusammen zu packen, während Olvin darüber philosophierte, welche Tränke nachgefüllt werden mussten.

Als die Tür sich hinter den Geschwistern schloss, starrten der Schlossherr und der Necromant für einige Sekunden dorthin, ohne in ihren Tätigkeiten inne zu halten, dann stoppten sie beide.

„So... jetzt berichte mir, Jungchen!“ Olvin verschränkte die Arme vor der Brust und setzte seine strengste Mine auf. „Was hat Sorc angestellt, dass er keine Seele mehr hat?“

„Das hast du gleich gesehen?“ staunte Crimson.

„Ich bin Necromant,“ sagte Olvin, als wäre das die Mutter aller Antworten. „Also?“

Die beiden setzten sich auf die Stühle bei Sorcs Bett.

„Es war ein Ritual aus der Seelenmagie,“ begann Crimson und schilderte dann möglichst genau, an was er sich erinnerte. Er fand es ausgesprochen interessant, dabei Olvins Minenspiel zu beobachten. Hin und wieder ein verstehendes Nicken, skeptisches Stirnrunzeln, entgeistertes Kopfschütteln oder staunendes Augenaufreißen. Er endete damit, wie er Sorc ins Bett gesteckt hatte.

Olvin seufzte tief und langgezogen. „Ich wusste immer, dass der Kerl ein Vollidiot ist, aber das setzt dem ganzen die Krone auf. Gibt seine Seele aus Neugier her – hat man sowas schonmal gehört!“ Doch der Necromant wirkte sehr ernst und sah Crimson fest an. „Auf der anderen Seite kenne ich Sorc als jemanden, der sich mit einem Thema lange auseinandersetzt, bevor er solche endgültigen Sachen macht. Deiner Schilderung nach wusste er genau, was er tut, wie er es tun muss, welche Risiken er eingeht und welche Folgen es für ihn hat.“

„Darüber konnte ich noch nicht mit ihm sprechen. Was meinst du mit Folgen?“

Olvin schlug einen neutralen, akademischen Tonfall an, während er noch einmal prüfend den Blick über den Patienten schweifen ließ. „Die Seelenmagie kennt vielfältige Anwendungen. Heute ist nicht mehr klar, welche davon zuerst praktiziert wurde, man nimmt aber an, dass die Anfänge darin wurzeln, dass Magier versuchten, ihr Leben zu verlängern, wie bei so vielen Forschungsprojekten.

Eine Zeitlang war es modern, eine Waffe mit einem Teil der eigenen Seele zu versehen, um sie wirkungsvoller zu machen. Viele Dinge werden leider für den Krieg erfunden, so auch einige Zauber, die auf die Seele des Opfers zielen. Deshalb lernen manche Kriegsmagier die Seelenmagie, um sich davor zu schützen. Eine sehr wirkungsvolle Methode ist es, die eigene Seele außerhalb des Körpers zu lagern.“

„Also ist Sorc nun immun gegen Zauber, die auf die Seele zielen,“ schloss Crimson.

„Ja, aber zugleich ist er anfällig für alles, was einen unbeseelten Körper in Besitz nehmen kann. Etwa körperlose Seelen, die irgendwo herumspuken. Aber der Kerl hat einen Willen aus Stahl. Insofern musst du dir deswegen keine großen Sorgen machen. Wenn sein Bewusstsein noch im Körper wohnt, dürfte jedes andere Bewusstsein es schwer haben.“

„Wird er... anders sein? Kann er seine Magie weiter benutzen?“ Crimson fürchtete sich ein wenig vor der Antwort, aber er musste es wissen.

„Es spricht nichts dagegen,“ meinte Olvin schulterzuckend. „Zweifellos wird er nicht der Gleiche bleiben, aber ob es eine positive oder negative Veränderung gibt, hängt ganz von den Umständen ab. Ich kann da kaum aus Erfahrung sprechen – nie zuvor ist mir jemand untergekommen, der seine Seele an ein Schloss gebunden hat. Aus bekannten Überlieferungen geht hervor, dass Magier für das Ritual eigentlich bewegliche Gegenstände nehmen, die sie mit sich tragen können. Du solltest wissen, Crimson... ein Mensch kann nicht beliebig weit oder lange von seiner Seele entfernt sein.“

„Ist das sicher?“ hakte Crimson nach. „Das würde ja bedeuten...“

Olvin nickte bedächtig. „Ja. Sorc hat sich sein eigenes Gefängnis geschaffen. Ich nehme an, dass er den Bereich, den er mit dem Zauber abgegrenzt hat, nicht verlassen kann, oder nur in einem begrenzten Radius.“

Crimson zog sich der Magen zusammen. „Lass mich raten... das Ritual wurde nicht nur benutzt, um die eigene Seele zum Schutz aus dem Körper zu entfernen, sondern man hat es auch missbraucht, um Gefangene an einem Ort festzusetzen.“

„Davon kannst du ausgehen,“ stimmte Olvin zu. „Allerdings kenne ich keine aktuellen Beispiele. Aber es ist mit vielen Dingen so... jemand erfindet etwas, um damit etwas Gutes zu tun, und lässt dabei eine Waffe auf die Welt los. Vermutlich ist das, was du in deinem Turm machst, aus genau diesem Grund illegal.“

„Vermutlich,“ bestätigte Crimson. Er wollte nicht zu ausführlich darauf eingehen, aber natürlich wusste er, warum das Elixier von Sil-har'kahn so einen schlechten Ruf hatte. Durch das Zeug waren mehr Leute umgekommen als gerettet wurden.

Olvin holte eine kleine Phiole aus seiner Robe und trank den Inhalt. Es schien, als hätte er diesen Handgriff schon oft geübt. „Mir scheint ja, du bist noch im Zeitplan, Jungchen. Du weißt hoffentlich noch, was wir verabredet haben.“

„Es ist nicht nötig, mich daran zu erinnern.“ Crimson war leicht pikiert, weil der Alte wohl dachte, er würde sein Wort brechen.

Heute war der vorletzte Tag vor dem großen Ereignis. Crimson wurde ruhiger, je näher er dem Ende kam. Schlicht und einfach, weil mit jedem Schritt weniger schiefgehen konnte, die Wartezeit dahinschmolz und weil sich generell eine gewisse Routine eingestellt hatte. Er wusste, dass es ein Restrisiko gab, aber das gab es bis zum Schluss.
 

Am frühen Nachmittag saß er immer noch neben dem Bett, während Olvin ein paar routinemäßige Aufgaben erledigte und sich dann zurückzog. Dafür, dass er gar nicht wirklich als Heiler angestellt war, tat er ganz schön viel.

Crimson döste etwas, schreckte jedoch aus diesem Zustand hoch, als Cathy sich wieder bei ihm bemerkbar machte. Genau genommen kehrte seine Verbundenheit mit dem Schloss in voller Stärke zurück, jedoch... anders. Er konnte mehr Umgebung wahrnehmen und zusätzliche Räume – unter anderem den Tankraum mit dem deaktivierten Tank, von dem vorher niemand etwas gewusst hatte. Er konnte im Geiste über dem Schloss schweben und alles überblicken, und so etwas wie ein Instinkt sagte ihm, dass derzeit alles in Ordnung war. Offensichtlich verfügte Cathy über ein paar neue Fähigkeiten.

„Gefällt's dir?“ Sorc schaute ihn vom Bett aus mit einem noch leicht schläfrigen Gesichtsausdruck an.

Crimson sprang auf. „Sorc! Du hast... ich meine... dein Bewusstsein hat deinen Körper wiedergefunden, ja?“

„Wie du siehst.“

„Uhm... es ist vielleicht etwas klischeehaft, aber... wie fühlst du dich?“

Der Chaoshexer runzelte die Stirn. „Groß!“ Er grinste, was Crimson mit Erleichterung sah.

„Wie es aussieht, kannst du schon wieder Belustigung empfinden. Das ist gut.“

„Ja, meine Emotionen scheinen wieder normal zu sein,“ bestätigte Sorc. „Zwar tun sich mir ein paar neue Möglichkeiten auf, aber wenn mein Bewusstsein in diesem Körper ist, erscheint mir alles ziemlich normal... Ich habe mich in den letzten paar Stunden bemüht, unsere Gedankenwelten wieder soweit voneinander zu trennen, dass niemand durcheinander kommt. Scheint ja auch geklappt zu haben.“

„Stimmt... ich habe nicht mehr das Gefühl, dass jemand meine Gedanken neu ordnet, wenn sie in eine negative Richtung abdriften,“ fiel es Crimson auf.

„Willst du es wieder so haben?“ fragte Sorc.

Der Weißhaarige schüttelte zögerlich den Kopf. „Ich fand die Erfahrung an sich schon ganz lehrreich... vielleicht komme ich auf das Angebot zurück. Aber ich glaube, es wäre besser, wenn ich selber lerne, positiv zu denken.“

„Das stimmt wohl.“ Sorc setzte sich auf und bediente sich an der Wasserkaraffe. Er füllte den Becher zweimal nach.

„Olvin meint, dass du den Bereich, den das Schlossherz kontrolliert, nicht verlassen kannst,“ bemerkte Crimson.

„Das wäre möglich,“ gab Sorc unumwunden zu. „Aber selbst wenn... es gibt Schlimmeres. Und wie du weißt, sind Theorien aus dem Lehrbuch kein Hindernis für mich. Eins steht allerdings fest: Wenn ich sterbe, muss ich darauf achten, dass es hier passiert, damit mein Bewusstsein sich wieder mit meiner Seele vereinen kann und nicht losgelöst herumirren muss.“

„Sorc, das ist eine gruselige Vorstellung. Heißt dass, dein Bewusstsein wird dann auch hier in dem Schloss bleiben, wenn du stirbst?“

„Nun... niemand weiß es genau, bevor es passiert, nicht wahr? Meine Seele gehört Cathy, bis Cathy aufhört zu existieren. Also werde ich nach dem Tod meines Körpers wohl sowas wie ein Schlossgespenst.“

„Oh, Sorc... was hast du getan? Du hast dich selbst verdammt!“

„So würde ich das nicht nennen. Auch Schlossherzen haben eine begrenzte Lebensdauer, also sorge dich nicht um mein Seelenheil.“ Sorc schwang die Beine aus dem Bett und stellte sich auf die Füße.

„Versteh mich nicht falsch... ich fühle mich gehrt durch das, was du getan hast. Aber...“ Crimson suchte nach den richtigen Worten. „Du... hättest es nicht tun müssen!“

„Nein. Aber ich wollte.“ Sorc legte Crimson beide Hände auf die Schultern. „Es ist alles gut so, wie es jetzt ist – du musst nicht darüber nachdenken, ob du beim Ritual richtig entschieden hast. Du darfst ein Geschenk auch einfach mal annehmen.“

„Wir reden hier nicht von einer schicken Robe oder sowas,“ erwiderte Crimson.

„Nein, da hast du Recht. Aber ich bin dein Chaoshexer, der dich mit allem unterstützt, was er hat. Lass mich der Helfer im Hintergrund sein. Benutz mich auf jede Art, die du für richtig hältst und verlang von mir, was immer du brauchst. Hab kein schlechtes Gewissen deswegen.“

Die erneute Bestätigung des Treueschwurs machte Crimson wieder einmal bewusst, wie wenig er als Anführer taugte. Er hatte sich das leichter vorgestellt, aber er war immer ein Einzelgänger gewesen, und das rächte sich jetzt. Es gehörte eben mehr dazu, als Befehle zu erteilen.

„Nicht doch... lass solche Gedanken gar nicht zu, sonst ziehen sie dich runter,“ ermahnte Sorc ihn sanft. Er rückte Crimsons Schultern etwas zurecht und hob sein Kinn leicht an. „So. Lass niemanden deine Zweifel sehen. Du darfst welche haben. Aber lass sie niemanden sehen. Wir haben doch gerade noch über positives Denken gesprochen. Ich bin selber kein guter Anführer, aber ich werde gut darin sein, dich aus dem Hintergrund zu einem zu machen.“

Die selbstbewusstere Pose hob gleich Crimsons Stimmung ein wenig. „Ich habe wohl wieder zu laut gedacht.“

„Daran müssen wir arbeiten. Stell dir einen Raum oder eine Landschaft vor, wo du ganz alleine bist und andere dich nicht hören können. Ein schlichtes Zimmer ist für den Anfang am einfachsten. Stell es dir vor mit geschlossenen Fenstern und Türen. Lass nur die Leute hinein, die du darin haben willst.“

„Das ist alles?“

„Für den Anfang. Ich bin nicht gut darin, sowas zu erklären.“

Crimson verdrehte die Augen. „Das sagst du öfters... dabei machst du das ganz gut. Ich finde auch, dass du als Anführer nicht so schlecht gewesen sein kannst, wenn du mit deiner letzten Unternehmung fast erfolgreich warst, obwohl du Malice dabei hattest.“

Beide lachten darüber. Crimson war erleichtert, weil er mit der Sache im Nachhinein so locker umgehen konnte.

„Ich denke aber insgesamt zu chaotisch, als dass ich auf die Dauer ein guter Lehrer oder Anführer wäre,“ gab Sorc zu bedenken. „Deshalb bin ich auch völlig ungeeignet als Thronfolger der Eisigen Inseln. Ich mag meine Freiheit zu sehr.“

„Und dann bindest du dich an ein Schloss?“

„Das war meine freie Entscheidung.“

Crimson wollte noch etwas dazu sagen, aber in dem Moment klopfte es energisch an der Tür, und schon im nächsten Moment platzte Ruin herein, dicht gefolgt von Demise. Die Frau stürmte auf Sorc zu, der sich ihr zuwandte und sie in seine Arme schloss.

„Oh Vater, ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ Sie sprach mit einem weinerlichen Unterton.

Demise hatte tatsächlich ein verräterisches Glitzern in den Augen, als er seine Schwester sanft verdrängte, um Sorc ebenfalls zu umarmen. Er schwieg dabei jedoch, möglicherweise war auch seine Stimme etwas belegt. Sorc ließ sich bereitwillig drücken. Demise hielt ihn eine halbe Minute fest, ehe er etwas verlegen zurücktrat.

„Es tut gut, euch endlich wieder zu sehen,“ sagte der Chaoshexer, wobei er eine Haarsträhne aus Ruins Gesicht strich und Demise väterlich den muskulösen Arm tätschelte.

Crimson wurde auf einmal klar, dass dies die erste Familienvereinigung der drei seit Sorcs Gefangennahme war, und fühlte sich fehl am Platze. Er verließ unauffällig die Krankenstation.

Als er den Gang entlang spazierte und überlegte, ob er schon in seinen Turm gehen sollte, um den nächsten Arbeitsschritt zu planen, materialisierte sich Cathy und schwebte neben ihm her.

Crimson blieb stehen, um den Geist zu betrachten, was dieser stolz zuließ. „Hm... sieht gut aus,“ stellte er fest.

Cathy zeigte wieder die Farben, die er vor der Veränderung gehabt hatte. Die Haare trug er immer noch offen, aber das sah ganz ordentlich aus und durchaus attraktiv, nicht mehr so förmlich wie mit der Rosenfrisur. Auf der Brust befand sich neuerdings ein roter Edelstein in einer schmalen, rautenförmigen Einfassung. Der Kopfschmuck hingegen wirkte etwas eigenwillig: Ein Kranz aus kleinen Zweigen schien direkt von einem Ohr zum anderen aus dem Hinterkopf zu wachsen und sah fast aus wie ein Heiligenschein. Bei einem Schlossherz, das Rosen als Motto hatte, passte das irgendwie, war aber gewöhnungsbedürftig.

Der Geist schwebte hin und her und drehte sich dabei, um sich von allen Seiten zu präsentieren. „Freut mich, dass es dir gefällt, Crimson.“

Der Schlossherr hob eine Augenbraue. Soso. Kein Ihr und kein Meister mehr, aber wenn er so darüber nachdachte, hatte Sorc auch aufgehört, ihn Direktor zu nennen. Nun, vielleicht galt das nur für Gelegenheiten, bei denen sie allein waren. Jedenfalls fühlte er sich dadurch nicht weniger respektiert, also ließ er sich die Veränderung gerne gefallen.

„Ist schon jemand außer Olvin zurück gekehrt?“ fragte Crimson.

„Die Küchenmädchen nehmen gerade ihre Arbeit wieder auf. Ich habe mich erkundigt und erfahren, dass die restliche Gruppe noch einige Stunden braucht, sie haben einen Badeteich entdeckt und dort noch einmal das Lager aufgeschlagen.“

„Na, sei es ihnen gegönnt.“ Während sein Partner mit den Schülern unterwegs war, unternahm Dark einen Botenflug für Crimson, ihn erwartete er im Laufe des Tages zurück. Auch Ray musste demnächst wieder auftauchen.

„Es interessiert dich vielleicht, dass Olvin zu stärkeren Medikamenten übergegangen ist,“ begann Cathy plötzlich ungefragt.

Das interessierte Crimson tatsächlich. „Ähm... ich habe vorhin gesehen, dass er was getrunken hat, aber ich dachte mir nichts dabei.“

„Der Schaden an seinem Körper ist bereits nicht mehr mit konventionellen Mitteln zu heilen, wie du weißt. Ich entziehe ihm seit einer Weile keine Energie mehr, weil ich als Schlossherz meine Bewohner nicht gefährden darf. Ich glaube, dass er schon durch pure Willenskraft durchhalten wird, bis das Elixier fertig ist. Aber du wirst keine Zeit für einen zweiten Versuch haben.“

„Das habe ich befürchtet,“ seufzte Crimson. „Und das bedeutet, dass ich unbedingt Erfolg haben muss, weil er mir keine zweite Chance geben kann.“

„Wahrscheinlich,“ nickte Cathy.

Wenn Crimson ganz ehrlich war, wollte er sich die Arbeit auch nicht noch einmal machen, aber zumindest hätte es ihn beruhigt, wenn er im Falle seines Versagens um einen neuen Versuch hätte bitten können. „Es sind nur noch zwei Tage. Bisher läuft alles gut. Wir dürfen nicht zweifeln, Cathy.“

Das Schlossherz nickte lächelnd, und fast glaubte Crimson, Sorc in diesem Lächeln zu sehen.

Todesangst

Crimson sah in seinem Büro auf der Pinnwand nach und stellte fest, dass für den nächsten Tag bereits alle Aufträge durchgeplant waren, und für heute stand später noch ein Gang in den Garten an. Sah alles nicht besonders kompliziert aus. Allerdings erwartete er Ray jeden Moment zurück... und das seit einer halben Stunde. Allmählich lief ihm die Zeit davon.

Als Cathy einen Ankömmling meldete, hoffte er, dass es der Prinz war, und war fast enttäuscht, als es sich nur um Dark handelte, der vom Kristallschloss zurückkehrte. Er überbrachte einen Brief von Shiro, denn Crimson hatte ihn gebeten, nachzufragen, wie es mit Olvins Sohn stand.

„Aha... okay, Vater schreibt, dass Olvins Sohn, Ujat, sich nicht mit mir treffen will, bevor er sich mit seinem Vater ausgesprochen hat, weil er sonst für meine Sicherheit nicht garantieren kann.“ Stirnrunzelnd blickte er zu Dark auf. „Was bedeutet das?“

Dark zuckte mit den Schultern. „Shiro meinte, der Mann sei verbittert, weil er zehn Jahre lang nichts mit Olvin zu tun haben wollte, und nun muss er erfahren, dass du daran schuld bist.“

„Moment mal, ich bin nicht schuld daran, dass er Gerüchte über seinen Vater geglaubt hat! Gut, ich hab sie in die Welt gesetzt, aber er hätte etwas mehr Vertrauen haben sollen.“

„Jedenfalls ist es wohl besser, dass er dich nicht zu fassen kriegt, bevor dein Projekt fertig ist. Hier sind noch einige Briefe, die Shiro mit ihm ausgetauscht hat und die vielleicht für Olvin interessant sein könnten, damit du Ergebnisse in der Hand hast. Auch ein Brief von deinem Vater an Olvin ist dabei, in dem er bestätigt, dass er in deinem Auftrag mit Ujat in Kontakt steht. Es wird auf jeden Fall ein Treffen mit dem Sohn geben, also ist es doch in Ordnung, oder?“

„Ja, denke schon. Danke.“ Crimson nahm die mit einem stabilen Band verschnürten Briefe entgegen. Er beschloss, sie in Ruhe zu lesen, bevor er Olvin davon erzählte.

„Wenn du mich dann nicht mehr brauchst, würde ich Blacky und den anderen entgegen fliegen,“ schlug Dark vor.

„Es wäre mir eigentlich lieber, wenn du herausfinden könntest, wo Ray bleibt.“ Crimson konsultierte seine Pinnwand. „Er war unterwegs zu den Magiern des Grauen Gipfels. Der Weg ist nicht übermäßig weit, aber die Luft dort oben ist etwas dünn. Vielleicht ist etwas passiert.“

Er hatte diesen Verdacht kaum geäußert, als Cathy einen weiteren Ankömmling meldete. Aber es war wieder nicht Ray, sondern ein Unbekannter auf einem grauen Drachen, dessen Haut wie Stein aussah. Crimson und Dark eilten zum Haupttor, um den Besucher zu empfangen. Kurz darauf stieß auch Sorc zu ihnen.

Der Drache landete vor dem Schloss und der Reiter sprang elegant zu Boden. Als er die Kapuze der grauen Kutte nach hinten streifte, stellte sich heraus, dass es sich um eine junge Frau handelte. Sie hatte rotbraunes, krauses Haar, das einen Kranz um ihren Kopf bildete. Ihre Augen zeigten ein auffällig klares Blau in einem feinen Gesicht mit heller Haut.

„Ich bin die Abgesandte des Grauen Gipfels!“ verkündete sie. „Wer von euch ist der Schlossherr des Lotusschlosses?“

Crimson trat einen Schritt vor. „Das bin ich.“ Anscheinend legte sie auf Namen keinen Wert.

„Unser Ältestenrat sendet dir dies.“ Sie überreichte ihm einen kleinen Lederbeutel.

Das Leder war dünn und ließ erahnen, dass sich darin kleine Steine befanden. Crimson warf einen Blick hinein und nahm einige der Steine heraus. Es handelte sich um gelbe, undurchsichtige Kristalle. Schnell tat er sie zurück und reichte Sorc den Beutel. „Geh in den Turm und kümmere dich um den nächsten Arbeitsschritt. Mach schnell.“

Der Chaoshexer widersprach nicht, sondern wandte sich sogleich zum Gehen. Jedoch suchte er zuvor noch kurz Blickkontakt, und Crimson war klar, dass er sich um Ray sorgte. Crimson hätte sich lieber selbst mit seinem Elixier befasst, doch die Botin war speziell zu ihm gekommen, also konnte er nicht einfach gehen. Sorc würde ohnehin mitbekommen, was nun folgte. Jedoch schätzte Crimson ihn so ein, dass er dennoch seine Aufgabe bewältigen konnte.

„Richtet dem Ältestenrat meinen Dank aus,“ sagte Crimson und neigte höflich den Kopf. „Aber bitte verratet mir, was ist aus dem Boten geworden, den ich zu Euch geschickt habe? Ist ihm etwas zugestoßen?“

„Seine Hinrichtung ist für heute Nacht angesetzt,“ antwortete sie schlicht.

Crimson entglitten alle Gesichtszüge. „Hinrichtung? Aber... weshalb denn?“ Er spürte ein Beben in der Luft, eine Schwingung in der Magiestruktur des Schlosses.

Dark veränderte seine Haltung und sah sich um, aber die Abgesandte und ihr Drache gaben keine Anzeichen zu erkennen, dass sie etwas bemerkt hatten.

„Der Magier Namens Ray hat unser Heiligtum bestohlen. Als wir ihm nicht gaben, was er begehrte, wollte er es sich heimlich aneignen,“ gab die junge Frau Auskunft. „Darauf steht der Tod. Wir gewähren seinen letzten Wunsch, dass du bekommst, was er dir bringen sollte, Herr des Lotusschlosses. Jedoch nur, weil er uns versicherte, dass die Kristalle hier gebraucht werden, um ein Leben zu retten.“

„Das... muss alles ein Missverständnis sein,“ presste Crimson hervor. „Bringt mich vor Euren Ältestenrat. Gewiss gibt es eine Möglichkeit, Ray vor diesem Schicksal zu bewahren! Er ist schließlich nur der Bote!“

Die Abgesandte nickte sofort. „Natürlich könnt Ihr als sein Auftraggeber an seiner Stelle sterben.“

So sachlich und völlig selbstverständlich vorgetragen traf die Antwort wie ein Schwerthieb.

[„Nein, Crimson!“] Sorc konnte oder wollte sich nicht länger zurückhalten. [„Ray würde nicht wollen, dass du dich opferst! Ich werde es tun.“]

[„Und ich will nicht, dass du dich opferst,“] entgegnete Crimson. Er starrte vor seine Füße auf den Boden und ließ die Information sacken. [„Das ist... vielleicht auch nur ein Test! Es muss einfach ein Test sein.“]

[„Das kannst du nicht wissen! Lass mich an deiner Stelle...“]

[„Nein. Du kannst nicht einmal dorthin reisen, Sorc. Und du hast mir selber gesagt, dass du auf diesem Gelände sterben musst, damit dein Bewusstsein danach nicht ziellos umherirrt.“]

Über die Gedankenverbindung kam ein leidender Laut. [„Bitte darum, dass es... gleich hier getan wird,“] versuchte Sorc es ein letztes Mal.

[„Ich kann keinen von euch sterben lassen. Eure Mutter würde sonst den Grauen Gipfel dem Erdboden gleichmachen, und dafür will ich nicht verantwortlich sein,“] erwiderte Crimson. [„Du musst etwas anderes für mich tun, Sorc. Wenn ich sterbe, musst du das Elixier vollenden. Verstehst du mich?“]

[„Ja, ich... habe verstanden. Ich weiß, was zu tun ist.“]

Crimson nahm einen tiefen Atemzug und richtete sich gerade auf, wobei er die Schultern zurück nahm und das Kinn anhob, wie Sorc es ihm gezeigt hatte. Die ganze gedankliche Unterhaltung hatte nur wenige Sekunden in Anspruch genommen, so dass seine Antwort noch schnell genug kam: „Ich bin einverstanden. Tötet mich und lasst Ray frei.“ Die Worte fühlten sich in seinem Mund rau an, er kam sich heiser vor.

Neben ihm sog nun auch Dark scharf die Luft ein, doch er griff nicht ein. Wahrscheinlich dachte er schon über einen Plan nach, genau wie Sorc.

„Ich werde es den Ältesten ausrichten und Euch erwarten. Kommt nicht zu spät. Der Zeitpunkt ist auf keine genaue Stunde festgelegt, nur auf die Nacht. Das Feuer ist dann besser sichtbar.“ Sie stieg ohne weitere Umschweife und ohne irgendeine sichtbare Gefühlsregung auf ihren Drachen, und dieser stieß sich mit einem kräftigen Flügelschlag vom Boden ab. Staub und trockenes Laub flogen den Magiern um die Ohren.

Als das Geschöpf am Horizont kleiner wurde, fand Crimson seine Sprache wieder. „F-Feuer? Oh bitte... bitte nicht so...“ Wenn es nun doch kein Test war?

„Crimson...“ Dark schloss ihn in die Arme. „Mach keinen Unsinn, okay? Wir finden einen Weg. Wir werden Ray befreien.“

Sein Cousin hörte ihm kaum zu. „Vielleicht meinte sie mit Feuer nur... irgendwelche Lagerfeuer... Ich... ich sollte wohl einen Brief an Vater schreiben, bevor ich losfliege, und ich brauche einen schnellen Drachen...“

Dark packte seine Schultern und rüttelte ihn energisch. „Crimson! Hör mir zu! Du wirst dich nicht opfern, verstanden? Du wirst natürlich so tun, aber wir holen dich da schon raus!“

„Ich will nicht als Lügner dastehen,“ murmelte Crimson. „Vielleicht... kann ich mit denen reden oder so... ihnen was anbieten... aber ich will nicht den Ruf haben, dass ich mein Wort nicht halte oder mich vor Strafe drücke.“

„Es geht hier um dein Leben, da musst du mal Prioritäten setzen! Was nützt dir deine Ehre, wenn du tot bist?“

„Ich... ich weiß nicht... lass uns erstmal hinfliegen und jemanden finden, der mit sich reden lässt...“ Crimson fühlte sich überfordert und außerstande, klar zu denken.

„Das wird schon alles gut,“ versicherte Dark, aber seine Stimme klang nicht überzeugt. „Ich komme mit dir mit. Wie es auch ausgeht, ich bin an deiner Seite.“

Crimson nickte dankbar. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander. Er überlegte, was er noch erledigen musste oder konnte, wem er Briefe hinterlassen sollte, wen er vielleicht zu seinem Nachfolger machen konnte. Doch zuletzt kam er immer wieder zu einer Frage zurück: Konnte er es schaffen, zum Grauen Gipfel zu fliegen und würdevoll in den Tod zu gehen?
 

Dark nahm telepathischen Kontakt zu Yugi und Blacky auf und sagte ihnen, dass sie mit den Kindern noch eine Weile wegbleiben sollten. Crimson wagte es nicht, sich von ihnen allen zu verabschieden, das traute er sich nicht zu.

„Sie haben gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber sie denken wahrscheinlich, dass es hier eine Überschwemmung gibt oder so.“

„Gut... Ich werde mal zu Sorc hoch gehen und ihm letzte Anweisungen geben...“ Dark hielt ihn nicht davon ab und blieb im Büro zurück.

Crimson fand den Weg in seinen Alchemieturm schwieriger als sonst. Er sah sich immer wieder um, denn es war das letzte Mal. Ihm blieb keine Zeit, um sich lange um viele Dinge zu kümmern. Er verzichtete sogar darauf, seinem Vater zu schreiben. Statt dessen gab er Cathy eine Botschaft für ihn. Das Schlossherz hielt sich mit Kommentaren zurück, aber Crimson wusste, dass es für ihn schlimm wäre, seinen Herrn so zu verlieren.

Und dann war da Sorc. Wie sollte er mit ihm umgehen? Er versetzte sich in seine Lage. Wie musste sich jemand fühlen, der hilflos zulassen sollte, dass ein Freund sich für seinen Bruder opferte? Vor allem jemand wie Sorc, für den nichts unmöglich war?

Crimson zögerte kurz vor der Tür zu seinem Turmlabor, trat dann aber doch ein.

Er wusste nicht recht, was er erwartet hatte, aber sein Chaosmagier zeigte sich erstaunlich gefasst. Vermutlich tat er das ihm zuliebe... er machte ihm keine Vorwürfe, versuchte nicht mehr, es ihm auszureden. Gut möglich, dass er einen Plan verfolgte, den er nicht verriet. Crimson hoffte es einerseits, fürchtete sich aber auch davor. Niemand sollte unnötig in Gefahr geraten.

„Ich habe das Elixier im Griff,“ sagte Sorc ihm. „Wie es dein Wunsch ist, werde ich dafür sorgen, dass es so eingesetzt wird, wie du es wolltest, nur eben mit mir als Ersatz.“

„Das... beruhigt mich.“ Crimson musste die Worte an dem Kloß in seinem Hals vorbei pressen. Nicht dass es nach seinem Tod noch darauf ankam, ob er sein Wort hielt, aber sein Ehrgefühl verlangte, dass er auch eine Hinrichtung nicht als Ausrede gelten ließ.

„Ich habe einen Drachen,“ fuhr Sorc mit sichtlichem Zögern fort, so als gefiele es ihm nicht, den anderen auch noch seinem Schicksal entgegen zu treiben. „Er kann dich und Dark zusammen tragen, sonst wird Dark es schwer haben, ihm nachzukommen. Ich habe ihn schon gerufen, er wird bald hier sein.“

Crimson schluckte. Ihm blieb keine Ausrede, was auch gut war, denn er wollte Ray ja schließlich retten.

„Und... wenn du glaubst, dass es zu schlimm wird, benutz das hier.“ Sorc nahm Crimsons rechte Hand, drückte etwas hinein und schloss die Finger darum, seine eigenen darüber. „Es ist... eine Droge, die deine Wahrnehmung verzerrt. Alles wird etwas blumiger, du gehst wie auf Wolken. Dein Körper wird unempfindlicher gegen Schmerzen. Aber du kannst noch aufrecht und würdevoll auftreten, wenn du dich ein bisschen konzentrierst. Es wird nur alles etwas unwirklich, wie in einem Traum.“

„Warum hast du sowas?“ fragte Crimson überrascht.

„Ich bin gerne vorbereitet,“ sagte Sorc. „Ich schleppe das seit fast einem Jahr mit mir herum.“

Crimson legte seine freie Hand auf Sorcs. „Danke.“ Er wollte sich ohnehin ein Gift mitnehmen, aber Gifte töteten selten ohne unangenehme Nebeneffekte, da machte er sich nichts vor. Darauf konnte er nun zum Glück verzichten.

„Behalt die Gedankenverbindung, dann helfe ich dir, es wie ein Prinz hinter dich zu bringen. Aber versprich mir, dass du zuerst alles versuchst, um diese Leute umzustimmen, ja?“

Mehr als ein Nicken brachte Crimson nicht mehr zustande.

„Ich wünschte, ich hätte mit dem Ritual noch einen Tag gewartet,“ murmelte Sorc. „Dann müsstest du das nicht tun, sondern ich könnte gehen.“

„Es sollte wohl so sein,“ brachte der Schlossherr doch noch hervor, wenn auch nur flüsternd. Er musste nicht länger mit Sorc darüber diskutieren, wer von ihnen sein Leben opferte. Aber es war gut möglich, dass die Graugipfelmagier sowieso nur ihn akzeptierten, den Auftraggeber.

An einem der Fenster huschte ein großer, schwarzer Schatten vorbei, ein tiefes Brüllen war zu hören. Cathy hatte nichts vermeldet, daher musste es sich wohl um Sorcs Drachen handeln.

Der Hexer machte eine Kopfbewegung in die Richtung. „Er heißt Gandora. Ein lieber Kerl. Er landet vor dem Haupttor.“

„Dann geh ich mal... der Flug dauert ne Weile...“ Crimson entzog Sorc seine Hand und steckte die pillenförmige Droge in eine Tasche seiner Robe. Er warf einen letzten Blick auf den Raum, den Kessel mit dem Elixier und schließlich auf den Mann, der ihm in letzter Zeit nicht nur ein Freund und Vertrauter geworden, sondern richtig ans Herz gewachsen war, auch wenn sie ihre Beziehung eher förmlich als kumpelhaft hielten. Sorc gehörte definitiv zu den Menschen, die er liebte, für die er durchs Feuer gehen und sterben würde. Und wie es aussah, war er auf dem besten Wege, das zu beweisen.

Er wollte es ihm sagen, aber er fand nicht die richtigen Worte. Sorc sollte ihn nicht falsch verstehen. Aber während er da stand und mit sich rang, trat ein verdächtiges Glitzern in Sorcs Augen, und er erkannte, dass er nichts sagen musste. Um den Älteren nicht zum Schluss noch in eine unangenehme Situation zu bringen, gab er sich einen Ruck und drehte sich um, stürmte regelrecht aus dem Raum und die Treppe hinunter.
 

Der Drache Gandora beeindruckte Crimson. Sein schwarzer Körper war bedeckt von Objekten, die wie glatt geschliffene, rote Edelsteine aussahen. Er war riesig, finster, gefährlich und handzahm. Als Crimson sich ihm näherte, senkte der Drache den Kopf und atmete seinen Geruch ein. Ohne recht zu wissen wieso, streckte Crimson eine Hand aus und streichelte den Unterkiefer. Gandora kniff die Augen zusammen, zuckte mit den Flügeln und lehnte sich gegen die Hand. Ein Gurrgeräusch drang tief aus seiner Kehle.

„Wow...“ Dark trat neben ihn. „Er ist größer als Schattensturm!“

„Wir sollten keine Zeit verlieren. Ray ist vor drei Tagen aufgebrochen, so dass er die Reise hin und zurück gemütlich schaffen konnte. Aber wir müssen jetzt in wenigen Stunden ans Ziel kommen!“ Crimson kletterte auf den Drachenrücken.

Dark nahm hinter ihm Platz. „Crimson, hör zu. Wir können Ray gewaltsam befreien, wenn es anders nicht geht.“

Crimson schüttelte den Kopf. „Wir haben nicht genug Leute und keine Zeit. Außerdem haben sie uns gegeben, was wir wollten, obwohl Ray dort ein Gesetz übertreten hat. Es überrascht mich, dass gerade du eine gewaltsame Lösung vorschlägst, wo du doch immer der Moralapostel von uns bist!“

„Ich sagte ja auch nur, wenn es nicht anders geht! Also wenn die Diplomatie versagt! Warum hast du ihn überhaupt dorthin geschickt, wenn die Leute da so engstirnig sind? Gibt es keinen anderen Ort, wo man diese Mineralien herkriegt?“

„Nicht in dieser Qualität. Die Information fand ich in Cathys Erinnerungsspeicher. Einer seiner Herren war einmal dort.“

„Möglicherweise ist die Information schon veraltet und es ist dort heute nicht mehr so wie damals.“

„Vermutlich.“

Gandora flog los. Die Magier mussten sich gut festhalten, als er schnell in die Höhe stieg und eine Geschwindigkeit annahm, die viele Drachen nicht länger als ein paar Minuten halten konnten, wenn überhaupt.

Sorc gab sich in Crimsons Gedanken zu erkennen und hakte sich fester bei ihm ein, weil die Entfernung größer wurde. [„Gandora kennt das Ziel. Halt dich einfach fest.“]

Crimson empfing einen Gedanken wie ein Flüstern, so als sollte er den nicht hören. Er verstand die Worte nicht, begriff aber den ungefähren Sinn: Wenn es keinen anderen Weg gab, konnte Gandora für ihn kämpfen.

[„Sorc, ich will Opfer vermeiden,“] sandte er.

[„Und ich will vor allem dein Opfer vermeiden,“] kam sogleich die Antwort. [„Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, ob die moralisch beste Lösung immer auch die sinnvollste ist?“]

Nun, dafür hatte er ja jetzt Zeit.

Die Magier des Grauen Gipfels hatten Ray zum Tode verurteilt, weil er etwas aus dem Heiligtum gestohlen hatte. Die Abgesandte hatte berichtet, dass er zuerst gefragt hatte, und sie hatten seine Bitte abgelehnt. Crimson fühlte sich umso mehr verantwortlich – Ray hatte das für ihn getan, weil die Zeit nicht ausreichte. Er hätte gleich jemanden zu einer alternativen Beschaffungsquelle schicken sollen, falls es auf dem Gipfel schiefging. Andererseits hatte er keinen Grund dafür gesehen. Cathys Speicher enthielt keine Informationen über ein Risiko, auch nicht über ein Heiligtum; deshalb hatte er gedacht, es sei sicher, eine reine Verhandlungssache.

Ob Ray sich den Magiern als Prinz der Eisigen Inseln vorgestellt hatte? Ob das wohl einen Unterschied für sie machte? Seine Tat blieb immer noch ein Verbrechen, das in dieser Gesellschaft mit dem Tode bestraft wurde. Politische Argumente zählten da häufig nicht.

Crimson rechnete es den Magiern des Gipfels hoch an, dass sie trotz allem die Steine geliefert hatten. Aber etwas wirkte da seltsam, als er sich die Szene noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen ließ. Wenn die Steine aus dem Heiligtum stammten, wieso gaben sie sie dann so einfach her, bloß weil es Rays letzter Wunsch war? Weil er sie eh schon aus dem Heiligtum entfernt und damit entweiht hatte? Oder aus Respekt vor dem letzten Wunsch eines zum Tode Verurteilten?

Vielleicht fehlten ihm auch einfach nur einige Informationen, um das alles zu verstehen, denn die Abgesandte hatte ja nicht viel dazu gesagt. Andererseits... sollte er sich an solche Hoffnungen klammern?

Der Ritt gehörte zur brutalen Sorte, unbequem und kalt in den Luftschichten so weit oben und mit dieser Geschwindigkeit, aber weder Dark noch Crimson ließ Gandora langsamer werden. Die Tageszeit schritt voran, und sie konnten nur hoffen, dass die Gipfelmagier ihre Hinrichtungen erst später in der Nacht durchführten.

Mit zunehmender Entfernung konnte er die Verbindung zu Sorc nicht mehr aktiv aufrechterhalten, aber sie war noch da. Nur schien Sorc auf etwas anderes konzentriert zu sein, aber Crimson vertraute darauf, dass er zurück sein würde, wenn er ihn brauchte. Hinter sich spürte er Darks Körper, der gegen ihn gepresst war, weil der andere sich an ihm festhielt. Er musste die nächsten Stunden – seine letzten Stunden – nicht allein durchstehen.

Crimson versuchte, nicht darüber nachzudenken, was er noch hätte erledigen sollen, was er im Leben noch alles hätte erreichen können... Seine Überlegungen drifteten immer wieder von selbst in diese Richtungen ab. Allerdings fand er das besser, als sich über das Sterben Gedanken zu machen. Am meisten fürchtete er sich davor, dass er sich kurz vor dem Ende noch total blamierte, etwa indem er mit weichen Knien zusammenbrach.

Als der Graue Gipfel in Sicht kam, bot sich ihm der beeindruckende Anblick eines Berges, dessen Spitze von Wolken umgeben war, hinter denen einige Feuer schimmerten. Der Berg konnte in den höheren Regionen kaum Flora vorweisen, daher wohl die Bezeichnung Grauer Gipfel.

Gandora stieß schon aus der Ferne einen langgezogenen Schrei aus, was im Schattenreich üblich war, wenn man die Bewohner des Zielortes nicht verschrecken wollte. Der Gipfel an sich sah aus wie ein Vulkankrater... von einem Ring aus hohen Felsen umgeben, befand sich eine Siedlung in einer Vertiefung von mehreren Hundert Metern Durchmesser. Der Drache kreiste darum herum und suchte nach einem Landeplatz.

Crimson indessen suchte bereits die Gegend ab und erkannte im Halbdunkel zu seinem Entsetzen, dass sich außer einigen kleinen Lagerfeuern auch ein großer, ordentlich gestapelter Holzhaufen in der Mitte des Platzes befand, der aber noch nicht brannte. Der Haufen war oben abgeflacht und links und rechts von einer hölzernen Säule flankiert, die jeweils mit bunten Bändern und Blumen geschmückt waren. Sah so aus, als machten die Magier aus ihren Hinrichtungen ein Fest. Ray war nirgends zu entdecken, doch zahlreiche Magier versammelten sich, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Hoffentlich freundlich.

Gandora landete vorsichtig auf einer ausreichend großen, freien Fläche, was nicht so leicht war. Aber der Drache schaffte es mit geübter Geschicklichkeit, als müsste er das öfters tun. Dark sprang herunter, dann auch Crimson, und gleich darauf nahm Gandora eine handliche, adlergroße Gestalt an und verschwand in den Felsen.

Personen in grauen Kutten versammelten sich um die beiden Ankömmlinge. Crimson verneigte sich zum Gruß in Richtung eines besonders wichtig aussehenden Exemplars, das einen Schritt weiter vorne stand als die anderen. „Ich bin hier, wie vereinbart. Ich bin bereit, für meinen Boten zu sterben.“ Seine Hand kontrollierte, ob die Pillchen von Sorc noch da waren.

Verhüllte Gesichter wandten sich einander zu, Gemurmel wurde laut.

„Wir würden aber gern zunächst mit dem Ältestenrat darüber reden, ob dieser Schritt wirklich nötig ist,“ fügte Dark hinzu.

Der Magier, den sie für den Anführer hielten, streifte die Kapuze nach hinten. Er war ein verhältnismäßig junger Mann und sah der Abgesandten auffällig ähnlich, mit den gleichen blauen Augen und rotbraunen Haaren. „Ich bin Janis, Leiter der Zeremonie. Ihr müsst wohl Crimson, der Schlossherr von Schloss Lotusblüte sein,“ stellte er fest. „Es ehrt Euch, dass Ihr für Euren Boten sterben wollt, aber ganz so schlecht geht es ihm nicht. Hier entlang...“

Der Mann gab ihnen Zeichen, ihm zu folgen, als Crimson nicht gleich in Gang kam. Dark legte einen Arm um ihn und schob ihn vorwärts. Was ging hier vor?

Janis führte sie zwischen den Felsen entlang und durch einen versteckten Pfad ein Stück den Berg hinab, bis sie an mehreren Höhleneingängen vorbeikamen und in einen davon eintraten. Darin schwebten Lichtorbs und sorgten für Helligkeit und Wärme. Eine ältere Frau erhob sich von einem Hocker, der neben einem niedrigen, schlichten Bett stand. Wortlos verneigte sie sich kurz und räumte das Feld für die Besucher.

Crimson beschleunigte seine Schritte und fiel neben dem Bett auf die Knie. „Ray! Ein Glück, wir sind noch rechtzeitig gekommen!“

Der Prinz öffnete die Augen einen Spalt und lächelte ansatzweise. Sein Gesicht war schweißnass und sein Haar klebte in Strähnen am Kopf.

„Keine Angst, Euer Freund hat das Schlimmste schon hinter sich,“ sagte Janis. „Was hat meine Tochter Euch da nur erzählt, dass Ihr denkt, er wäre todkrank? Oder vielleicht Shazera, hat sie vielleicht ihre Streiche mit Euch getrieben? Jedenfalls gab es wohl ein Missverständnis, das tut mir Leid.“

„Er, äh... soll nicht hingerichtet werden?“ hakte Dark nach.

„Oh, wieso denn?“ Der Magier bekam ganz große Augen. „Dieser Mann hat eine Nahrungsvergiftung. Er muss unterwegs giftige Beeren gegessen haben. Als er eintraf, zeigte er bereits erste Symptome, und unser Heiler hinderte ihn daran, den Rückweg anzutreten – was gut war, wie Ihr seht. In einem klaren Moment drängte er uns, Euch eine Handvoll Sonnenquarz zu liefern.“

„Dann... hat er nicht Euer Heiligtum bestohlen, um an die Steine zu kommen?“ fragte Crimson hoffnungsvoll. „Ihr... wollt ihn nicht töten?“

„Selbstverständlich nicht! Und wir haben zwar ein Heiligtum, aber da gibt es nichts zu holen.“

„Aber... der Scheiterhaufen...“ stammelte Crimson.

Die Mine des Magiers betrübte sich, er schloss einen Moment die Augen und legte seine Hand auf seine Brust. „Der alte Merigor ist vor zwei Tagen von uns gegangen. Sein Körper soll heute Nacht verbrannt werden.“

Crimson spürte, wie alle Kraft aus seinem Körper wich, als ob ein Gewicht, das zu tragen ihn sehr angestrengt hatte, plötzlich von ihm genommen wurde, so dass er erschöpft zusammenbrach. Zum Glück kniete er bereits, so ließ er sich einfach noch etwas tiefer sinken. „Oh... ich dachte schon...“

„Ich... habe das allerdings auch so verstanden, dass Ray zum Tode verurteilt wurde,“ wandte Dark ein. „Eure Tochter... Shazera, sie sagte...“

„Nein, nein,“ unterbrach Janis. „Shazera ist meine Schwester. Meine Tochter heißt Jazella.“

Crimson blickte von der Matratze auf. „Ja, aber... nur eine Frau war bei uns, eine junge Frau, die Euch sehr ähnelt. Sie stellte sich uns nur als Abgesandte des Grauen Gipfels vor...“

Janis verdrehte die Augen. „Das sieht ihr ähnlich. Merkwürdig, dass ihre Tante nicht bei ihr war. Sie ist Jazellas Mentorin und lässt sie eigentlich nicht aus den Augen.“

Dark blickte zwischen den beiden anderen hin und her. „Was hat das zu bedeuten?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte Janis. „Möglicherweise ist Shazera etwas zugestoßen, so dass sie Jazella allein geschickt hat, oder sie hat eine Übungslektion daraus gemacht...“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber mir scheint, das Mädel hat sich einen üblen Streich erlaubt.“

„Nur ein... Streich...“ murmelte Crimson uns ließ seinen Kopf wieder auf das Bett sinken.

Ray murmelte undeutlich vor sich hin, doch es klang wie „Gefahr“.

Crimson runzelte die Stirn. Er spürte, wie der Körper des Prinzen sich anspannte. Was meinte er? Legte Janis ihn herein? Doch der Mann hatte gar keinen Grund, einen Groll gegen ihn zu hegen.

Ray drehte den Kopf und sah ihn aus fiebrigen Augen an. „Soach...“

„Oh ja,“ fiel es Crimson ein. „Ich muss deinem Bruder sagen, dass du außer Gefahr bist. Der ärmste sorgt sich bestimmt schon.“

Er bemühte sich, Sorc zu erreichen, fand es jedoch schwierig. Nie zuvor hatte er versucht, jemanden auf so lange Distanz telepathisch zu kontaktieren. Generell fehlte ihm in diesem Bereich völlig die Übung. Allerdings ging es hier um Sorc. Die Verbindung bestand bereits. Es sollte eigentlich einfacher gehen.

Auch sein Schlossherz antwortete ihm nicht.

Dann, nach einigen Minuten, erhielt er endlich eine Antwort.

[„Crimson!“] rief Sorc in seinem Kopf. [„Vergib mir... ich war etwas abgelenkt.“]

Crimson blickte Ray an und sandte Sorc, was er sah. [„Es ist alles in Ordnung... Ray ist krank, aber er wird nicht hingerichtet, und damit ich auch nicht.“]

Über die Gedankenverbindung schwappte Erleichterung wie eine Flutwelle. Dies bedurfte keiner Worte. Doch das Gefühl dauerte nur kurz an, denn er sah durch Sorcs Augen einen Blick von einem der Türme. Draußen, an der Grenze des Einflussbereiches von Catherine, konnte er in der nächtlichen Dunkelheit das Schimmern eines Schutzfeldes erkennen, auf dem Sorcs geheimnisvolle Schriftzeichen aufglommen, wenn etwas darauf traf. Außerhalb des Schildes stand eine Armee aus Kriegern, Ungeheuern und schattenhaften Kreaturen. Weiter hinten brannten einige Feuer in einem kleinen Lager.

[„Ich habe hier ein geringfügiges Problem, aber es ist eine gute Gelegenheit, den verbesserten Verteidigungsmodus zu testen...“]

Gedankensprünge

Niemand hielt Crimson und Dark auf, als sie zurück auf das Gipfelplateau hetzten und nach Gandora riefen. Dabei blieb offen, ob der Drache auf die Stimmen oder Gedanken reagierte, es spielte auch keine Rolle.

Als er wieder auf seine Originalgröße anwuchs, traten zwei Gestalten aus den Schatten. „Wir werden dann wohl nicht mehr gebraucht. Vater hat sich ganz umsonst aufgeregt.“

„Ruin! Was macht ihr denn hier?“ Crimson hatte nicht bemerkt, dass ihm jemand gefolgt war. Natürlich hatte er auf dem Hinflug auch ganz andere Sorgen gehabt. „Heißt das, beim Schloss ist gar niemand? Dark, was ist mit Mava, Lily und den anderen?“

„Ähm, also... die Gruppe ist inzwischen sicherlich zu Hause, aber zumindest Blacky und Mava waren auf dem Weg hierher. Sobald wir Entwarnung hatten, habe ich Blacky kontaktiert und sie wieder zurück geschickt.“

„Dann hast du ihnen nicht wirklich gesagt, dass sie dem Schloss fernbleiben sollen?“

„Doch... aber eben auch, dass sie uns hier treffen sollten, weil du in Schwierigkeiten bist. Nur ist Schattensturm nicht so groß und nicht so schnell wie Gandora.

„Wir müssen sofort zurück,“ teilte Crimson ihnen mit. „Das Schloss wird angegriffen. Ich habe keine Ahnung, was hier eigentlich abläuft, oder ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt. Aber das spielt auch keine Rolle. Sorc ist möglicherweise mit Olvin alleine im Schloss!“

„Da kann einem der Gegner ja fast leidtun,“ befand Ruin. „Außerdem waren zuletzt noch die beiden Köchinnen da, und sicherlich sind die Schüler zurück. Einer davon ist immerhin unser Bruder. Und unterschätze nie die Kampfkraft von Kindern!“

Crimson starrte die Frau mit großen Augen an. „Meinst du das ernst?“

„Vollkommen. Schon als wir klein waren, hat Vater dafür gesorgt, dass wir immer ein Messer in der Tasche haben und es benutzen können. Ich sage nicht, dass er Kinder in den Kampf schickt, aber er ist gerne vorbereitet.“

Nicht ganz sicher, ob er nun beruhigt oder noch mehr besorgt sein sollte, kletterte Crimson auf Gandoras Rücken, ließ Dark hinter sich platz nehmen und trieb den Drachen zur Eile an. Hoffentlich schaffte er den Rückweg noch, nachdem er schon auf dem Herflug so ein hohes Tempo vorgelegt hatte. Er achtete nicht darauf, wie Ruin und Demise reisten oder ob sie überhaupt mitkamen.

Da während des Fluges nicht viel zu tun war, suchte Crimson den Kontakt zu Sorc oder Cathy, um zu erfahren, wie die Lage sich entwickelte. Als Ergebnis seines unspezifischen Versuches erhielt er eine seltsame Doppelansicht: Er sah den durch Fackeln erleuchteten Platz vor dem Haupttor in zwei überschneidenden Bildern und begriff erst nach ein paar Sekunden, dass er sich bei beiden eingeklinkt hatte und durch zwei Paar Augen sehen konnte. Vorsichtshalber schloss er seine eigenen, um nicht auch noch ein Drittes Bild zu haben. Die telepathische Verbindung machte einen stabilen Eindruck, was ihn überraschte.

[„Willkommen im erweiterten Verteidigungsmodus von Schloss Lotusblüte, Crimson,“] sprach Cathy zu ihm, und auf einmal befand er sich nur noch in seiner Perspektive, was das Ganze etwas weniger verwirrend machte. Instinktiv wusste Crimson aber, dass er auf Wunsch zu Sorc wechseln konnte.

Letzterer befand sich in seinem Blickfeld und sah wissend in die Richtung, wo Cathy schwebte. Er trug sein Kartengewand, wie ihn alle von früher kannten, einschließlich Helm. Der schwarze Zauberstab allerdings war wohl neu. [„Hallo, Crimson,“] sagte der Chaoshexer. [„Es tut mir wirklich Leid, dass wir dein Überleben nicht angemessen feiern können. Aber fühl dich ganz herzlich gedrückt.“]

Cathy nickte eifrig. [„Ich hatte wirklich keine Lust, meinen Schlossherrn schon wieder zu verlieren!“]

Neben Sorc maunzte es, und Meras erheischte Crimsons Aufmerksamkeit. Sorc legte der großen Katze eine Hand auf den Hinterkopf. Die beiden blickten sich in die Augen, und Crimson konnte das Echo eines geistigen Austauschs vernehmen. Sekunden später huschte Meras davon, anscheinend mit einem klaren Ziel. Sie trug im Moment kein Halsband, wahrscheinlich, damit es sie nicht behinderte.

[„Ich kann jetzt Meras auch verstehen, wenn ich will,“] verkündete Cathy stolz. [„Ich glaube, wir können sie ruhig behalten.“]

[„Naja, ich hab mich auch schon an sie gewöhnt,“] willigte Crimson ein. [„Aber wir haben jetzt wohl wichtigere Probleme... wer ist das da draußen?]

[„Ich habe keine Ahnung,“] musste Sorc zugeben. [„Niemand von denen hat sich mir vorgestellt, und sie haben auf Fragen nicht geantwortet.“]

Crimson versuchte, die Menge und Beschaffenheit der Gegner zu erkennen. Cathy nutzte zu diesem Zweck seine Analysefunktion: Plötzlich sah er die Truppe aus kürzerer Entfernung und in farblich sortierter Darstellung. [„Wow... das ist cool, Cathy.“]

[„Nicht wahr?“] Cathy wirkte sehr zufrieden mit sich, wie jemand, der gerne zeigt, was er kann.

[„Es sind eine Menge künstlich erschaffener magischer Kreaturen dabei. Es wäre möglich, dass davon weitere nachkommen,“] erläuterte Sorc und deutete mit seinem Stab in die entsprechende Richtung. [„Einige kleinere Monster. Eine Gruppe von Kriegern mit Waffen, sowie mehrere Magier, von denen ein paar auch Kriegsmagier sein könnten, denn sie tragen Schwerter.“]

Crimsons Blick klebte indessen an dem schwarzen Zauberstab. Er hatte an beiden Enden eins dieser ungefähr dreieckigen, schmalen Gegengewichte, die man bei den meisten Zauberstäben fand, die einen Fokusstein am oberen Ende trugen. Sie waren ungefähr so groß wie die Hand eines erwachsenen Mannes und in gegensätzliche Richtungen zeigend angeordnet. Mittig am Stab befanden sich mehrere Griffrillen, damit er nicht wegrutschte. Natürlich hielt Crimson es für möglich, dass Sorc sich mit so etwas schmückte, um den Feind einzuschüchtern, aber dafür war das Ding nicht auffällig genug. Aber woher kam es ihm nur so bekannt vor?

[„Wie viele Leute haben wir?“] erkundigte Crimson sich.

[„Naja... die Schüler einschließlich Fire, dann Appi, Atria, Yugi und Yami sowie deine Drachen, dazu kommen Cross und Tyra... Ich glaube Mava und Blacky sind unterwegs. Lily würde ich jetzt nicht als Kriegerin zählen, und die beiden Küchenmädels könnten zwar im Feindeslager spionieren, aber uns bleibt wahrscheinlich nicht so viel Zeit. Ich habe sie beauftragt, auf Rosi und Saambell aufzupassen Olvin sollten wir auch raushalten. Es gibt hier in der Gegend eh keine brauchbaren Leichen, die er benutzen könnte.“]

Crimson stimmte ihm in jeder Hinsicht zu. Er warf einen besorgten Blick zum Alchemieturm hinauf. Hoffentlich passierte jetzt nicht noch ein Unglück.

[„Ich habe die Schatzkammer geöffnet und uns alle mit Waffen versorgt,“] fuhr Sorc fort. [„Das stört dich hoffentlich nicht.“]

[„Ach was... das Zeug muss ja da unten nicht verrotten,“] winkte Crimson ab. Das erklärte, wo er Sorcs Zauberstab schonmal gesehen hatte.

[„Geh jetzt lieber zurück, Crimson. Wenn du es nicht gewohnt bist, strengt es dich sehr an, dein Bewusstsein so weit zu schicken. Gandora meldet mir, dass Dark sich schon um dich sorgt. Wir halten die Stellung, bis du zurück bist.“]

[„Oh... okay.“] Crimson beherzigte Sorcs Vorschlag, auch wenn es ihm nicht passte. Er mochte es überhaupt nicht, wenn er sich an der Schlacht um sein eigenes Schloss nicht beteiligen konnte.

„Ein Glück, dass du aufwachst!“ rief Dark ihm gegen den Flugwind ins Ohr. „Ich konnte uns kaum noch halten!“

Gandora machte ein Geräusch, ein Grummeln aus seiner Kehle, so als wollte er zustimmen. Er streckte sich wieder etwas mehr, da er nicht mehr so sehr auf seinen Reiter aufpassen musste.

Crimson nickte nur und drückte dankbar Darks Hand, sie ihn hielt. Wenn er sich nicht konzentrierte, verlangsamte er die Reise, also rief er sich zur Ordnung. Er musste so schnell wie möglich sein Schloss erreichen. Auch Gandora konnte vor Ort sehr nützlich sein.

Hatte Crimson auf dem Hinflug noch gehofft, dass er nicht so schnell ankam, so konnte er es nun kaum erwarten. Krampfhaft hielt er sich auf Gandora fest, während der Wind der Geschwindigkeit ihn bis auf die Knochen durchkühlte. Es half, dass Dark ihn von hinten wärmte. Eine neue Präsenz gab sich in Crimsons Geist zu erkennen.

[„Dark?“]

[„Genau! Mensch, Crimson, du hat kaum eine nennenswerte Abwehr gegen telepathische Vorstöße.“]

[„Jaja, ich weiß.“]

[„Kaum zu glauben, dass wir bisher keine Verbindung zueinander hatten. Naja, ehrlich gesagt hatte ich früher kein Verlangen danach. Aber Zeiten ändern sich. Wenn wir das hier überstanden haben, bringe ich dir bei, wie man den Geist abschirmt.“]

[„Oh... ja gerne.“] Das traf sich ja gut – Crimson hatte eh nach jemandem gesucht, der ihm dabei half. Durch diese neueste Entwicklung wurde die Reise weniger langweilig.

Nach vielleicht zwei Stunden ging Gandora auf unbekanntem Gelände zur Landung über. Zunächst ärgerte Crimson sich, schließlich hatten sie es eilig, doch dann begriff er, dass der Drache an seine Grenzen kam. Die Ruhepause beim Grauen Gipfel hatte nicht gereicht.

Die beiden Magier sprangen auf den Boden, wobei Dark beinahe über eine Unebenheit stolperte. Daraufhin machte er ein bisschen Licht mit Hilfe einer kleinen Leuchtkugel, die er gedämpft hielt, um nicht zu sehr aufzufallen. Es tat eigentlich ganz gut, sich die Füße zu vertreten, aber Crimson kam fast um vor Sorge und versuchte deshalb noch einmal, Cathy oder Sorc zu kontaktieren.

Erneut sah er durch Cathys Augen, aber er wäre fast zurückgeschreckt. Die Dunkelheit im Umkreis des Schlosses glühte mit Feuer und Magie. Das Schutzfeld flackerte und Sorcs geheime Runen schimmerten darauf. Auf dem Boden blitzte das Licht von Zaubern auf, fliegende Monster stießen Energiestrahlen auf die Krieger am Boden aus. Crimson erkannte hin und wieder einen seiner Drachen, aber der Gegner musste auch welche haben, oder ähnliche Wesen. Zwischen allem huschten Schatten herum, die finsterer waren als die Nacht. Wenn sie auf den Schild prallten, fielen sie davon ab wie nasse Lappen, und wenn sie es zu lange versuchten, verpufften sie in einem magischen Funkenregen. Der Schild zischte und knisterte, aber er hielt. Crimson konnte praktisch spüren, wie Tank Eins sich mit jedem verglühenden Angreifer ein bisschen leerte.

Cathy nahm seinen Schlossherrn wortlos zur Kenntnis, redete aber nicht bewusst mit ihm. Der Geist war völlig konzentriert auf die Abwehr. Er schwebte hoch über dem Schloss und analysierte die Situation, nahm dann hier und da eine Anpassung im Energiesystem vor. Immer da, wo die stärksten Angriffe stattfanden, verstärkte er den Schild, doch er wagte es kaum, irgendwo zu unvorsichtig zu sein.

Crimson wollte nicht stören, deshalb suchte er nach Sorc und landete prompt in dessen Kopf.

„Das ist jetzt gerade ungünstig!“ rief Sorc laut aus.

„Das kann ich mir vorstellen!“ lachte der Magier, mit dem er gerade kämpfte.

„Ach, wer redet mit dir!“ Sorc schwang den Stab wie eine Waffe. Von der Spitze löste sich ein violett leuchtender Energieball und streckte den Kerl nieder. Doch das gab keinen Anlass zur Freude, denn Gegner gab es genug. Crimson erlebte mit, wie sein Chaoshexer sich durch einen Trupp dieser schattenhaften Kunstkreaturen schnetzelte. Sein Stab bildete silbern schimmernd eine Klinge an jedem Ende, die auf annähernd menschlich aussehende Körper traf. Doch das Gefühl, wenn sie mit der Waffe zusammentrafen, glich dem Zerschneiden von trockener Rinde. Es ging durch die magisch verstärkten Schneiden relativ einfach, zehrte jedoch an der Kraft.

[„Was sind das für Dinger?“] fragte Crimson.

„Finsterlinge, so eine Art Golems, nur aus Finsternis.“ Sorc ließ den Stab los. Er blieb waagerecht in der Luft vor seinen ausgestreckten Händen hängen, drehte sich auf sein Zeichen der Länge nach um seinen Mittelpunkt und wirbelte als tödliches Geschoss um ihn herum, um dann wieder in Sorcs zugreifender Hand zu landen. Die Aktion verschaffte ihm eine kleine Atempause, denn alle Finsterlinge lagen am Boden, wo sie sich in dunkle, glitzernde Pfützen verwandelten. Der Hexer stützte sich schwer atmend auf seine Waffe.

[„Sorc, du bist außerhalb des Schlossgeländes!“] stellte Crimson plötzlich fest.

„Ja, ich weiß.“ Seine Stimme klang heiser. Er atmete tief durch. „Ich hab es mir einfacher vorgestellt. Vielleicht... braucht es nur Übung...“

Ein paar Meter entfernt stolperte Yami vorbei. Er hielt ein Schwert in der Hand und war auf der Flucht vor mehreren Finsterlingen, denen er sich wieder zuwandte, sobald er genug Abstand zwischen sich und sie gebracht hatte. Da sprang Meras hinzu und überwältigte zwei von ihnen. Sie zerfetzte sie mit Krallen und Zähnen und fraß die übrig bleibende Substanz. Yami wurde daraufhin mit den restlichen ganz gut fertig.

Weiter hinten leuchtete Yugis Lichtmagie auf, als er Raigeki auf die Angreifer hernieder beschwor. Der Junge war stark geworden. Das gleiche galt für Appi, der als Apokalyptischer Magier unter den Feinden wütete und im Moment auf einem der Drachen ritt.

[„Sorc... warum sprichst du alles laut aus, statt in Gedanken?“]

[„Ich kann mich gerade schlecht konzentrieren.“]

Jedenfalls ging es, wenn er wollte. Doch Sorc bekam keine Gelegenheit, Crimson weiter zu unterhalten, denn einer der feindlichen Krieger kam auf ihn zu. Er ließ seinen Stab kurz in der Luft hängen und vollführte eine Halbkreisbewegung mit beiden Händen vor seinem Körper. Ein schwarzer Wirbel erschien unter dem Mann und schluckte ihn.

[„Wo ist er hin?“] fragte Crimson erschrocken, obgleich er froh war, dass das Problem so schnell beseitigt wurde.

„Aus dem Spiel entfernt,“ informierte Sorc ihn. „Allerdings kann ich das nur machen, wenn ich gerade nicht anderweitig bedroht werde, ich kann nicht zugleich angreifen.“ Er zog sich zurück, um in die Sicherheit des Schutzschildes zurückzukehren und etwas zu verschnaufen, doch weitere Gegner stellten sich ihm in den Weg.

„Ergib dich, Hexer!“rief einer von ihnen.

„Ist aber auch nicht schlimm, wenn wir dich tot abliefern,“ fügte sein Kollege hinzu.

[„Das ist nicht das erste Mal, dass ich den Eindruck gewinne, sie wären nur hinter mir her,“] sandte Sorc an Crimson.

[„Es kann aber auch sein, dass du nur eins ihrer Ziele bist,“] versuchte Crimson ihn zu beruhigen. [„Das zeigt allerdings, dass der Feind weiß, wer hier wohnt. Sorc, du wirst dich nicht ergeben, hörst du?“]

Sorc antwortete nicht, sondern nahm den Kampf auf. Sein Stab taugte an sich schon gut als Waffe, konnte aber auch Energiegeschosse schleudern, wie Crimson bereits mitbekommen hatte. Jedoch konnte er nur zwei Kämpfer damit ausschalten, ein dritter schaffte es, ihn zu entwaffnen, indem er ausnutzte, dass der Magier durch die anderen abgelenkt war. Sofort attackierte er erneut mit dem Schwert. Sorc griff mit beiden Händen hinter seine Hüften und zog zwei kurze Schwerter hervor, mit denen er sich wirkungsvoll zur Wehr setzen konnte. Er erledigte drei weitere Schwertkämpfer, die sich ihm in den Weg stellten.

[„Sorc?“]

„Ich weiß. Ich darf eigentlich nicht, aber im Moment kann ich darauf keine Rücksicht nehmen.“ Der vorerst letzte Feind runzelte die Stirn, vermutlich verwirrt von seiner Aussage. Sorc nutzte die Gelegenheit, mit einer Hand Magie auf ihn zu schleudern, so dass der Mann gegen den Schild krachte und bewusstlos liegen blieb. Das eine Schwert blieb dabei in der Luft liegen.

Sorc steckte beide Klingen wieder ein, streckte die Hand aus und ließ den Zauberstab herbeifliegen. Es sah alles sehr einfach aus, aber er brauchte eine Pause. Zum Glück schaffte er es nun zurück auf das Schlossgelände, wo er erleichtert aufatmete.

Lily kam herbeigeschwirrt und gab ihm etwas zu trinken. „Bist du verletzt?“

Er schüttelte den Kopf. „Geht schon, ich muss nur kurz verschnaufen.“

Das galt nicht nur für ihn. Auch Fire, Legend und Milla pausierten gerade.

[„Ist Milla nicht noch zu jung?“] protestierte Crimson.

[„Ich konnte sie schlecht einsperren,“] gab Sorc zurück. Er nahm den Helm ab und stellte fest, dass eines der Zierflügelchen abgebrochen war. „Ach verflixt...“

Trotz seiner Beteuerungen wuselte Lily um ihn herum und rieb Salbe auf jeden kleinen Kratzer; davon gab es einige. Er ließ es sich notgedrungen gefallen, genoss aber auch ihre Berührungen, wie Crimson nicht entging.

Hoch über ihnen erklang ein zischender Schrei. Mehrere andere antworteten.

[„Crimson, es wäre gut, Gandora hier zu haben,“] bemerkte Sorc mit einem Blick hinauf.

Geflügelte Geschöpfe, die vorne Echse und hinten Schlange waren, also ab der Hüfte nur aus Schwanz bestanden, prallten auf die Schildkuppel und kratzten hartnäckig daran, obwohl dabei Blitze auf der Oberfläche entstanden. Eine Flammenwand zuckte über den Schild und verjagte sie vorerst. Dies hatte Crimson noch nie gesehen, aber er hatte Cathy auch noch nie in den Verteidigungsmodus versetzt.

[„Er musste ebenfalls eine Pause einlegen,“] erklärte Crimson. [„Ich weiß nicht, wo wir hier sind, und wir werden noch einige Stunden brauchen.“]

Sorc sah sich um, ließ Crimson das Ausmaß des Problems einschätzen. [„Lily hat das Kontaktformular an den Zirkel des Bösen abgeschickt und um Hilfe gebeten. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie sich zuständig fühlen. Wie auch immer... wir werden durchhalten, bis du kommst.“]

Da war etwas, das er nicht sagte, ahnte Crimson. Vielleicht wollte Sorc ihn nicht zu sehr beunruhigen. Letztendlich, überlegte er, konnte er alleine die Situation auch nicht herumreißen. Aber zumindest hätte Cathy seinen Schlossherrn bei sich.

[„Ich verlasse mich auf euch.“] Er löste die Verbindung und fand sich bei Dark wieder, der neben ihn saß und sich mit dem Rücken an den Drachen lehnte. „Wie steht es beim Schloss?“

„Ich glaube, eher schlecht. Sorc gab mir keine allzu genaue Auskunft, aber er ist ziemlich erschöpft. Realistisch betrachtet ist es unwahrscheinlich, dass eine Handvoll Leute, von denen wiederum nur die Hälfte irgendwelche Kampferfahrung hat, gegen die vorhandenen Gegner gewinnen kann.“ Crimson schloss die Augen und verarbeitete seine eigenen Worte.

„Ich konnte Draconiel davon überzeugen, Exxod davon zu überzeugen, einen Boten zum nächsten Ort zu schicken, wo es Hilfe gibt. Allerdings weiß ich noch nicht, was dabei rausgekommen ist. Blacky und Mava sind noch auf dem Rückweg, aber wahrscheinlich schon weiter als wir.“ Dark schaffte ein Lächeln. „Nicht verzagen, Crimson. Selbst wenn die Schlacht verloren wird, heißt das nicht automatisch, dass alle getötet werden.“

„Wir wissen nicht einmal, was diese Leute wollen oder wer die sind!“ jammerte Crimson. „Was ist das für eine Art, jemanden anzugreifen und noch nicht einmal Forderungen zu stellen?“

„Reg dich nicht auf. Ein beseeltes Schloss kann lange im Verteidigungsmodus ausharren, falls niemand mehr kämpfen kann.“

„Du... weißt...?“ Gut, das hätte er sich denken können. Dark hatte selber ein beseeltes Schloss.

„Cathy hat es Draconiel erzählt. Die beiden haben sich gezankt, weil Draconiel nachträgliche Beseelung für eine ziemlich bescheuerte Idee hält.“

„Ah ja, wahrscheinlich, weil er von Anfang an eine Seele hatte und sich damit toll vorkam. Jetzt kann Cathy ihm ja das Wasser reichen, wie furchtbar!“ entgegnete Crimson sarkastisch.

Dark kicherte. „Das war genau Cathys Argumentation, glaube ich. Nun musst du auch wissen, Crimson, dass Draconiel seinerzeit Schlösser und Burgen mit Herzen entworfen und gebaut hat. Er weiß, wovon er redet, aber er ist sehr versteift auf seine eigene Meinung und das, was er für das beste hält. Nachträgliche Beseelungen sind nunmal nicht alltäglich, und er findet die Wahl der betreffenden Seele äußerst bedenklich.“

Crimson seufzte. „Ja, schon... aber ich musste an dich denken, als Sorc mich fragte, ob ich einverstanden bin. Eine geschenkte Seele lehnt man nicht ab.“

„Nein... tut man nicht,“ stimmte Dark zu. Er legte einen Arm um Crimsons Schultern. „Ich bin mit einem Chaosmagier zusammen und weiß deshalb, dass deine Leute ganz gute Chancen haben. Sorc hat mehr Erfahrung als Blacky. Und wenn für Blacky schon nichts unmöglich ist, dann geh davon aus, dass Sorc noch der ein oder andere Trick einfällt.“

Crimson nickte einfach und versuchte, positiv zu denken.
 

„Hey... wach auf. Eine Stunde muss reichen.“ Dark rüttelte ihn sanft, aber bestimmt.

Crimson schreckte aus dem Schlaf hoch, der ihn übermannt hatte. Er ärgerte sich darüber, jedoch sah er ein, dass die Ruhe ihm wahrscheinlich gut tat, und auch Gandora hatte sich vielleicht genug ausgeruht, um zum Schloss zu fliegen und dort direkt in den Kampf einzusteigen.

Er widerstand der Versuchung, noch einmal nach dem Rechten zu sehen. Wenn es etwas gäbe, was er wissen musste, dann würden Cathy oder Sorc es ihm schon sagen. Vielleicht störte er, wenn er sich einmischte.

Gandora gab sich Mühe, das spürte der Magier deutlich, auch wenn er noch keine Gedankenverbindung zu dem Drachen hatte. Der Himmel hellte sich bereits auf, als in der Ferne Lichter in Sicht kamen – Lichter von magischen Explosionen, Drachenfeuer und anderen Anzeichen eines Kampfes, bei dem nicht nur mit Schwertern gekämpft wurde. Gandora brüllte, doch es klang viel bedrohlicher als das, was sie beim Anflug auf den Grauen Gipfel von ihm gehört hatten.

Crimson bemühte sich, so bald wie möglich irgendetwas zu erkennen. Zu seiner Überraschung erkannte er bald Slifer, den Himmelsdrachen, der über der Szene schwebte, gelegentlich hinabstieß und sich dann wieder in die Luft schraubte. Auch Schattensturm flog über dem Schloss, also mussten Mava und Blacky ebenfalls schon vor Ort sein. Crimson atmete auf. Es gab sowohl symbolisch als auch tatsächlich einen Lichtblick am Horizont.

Dann erklang ein weiteres Drachenbrüllen. Noch war es weit weg, jedoch schon näher, als es einige Sekunden später ein zweites Mal zu hören war. Crimson blickte sich furchtsam nach allen Seiten um und entdeckte von landeinwärts kommend, also quasi hinter sich, einen großen, massigen Umriss am Himmel. Doch er musste gar nicht genau hinsehen. Er kannte dieses Geräusch besser, als ihm lieb war. Der Gegner hatte den Fünfgötterdrachen beschworen.

Herbe Rückschläge

Mava! Er musste Mava finden, mit ein paar Ausrüstungsgenständen ausstatten und ihn zum Fünfgötterdrachen fliegen, dann war die Sache gleich geritzt. Crimson redete sich ein, dass er ganz ruhig bleiben konnte... bis er sah, wie der Lichtmagier in die Sicherheit des Schildbereiches humpelte, gestützt auf Appi. Lily und Dharc liefen ihnen zu Hilfe. Sie legten Mava auf dem Boden ab und Lily begann an Ort und Stelle mit der Behandlung.

Verdammt. Als ob sie darauf gewartet hatten, dass Mava außer Gefecht war! Crimson wollte am liebsten Gandora dazu auffordern, den Fünfgötterdrachen herauszufordern, aber Sorcs Drache war müde von der Reise. Dafür nahm sich Yugi des Problems an. Crimson bewunderte ihn... das letzte Mal, als er in seiner Gestalt als Slifer gegen den Fünfgötterdrachen angetreten war, hatte er ernste Verletzungen erlitten, doch er scheute sich nicht, es erneut zu tun.

Während Gandora vor dem Schlosstor landete und sich sogleich erschöpft auf den Bauch fallen ließ, prallten die großen Drachen in der Luft aufeinander. Die gelegentlichen Energiestrahlen, die auf dem Boden aufkamen, wenn sie den Gegner verfehlten, machten die ganze Umgebung unsicher.

Crimson und Dark mussten kurz ihre Beine vertreten, weil sie von der langen Reise ganz steif waren. Während Dark nach Mava schauen ging, suchte Crimson Kontakt zu seinem Schlossherz.

Cathy materialisierte sich sofort neben ihm und umarmte ihn kurz. Überraschenderweise fühlte der Geist sich einigermaßen stofflich an. „Willkommen zurück. Erschrick mich nicht noch einmal so!“ Cathy machte ein Gesicht, als müsste er heulen. Doch dann wurde er schlagartig wieder sehr sachlich. „Die Lage ist ernst. Wir haben zu wenige Leute. Der Feind versucht, den Schild mit Schildbrecherzaubern zu zerstören, aber ich kann den Schild regelmäßig modifizieren, so dass sie keinen Erfolg haben. Unsere Kämpfer sind schon teilweise verletzt... Mava hat bereits lange gekämpft.“

Crimson blickte zu der Stelle, wo der junge Lichtmagier versorgt wurde. „Warum warten wir nicht einfach, bis Hilfe kommt, statt uns unnötig aufzureiben? Dark hat gesagt, dass ein beseeltes Schloss lange seinen Schild halten kann.“

„Das stimmt auch, aber ich besitze diese Seele gerade mal seit etwas mehr als einem Tag und hatte nur zwei einigermaßen gefüllte Tanks Dank des letzten Missgeschicks! Außerdem greifen diese Leute uns ununterbrochen an, gerade so, als hinge ihr Leben davon ab. Sie versuchen alles, um durchzubrechen, das müssen wir unbedingt verhindern. Darks Theorie bezieht sich eher auf eine schlichte Belagerung und ein Schlossherz, das mit einer Seele erschaffen wurde.“ Cathy verzog das Gesicht. „Er hat ja schließlich so eins.“

Da musste Crimson zustimmen, möglicherweise hatte Dark das nicht bedacht. „Wie konnten wir den Schutzschild durchdringen, obwohl er Feinde abhält?“

„Schön, dass du fragst.“ Cathy nahm eine ganz gerade Haltung an. „Der Schild besteht derzeit aus mehreren Schichten, um sowohl Magie und magische Wesen als auch fleischliche Geschöpfe abzuwehren, zugleich aber unsere Leute bei Bedarf durchzulassen. Jedoch ist das eine sehr komplizierte Konstruktion, die noch etwas verbessert werden muss, aber dafür, dass Schloss Lotusblüte kein Kampfschloss ist, schlagen wir uns ganz gut.“

Crimson nickte, nahm die Information zur Kenntnis. „Habt ihr inzwischen herausgefunden, wer die sind und was sie wollen?“

Das Schlossherz schüttelte den Kopf. „Sorc und Cross konnten insgesamt fünf von denen befragen, aber es scheint sich um Söldner zu handeln, die gut für ihre Dienste bezahlt werden, aber nicht recht wissen, wozu sie hier sind.“

„Merkwürdig... dass sie gar nichts verlangen, etwa dass wir den Schatz rausrücken oder so...“

„Crimson!“ Sorc kam aus dem Schloss. So schnell es ging, ohne zu rennen, schritt er auf den Schlossherrn zu und schloss ihn in eine knochenbrecherische Umarmung. Dabei ließ er den schwarzen Zauberstab los, der daraufhin neben ihm in der Luft hängen blieb.

Crimson schnappte nach Luft, konnte aber nichts sagen, bevor Sorc ihn losließ. Allerdings fiel ihm dann nichts Passendes ein. „Ray... ist in guten Händen,“ brachte er zustande.

Sorc wuschelte ihm durchs Haar. „Und ich habe mich wie versprochen um das Elixier gekümmert, ich war gerade drin, um den nächsten Arbeitsschritt vorzunehmen. Der Kessel ist...“

„Crimson! Du bist wieder da!“ Eria rannte auf das Schlossgelände und unterbrach Sorc. Sie trug einen Verband am Kopf, aber es schien keine schlimme Verletzung zu sein. „Sorc wollte mir nicht sagen, wohin du gehst, nur dass es eine wichtige und gefährliche Mission ist.“

„Das ist auch gut so,“ nickte Crimson. „Ich wollte nicht, dass alle davon wissen.“

Seine Schülerin machte einen munteren, wenn auch erschöpften Eindruck. Ihre Wangen waren ganz rosa und die Augen groß. Sie zeigte eine aufrechte Haltung.

„Die Kinder sind alle sehr stolz, für dich kämpfen du dürfen und ihr Bestes zu geben,“ informierte Sorc ihn, obgleich Crimson seiner Verwunderung nicht laut Ausdruck verliehen hatte, aber das kannte er ja von ihm.

„Hey, ich bin kein Kind mehr!“ zischte Eria ihn an.

„Sonst würde ich dich da auch nicht raus lassen,“ gab Sorc ihr zu verstehen und ging an ihr und Crimson vorbei, um Gandora am Kinn zu streicheln. Dabei griff er in die Luft neben sich und holte Crimsons Zauberstab hervor. „Hier, den kannst du sicherlich brauchen.“

Crimson fing den Stab auf. „Irgendwann bringst du mir bei, wie du das machst!“

„Geh erstmal kurz was essen, Crimson. Du warst lange unterwegs.“

Sorc schlug einen so sanften Tonfall an, dass er Crimson damit fast schockierte. Eria blieb der Mund offen stehen, und sie warf ihrem Lehrmeister hinter dem Rücken des Älteren verwunderte Blicke zu.

Der Chaoshexer räusperte sich, obwohl niemand eine Bemerkung gemacht hatte. „Gleich in der Eingangshalle gibt es einen Tisch mit Schnittchen und kleinen Häppchen,“ informierte er den Schlossherrn, nun wieder in einem festen, sachlichen Tonfall. Er nahm Gandora auf den Arm, als dieser zu seiner kleinen Gestalt zusammenschrumpfte, und trug ihn nach drinnen.

Crimson folgte ihm mit Eria. Als die beiden sich an dem Essen bedienten, wurde Mava hinein getragen. Er sah nicht so aus, als wäre er bald wieder einsatzfähig, aber zumindest lächelte er, als er Crimson sah.

Dark gesellte sich zu ihnen. „Mava muss sich ausruhen und den Heiltrank wirken lassen, den er getrunken hat. Das wird ein paar Stunden dauern.“ Er nahm sich einen Teller mit Fleischbällchen und beförderte mehrere in schneller Folge zu seinem Mund.

„Was ist mit dem Fünfgötterdrachen?“ fragte Crimson besorgt. „Kann Yugi ihn aufhalten? Stehen uns andere Lichtmagier zur Verfügung, die genug Angriffskraft auffahren können?“

Dark brauchte ein paar Sekunden, um den Letzten Bissen hinunter zu schlucken. „Ich fürchte, im Moment nicht. Aber zumindest kann Yugi ihn in Schach halten und ermüden.“

Das Gebrüll der beiden Drachen war bedrohlich nahe zu hören, gedämpft durch die Schlossmauern. Crimson befand, dass es Zeit war, selber in Aktion zu treten, wo doch seine Leute sich so tapfer schlugen. „Eria, mach eine Pause. Dark und ich übernehmen erstmal.“

„Ich hatte erst eine Pause,“ entgegnete sie. „Aber du solltest noch etwas mehr essen.“

Das tat Crimson, aber hauptsächlich, weil sein Magen es verlangte, also aus reiner Vernunft. Appetit hatte er keinen, daher war es ihm auch relativ egal, was er eigentlich aß.

„Wie geht es Olvin?“ fragte er seine Schülerin. „Ich hoffe, er verausgabt sich nicht zu sehr. Wir haben genug Tränke auf Lager.“

„Ja, Lily hält ihn auch davon ab, seine Heilkräfte zu benutzen, und er hört auf sie,“ bestätigte Eria. „Wir haben uns bisher Olvin für den Notfall aufgehoben. Lilys magische Heilkünste reichen nicht an seine heran, aber bisher hatten wir noch keine lebensgefährlichen Verletzungen.“

„Gut. Ich glaube, wir sollten nach dem Verantwortlichen hier suchen,“ beschloss Crimson. „Das kann doch nicht sein, dass wir nicht wissen, weswegen wir eigentlich kämpfen.“

„Das herauszufinden ist weder Sorc noch Fire oder irgendjemandem sonst bisher gelungen, also viel Glück,“ wünschte Eria mit sarkastischem Unterton.

„Diese Leute haben eine sehr aggressive Aura,“ meldete sich Sorc aus dem Hintergrund. „Wir haben überlegt, ob dieser Angriff vielleicht auf einem Missverständnis beruht und der Gegner denkt, er müsse sich für etwas rächen. Aber dann hätten sie uns das sicherlich inzwischen mitgeteilt und Wiedergutmachung verlangt. Nach dem, was wir bisher wissen, kämpfen sie nur um des Kampfes Willen.“

„Es sind gewiss keine Feinde von dir?“ hakte Crimson nach.

Sorc schüttelte den Kopf. Er holte ein getupftes Kissen aus dem Nichts und legte es an der Seite auf den Boden, um dann Gandora darauf abzusetzen. „Zumindest haben sie sich nicht als solche zu erkennen gegeben, und meine Feinde sagen wir normalerweise, was sie wollen.“

„Wie viel Erfahrung hast du denn damit?“ konnte Crimson sich nicht verkneifen zu fragen.

Sorc seufzte. Natürlich war er noch nicht lange in der Situation, dass Feinde ihm auflauerten, weil er ihnen vor ungefähr einem Jahr etwas angetan hatte. „Es gehört sich einfach so! Man teilt dem Gegner mit, worum es geht. Wenn nicht, hat man selber etwas zu verbergen.“

Crimson rieb sich das Kinn. „Hm, könnte sein, dass sich der Drahtzieher nicht zu erkennen geben will, oder?“

„Vermutlich, aber so etwas habe ich noch nie erlebt.“

„Ich schon, als du an die Macht wolltest, Sorc,“ zischte Eria. „Du hast irgendwelche Truppen geschickt und sie alles zerstören lassen.“

Sorcs Augen zuckten ganz leicht, es war kaum zu erkennen. „Dann bleibt nur eine Lösung!“ verkündete er. „Der Angreifer ist ein Möchtegern-Darklord!“

Crimson hatte den Eindruck, dass die Argumentation ein wenig hinkte. Aber es spielte auch keine Rolle. Bald konnte er dem ein Ende machen!

Eria, Sorc und Dark schlossen sich ihm an, sobald er sich genug gestärkt fühlte und sich auf das Schlachtfeld begab.

„Bald müssten auch Ruin und Demise wieder hier sein, oder?“ sinnierte Dark, der um sich schlug, als ein paar Finsterlinge auf sie zu kamen. Er benutzte dafür auch seinen Stab, allerdings hatte Crimson nicht mitbekommen, wo er den hergeholt hatte. Er kam sich ein bisschen unwissend vor, beschwerte sich aber im Moment nicht.

„Ruin ist dem Licht zugetan,“ griff Sorc das Thema auf. „Aber es wird schwierig, sie mit genug Ausrüstung auszustatten, dass sie den Fünfgötterdrachen schlagen könnte.“

Aus der Luft kamen einige Exemplare der geflügelten Echsenwesen, sie sie vorher auf dem Schutzschild gesehen hatten. Sie mussten sich aber nicht darum kümmern, denn Lichtblitz nahm sich ihrer an. Für den Jungdrachen galt leider das gleiche wie für Ruin, sogar mehr noch, denn er verfügte noch nicht über die volle Angriffskraft seiner Art.

Crimson mochte es nicht, dass sein Schloss in Gefahr war, aber auf der anderen Seite genoss er es, mal wieder mit all seinen gefährlichen Zaubern um sich werfen zu können. Die Verteidiger verfügten nicht über zu viele Mitstreiter, daher befand sich auch selten jemand in seiner Nähe, den er versehentlich verletzen konnte, außer den Mitgliedern seiner kleinen Gruppe. Die drei gingen aber immer rechtzeitig in Deckung.

Eria verwandelte alle Feinde in Eisblöcke oder brachte gleich mehrere zu Fall, indem sie den Boden rutschig machte. Dark nutzte mit Vorliebe den Wellenbewegungszauber. Sorc... war Sorc. Crimson konnte manchmal nicht erkennen, was er tat, nur dass auf einmal Leute in der Nähe umfielen. Oft jedoch mähte der Chaosmagier sie aber auch mit seinem fliegenden Stab nieder oder in schlichtem Kampf Mann gegen Mann, wobei der Stab als Kampfwaffe herhielt. Nicht selten kam auch eins der Schwerter zum Einsatz oder ein verstecktes Wurfmesser. Crimson musste daran denken, wie viel Zeug Ray letztens am Strand abgelegt hatte.

Er selbst bediente sich gerne des 'Tausend Messer' Zaubers. Irgendwie erinnerte ihn das an Arcana, aber dadurch wollte er sich nicht ablenken lassen. Einmal, als besonders viele Gegner, insbesondere Finsterlinge, auf seine Gruppe einstürmten, setzte er 'Reißender Tribut' ein, und Dark versteckte die vier Verteidiger solange unter den Zauberhüten, damit sie nicht mit weggerissen wurden.

Entweder kämpften sie besonders effektiv, oder die Angreifer wurden weniger. Nach einer Weile jedenfalls kam das Lager in greifbare Nähe. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass sie sich ein gutes Stück vom Schloss entfernt hatten.

[„Sorc, geht es?“] erkundigte Crimson sich in einem ruhigen Moment telepathisch, so dass sonst niemand mithörte.

Der Chaosmagier spielte den unbeeindruckten Streiter, doch die Entfernung musste sich bemerkbar machen. Kleine Schweißtropfen glitzerten auf seiner Stirn und befeuchteten seine Haare, aber man konnte es auf die Anstrengung schieben.

[„Mit dir bei mir geht es einfacher,“] teilte Sorc ihm mit. [„Aber sehr viel weiter schaffe ich es wirklich nicht.“]

[„Spiel nicht den Helden. Kehr rechtzeitig um,“] ordnete Crimson an.

Sorc sandte ihm die geistige Entsprechung eines Nickens und zog seine beiden kurzen Schwerter, um sich einem gegnerischen Kämpfer zu stellen.

„Was jetzt, stürmen wir das Lager?“ fragte Eria. Ihre Wangen glühten rosa vor Aufregung und Anstrengung.

„Du solltest lieber hinter mir bleiben, Eria,“ sagte Crimson zu ihr.

Der Gegner, mit dem Sorc es gerade zu tun hatte, kicherte in einem hohen, fast irren Tonfall. „Versucht es nur, Leute. Ich hab gehofft, dass ihr zu mir durchkommt! An mir kommt ihr nicht lebend vorbei! Gorz, der Gesandte der Finsternis, macht euch ein Ende!“

Der Typ sah aus, als könnte er Fires bester Freund sein, denn seine roten Haare standen steil ab und er gab sich auf jugendliche Art arrogant. Er schien bis an die Zähne bewaffnet zu sein: An den Armen verliefen Klingen vom Gelenk Richtung Ellenbogen und machten ihn zu seinem gefährlichen Nahkämpfer, aber so nah musste man ihm erstmal kommen, denn er besaß ein ziemlich großes Kriegsschwert. An allen erdenklichen Stellen seiner Kleidung lugten Metallspitzen hervor. Crimson fand, dass dies ein Gegner für Luster war, aber ob Sorc mit ihm klarkam, bezweifelte er – so ungern er das auch zugab. Sorc musste ihn schon mit Magie bekämpfen statt mit Waffen.

Doch er sorgte sich umsonst, denn Sorc war nicht für seine fairen Kämpfe bekannt. Während der Rothaarige sich vorstellte, flog der schwarze Zauberstab durch die Luft. „Ich bin Sorc, Chaosmagier von Schloss Lotusblüte.“

Die Worte erfüllten Crimson mit Stolz. Jemand erklärte sich offen zu seinem Verbündeten! Gutes Gefühl.

Der Zauberstab sauste wirbelnd auf Gorz zu und zielte auf dessen Rücken, doch der Krieger schlug den Stab mit dem Schwert weg, obwohl er es die ganze Zeit so aussehen ließ, als hätte er nichts bemerkt.

„Deine fiesen Tricks kommen bei mir nicht an, Hexer,“ freute Gorz sich.

Der Moment des Angebens kostete ihn fast den Sieg, denn Sorc wartete natürlich nicht darauf, dass der andere für ihn bereit war. Er stürzte sich mit seinen Schwertern auf den Gegner und ließ Magie aus den Klingen schießen, wenn er sie schwang.

[„Er ist ein Unterweltler, Crimson. Falls du es mit ihm zu tun bekommst, rechne mit magischen Attacken.“]

Das wäre Crimson jetzt nicht aufgefallen, aber Sorcs Augen entging dieses Detail nicht.

„Sollten wir nicht das Lager stürmen, währen Sorc ihn ablenkt?“ fragte Eria erneut.

„Du solltest nicht so wild auf den Kampf sein,“ rügte Crimson sie. „Jede Kampfhandlung bringt dich in Gefahr!“

„Ich hätte es nicht besser formulieren können,“ kommentierte Dark. „Dennoch sollten wir die Gelegenheit nutzen, um...“

Crimson bekam den Rest nicht mit, denn er spürte eine Erschütterung im Sicherheitssystem seines Schlosses und drehte sich instinktiv um. Yugi in Gestalt von Slifer lag auf dem Schutzschild, während der Fünfgötterdrache ihn zurück drängte. Aber das dauerte nur kurz, denn nach einem Augenblick ließ der Schild Yugi durch, ob nun deshalb, weil er ein Verbündeter war, oder weil der Schild sein Gewicht nicht trug, blieb unklar. Slifer stürzte direkt auf das Schloss und begrub den Alchemieturm unter sich, welcher unter seinem Gewicht nachgab. Steine und Dachziegel regneten nach unten.

„Nein! Neeeeiiin!“ Crimson rannte zurück, nur beherrscht von einem Gedanken: Er musste den Trank retten oder zumindest versuchen, einen Schluck davon sicherzustellen. Cathy zeterte in seinem Kopf, beschwerte sich über die Beschädigung.

„Crimson! Warte doch, bleib---“ Sorcs Worte brachen plötzlich ab, und zwar auf eine Weise, die Crimson seltsam vorkam. Wieder schrie Cathy in seinem Geist auf.

Er wurde langsamer, drehte sich um.

Sorc begegnete seinem Blick. Er taumelte zwei Schritte auf ihn zu und schaute dann stirnrunzelnd auf die blutige Klinge, die aus seiner Brust ragte.

Crimson fühlte sich fern von der Realität. Das konnte nicht passieren! Bestimmt täuschte er sich... Sorc war... er war zu geschickt und gerissen, um...

Der Chaoshexer sackte auf die Knie. Als Gorz sein Schwert mit einem Ruck zurückzog, stürzte sein Oberkörper nach vorne in den Staub. Eria schrie entsetzt auf.

Der Schrei holte Crimson aus seiner Trance. Heilzauber... ihm musste ein Heilzauber einfallen!Hatte er nicht irgendetwas in der Tasche?

Gorz holte gerade zum Todesstoß aus, doch Dark stellte sich ihm in den Weg, und das mit einer Vehemenz, die Crimson noch nie bei ihm gesehen hatte. Crimson überließ ihm gerne den Gegner und kümmerte sich um den gefallenen Freund. Er stolperte zu ihm zurück, sank neben ihm zu Boden und suchte nach Lebenszeichen.

„Ist er... tot?“ fragte Eria leise. Ihre Stimme zitterte und klang weinerlich. „Ich wollte nicht, dass das passiert! Ich mag ihn nicht, aber... aber das...“

„Das ist nicht deine Schuld,“ murmelte Crimson. „Es ist meine...“ Er hatte Sorc abgelenkt, den Abstand zu ihm vergrößert, obwohl es dem Chaoshexer schon schwer genug gefallen war, sich so weit von seiner Seele zu entfernen. Der Schlossherr hatte für ihn wie ein Anker gewirkt – und ihn im Stich gelassen. Panisch versuchte Crimson, sich an einen Zauber für solche Notfälle zu erinnern, doch sein Geist war wie leergefegt. Auch in den Taschen seiner Robe fand er lediglich das Mittel, das er für seine vermeintliche Hinrichtung eingesteckt hatte.

Sorc lag auf der Seite und verlor Blut, das sich beängstigend schnell auf dem plattgetretenen Gras ausbreitete. Seine Augen waren offen. „Dein Kessel... Ich wollte... es dir sagen...“ ächzte Sorc. Sein Atem rasselte.

„Nicht reden,“ flüsterte Crimson hektisch. „Cathy... such mir irgendwas aus deinen Daten raus, was mir hier nützt!“ Doch sein Schlossherz antwortete nicht – Crimson spürte, dass es zu beschäftigt damit war, den Schaden am Schloss einzudämmen und zu verhindern, dass Feinde den Schild durchbrachen. Zugleich bekam er mit, dass Sorc immer schlechter Luft bekam und zu entscheiden versuchte, was er noch alles sagen wollte, bevor er starb. Crimson konnte nicht klar denken, zu sehr war er mit den Gedanken anderer verbunden.

Eria kniete auf Sorcs anderer Seite. Sie legte zögerlich ihre Hände auf beide Wunden, sowohl am Rücken als auch auf der Brust, und sagte einen Spruch auf. Crimson erinnerte sich. Den hatte er mal in Heilkunde gelernt, im zweiten oder dritten Jahr. Doch obwohl er die Worte nun hörte, konnte er sich nicht gut genug erinnern, um selber zu helfen. Er fühlte sich völlig nutzlos.

Plötzlich ragte ein Schatten über der kleinen, am Boden kauernden Gruppe auf. Eine stämmige Gestalt im schwarzen Umhang näherte sich, mit dem Gesicht unter der Kapuze.

„Bist du der Schlossherr?“ erkundigte sich eine tiefe Stimme.

Crimson schluckte. „Ja. Und?“

„Dann sollst du sterben.“ Der Mann – ein Unterweltler, vermutete Crimson, denn er hatte eine sehr gruselige Aura – bildete eine finstere Energiekugel in seiner rechten Hand. Nein, definitiv kein Meraszauber.

Crimson sprang auf. Wenn er die Flucht ergriff, konnte er den Fremden vielleicht von Sorc und Eria weglocken. Die Hand, mit der er seinen Zauberstab hielt, klebte von Sorcs Blut. Unsicheren Schrittes wich er zurück, kam jedoch nicht weit – Finsterlinge stürzten sich auf ihn und hielten ihn fest. Ihre Berührung fühlte sich kalt an wie ein Lufthauch auf feuchter Haut. Möglicherweise stand ihr Beherrscher vor ihm.

„Wir haben den Auftrag, den Schlossherrn und seinen Chaoshexer zu töten,“ ließ der Fremde ihn wissen. „Gleich ist das erledigt.“

„W-Wer hat euch beauftragt?“ presste Crimson hervor. „Bestimmt... kann man mit demjenigen verhandeln! Oder warum einigen wir uns nicht untereinander? Was zahlt er euch?“

Doch der Feind lachte nur und holte mit der Hand aus, die die Energiekugel hielt. Gerade, als er sie schleudern wollte, schwirrte etwas heran und lenkte ihn ab. Sorcs Zauberstab! Der Unterweltler wandte seine Aufmerksamkeit kurz von Crimson ab und wehrte die Waffe mit dem Energieball ab, der eigentlich für den Auftragsmord vorgesehen war.

Crimson riss sich zusammen. Wenn Sorc ihm mit letzter Kraft helfen konnte, durfte er ihn nicht enttäuschen! Er ließ seinen eigenen Zauberstab hell aufleuchten und vertrieb damit die Finsterlinge. Sobald seine Hände frei waren, griff er den Unterweltler mit dem 'Tausend Messer' Zauber an.

Doch der Gegner hob nur den Umhang und wehrte die Messer einfach ab. „Netter Versuch, Schlossherr. War das alles?“

„Natürlich nicht!“ Crimson griff ihn mit Schwarzer Magie Attacke an, doch auch das beeindruckte den Kerl nicht besonders. Reißender Tribut hätte vielleicht etwas gebracht, aber das wagte er nicht mit seinen Freunden in der Nähe.

Eine neue Energiekugel des Fremden flog auf Crimson zu. Er konnte einen Volltreffer vermeiden, wurde aber an der linken Schulter getroffen. Brutal schüttelte ihn die Kraft der Attacke durch, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Als er wieder klar sehen konnte, ragte der Unterweltler über ihm auf. Anscheinend war er kurz bewusstlos gewesen und gestürzt.

„So... du lebst noch!“ stellte sein Gegner fest. „Das zögert dein Ende nur hinaus...“ Er bereitete erneut eine dieser schrecklichen Energiekugeln vor...

Rückzug

Crimson lag am Boden und blieb einfach liegen. Sein Elixier war vernichtet. Selbst wenn er etwas retten konnte, blieb ihm wahrscheinlich keine Chance, es zu beenden. Dazu war einfach zu viel los. Vielleicht überrannten inzwischen auch schon die Feinde sein Schloss.

Sorc lag im Sterben. Vielleicht konnte wenigstens er gerettet werden, wenn der Unterweltler die Wahrheit gesagt hatte und sie nur hinter ihnen beiden her waren... er dachte vielleicht, Sorc wäre schon erledigt. Crimson wollte nicht mit der Schande leben, als Schlossherr völlig versagt zu haben. Und als Lehrer, denn er hatte Eria in Gefahr gebracht. Seine anderen Schüler... hoffentlich ging es ihnen wenigstens gut.

„Hey! So geht das nicht! Soll man sich so an dich erinnern?“ Jemand trat ihn unsanft in die Seite. Crimson kannte die Stimme nicht. Oder doch? Sie klang ein bisschen wie... Catherine.

„Wenn du jetzt aufgibst, bleibt wahrscheinlich nicht viel von Lotusblüte übrig!“ warnte ihn eine andere Stimme, aber sie klang fast genauso. „Oder was denkst du, warum diese Leute nicht verhandeln? Sie werden das Schloss plündern!“

„Wir sind kein Kampfschloss. Aber wir sind nicht wehrlos.“

„Nutze das Wissen. Es ist einfacher, als du denkst.“

„Es besteht kein Grund zu verzweifeln. Lerne aus deinen Fehlern und wiederhole sie nicht.“

Als Crimson die Augen öffnete, sah er über sich mehrere Gesichter von Männern und Frauen, die er allesamt nicht kannte... aber sie wirkten auch nicht fremd. Alle schienen dieselbe Stimme zu benutzen, aber in unterschiedlicher Höhe und Betonung.

„Selbstverständlich. Denn wir sind alle eins,“ sagte eine streng aussehende Frau und lächelte erhaben.

Die Gesichter verschwammen und machten den Blick frei auf einen fiesen Unterweltler, der Crimson gerade mit einer tödlichen Energiekugel erledigen wollte. Crimson dachte nicht darüber nach. Er hob eine Hand und benutzte Spiegelkraft.

Der Effekt war ziemlich befriedigend – sein Gegner schrie auf und taumelte nach hinten weg. Die Abwehr kostete Kraft, aber Crimson zwang sich dennoch auf die Füße, benutzte seinen Zauberstab wie einen Krückstock. „Was fällt dir ein,“ grummelte er. „Wie kannst du es wagen, dich gegen mein Schloss zu erheben!“

Sein Feind wirkte im erstem Moment verunsichert, besann sich dann jedoch. „Es ist eine Beute wie jedes andere auch.“ Wieder warf er eine Kugel aus Finsternis. Aber in der kurzen Zeit hatte er sie nicht so groß hinbekommen.

Crimson schlug sie mit dem Stab weg, und sie verpuffte in der Luft. Die Aktion jagte ein Gefühl wie von einem Blitzschlag durch den Stab in seine Hände, aber er ließ sich nichts anmerken.

Dann fiel auf einmal Gandora regelrecht vom Himmel, kam donnernd neben ihm auf und ließ die Umgebung erbeben. Einen Flügel spannte er demonstrativ über Crimson aus und brüllte den Unterweltler an.

Dieser wich tatsächlich zurück, ergriff aber nicht die Flucht. Ein Drache, der auf dem Boden landete, war für gewöhnlich leichter zu besiegen, als man meinen würde. Das dachte sich der Fiesling wohl auch gerade.

Crimson berührte Gandora an der Schulter. „Ich mache das. Bring Sorc zum Schloss zurück.“

Beim Schloss gab es starke Heiltränke, und zur Not musste eben Olvin eingreifen. Zweifellos gab es auch irgendeine Möglichkeit, um das Leben des Necromanten noch etwas zu verlängern, bis das Elixier neu gebraut war!

Gandora diskutierte selbstverständlich nicht. Er knurrte den Unterweltler an und wandte sich zu der Stelle um, wo Eria sich um Sorc kümmerte. Aber Crimson konnte nicht darauf achten, wenn er die nächsten Minuten überleben wollte. Er suchte nach einer engeren Verbindung zu seinem Schlossherz und dessen Erinnerungen an frühere Herren, griff nach der Kraftquelle, mit der er verbunden war. Während er das tat, fegte etwas alle Zweifel hinweg – wie bei dem Ritual der Seelenübertragung, als er zum ersten Mal in Kontakt mit dem Chaos und seinen Möglichkeiten gekommen war.

Als der Unterweltler den nächsten Angriff nach ihm schleuderte, war Crimson nicht direkt vorbereitet, aber er reagierte – ohne genau zu wissen, was er tat. Ihm kam es vor, als ob Urinstinkte in ihm erwachten, oder begrabene Erinnerungen, die nur auf ihren Einsatz warteten. Was immer es war, er ergab sich diesem Gefühl, wehrte sich nicht, sondern ließ alles willig geschehen.

Crimson riss die freie Hand nach oben und rief die magischen Energien herbei, damit sich auch auf seiner Seite ein finsteres Geschoss bildete. Doch er warf es nicht auf den Gegner, sondern ließ sich auf ein Knie sinken und beugte den Oberkörper weit vor, wobei er zugleich dem Angriff auswich und seinen auf den Weg schickte.

Gras und Erde flogen seitlich weg, als sein Gegenangriff sich den Weg zum Ziel bahnte. Sofort tat Crimson es noch einmal, doch nun ließ er die Kraft durch die Luft schießen und in Form von Blitzen auf den Unterweltler niedergehen. Er sah gar nicht erst nach, ob er traf. Als einige von den Finsternisangriffen des Gegners in seine Richtung kamen – kleiner, dafür mehr als vorher – schlug er sie erneut mit dem Stab weg und ließ sich von dem elektrisierenden Effekt noch weiter anstacheln. Er schuf die Energiekugeln, als stünde die Magie nur zu seiner Benutzung bereit, und er musste einfach hinfassen und etwas davon nehmen. Jedes Mal ließ er sich etwas Neues einfallen: Mal schickte er sie frontal auf den Feind zu, mal riss er den Boden dabei auf oder bildete einen Lichtbogen, einmal verwandelte er eine ganze Kugel in kleine Splitter und schickte sie als Funkenregen aus.

Und dann traf sein Stab auf einen Körper. Besser gesagt, auf eine Hand. Er war dem Unterweltler sehr nahe gekommen, und dieser wehrte nun seinen Schlag ab, indem er das obere Ende des Stabes packte.

Crimson sah die dämonischen Augen aufglühen. Er überlegte nicht lange und schickte seine verbliebene Kraft in seinen Stab. Aus der Kugel am oberen Ende entlud sich ein Wellenbewegungszauber, so dass es völlig egal war, in welche Richtung der Stab zeigte. Aber der Weißhaarige fühlte sich langsam am Ende seiner Kräfte. Seine Hände brannten, wahrscheinlich versuchte sein Gegner ebenfalls, ihn in einem letzten Versuch zu schlagen. Das Duell artete in einen Wettstreit des Willens aus.

„Ich verbanne dich aus dieser Realität!“ brüllte Crimson dem anderen entgegen. „Auf dass du den Weg nie wieder hierher zurückfindest!“

Etwas erschütterte die Luft. Crimsons Gehör setzte sekundenweise aus. Er hatte keine Ahnung, was er da gesagt hatte – teilweise kam es ihm vor, als handelte jemand anderes und er sah nur zu. Die Druckwelle seines eigenen Zaubers schleuderte ihn zu Boden, wo er für einen Moment benommen liegen blieb.

Als er nach drei Sekunden nicht starb, vermutete er, dass er wohl gewonnen hatte. Er blinzelte in den violetten Himmel und bemerkte, dass um ihn herum immer noch gekämpft wurde. Vielleicht sprach sich gerade erst herum, dass der Anführer fehlte.

Sich hinzusetzen erwies sich als schwierig. Jeder Knochen und jede Muskelfaser schmerzte. Etwas sagte ihm, dass sein Vorrat an Magie völlig aufgebraucht war. Am liebsten wollte er einfach liegen bleiben und sich ausruhen, doch er kämpfte sich auf die Füße, wobei ihm wieder einmal der Stab als Stütze diente. Doch dieses Mal blieb er einfach stehen und sah sich um, wagte es nicht, auf die stützende Wirkung des Stabes zu verzichten.

„Hey, Crimson...“ Dark kam auf ihn zu. „Seit wann kannst du Leute aus dem Spiel entfernen?“

„Kann ich nicht,“ murmelte Crimson. Vielleicht hatte er es eben getan, aber aus irgendeinem Grund erschien ihm das nicht widersprüchlich. Er musterte seinen Cousin.

Darks Kleidung, sofern noch vorhanden, troff von Blut, allerdings konnte es sich dabei nicht nur um seines handeln, er sah schließlich noch ganz munter aus. Wie schlimm er verletzt war, ließ sich schwer beurteilen, denn Staub und Finsterling-Schleim taten ihr Übriges, um seine Erscheinung zu verschlimmern. Wie auch immer, von dem Schwertkämpfer, diesem Gorz, fehlte jede Spur.

Dark lächelte ihn verstehend an und schien genau zu wissen, was eben mit ihm passiert war – besser als Crimson das selbst begriff.

„Wo ist Eria?“

„Mit Sorc auf Gandora weggeflogen. Aber ich hab's nur aus dem Augenwinkel gesehen, weil mich der Typ noch beschäftigt hat, als das passierte.“

Beide blickten um sich, wobei sie sich gegenseitig mehr oder weniger den Rücken freihielten. Crimson befürchtete, dass er nicht mehr besonders nützlich wäre in einem neuen Kampf.

Obwohl sie die vermeintlich mächtigsten Mitstreiter des Feindes besiegt hatten, was sicher nicht unbemerkt blieb, ergriffen die restlichen Mitglieder der Truppe nicht die Flucht, und es gab immer noch Finsterlinge.

„Das ist... sehr merkwürdig,“ stellte Dark fest.

Crimson nickte bedächtig. „Aber wir müssen auf jeden Fall zum Schloss zurück und uns verarzten lassen. Ich rufe einen Drachen...“ Denn zu Fuß glaubte er nicht, dass er es noch schaffen konnte. Ein Blick zum Schloss bestätigte, dass der Alchemieturm in Trümmern lag.

Dark bemerkte es und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Lass dich nicht unterkriegen, Crimson. Vielleicht war ein Schutzbann auf dem Kessel oder so.“

Ob das bei dieser Zerstörung noch half? Die ganze oberste Etage und Teile der nächsten fehlten. „Wo ist eigentlich Yugi geblieben?“ fiel es Crimson auf.

Dark deutete etwas weiter ins Landesinnere. Dort kämpfte Slifer noch mit dem fünfköpfigen Drachen. „Er hat den Kampf woanders hin verlagert.“

„Sie nähern sich dem Dorf,“ stellte Crimson fest. „Wir müssen schnell etwas unternehmen.“

Einer seiner Drachen tauchte bei ihm auf und trug ihn zum Schloss zurück. Dark flog nebenher, um eventuelle Angreifer abzuwehren. Als sie das Schloss betraten, kam eine der Küchenmägte, auch bekannt als Lady Charoselles Spionin, auf den Schlossherrn zu.

„Da seid Ihr ja endlich, Meister Crimson. Hier, der Bengel mit den strubbeligen Haaren hat mich geschickt, das hier zu holen. Ich soll eine Sonderprämie dafür kriegen.“ Sie drückte ihm ein welkes Bündel Grünzeug in die Hand.

Crimson starrte es sekundenlang völlig überrumpelt an. „Das... brauche ich für das Elixier... oder würde es brauchen, wenn der Turm noch stehen würde...“

Da materialisierte sich Cathy. Sein Haar zeigte einen dunklen, blutroten Ton, und generell wiesen abweichende Farben darauf hin, dass Sorcs Bewusstsein bei ihm war. „Crimson, der Kessel befindet sich nicht im Turm. Wir haben ihn vorhin in dein Büro gebracht, mitsamt einem Großteil deiner Zutaten.“ Cathy blickte verlegen zur Seite. „Tut mir sehr Leid, dass ich es dir nicht eher gesagt habe...“

„Was ist mit meiner Prämie?“ beharrte das Küchenmädchen.

Crimson umarmte das Mädchen impulsiv. „Die kriegst du gerne, aber nicht jetzt. Ich muss zum Kessel. Anscheinend... ist ja doch noch nicht alles verloren...“ Es war kaum zu glauben. Crimson hatte in seiner Aufregung auch ganz vergessen, dass noch Sachen geholt werden mussten, aber Yugi nicht. Der Junge hatte wirklich ein Talent, die Nerven zu bewahren.

„Alle Schüler und sonstigen Verbündeten von uns, die noch draußen sind, sollen sich zurückziehen,“ ordnete Crimson schweren Herzens an. „Ich will keine weiteren Opfer.“

Cathy widersprach nicht, auch Dark schwieg. Crimson begab sich zu seinem Büro und fand sein Elixier noch intakt vor. Seine Leute hatten es mit der richtigen Hitzemenge unter dem Kessel versorgt und auf dem Schreibtisch aufgebaut, wo auch der Hauptteil seiner Zutaten nun lagerte. Er zerhackte das neue Kraut und rührte es in die Brühe. Danach ließ er sich in einen der Besucherstühle sinken. Auch wenn er wieder Hoffnung schöpfte, blieb immer noch die feindliche Belagerung. Wenn nicht wundersamerweise Hilfe kam... aber sicherlich waren doch schon Boten unterwegs, oder nicht? Obwohl... wer denn? Sie brauchten hier jeden Mann und jede Frau.

Crimson saß einige Minuten da und ergab sich seiner Verzweiflung, ehe er sich auf die Füße zwang und zur Krankenstation schleppte. Er musste wissen, wie es um Sorc stand und ob Mava in absehbarer Zeit wieder kämpfen konnte. Viel länger wollte er es Yugi nicht zumuten, sich um den Fünfgötterdrachen zu kümmern.
 

Auf der Krankenstation war einiges los. Rosi und Saambell, die kleinsten im Schloss, saßen auf Stühlen an der Seite und dösten. Neben ihnen befanden sich schachteln mit Verbänden. Anscheinend halfen sie hier aus, und wenn es nur war, damit sie nicht auf dumme Gedanken kamen.

Mava lag in einem der Betten, Sorc direkt daneben. Ein weiteres Bett belegte Legend, und das letzte Olvin. Lily stand bei ihm und ließ ihre Hände über seinen Körper wandern, wobei grünliche Schlieren aus ihren Fingern kamen. Sie kniff die Augen zu und murmelte konzentriert vor sich hin. Ihre Stirn zeigte dabei Furchen der Anstrengung.

Crimson begab sich zu den beiden. „Olvin... hast du Sorc geheilt?“

Der Alte wandte ihm ein Gesicht zu, dessen Falten viel tiefer wirkten als sonst. „Er wäre gestorben, das Blut lief in seine Lunge. Aber mehr kann ich für den Moment nicht mehr tun. Deine Schülerin hat eine passable Ersthilfe geleistet. Ich habe mich darauf beschränkt, ihn zu stabilisieren, den Rest müssen jetzt deine Heiltränke schaffen.“

Crimson schloss kurz die Augen, um die Demütigung nieder zu kämpfen. Er hätte es sein müssen, der sich um erste Hilfe kümmerte, statt dass Eria das tun musste. Er hätte...

Cathy erschien neben ihm, und zugleich schoben sich andere Gedanken in den Vordergrund. Es nützte nichts, sich im Nachhinein Vorwürfe zu machen. Statt dessen galt es, aus den Fehlern zu lernen. Ja, das hatten auch schon die Stimmen gesagt... seine Vorgänger, vermutete er inzwischen.

„Ich hätte dich nicht da draußen im Stich lassen dürfen, Sorc,“ sagte Crimson zu Cathy, da der Geist noch immer des Chaoshexers Bewusstwein trug, erkennbar an den Farben.

Cathy schüttelte den Kopf. „Wenn ich dir nur vorher gesagt hätte, dass der Kessel nicht mehr im Turm ist, wäre das nicht passiert.“

„Trotzdem... ich hätte die Prioritäten anders setzen müssen. Der Trank wäre hinüber gewesen, und in dem Moment hätte ich ihn gedanklich abschreiben müssen, um mich auf den Kampf zu konzentrieren.“

Olvin, der den Austausch verfolgt hatte, schnaufte verächtlich. „Naja, ich sehe ja noch Hoffnung, Jungchen. Und du, Sorc, solltest dein Bewusstsein mal lieber in deinen Körper zurück schicken.“

„Nein,“ widersprach Cathy. „Ich habe Crimson versprochen, ihn mit allem zu unterstützen, was ich habe.“

„Wenn du das noch länger tut willst, solltest du einen Rat von einem alten Heiler annehmen. Dein Körper heilt besser, wenn dein Geist sich darauf konzentrieren kann und sich nicht mit anderen Dingen beschäftigt. Du solltest dich ausruhen, Körper und Geist.“

Crimson fiel auf, dass Olvin in diesem Zusammenhang nicht von der Seele sprach.

Sorc warf einen zweifelnden Blick auf seinen richtigen Körper.

„Du hattest eine Eins in Heilkunde. Also weißt du, dass die gängige Theorie Olvin Recht gibt,“ sagte Crimson.

„Ich bin erstaunt, das von dir zu hören,“ stichelte der Necromant.

Crimson ging nicht darauf ein. „Sorc, schlaf ein bisschen, solange es geht. Ich werde dich später brauchen.“ Er trat neben Sorcs Bett und betrachtete den Verletzten. Die blaue Haut wirkte eher grau, und der ganze Oberkörper war dick bandagiert.

Cathy schwebte neben ihm her, warf seinem Herrn noch einen fragenden Blick zu, doch als dieser sich nicht anders entschied, schloss er kurz die Augen, und seine Gestalt veränderte die Farben zurück zu den ursprünglichen.

Erwartungsvoll beobachtete Crimson Sorcs Gesicht. In diesem zuckten kurz darauf die Augen, und der Mann gab ein leises Seufzen von sich. Nach einer Sekunde wandelte es sich zu einem eher schmerzlich klingenden Laut. Die Augen öffneten sich einen Spalt breit, fokussierten jedoch nichts, sondern schlossen sich gleich wieder.

[„Ich schlafe eine Runde... wie du es wünschst,“] erklang die bekannte Stimme in Crimsons Kopf. [„Wenn du mich brauchst... Cathy kann... mich...“] An dieser Stelle brach die Verbindung ab.

Crimson nahm an, dass der Patient ein Mittel bekommen hatte, das ihn müde machte. Viele Heiltränke hatten diesen Nebeneffekt. So war es sicher gut – Schlaf ersparte Sorc Schmerzen.

„Er hätte gar nicht so weit raus gehen sollen,“ kommentierte Olvin. „Ich sag's ja, der Kerl ist ein Vollidiot.“

„Rede nicht so über ihn,“ beschwerte Lily sich.

„Hat er dir erzählt, was er hier in unserer Abwesenheit getrieben hat?“ hakte Olvin nach.

Lily hob trotzig das Kinn. „Wir... hatten noch keine Gelegenheit.“

„Na dann soll er es dir mal erzählen, wenn sich eine ergibt, das ist seine Sache.“

Da stimmte Crimson dem Alten zu – niemand von ihnen wusste, ob Sorc es bekannt machen wollte, dass er so eng mit dem Schloss verbunden war, schließlich machte ihn das auch zu einer Zielscheibe. Sofern es darauf noch ankam. Die derzeitigen Angreifer hatten es anscheinend auf ihn und den Schlossherrn abgesehen. Warum nur? Crimson konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass jemand aus seinem Bekanntenkreis so weit gehen würde. Oder konnte es sein...

Er musste an den Sohn von Olvin denken, den er noch gar nicht persönlich kannte, aber der hegte vielleicht einen Groll gegen ihn – und gegen Sorc. Shiro hatte dem Mann vielleicht berichtet, dass Olvin zuletzt für den Chaoshexer gearbeitet und seine Gesundheit dabei noch mehr geschädigt hatte. Ja, das erschien sehr plausibel. Aber warum dann das ganze Schloss mit all seinen wenigen Bewohnern gefährden?

„Crimson?“

Er fuhr herum und sah sich Blacky gegenüber. Der Magier wirkte erschöpft, aber bis auf ein paar Risse in der Kleidung und Kratzer auf der Haut sah er unverletzt aus.

„Man hat mir gesagt, Sorc wäre hier.“

In dem Moment kam auch Fire herein gerannt. „Wo is mein Alder?“

„Er wurde von einem Schwert durchbohrt,“ sagte Crimson. „Aber Olvin hat seinen Zustand stabilisieren können. Er schläft jetzt.“

Die beiden näherten sich leise dem Bett, berührten ihren Vater vorsichtig, jedoch darum bemüht, ihn nicht zu wecken. So verschieden Blacky und Fire auch waren... irgendetwas an ihnen ähnelte sich auch. Vielleicht, wie sie sich bewegten, oder die generelle Form des Gesichtes... etwas, das nicht gleich auffiel. Oder möglicherweise die Art, wie sie sich beide sorgenvoll über das Bett beugten.

Allmählich kehrten alle Schüler zurück, und auch Cross tauchte auf. Crimson hatte eigentlich keine Möglichkeit, ein entsprechendes Signal auszusenden, aber er sorgte dafür, dass alle, die zu einer Pause herein kamen, auch drinnen blieben.

[„Ruin und Demise sind eingetrroffen,“] ließ Cathy ihn schließlich wissen. [„Sie mischen sich in das Kampfgeschehen.“]

„Sollen sie ruhig... das kann uns nur helfen. Sie werden hoffentlich auch irgendwann herein kommen.“

Crimson machte sich auf die Suche nach Eria. Als Schlossherr fand er sie natürlich schnell, nämlich in einem der Betten, die seit der Schattenfieberepedemie in den zusätzlichen Krankenzimmern standen. Momentan zahlte es sich bestimmt aus, dass diese Einrichtung noch vorhanden war, denn soweit er das mitbekommen hatte, gab es viele Verletzte.

Eria saß auf einem Bett an der Wand und schaukelte hin und her, die Arme um die Knie geschlungen. Ihr Gesicht glänzte von Tränen. Crimson setzte sich wortlos neben sie.

„Ich hab... noch nie gesehen, wie jemand stirbt,“ murmelte sie nach einer Weile. „Und noch nie... wie jemand getötet wird...“

Crimson legte einen Arm um sie, ohne sie darauf hinzuweisen, dass Sorc bestimmt überlebte. Theoretisch hatte sie Recht: Ohne einen Heiler wie Olvin wäre Sorc gestorben. Das taten die meisten Menschen, die auf dem Schlachtfeld eine Verletzung dieser Art erlitten. Manch einer war sofort tot, statt noch das Blut in seiner Lunge spüren zu können und daran zu ersticken. Glücklicherweise, dachte Crimson. Der Tod kann eine Gnade sein.

„Aber du hast die Nerven behalten und das Richtige getan,“ versuchte er das Mädchen zu trösten. „Das, was ich hätte tun sollen.“

Eria bekam einen noch heftigeren Weinanfall. „Ich... hatte so Panik, dass es falsch ist...! Wenn er nun wegen mir gestorben wäre...“

Crimson fand es schwierig, die richtigen Worte zu finden. „Ähm... hör mal, in dieser Situation war alles besser, als gar nichts zu tun. Durch deine Hilfe konnte Sorc lebend unsere Krankenstation erreichen.“

„Ich bin so ein schlechter Mensch!“ jammerte sie. „Ich wollte ihn neulich doch auch ermorden. Oder... ihm zumindest sehr wehtun. Ich weiß nicht mehr, was ich zu dem Zeitpunkt wirklich wollte... einfach irgendeine Form der Rache. Aber dieser Krieger vorhin... der war so brutal... er hatte überhaupt keinen Grund, das zu tun!“

„Wahrscheinlich bezahlt ihn jemand dafür,“ murmelte Crimson. „Ich könnte mir vorstellen, dass der Anführer seinen Kriegern versprochen hat, dass es bei uns einen Schatz zu holen gibt, wenn sie das Schloss stürmen.“

Eria tastete ihre Taschen nach einen Schneuztuch ab, fand aber nur ein blut- und schweißdurchtränktes, das sie dann trotzdem benutzte. „Ich hätte nicht so wild auf den Kampf sein sollen, wie du es gesagt hast... Aber zuerst war es total aufregend, all diese Eiszauber so frei einzusetzen. Das kann ich ja sonst nur selten.“

„Das ist dir auch gelungen. Aber es ist vielleicht gut, dass du eine schlimme Erfahrung gemacht hast. Das wird dich nächstes Mal etwas vorsichtiger sein lassen.“ Crimson verspürte das Bedürfnis, sich seinerseits bei ihr über sein Versagen auszuheulen, aber das wäre unangemessen gewesen und außerdem völlig unpassend – jetzt ging es erst einmal um sie. Als ihr Lehrer musste er sie stärken und nicht von ihr verlangen, dass sie auch noch für ihn da war. Wieder einmal fühlte er sich unreif, nicht gut genug, um eine Schülerin zu haben. Halbherzig versuchte er selbst, diese Gedanken wegzuschieben und seine Fehler als lehrreiche Erfahrung zu betrachten, aber es gelang ihm nicht besonders gut.

„Was machen wir denn jetzt?“ wollte sie wissen. „Diese Typen sind doch besiegt, aber warum geht der Angriff weiter?“

„Anscheinend waren das nicht die Anführer, obwohl wir das erst einmal angenommen haben. Wir müssen im Moment auf Hilfe hoffen... unsere Leute sind alle geschwächt und verwundet. Ich will nicht, dass wirklich noch jemand stirbt.“

„Aber wenn wir uns nicht wehren, wird das Schloss dann nicht überrannt?“

Das befürchtete Crimson auch. „Wir können eine Weile aushalten, so dass wir uns zumindest alle erholen werden,“ sagte er dennoch. „In der Zeit fällt uns schon etwas ein, falls keine Hilfe kommt. Am besten versuchst du auch zu schlafen.“

Eria ließ den Kopf hängen, als hätte sie alle Hoffnung verloren. „Ist gut... aber ich weiß nicht, ob ich einschlafen kann.“ Sie ließ sich direkt in dieses Bett fallen, auf dem sie saß.

Crimson blieb noch einen Moment bei ihr und beobachtete, wie sie die Augen schloss und sich etwas zurechtlegte. Erschöpft wie sie war, schlief sie schneller ein, als er gedacht hatte.

Kompromisse

Als Yami und Appi Yugi hereintrugen, Demise und Ruin das Schlossgelände betraten, Veiler vor dem Tor eher abstürzte als landete und Meras den Weg zurück fand, fühlte Crimson sich ruhiger. Damit befanden sich nun die letzten seiner Verbündeten im Schloss.

Der Fünfgötterdrache war noch nicht besiegt, aber im Moment ausreichend geschwächt, dass er sich auch für eine Weile ausruhen musste. Leider konnte Yugi nicht erneut eingesetzt werden. Der Junge war völlig erledigt. Zum Glück passte Appi immer auf ihn auf, wie er es auch in den Kämpfen vor nicht ganz einem Jahr schon getan hatte. Yami hingegen gab einen ganz guten Krieger ab, doch ihm fehlte noch die Erfahrung. Dies galt für fast jeden in diesem Schloss.

Zuletzt rief Crimson auch seine Drachen zurück in die Sicherheit des Schutzschildes, nachdem sie den Rückzug der Verbündeten gesichert hatten.

Die Schlossmauern erbebten leicht. Es war eine Erschütterung wie bei einem Gewitter. Da nun niemand mehr mit ihnen kämpfte, konnten die Feinde ihre ganze Kraft darauf verwenden, auf den Schild einzuschlagen. Die geflügelten Geschöpfe warfen sich dagegen, zahlreiche Finsterlinge verpulverten sich selbst bei dem Versuch, die Abwehr zu schwächen. Feindliche Magier probierten allerhand verschiedene Angriffsmethoden aus, um die Schildmagie zu brechen. Allerdings fiel es Cathy nun auch leichter, den Schild zu halten, da er sich auf die Abwehr konzentrieren konnte, statt ihn noch durchlässig für Verbündete zu lassen. Er änderte ständig die magische Struktur.

Crimson stand auf einem der Aussichtstürme und blickte hinunter. Dies war eben jener, wo er einmal als Sorcs Gefangener gestanden hatte. Diese Erinnerung kam immer wieder hoch, wenn er hier stand, aber er kam inzwischen gut damit zurecht. Von hier aus hatte er zum ersten Mal erkannt, was für ein schönes Schloss sein Gefängnis war. Und vielleicht hatte er sich hier schon gewünscht, es zu besitzen.

Er konnte auf einer Seite das Meer sehen und auf der anderen das Landesinnere. Während die meisten seiner Leute schliefen, fand er keine Ruhe, denn Cathy fand keine. Das Schlossherz strahlte eine gewisse Unsicherheit aus, seit Sorc ihm nicht mehr beistand. Anscheinend überforderte es Cathy, eine Seele geschenkt zu bekommen und dann damit alleine gelassen zu werden, während jemand versuchte, seine Mauern zu erstürmen. Deshalb brauchte er seinen Schlossherrn.

Selbiger schaffte es, die Situation objektiv zu betrachten. Cathy konnte derzeit nicht ganz so viel neue Energie generieren, wie er verbrauchte. Der Schild hielt voraussichtlich bei gleich bleibendem Beschuss noch mindestens einen Tag aus, bevor die Tanks zur Neige gingen. Allerdings blieb abzuwarten, ob der Feind seine Taktik irgendwann änderte. In der Zwischenzeit konnte Mava sich erholen und sich dann um den Fünfgötterdrachen kümmern. Im Großen und Ganzen sah die Lage nicht einmal so trostlos aus.

Kuro, Mad und Neo waren noch unterwegs. Crimson wünschte sie sich einerseits zurück, hoffte aber, dass sie nicht in die Falle liefen. Was er brauchte, war eine Armee, die da draußen aufräumte, und das möglichst, bevor der Gegner auf die Idee kam, das nahe gelegene Dorf einzuäschern. Das war nämlich derzeit Crimsons größte Sorge.

Er beobachtete ein wenig die Vorgänge im Schloss, während er seine Augen über die Landschaft schweifen ließ. Lily machte gerade ihre Runde durch die Krankenzimmer. Viele von denen, die gekämpft hatten, lagen in einem der Betten, um sich ein wenig zu erholen. Zum Glück gab es nicht bei allen einen dringenden Grund. Die meisten trugen den ein oder anderen Verband am Körper, ein Zustand, in dem Crimson eigentlich niemanden wieder hinaus schicken wollte. Er fand, dass die Verantwortung ihm ein großes Gewicht aufbürdete.

Eria hatte ein paar Stunden geschlafen und holte sich etwas zu essen von dem Tisch in der Eingangshalle, der von den Küchenmägden immer aufgefüllt wurde. Sie verschlang ein belegtes Brot und ging dann in Richtung Krankenstation. Crimson folgte ihr neugierig mit seinem Geiste.

In den vier Betten ruhten nach wie vor die Patienten und Olvin. Lily hatte dem alten Necromanten Bettruhe angeordnet, und er war vernünftig genug, auf sie zu hören. Legend schlief, während Mava sich müde zur Tür umsah, als Eria den Raum betrat. Sie begrüßte ihn, ging aber zu Sorc weiter.

Dieser schlief noch immer, wie zu erwarten bei seiner Verletzung. Eria musterte ihn, als hätte sie sonst nie Gelegenheit dazu. Tatsächlich war es wohl so. Er hielt sich nach Möglichkeit von ihr fern, und sie wich ihm aus. Crimson sorgte sich ein wenig, weil er fast damit rechnete, dass sie ein Messer zückte, aber vielleicht lag das ja nun hinter ihr.

Nach einiger Überlegung streckte sie eine Hand aus, schien dann aber unschlüssig, was sie damit tun sollte. Die Hand schwebte über Sorcs Bauch, wanderte zur Brust, zum Kopf... Eria berührte seine Stirn und strich sehr vorsichtig über den Haaransatz. Als Zuschauer bekam Crimson den Eindruck, dass sie ausprobierte, wie das für sie war. Außerdem fiel ihm auf, dass Cathy ein wachsames Auge auf das Mädchen hatte. Aber so offen auf der Krankenstation würde Eria bestimmt nichts gegen Sorc unternehmen. Nicht, nachdem sie ihn gerettet hatte.

An der Seite bewegte sich etwas – Fire hatte auf einem der Stühle gesessen und in einem Buch über Seelenmagie gelesen. Nun trat er von der gegenüberliegenden Seite an Sorcs Bett heran. „Haste was mit'em zu schaffen?“

Eria zog ruckartig ihre Hand zurück. „Nein! Was sollte ich denn...!“

„Dacht' schon, du bist in'nen verknallt oder so, kommt vor bei jungen Weiban.“

„Pah!“ Eria drehte sich um und strebte zur Tür.

„Musst ja nich gleich eingeschnappt sein,“ rief Fire ihr nach.

Doch das war Eria anscheinend. Jedenfalls verfärbten sich ihre Wangen rötlich und sie brachte schnell Abstand zwischen sich und Fire, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Manchmal wünschte Crimson sich sehr, die Gedanken der jungen Leute lesen zu können.

„Crimson... ich verzeichne einen Eindringling,“ meldete Cathy und tauchte neben ihm auf. „Bitte geh nachsehen.“

„Ein Eindringling? Wo?“ Und mal ganz davon abgesehen, wie? Aber die letzte Frage konnte er später klären. Wenn er eins von seinem Chaosmagier gelernt hatte, dann auf etwas zu reagieren und dann erst zu fragen, wie es dazu kommen konnte.

„Ganz unten bei den Tankhölen... du weißt sicher noch, wie wir Sorc und die anderen hinaus transportiert haben, als sie die Merasvergiftung hatten?“

„Oh... da unten... Allerdings.“ Crimson nahm die Beine in die Hand, denn von seinem Standpunkt aus war es ein weiter Weg bis da unten. „Sag den anderen Bescheid. Jeder, der kämpfen kann, soll sich bereithalten,“ wies er das Schlossherz an.

Cathy entmaterialisierte sich, um seine Anweisungen auszuführen, während der Schlossherr noch quer durch die Gänge des Schlosses hetzte. Das fehlte ihm jetzt gerade noch, dass jemand eine Schwachstelle gefunden hatte, um einzudringen!

Blacky, Dark, Atria, Dharc, Milla und Yami erwarteten ihn bei den Treppen, die zu den Tanks führten, und folgten ihm dann. Sie sahen alle nicht ganz frisch aus, aber alle konnten noch laufen und eine Waffe halten. Crimson zeigte ihnen den Weg, vorbei an dem zerstörten Tank und in den Gang hinein, der zu einer größeren Höhle und dann zu dem defekten Tank führte.

Hier ließ er sie langsamer werden. „Vorsicht jetzt,“ flüsterte er. „Der Eindringling muss von dort kommen. Cathy?“

[„Es sind mehrere, Crimon. Ich glaube, drei. Und sie nähern sich deinem Standort.]

„Versteckt euch seitlich neben den Türen! Dark, warte mit mir hier! Ihr anderen geht in den Tankraum zurück!“

Atria passte das ganz und gar nicht, wenn ihr Gesichtsausdruck irgendetwas darüber aussagte, aber sie widersprach nicht.

Sie warteten. Nach einigen Minuten konnten sie Stimmen hören, und tatsächlich ließen sich mindestens drei unterscheiden. Dark und Crimson pressten sich mit dem Rücken links und rechts neben der Tür an die Wand und warteten, bis die Männer hindurch kamen.

„Das Schloss wirkt so anders,“ sagte einer der Fremden.

„Naja, es ist in einem anderen Modus, oder?“ entgegnete sein Kumpan.

„Nein, das meine ich nicht,“ stellte der erste klar. „Es ist... anders anders. Vielleicht kann ich es besser bestimmen, wenn wir weiter drin sind.“

Sie betraten den Gang.

[„Warte,“] sandte Dark an seinen Cousin. Er ließ die Männer vorbei gehen und rief dann: „Hallo, Vater.“

„Wuaaah!“ Kuro fuhr herum. „Meine Güte, du hast mich zu Tode erschreckt, Dark!“

„Naja, nicht so ganz, würde ich sagen.“

Neo erblickte Crimson. „Wie geht es meinem Bruder? Wir haben gesehen, dass der Fünfgötterdache da ist, wie kann das sein? Ist Mava verletzt?“

„Ein bisschen, wir hoffen, dass er sich bald um den Drachen kümmern kann,“ gab der Schlossherr Auskunft.

Mad deutete in die Richtung, aus der sie kamen. „Dieser Gang endet außerhalb des Schildes, Crimson. Es scheint niemand zu wissen, und wir haben uns auch mit größter Vorsicht angeschlichen, aber du solltest da Wachen stationieren. Ich habe mir die Freiheit genommen, ein paar Fische mit der Überwachung zu beauftragen, aber sie sind nur bereit, das für eine halbe Stunde zu tun.“

„Ähm... danke,“ sagte Crimson. „Gibt es Freiwillige?“

Atria trat von der anderen Seite in den Gang. „Ich mache das. Und vielleicht kann der Typ da mitkommen.“ Damit meinte sie Dharc, der etwas unwillig das Gesicht verzog, aber nickte.

„Gut, ihr zwei,“ stimmte Crimson zu. „Wir werden eine Ablösung in drei Stunden organisieren und bringen euch gleich etwas zu essen.“

Die beiden jungen Leute gingen zu ihrem Posten, während die Verteidiger erleichtert den Rückweg antreten konnten. Crimson hob es sich für später auf, sein Schlossherz zu befragen, denn zunächst redeten die drei Neuankömmlinge auf ihn ein – was Cathy sehr begrüßte, denn er gierte nach Informationen bezüglich eines neuen Tanks.

„Wir haben diese Tankbauer aufgesucht,“ begann Kuro. „Aber wir mussten feststellen, dass einer von ihnen bereits seit achtzehn Jahren verstorben ist, und der andere ist ein Drache, der sich aber zur Ruhe gesetzt hat.“

„Genau genommen wirkte er ziemlich senil,“ ergänzte Mad. „Der baut dir keinen Tank mehr.“

„Okay... sicherlich hat Cathy noch mehr in seiner Datenbank.“

„Nach dieser Pleite habe ich Onyxenia damit beauftragt, ihre Daten über Tankbauer mit Catherine abzugleichen, wenn dir das recht ist,“ bemerkte Kuro. „Schlossherzen sind da manchmal etwas eigen. Aber wenn du einen neuen Tank willst, muss der Stolz mal hinten anstehen.“

„Das wird Cathy sicherlich einsehen,“ nickte Crimson, spürte jedoch gleichzeitig die Abneigung dagegen, sich von einem anderen Schlossherz helfen zu lassen. Offensichtlich war es Cathy sehr peinlich, überhaupt dieses Problem zu haben.

„So, und was ist nun da draußen los?“ wechselte Neo das Thema.

„Wir haben keine Ahnung,“ musste Crimson zugeben. „Ich war weg vom Schloss, und in der Zwischenzeit haben diese Leute angegriffen. Vielleicht wussten sie, dass zu der Zeit so gut wie niemand zu Hause war.“

„So gut wie niemand?“ Mad hob eine Augenbraue. „Wieso denn das?“

„Das hatte seine Richtigkeit,“ wich Crimson der Frage aus.

„Ach ja, bezüglich der Richtigkeit... ist es in dieser Zeit auch dazu gekommen, dass dein Schloss beseelt wurde?“ fragte Kuro unverblümt. „Ich hab mich erst gewundert, was das ist, aber inzwischen hat mein Schlossherz wohl deines ausgefragt...“

„Cathy ist auch ziemlich stolz drauf, das dürfte also nicht so schwierig gewesen sein,“ bemerkte der Weißhaarige. „Ja, das ist in er Zeit passiert.“

„Du hast aber keine Dummheiten gemacht, oder, Junge?“

„Wie, du denkst, dass ich...? Nein, es ist nicht meine Seele.“

„Das meinte ich nicht. Du hast niemanden geopfert oder so, nicht wahr?“

„Nein, Sorc hat das freiwillig getan,“ rutschte es Crimson heraus. Er merkte es sofort, aber es ließ sich nicht mehr ändern – er hatte es eigentlich Sorc überlassen wollen, zu entscheiden, wer es erfuhr und wer nicht.

Doch während er sich noch darüber Sorgen machte, dass sein Chaoshexer die Kunde vielleicht nicht herumerzählen wollte, bekam er ganz andere Probleme, denn sein Onkel packte ihn bei den Schultern und presste ihn gegen die nächste Wand. „Verstehe ich das richtig? Du hast dein Schloss mit der Seele dieses Verbrechers ausgestattet? Bist du jetzt völlig von Sinnen?“

„Sorc hat das getan, er hat mich um Erlaubnis gebeten, und ich war einverstanden!“ verteidigte Crimson sich. „Er hat es getan, damit ihm endlich niemand mehr misstraut!“

„Ach ja?“ Kuro schüttelte ihn, so dass Crimson aufpassen musste, dass sein Kopf nicht hart gegen den Stein prallte. „Du bist vielleicht leichtgläubig, Junge! Wenn Sorc seine Seele mit dem Schlossherz verbunden und es überlebt hat, dann will er sich das Schloss zurückholen! Der Typ ist in höchstem Maße berechnend und---“

Crimson brachte seine Arme hoch und befreite sich aus Kuros Griff, wobei er ihn beinahe versehentlich mit dem Zauberstab schlug. „Hör endlich auf, gegen meinen Chaoshexer zu wettern!“

„Bist du schonmal auf die Idee gekommen, dass es seine Truppen sind da draußen?“ warf Neo ein. „Er erschleicht sich dein Vertrauen, und dann...“

„Nein. Auf diese Idee bin ich noch nicht gekommen,“ stellte Crimson klar. „Wieso misstraust du ihm jetzt schon wieder? Ich dachte, wenn er die Seele des Schlosses ist, könntest du ihm endlich glauben, dass er es ehrlich meint!“

„Nein, ich mache mir Sorgen,“ entgegnete Kuro. „Vielleicht erhofft sich Sorc, dass er auf diesem Wege auch die Schlossherzen beeinflussen kann, die mit Cathy in Kontakt stehen!“

„Das kann nicht dein Ernst sein, Onkel Kuro! Sorc ist gut mit Telepathie, aber so gut nun auch wieder nicht.“

„Vater,“ mischte sich Dark ein. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass dein Schlossherz von Sorc beeinflusst werden könnte, oder? Dann müssten die sich ja immer gegenseitig beeinflussen.“

„Du hast leicht reden, dein Schlossherz hat eine Drachenseele und ist kein so leichtes Opfer!“ regte Kuro sich auf.

Crimson verdrehte die Augen. „Ich dachte, wir hätten das Gezanke hinter uns. Komm mit, Onkel...“ Er ging den anderen voraus, wobei Yami und Milla sich absetzten, sobald sie die Kellergewölbe verließen, doch Dark und Blacky blieben ihnen auf den Fersen, und natürlich Neo und Mad. Crimson führte die Gruppe zur Krankenstation.

Neos Blick fiel sofort auf Mava, dann auf das Nachbarbett. „Du... hast meinen Bruder direkt neben diesem Monster untergebracht?“ Er beeilte sich, zwischen die beiden Betten zu kommen.

Crimson widerstand dem Bedürfnis, den Blonden zu packen und zu ohrfeigen. „Sorc kann ihm im Moment nichts tun. Er ist derjenige mit der schwersten Verletzung hier.“ Er trat genau neben Neo, nur für den Fall, dass dieser vielleicht handgreiflich wurde.

Sorc öffnete die Augen, als die Gruppe sich um sein Bett versammelte. Alles andere hätte Crimson auch gewundert. Vermutlich ließ die Wirkung des Heiltrankes langsam nach, oder des Chaoshexers Sinn für Gefahr war schlicht und einfach zu stark.

„Cathy, komm her.“

Das Schlossherz erschien an seiner Seite.

„Cathy, hör gut zu.“ Crimson legte sich seine Worte sorgfältig zurecht. „Nimm Verbindung auf mit Draconiel und Onyxenia, und auch mit Turmalinda, wenn das geht.“

Cathy nickte. „Das geht, denn Turmalinda und Onyxenia sind Zwillingsherzen. Ich stelle die Verbindung her.“

„Gut. Nun sollst du in Sorcs Gedanken eindringen und überprüfen, ob er etwas gegen uns plant. Das kannst du doch, oder?“

Der Geist zögerte verwirrt. „Schon, aber... das hast du doch abgelehnt!“

„Ich weiß, und ich will das auch jetzt nicht tun, aber es scheint keine andere Möglichkeit zu geben, meinen Onkel zu überzeugen.“

Auf der anderen Seite des Bettes wandte Blacky sich ab und verließ die Krankenstation. Crimson brauchte nicht zu fragen. Der jüngere Chaosmagier wollte vermutlich sich selbst davon abhalten, dass er sich einmischte, und vielleicht wollte er auch seinen Vater nicht leiden sehen. Neo hingegen konzentrierte seine Aufmerksamkeit ganz auf das Geschehen, geradezu begierig darauf, den verhassten Feind in einer unangenehmen Lage zu sehen.

„Versuch, dich auf die Informationen zu beschränken, die du unbedingt benötigst,“ führte Crimson seine Anweisung weiter aus. „Und gib sie nur an die Schlossherzen weiter, nicht aber an deren Herren. Es reicht, wenn sie wissen, dass alles in Ordnung ist.“ Er legte eine Hand auf Sorcs Schulter. „Tut mir Leid, dass ich dir das antun muss.“

Doch der Ältere schüttelte ansatzweise den Kopf und lächelte schwach. „Muss es nicht. Dafür habe ich es getan. Damit du dich von meinen Motiven überzeugen kannst.“

„Vielleicht können wir darauf ja auch verzichten,“ merkte Dark an, doch Kuro wollte davon nichts wissen.

„Jetzt bring ihn mal nicht davon ab, mein Sohn! Ich will, dass Onyxenia nicht nur Catherines Ergebnis bekommt, sondern bei der Überprüfung zugegen ist! Sonst wird es vielleicht verfälscht!“

„Nein!“ widersprach Dark heftiger. „Wir werden es nicht tun. Allein dass Sorc uns angeboten hat, diesen Eingriff zuzulassen, sollte dir reichen, Vater!“

Crimson schlug das Herz bis zum Hals. Darks Beistand rührte ihn, und er überlegte, seine Anweisung zu ändern. Aber gab es dann jemals Ruhe? Würde Kuro nicht immer befürchten, dass Sorc nicht nur das Schlossherz, dessen Seele er war, beeinflussen wollte, sondern auch die beiden vom Kristallschloss?

Er bemerkte, dass Sorcs Atmung sich ein wenig beschleunigte. Vom übernächsten Bett aus warf Olvin missbilligende Blicke herüber, protestierte aber nicht. Zum Glück befand sich Lily nicht im Raum. Sie konnte sich wahrscheinlich nicht so zurückhalten.

„Fang an, Cathy. Und gewähre den anderen Schlossherzen Zugriff, wenn sie es wünschen.“

Kuro und Dark hörten auf zu diskutieren, jeder auf seine Art erstaunt.

Crimson fühlte sich schlecht, so als würde er das Vertrauen beschmutzen, das Sorc in ihn setzte. Er konnte nach wenigen Sekunden die Anwesenheit der anderen Geister spüren, doch der Vorgang lief für ihn eher im Hintergrund ab, weil er sich bewusst ausklinkte. So ungefähr fühlte es sich wahrscheinlich an, wenn jemand auf der Straße überfallen wurde und man absichtlich wegsah. Da er allerdings nicht nur mit Cathy, sondern auch mit Sorc eine enge Verbindung besaß, konnte er nicht verhindern, dass manchmal Bilder vor seinem inneren Auge aufblitzten. Viele waren eher peinlich, und er spürte, dass es Sorc lieber gewesen wäre, sie nicht preiszugeben. Aber er durfte nichts zurückhalten, wenn er seine wahren Absichten zeigen wollte.

Unter seiner Hand spannte Sorcs Körper sich an. Er konnte den raschen Atem des anderen hören. Sorc starrte mit halb offenen Augen an die Decke und runzelte die Stirn vor Anstrengung. Er bemühte sich, keinen Widerstand zu leisten, und biss in Konzentration auf seine Unterlippe. Crimson machte sich Sorgen, ob vielleicht die Schwertwunde wieder aufreißen konnte. Wie gut diese bereits verheilt war, ließ sich durch die dicken Bandagen nicht erkennen.

Der Vorgang dauerte einige Minuten, die ihm viel länger vorkamen. Schließlich schloss Sorc die Augen und tat einen erleichterten Atemzug.

Zum Glück bekam Crimson nicht mit, was Onyxenia Kuro sagte, doch Cathy ließ ihn wissen, dass Dark die Informationen von Draconiel nicht hören wollte. Er selbst erfuhr wunschgemäß nicht, was Cathy herausgefunden hatte. Doch es musste wohl alles in Ordnung sein, sonst hätte der Geist Alarm geschlagen.

Kuro starrte vor sich ins Leere. Seine Kiefermuskeln arbeiteten unbewusst. Anscheinend führte er einen geistigen Dialog, vielleicht auch mit seinem Bruder. Neo beobachtete ihn, als erhoffte er sich eine Freigabe zum Mord. Mad... war nicht mehr da. Crimson schaute sich um, aber der Wassermagier musste schon länger fort sein. Allerdings war er von den dreien auch derjenige, der am ehesten bereit zu sein schien, Sorc zu vergeben. Das hatte sich bereits nach dem Meras-Vorfall abgezeichnet.

„Was ist denn jetzt? War das schon alles?“ Neos Stimme schnitt störend in die Szene.

„Ja, das war alles,“ presste Kuro hervor. „Was hast du erwartet? Dass er ein bisschen mehr leidet?“ Er rieb sich die Nasenwurzel und drehte sich dann ganz langsam zur Tür um wie jemand, der vom Glauben abgefallen war. „Aaaach ja,“ seufzte er nur, und anscheinend richtete sich dies nur an ihn selbst.

Die beiden Cousins warfen sich Blicke zu.

Dark zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, das ist seine Art, sich einzugestehen, dass er jemanden falsch eingeschätzt hat.“

„Das hoffe ich,“ murmelte Crimson. „Vielleicht gibt er jetzt auch Ruhe.“

„Jetzt hat er also Kuro auch noch eingewickelt!“ regte Neo sich auf. „Will dem denn keiner seine gerechte Strafe---“

In dem Moment riss jemand den Blonden an der Schulter herum, und dann streckte eine entschlossene Faust ihn nieder, dass er bis zur Wand schlitterte, wo er mehrere Stühle umwarf.

Mava rieb sich die Fingerknöchel. Er stand neben seinem Bett, bekleidet mit einem der Krankenhemdchen, und wirkte sehr gefährlich. „Neo, es reicht. Dein Rachegeschrei geht mir langsam ernsthaft auf den Sack! In Wahrheit hasst du doch nur dich selbst, weil du nicht verhindern konntest, was passiert ist. Aber das muss aufhören, du zerstörst dich damit nur selbst.“

Neo wischte sich mit dem Handrücken übers Kinn. „Mava... hat er dich jetzt auch eingewickelt?“

„Hör auf mit dem Quatsch!“ schrie Mava. „Ich muss mich nicht von dem Chaoshexer einwickeln lassen, um die Schnauze voll von deinem Verhalten zu haben! Du behauptest auch immer, dass du das für mich tust – dann hör doch mal um meinetwillen auf damit!“

„Was redest du denn da! Jetzt wäre doch die Gelegenheit...“ Neos Blick flog zu dem Krankenbett. „Er kann sich nicht wehren...“

„Bruder, das tut mir jetzt wirklich Leid.“ Mavas rechte Hand fuhr in die Luft, umfasste eine Lichtkugel, die sich dort bildete, und feuerte diese als gezackten, gelben Blitz auf den anderen Magier ab.

Als Crimson wieder hinsah, saß Legend, der letzte Patient, aufrecht im Bett und versuchte, hinter seiner Decke Schutz zu finden. Hinter ihm klappte Olvin den Mund auf, überlegte es sich dann anscheinend anders und schloss ihn wieder.

Neo kämpfte sich aus einem Haufen Stuhltrümmer hoch. Sein Gesichtsausdruck war nur schwer zu deuten. Unglauben? Erleuchtung?

Mava wankte zu ihm hin und fiel bei ihm auf die Knie. „Ich erkenne dich gar nicht mehr wieder, Bruder... du bist nur noch getrieben von deinem Hass. Das will ich nicht. Werde wieder der Neo, mit dem ich aufgewachsen bin. Du kannst deine Energie so viel sinnvoller einsetzen.“

Etwas umständlich richtete sich Neo so weit auf, dass Mava ihn in die Arme schließen konnte, und fing an zu schluchzen. Auch Mavas Schultern zuckten verdächtig. So hockten sie eine Weile da, auch noch, als von draußen ein mehrstimmiges Brüllen ertönte und das Schloss unter einem neuerlichen Angriff heftig erbebte.

Seltsamerweise konnte Crimson das jetzt ganz locker sehen. „Cathy?“

Der Geist schwebte nach wie vor in seiner Nähe. „Der Fünfgötterdrache wirft sich mit seinem ganzen Körper gegen den Schild. Er spuckt all seine Elemente dagegen und schlägt mit seinen Klauen darauf ein.“

„Oha.“ Crimson vermutete, dass Mava jetzt gerade nicht einsatzfähig war. „Dann wird es wohl Zeit, dass wir ihn loswerden. Sorc, sagst du nicht immer, nichts wäre unmöglich? Dann will ich mal herausfinden, was das für ein Schloss bedeutet, dem deine Seele innewohnt.“

Licht und Frost

Crimson begab sich in die Eingangshalle seines Schlosses und schaute sich um. Leider konnte er die Strukturen nicht sehen, die Sorc aufgemalt hatte, aber als er die Hände ausstreckte, glommen die Zeichen auf seinen Handrücken und auf dem Fußboden auf. Und letztendlich fand er etwas, wo die Zeichen tatsächlich in der Luft hingen und er zufassen konnte. Sofort schimmerte Licht am Boden entlang, überall da, wo Sorcs Seelensubstanz aufgetragen war. Es fühlte sich an wie bei der Beseelung... ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Schloss und seiner Seele. Crimson stand in einen Bannkreis aus diesen sorcischen Runen mitten auf einer Darstellung einer Lotusblüte, welche den Boden zierte. Die Zeichen hatten sich verändert, nachdem das Ritual geendet hatte, waren aber seither für ihn unsichtbar gewesen.

Crimson blieb in dem Kreis stehen, mit seinen Händen an den Runenbändern, die nun an ihnen hafteten. Interessantes System. Er spürte deutlicher die Erschütterungen, die der Drache draußen verursachte. Aber auch das Energiesystem des Gebäudes erschloss sich ihm.

Cathy schwebte gespannt vor ihm. „Ist das wirklich eine Methode, um den Fünfgötterdrachen zu besiegen?“

„Aber ja!“ Crimson erlaubte sich keine Zweifel, denn er konnte dem Schlossherz keine erlauben. Wenn er Sorcs Seele so nahe war wie im Moment, fiel ihm das sogar leicht. „Einer deiner Tanks produziert nun von selbst Meras,“ erklärte er. „Das bedeutet, du bist praktisch ein Magier, Cathy. Und damit kannst du alles tun, was ein Magier kann.“

„Selbst wenn das stimmen sollte... ich bin ein Schlossgeist, Crimson, wie sollte ich...“

„Nein, nicht daran zweifeln. Durchsuch deine Datenbanken nach einem Lichtzauber. Bestimmt hattest du einen Meister, der einen guten draufhatte.“

„Ich habe diese Seele erst so kurz...“

„Tu einfach, was ich sage. Ein Versuch schadet nicht.“

Cathy wirkte sehr unsicher, nickte aber. „Madame Madala war eine Lichtmagierin. Ihre Spezialität nannte sich Sternenschauer, ein Angriff, der eigentlich eher hübsch ist, aber seinen Zweck erfüllt...“

„Okay. Zeig mir die Formel.“

Cathy spielte Crimson eine Erinnerung seiner ehemaligen Herrin zu, eine Szene, als sie gerade den Sternenschauer ausführte. „Sehr schön,“ murmelte er. „Jetzt leite den Zauber auf den Schild...“

„Aber... wie soll ich...“ stammelte Cathy, verstummte dann aber. Seine Erscheinung flackerte ein bisschen, veränderte leicht seine Farbe, aber nur für einen Moment.

Auch Crimson spürte Sorcs hilfreiche Anwesenheit in seinem Geiste. Seine eigenen Zweifel wurden gleich weniger. Er vermutete sogar, dass der Ältere sein Vorhaben begrüßte und das Experiment interessant fand. „Du musst dich noch an diese Seele gewöhnen, Cathy, das weiß ich. Aber ich kann dir im Moment nicht die Zeit dafür geben. Also verlass dich einfach darauf, dass es klappt, wenn ich das sage. Komm zu mir, und wir machen es zusammen.“

Cathy schwebte auf ihn zu und legte seine durchscheinenden Hände in Crimsons. Die Berührung verursachte ein geisterhaftes Kribbeln auf der Haut, seltsamerweise aber ein warmes.

Crimson sagte den Spruch auf, um den Zauber zu beschwören. Seine Magie zierte sich ein bisschen, weil sie auf Finsternis spezialisiert war, aber das hindert einen Magier nicht daran, auch mal ein anderes Element zu benutzen. Er spürte mehr als dass er es sah, dass die Schrift auf dem Boden heller aufleuchtete, denn er hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf eine Außenansicht.

Catherine leitete den Zauber auf den Schild und speziell dorthin, wo der Drache sich befand. Der Sternenschauer zeigte sich wie eine Explosion an dieser Stelle, von der aus Funken in die Luft stoben. Es sah hübsch aus, aber der Fünfgötterdrache zuckte einmal zurück, brüllte empört und spuckte daraufhin mit all seinen Mäulern Strahlen gegen den Schild.

Es kostete einiges an Konzentration, diesen Angriff abzuwehren, nachdem der Schild gerade quasi einen Angriffszauber hinter sich hatte. Wieder einmal ging ein Beben durch das Schloss.

Cathy quiekte ängstlich. Er befürchtete weitere Schäden an der Bausubstanz.

„Noch einmal!“ wies Crimson an.

„Was? Aber...“

„Wir können jetzt nicht nachlassen! Setz mehr Energie ein, auch wenn das die Tanks belastet! Jetzt, da Kuro hier ist, dürfte er Shiro von unserer Situation erzählt haben, und dann kommt auch in absehbarer Zeit Hilfe!“

„Ja, das hat er getan...“ wusste Cathy zu berichten, aber das schien ihn nicht zu beruhigen.

„Konzentrier dich,“ rief Crimson den Geist zur Ordnung. „Nutze meine und Sorcs Erfahrung. Seine Seele macht dich quasi auch zu einem Magier, also hab keine Bedenken!“

Dieses Mal sagte Cathy die Beschwörungsformel mit ihm zusammen auf. Tank Sechs verlor einen Großteil seiner Füllmenge, während auf dem Boden um den Schlossherrn herum die Seelenschrift erstrahlte und das Leuchten sich auf den Schild übertrug. Der Schild fing nicht nur an einer Stelle, sondern im Ganzen an zu leuchten, bis das Schloss darunter gar nicht mehr sichtbar war. Explosionsartig flogen Funken in alle Richtungen davon und trafen nicht nur den Fünfgötterdrachen, sondern auch viele Finsterlinge und einige Magier, die versucht hatten, die Situation zu ihrem Vorteil auszunutzen.

Crimson empfand große Befriedigung durch das Ergebnis. Er konnte im Geiste sehen, dass der Fünfgötterdrache sich aufbäumte und flackerte und dann unter der Einwirkung weiterer Funken verschwand. Damit waren sie ihn dann wohl erstmal los.

[„Und jetzt solltet ihr ihn selber beschwören,“] meldete sich Sorc. Crimson und Cathy wussten, dass er lachte und es gleich darauf bereute. [„Oh... aua...!“]

„Nicht im Ernst!“ rief Cathy aus.

„Kann der Drache überhaupt jetzt gleich wieder beschworen werden, nachdem er eben erst besiegt wurde?“ wollte Crimson wissen.

[„Eigentlich muss man es ohnehin auf dem Fünfgötterberg machen, aber ich frage mich, ob es auch hier ginge. Du hättest sogar Platz genug in der Eingangshalle.“]

„Kommt gar nicht in Frage,“ protestierte Cathy. „Außerdem können wir es uns nicht leisten, jemanden zu opfern.“

[„Das weiß ich doch,“] versicherte Sorc versöhnlich. [„Aber neugierig wäre ich schon.“]

„Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für deine Neugier,“ stellte Crimson klar.

[„Verzeihung. Aber eines Tages...“]

„Ja... sicher, schon klar.“ Crimson konnte nicht verhindern, dass sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit machte. Wer konnte schon sagen, ob man den Fünfgötterdrachen nur auf dem Fünfgötterberg beschwören konnte? Hatte es in letzter Zeit jemand woanders probiert? Der Berg war sicher nur die traditionelle Stelle dafür.

„Du wirst schon selber neugierig, ist das ansteckend?“ fragte Cathy ihn.

„Willst du es denn nicht wissen?“

„Derzeit nicht unbedingt. Vielleicht ernüchtert es dich zu erfahren, dass der Feind einige weitere Magier aufgefahren hat und seine Versuche verstärkt, den Schild zu durchbrechen. Eventuell denken sie, dass er jetzt geschwächt ist.“

„Müssen wir uns Sorgen machen?“

„Für die nächsten zwölf Stunden nicht, würde ich sagen, sofern wir nicht noch mehr solche Zauber machen. Ich vermute inzwischen, dass es sich dort draußen um angeheuerte Mitarbeiter handelt. Sie sind recht gut, aber ihnen fehlt die Raffinesse, die einen Magier wie dich oder Dark auszeichnet.“

„Oh, danke... ich bin gespannt, wie Dark diesen Vergleich findet, da du ihn ja quasi mit mir auf eine Stufe stellst.“

„Ist das falsch?“

„Gute Frage... nein, ich denke nicht.“ Allerdings zweifelte Crimson oftmals schon an seiner Eignung als Schlossherr, als Lehrer... doch er schaffte es, diese unproduktiven Gedankengänge zu vertreiben. Davon abgesehen wartete Arbeit auf ihn. „Ich muss ins Büro.“

[„Ich hab mich schon gefragt, ob ich dich daran erinnern muss. Schließlich kann ich dir nicht mehr dabei helfen.“]

„Du hast genug getan, Sorc. Ruh dich aus.“ Crimson zog seine Hände zu sich, aber die Runenbänder blieben daran haften.

Cathy faltete die Hände hinter dem Rücken und kicherte. „Ich werde mich derweil wieder auf den Schild konzentrieren. Bis später!“ Er löste sich auf, und kurz darauf konnte Crimson in seinem Hinterkopf erkennen, dass der Geist über dem Schloss schwebte und von da aus seine Aufmerksamkeit verteilte.

Er trat aus dem Bannkreis, oder wollte das, doch auch dieser verfolgte ihn. „Was soll das denn? Sorc!“

[„Aber das ist bei dir, seit ich dich bei dem Ritual dabei hatte.“] Stolz schwang in Sorcs Gedankenstimme mit. [„Okay, es war abgerissen, nachdem du beim Grauen Gipfel warst, doch ich hatte keine Gelegenheit, dich darauf hinzuweisen. Es wird vermutlich immer abreißen, wenn du das Schloss verlässt. Dann musst du es einfach erneuern.“]

Crimson hatte das an dem Tag gar nicht bemerkt – es musste unsichtbar gewesen sein. „Wozu soll das gut sein?“

[„Damit mache ich dich mir gefügig und steuere dich nach meinem Willen.“]

„Wie bitte?“

Crimson bekam keine wörtliche Antwort, spürte aber, dass Sorc in seinem Krankenbett lag und lachte – und dafür litt. Lily wuselte um ihn herum und schimpfte. Er musste sich eine Weile auf sie konzentrieren und konnte verhindern, dass sie ihm einen weiteren Heiltrank aufdrängte, indem er argumentierte, dass zu viel davon seinem Körper nicht guttat – Olvin stimmte dem voll zu, forderte aber gleichzeitig, dass er gefälligst still liegen sollte.

[„Ein kleiner Teil meiner Seele befindet sich auf deinem Körper, Crimson,“] nahm der Chaoshexer schließlich das Gespräch wieder auf. [„Es wäre sehr praktisch, wenn du dafür sorgen könntest, dass deine Leiche später mal hier auf dem Gelände begraben wird, damit mir nichts verloren geht. Und stirb bitte so, dass dein Körper dabei nicht vernichtet wird.“]

„Sorc! Deine Art von Humor kann ich irgendwie nicht teilen!“

[„Das ist ja auch Ernst, Crimson. Du bist der einzige Schlossherr, für den ich das tun kann, nehme ich an. Es sei denn, ich finde noch einen Weg, es auf deinen Nachfolger zu übertragen. Aber lass uns nicht über deinen Tod reden. Ich bin froh, dass wir den für heute verhindern konnten.“]

„Und deinen, Sorc.“ In dem Zusammenhang musste Crimson an Erias Verhalten an seinem Bett denken, das er beobachtet hatte. Ob das Mädchen sich jetzt mit ihrem Exfeind anfreunden wollte? Was bedeuteten die rosa Bäckchen?

Falls Sorc diese Überlegungen auffing, und davon ging Crimson aus, ließ er es sich nicht anmerken und gab keinen Kommentar dazu ab. Hm.

Crimson erreichte unterdessen sein Büro. Der Bannkreis zu seinen Füßen zeigte sich ihm nunmehr als gelegentlicher Glanz, was ihn beruhigte. Wenn das Ding schon da war, wollte er nicht dauernd daran erinnert werden, er fand das irgendwie... gewöhnungsbedürftig. Wahrscheinlich konnte Sorc den Kreis immer sehen. Vielleicht auch die Schrift an den Wänden.

Das Elixier erforderte nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit, so dass er diese Überlegungen vorerst ausblendete. Jemand hatte die benötigten Zutaten bereitgelegt, und generell stand alles da, was er noch brauchte. Die Phase der panikartigen Botengänge lag hinter ihm. Alles, was jetzt noch hinzugefügt werden musste, wuchs im Garten oder in der Umgebung.

Oha, die Umgebung. Das konnte doch etwas schwierig werden. Ein Grund, die Feinde loszuwerden.

Als Crimson seine Arbeit anhand des Buches noch einmal überprüfte und feststellte, dass alles so ablief, wie es sollte, dachte er darüber nach, was es mit dem Eingang auf sich hatte, durch den Mad, Neo und Kuro gekommen waren. Er dachte dies absichtlich laut genug, dass Sorc oder Cathy sich zu einer Antwort genötigt fühlte, falls einer von beiden eine Antwort auf Lager hatte.

Cathy kam darum herum, denn er sorgte dafür, dass der Schild stabil blieb. Aber es schien, als hätte er eine kurze Konversation mit Sorc, der sich dann an Crimson wandte.

[„Der Bereich um den defekten Tank ist nicht mehr in Cathys Einflussbereich. Ich habe aber auch dort meine Zeichen hingeschrieben, so dass diese Räume wieder von ihm wahrgenommen werden, doch sie befinden sich in einer Randzone, die in Anbetracht der Umstände unwichtig erscheint. Cathy kann dort noch nicht genau hinschauen, einfach weil meine Seele noch nicht ausreichend in ihm gefestigt ist.“]

„Und... wie lange kann das dauern?“

[„Wir müssen uns alle erst daran gewöhnen, denke ich. Niemand weiß, wie lange das dauert, schließlich kommt es nicht oft vor, dass ein Schloss nachträglich eine Seele erhält. Also gibt es keine Richtwerte. Aber ich rechne mit einigen Tagen.“]

„Ah ja.“ Crimson richtete seine Aufmerksamkeit nach draußen zu Cathy. Der Geist verbrauchte im Moment viel Energie dafür, die Angriffe der Gegner an bestimmten Stellen zu vereiteln. Crimson fühlte sich an seine Kindheit erinnert, als er immer viel zuviel Kraft in seine Zauber gelegt hatte. So kam es ihm auch jetzt vor. Aber er konnte es seinem Schlossherz nicht verübeln – dieser erweiterte Verteidigungsmodus war schließlich auch noch neu. Und vielleicht bemerkte Cathy deshalb nicht die silbern blitzenden Geschöpfe am Horizont, die sich rasch näherten. Aber Crimson fielen sie auf, als er seinen Geist wandern ließ und sich umsah. Wenige Sekunden vergingen, und er erkannte Drachen. Mehrere große, eisige Drachen mit Reitern auf ihren Rücken. Deren Rüstungen blitzten im Tageslicht.

„Cathy! Hast du nicht gesehen, dass aus dem Norden Verstärkung kommt?“ Der Schlossherr machte sich im Laufschritt auf den Weg zu seinem Aussichtsturm, um die Ankömmlinge in real zu beobachten.

[„Doch, Crimson, das ist mir aufgefallen. Aber wartest du nicht schon die ganze Zeit auf Hilfe?“]

Crimson brauchte einen Moment, um die Information zu interpretieren. „Du meinst... das ist unsere Verstärkung?“

[„Zumindest habe ich sie nicht als Feinde eingestuft. Warum, weiß ich nicht.“]

Crimson verdrehte die Augen. „Das möchte ich schon gerne genauer wissen. Wenn das nun ein Spezialangriffstrupp unserer Gegner ist?“

Sorc räusperte sich in seinem Hinterkopf. [„Cathy stuft diese Leute nicht als Bedrohung ein, weil ich weiß, wer das ist.“]

„Aha... also wie bei Ruin und Demise, die er auch einfach reingelassen hat, weil sie ihm durch dich bekannt waren?“

[„Ja... denke ich mal.“]

„Mach es nicht so spannend, Sorc.“

Doch Sorc zögerte seine Antwort noch einige Sekunden hinaus, und dann wurde sie überflüssig. Crimson erreichte seine Aussichtsplattform, als die Drachen ein bedrohliches Gebrüll hören ließen. Dann gingen sie wie ein glitzernder Sturm aus Eis auf die Belagerer nieder. Die Gruppe bestand nur aus ungefähr zehn Drachenreitern, aber das reichte völlig aus. Die Temperatur sank um einige Grad, während die Geschöpfe Eisstrahlen in die feindlichen Reihen spuckten und den Boden in Rutschbahnen verwandelten.

Nachdem sie die Hälfte der Leute demoralisiert und vertrieben hatten, landeten die Drachen und ließen ihre Reiter absteigen, die dann mit Schwertern und Lanzen am Boden weiter kämpften, während ihre Drachen sich wieder in die Luft schwangen und über der Szene kreisten.

„Sind das... Truppen von den Eisigen Inseln?“ staunte Crimson.

[„Die Sondereinsatztruppe von General Iquenee.“]

„Deine Schwester?“

[„Um... ja. Du lernst sie sicherlich bald kennen, aber erwarte keine verhätschelte Prinzessin. Behandle sie am besten wie eine Kriegerin.“]

Crimson schaute sich um, aber es war ihm selbst mit Cathys erhöhter Wahrnehmung unmöglich zu erkennen, wer von den Kämpfern Iquenee war. Niemand stach aus irgendeinem Grund heraus oder trug eine besonders auffällige Rüstung. Auch schienen alle die Eismagie zu beherrschen. Daran ließ es sich also auch nicht festmachen.

Was klar wurde: Crimson und seine Leute waren noch weit davon entfernt, ihr Schloss auf diese Weise zu verteidigen. In diesen Minuten beschloss er, ein paar Krieger zu verpflichten, die der Sicherheit dienten. Sicherlich gab es irgendwo Leute, die für ein Dach über dem Kopf und regelmäßige Mahlzeiten arbeiteten.

Aber darum wollte er sich zu einem späteren Zeitpunkt kümmern – zunächst einmal schaute Crimson zu, wie die Eiskrieger die Belagerung in kurzer Zeit auflösten. Als die Kampfhandlungen sich dem Ende zuneigten, begab er sich in die Eingangshalle und dann vor das Tor, um seine Retter zu empfangen. Ihn beschlich das Gefühl, dass Sorc lieber auf eigenen Beinen gestanden hätte, statt seine Schwester am Krankenbett zu begrüßen... und dazu würde es wahrscheinlich kommen, was dem stolzen Magier gar nicht passte.
 

Cathy deaktivierte den Schild. Crimson war nicht sicher, was ihn erwartete. Nachdem Ray und Sorc immer von ihrer jüngeren Schwester in liebevollen Tönen gesprochen hatten, war sein Bild von ihr tatsächlich das einer von ihren Brüdern und ihren Eltern verhätschelten Prinzessin, obwohl sie älter war als er selbst. In seiner Vorstellung hatte sie trotzdem die Gestalt einer Jugendlichen, die von allen umsorgt wurde.

Nun kam eine Gestalt in einer eisblauen und silbernen Rüstung mit Dreck- und Blutspritzern auf ihn zu. Sie nahm den Halm ab und klemmte ihn sich unter den Arm. Schneeweiße Locken, die sehr an Lady Charoselle erinnerten, quollen hervor und fielen wie eine Wolke auf die gepanzerten Schultern. An ihrer Seite hing ein beeindruckendes Schwert von der Sorte, wie es auch Ray bei sich zu tragen pflegte.

Crimson stockte der Atem bei dem Anblick. Iquenee strahlte Macht in jeder Hinsicht aus. Magie, Kraft, Kompetenz. Kein Wunder, dass die Brüder sich insgeheim schon einig waren, dass sie den Thron ihrer Mutter erben sollte.

Sie blieb vor ihm stehen und legte eine Hand auf ihr Herz, wobei sie leicht den Kopf neigte. „General Iquenee von den Eisigen Inseln, zu Diensten.“

Crimson schluckte uns suchte nach Worten. „Ähm... Crimson vom Lotusschloss. Eure Hilfe ist sehr willkommen, General. Ich wäre erfreut, Euch und Eure... Leute... als meine Gäste begrüßen zu dürfen.“ Er hätte fast „Männer“ gesagt, traute ihr aber zu, eine Truppe aus Frauen zu führen. Das hätte peinlich ausgehen können.

Sie nickte. „Sehr gern. Wir befragen zunächst noch ein paar Gefangene und kümmern uns um die Drachen, entschuldigt mich...“ Damit machte sie mit einer schwungvollen Drehung kehrt und schritt militärisch zurück auf das Schlachtfeld.

„Wow... wir brauchen hier echt ein paar von der Sorte,“ murmelte Crimson.

Cathy erschien an seiner Seite. „Wo willst du sie denn unterbringen?“ erkundigte er sich spitzfindig.

„Oh...“ Das kam etwas unvorbereitet. „Uhm... Die Zimmer der Schüler sind im Moment leer, weil sie alle in den Krankenbetten schlafen, oder?“

„Wäre schon möglich. Ich schlage vor, dass wir den Schülern sagen, dass sie ihre persönlichen Sachen aus den Zimmern holen sollen, dann können sie gleich helfen, die Betten neu zu beziehen.“

„Gut, machen wir es so. Die Küchenmädchen sollen was Gutes für alle kochen.“

Cathy nickte. „Ich sage es ihnen und informiere auch die Schüler. Wir machen das, kümmere dich ein bisschen um dich selbst, Crimson.“

Solche Worte von seinem Schlossherz ließen Crimson die Augenbrauen heben, aber er wollte gewiss nicht protestieren. „Sehr schön... ich sehe nochmal nach dem Elixier.“

Das tat er, und fast schlief er dabei im Stehen ein, weshalb er es vermied, sich irgendwo hinzusetzen. Während er sich überzeugte, dass alles in Ordnung war, noch einmal umrührte und die Hitze regulierte, legte sich plötzlich ein Paar Hände auf seine Schultern.

„Mach eine Pause, Crimson. Ich habe gehört, dass du seit Tagen nicht richtig geschlafen hast, außerdem kostet dich das Überwachen des Schlosses viel Kraft. Komm mit. Du kippst ja fast um...“

Crimson erschrak nicht und fühlte sich sicher bei der Person. Er brauchte ein paar Sekunden, um Blacky zu identifizieren, und ließ sich von ihm bereitwillig führen, wohin auch immer der Chaosmagier ihn brachte.

„Kuro kümmert sich um den Besuch,“ sagte Blacky. „Mach dir keine Gedanken...“

„Er ist... noch da?“ murmelte Crimson schläfrig. „Ich dachte schon, er wäre abgereist.“

„Nein, nein. Er hatte sich nur ein bisschen verkrochen. Er sollte dir dankbar sein... ich war vorhin nahe dran, ihm die Fresse zu polieren. Und Neo erst.“

Crimson kicherte. „Ja, das habe ich vermutet. Um Neo hat sich dann übrigens Mava gekümmert.“

„Ja, auch das wurde mir zugetragen.“

Sie erreichten ein Zimmer, dann ein Bett. Blacky klappte die Decke zurück, ließ Crimson auf die Matratze kriechen, und ob er ihn zudeckte oder wo er sich eigentlich befand, bekam der Schlossherr schon gar nicht mehr mit.

Überraschender Teamzuwachs

Sein Magen weckte ihn mit einer deutlichen Botschaft. Crimson setzte sich in seinem Bett auf und stellte fest, dass er in einem der zusätzlichen Krankenbetten geschlafen hatte. Eine einzelne Kerze spendete dem Raum Licht, draußen musste es also schon dunkel sein.

„Aha, da haben wir dich also wieder.“

Crimson drehte sich zur anderen Seite um, wo Blacky auf einem Stuhl saß. „Warst du die ganze Zeit hier?“

„Naja... mit Unterbrechungen. Hier ist neue Kleidung für dich und was zu trinken...“ Der Chaosmagier reichte ihm beides, und Crimson verzog sich in die abgeteilte Ecke mit einer Waschschüssel. Das stille Örtchen musste er auch demnächst aufsuchen, aber zunächst warf er sich in die rote Robe. Dabei handelte es sich um die beste, die er hatte – gute Wahl.

Als er zu seinem Bett zurückkehrte, bewegte sich etwas neben Blackys Stuhl. Meras erhob sich aus einer liegenden Position und rieb sich an Blackys Bein. Dann tapste sie auf den Schlossherrn zu und forderte Streicheleinheiten ein. Die Katze reichte ihm fast bis zur Hüfte, und wie immer musste er um sein Gleichgewicht ringen, damit sie ihn nicht umschubste vor Zuneigung.

„Wie spät ist es denn?“ erkundigte er sich.

„Die Nacht beginnt gerade, und das Essen ist in Kürze fertig. Es hat etwas länger gedauert, weil die Küche nicht auf so viele Gäste vorbereitet war und auch nicht darauf, dass es heute noch etwas anderes als Snacks geben soll. Möglicherweise hat auch jemand dafür gesorgt, dass sie sich etwas Zeit lassen, damit du länger schlafen kannst.“ Blacky lächelte wissend.

„Hast du Dark allein gelassen, um dich an Sorcs Stelle um mich zu sorgen?“ neckte Crimson ihn halbernst.

„Naja, beinahe. Mein Vater hat mich eigentlich nicht darum gebeten, aber ich mache das gerne. Weil ich dir dankbar dafür bin, wie du zu ihm hältst. Das ist nicht gerade selbstverständlich.“

„Er hat sich mein Vertrauen aber auch erarbeitet,“ versicherte Crimson. „Warum sprichst du ihn eigentlich immer mit seinem Namen an, obwohl du ihn durchaus als deinen Vater bezeichnest?“

Blacky seufzte. „Weißt du... der Mann, den ich mein Leben lang Vater genannt habe, hat mich die ganze Zeit heimlich gehasst und ist gar nicht mein Vater. Und den Vater, den ich jetzt gefunden habe, habe ich anfangs geleugnet. Er verdient es nicht, dass ich ihn so nenne, weil mich das immer an Talimecros erinnert. Und ich verdiene es nicht, ihn so anzusprechen, weil ich ihn erst nicht wollte. Sorc versteht das und hat kein Problem damit, solange er mich nennen darf, wie er will.“

„Ah ja. Klingt, als hättet ihr ein gutes Verhältnis.“

„Das kann man sagen. Er war zuerst etwas distanziert, aber ich glaube, er wollte mir nicht zu nahe kommen, solange ihm noch eine Hinrichtung drohte. Dann muss er wohl gespürt haben, wie wichtig mir das ist, und er ließ sich darauf ein, mein Vater zu sein, auch auf die Gefahr hin, dass ich ihn verliere. Ich finde, dass er hier regelrecht aufgeblüht ist, Crimson. Er kann sein, was er ist, weil du ihn lässt.“

„Das überrascht mich eigentlich selbst ein bisschen,“ gab Crimson zu. „Jedoch kommt es mir so vor, als wäre es so genau richtig.“

„Als Darks Erzrivale ist es nur natürlich, dass du dir einen eigenen Chaosmagier anschaffst, nachdem du nun schon ein eigenes Schloss hast. Aber ehrlich gesagt habe ich nicht damit gerechnet, dass es so gut läuft,“ witzelte Blacky. „Die meisten Menschen kommen mit meinesgleichen nicht gut aus. Wir gelten als unberechenbar und gefährlich. Missverstandene Kreaturen.“

Der Blauhäutige erhob sich vom Stuhl und begleitete Crimson zur Hauptkrankenstation, dicht gefolgt von Meras, die stets in Streichelreichweite blieb. Crimson wollte vor dem Essen noch nach Sorc schauen und nachsehen, wer außer ihm noch das Bett hüten musste.

Wie sich herausstellte, lag nicht einmal mehr Legend in seinem Bett. Er hatte ein gebrochenes Bein, wollte aber unbedingt die fremden Krieger sehen, weshalb er auf Krücken das Schloss unsicher machen durfte. Olvin und Lily hielten bei Sorc die Stellung. Lily, weil sie es wollte, und Olvin, weil es besser für ihn war. Allerdings hielt auch er sich nicht ununterbrochen im Bett auf. Im Moment saß er auf der Kante und las in einem Buch, das auf dem Nachttisch lag.

Als Crimson und Blacky eintrafen, zog die Fee sich gerade von Sorcs Seite zurück und überließ ihnen das Feld. Sorc machte einen guten Eindruck, wenn man bedachte, dass er vor kurzem noch ein Loch im Körper gehabt hatte. Die Verbände sahen frisch aus und es roch nach Kräutern und ätherischen Ölen. Er wurde also liebevoll umsorgt. Auch schien er gut gelaunt zu sein, denn er lächelte seinen Besuchern entgegen.

Sie holten sich je einen Stuhl und setzten sich auf die rechte Seite des Bettes – von Sorc aus gesehen. Meras sprang auf das Bett und legte sich laut schnurrend ans Fußende.

„Gibt es nicht bald Essen?“ fragte der Patient. „Sie warten sicherlich schon auf dich, Crimson.“

„Ja, ich weiß... ich muss mich als Schlossherr mal blicken lassen. Aber der Weg hierher war kürzer.“

„Verstehe. Und Blacky, ich habe den Eindruck, dass du Iquenee aus dem Weg gehst,“ fuhr Sorc fort.

„Uhm... ich habe mich ein bisschen um Crimson gekümmert. Aber, nun ja... ich weiß wirklich nicht, wie ich mit ihr umgehen soll. Sie hat mich vorhin gemustert, als würde sie mich mit dir vergleichen.“

„Das kann gut sein. Denk dir nichts dabei. Vielleicht hast du sie nur an ihre Kindheit erinnert, als ich in deinem Alter war. Von all meinen Kindern ähnelst du mir am meisten, Kay.“

„Nun ja... nachdem ich nun einige von ihnen kenne, kam mir das auch schon so vor.“

Sorc grinste und verkniff sich sichtbar das Lachen.

„Tut es noch weh?“ fragte Crimson daraufhin.

„Ja, ein bisschen,“ nickte der Chaoshexer. „Olvin hat mich außer Lebensgefahr gebracht und die Tränke haben die Heilung etwas beschleunigt. Aber wie du ja weißt... zuviel auf einmal ist auch schädlich. Ich werde mir lieber etwas Zeit nehmen, den Rest von selber heilen zu lassen – wenn dir das recht ist.“

Das schien ein Stichwort für Olvin zu sein. „Was heißt hier, wenn dir das recht ist? Crimson hat das nicht zu entscheiden! Er mag der Schlossherr sein, aber in Gesundheitsfragen habe ich... ich meine... hat Lily hier das Sagen!“

Na das sah ja fast so aus, als fühlte er sich hier schon zuständig, stellte Crimson fest. „Also, da muss ich Olvin Recht geben,“ sagte er. „Hör auf Lily und bleib liegen, bis sie dich aufstehen lässt.“

„Weißt du, wie lange das dann dauert?“ stöhnte Sorc.

„Ich bin sicher, sie meint es nur gut,“ warf Blacky ein.

Crimson ließ Vater und Sohn kurz alleine und ging zu Olvin hinüber. Dieser hob eine Augenbraue und blickte aufmerksam zu ihm auf. Die Ränder unter seinen Augen sahen beängstigend aus, ebenso seine bläulich unterlaufenen Fingernägel.

„Komm morgen Mittag in mein Büro,“ forderte er den Necromanten auf. „Der Monat ist dann um, und ich bin schon sehr gespannt, wie dir meine Ergebnisse gefallen.“

„Ich auch,“ entgegnete Olvin und setzte sein altes, fieses Grinsen auf. „Gewiss werde ich am Ende des Tages zufrieden sein... auf die eine oder andere Art.“

Crimson erwiderte darauf nichts. Er nickte nur und erlaubte einem kurzen Frösteln, sich seiner zu bemächtigen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er immer noch in Lebensgefahr schwebte – denn wenn Olvin das Elixier nicht guthieß und auch seine anderen Bemühungen unzureichend fand, dann stand ihm vielleicht doch noch so etwas wie eine Hinrichtung bevor. Doch er war zuversichtlich, das vermeiden zu können. Schließlich hatte er sich sehr ernsthaft bemüht, das musste der Lehrer in Olvin doch zu würdigen wissen.
 

Nach seinem Besuch bei Sorc ging Crimson noch in besagtem Büro vorbei und gab etwas Wasser in den Kessel. Erst danach begab er sich zusammen mit Meras und Blacky in den Speiseraum.

Dort herrschte ganz lustiges Treiben. Die fremden Kriegerinnen und Krieger saßen zwischen seinen Schülern und Freunden und stießen mit ihnen an. Crimson war ziemlich sicher, dass sie bestenfalls ein harmloses Bier im Haus hatten, aber die Stimmung wirkte trotzdem sehr ausgelassen. Es musste sich halt nicht jeder zwangsläufig betrinken, um gute Laune zu haben.

Dann erhob sich eine in helle Kleidung gehüllte Gestalt und kam auf ihn zu. „Crimson! Junge, wie geht es dir?“

„Paps...“ Crimson schloss Shiro in die Arme und hatte direkt Tränen in den Augen. Fast hätte er ihn nie mehr wieder gesehen! Er drückte ihn extra fest und vergrub sein Gesicht in der Halsbeuge des Mannes. Der vertraute Geruch beruhigte ihn.

Shiro tätschelte seinen Rücken. „Hoi, mein Junge... du bist ja ganz aufgelöst. Alles in Ordnung? Mir scheint, du hattest zu viel Stress.“

„Ein bisschen,“ schniefte Crimson und rang um seine Fassung. „Warum hat mir keiner gesagt, dass du hier bist?“

„Ich wollte dich überraschen. Du bist morgen mit dem Elixier fertig, nicht wahr?“

„Uhm... ja. Aber du bist nicht hier, um mich davon abzubringen, oder?“

„Nein. Aber wenn ich schonmal da bin, lasse ich dich damit auch nicht alleine.“

Crimson löste sich von ihm. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, nur zur Vorsicht. Ob er Shiro gesagt hatte, wie seine Vereinbarung mit Olvin lautete, wusste er schon gar nicht mehr, aber er erwähnte diesen Punkt jetzt auch nicht, um den Lichtmagier nicht unnötig zu beunruhigen. „Ich muss noch all die Briefe von Olvins Sohn lesen, dazu bin ich gar nicht gekommen...“ sagte er statt dessen.

„Ich helfe dir und zeige dir die wichtigen Stellen,“ bot sein Vater an.

Das nahm Crimson gerne an.

Fürs Erste riss er sich aber von dem Gespräch los, denn er wollte sich noch unter die Gäste mischen und natürlich etwas essen. Alle warteten nur auf ihn. Kaum hatte er einen freien Platz gefunden, kamen die Küchenmädchen mit dem Essen. „Die Prämie,“ zischte ihm eine davon zu.

„Okay. Das können wir gleich im Anschluss erledigen,“ versprach er, denn er wollte nicht das Risiko eingehen, dass er es dann nicht mehr schaffte.

Das Mädchen verzog sich grummelig.

Beim Essen gab es allerdings nichts zu beanstanden. Ein einfaches Gericht, aber das mochten die Krieger. Crimson achtete nicht so sehr darauf, denn er machte Pläne für den nächsten Tag und versuchte, die Gäste höflich zu unterhalten.

Im Laufe des Abends wurde der Platz neben ihm frei und Dark setzte sich dorthin. „Draconiel lässt ausrichten, dass er nur Exxod schicken konnte, und der hätte zu lange gebraucht. Die Bauarbeiter waren etwas begriffsstutzig. Aber anscheinend macht das ja nichts mehr aus. Dein Vater und ein paar seiner Magier sind hier – sie haben unterwegs die Nachricht erhalten, dass wieder alles in Ordnung ist, aber die meisten sind dennoch hergekommen.“

„Hat sich etwas ergeben bezüglich der Gefangenenbefragung?“

„Da fragst du am besten den General.“

Das tat Crimson, als der Nachtisch abgeräumt worden war, denn er wollte erst alle in Ruhe essen lassen.
 

General Iquenee winkte ihn hinter sich her, weg von den anderen. Eine ihrer Mitstreiterinnen blieb auf ihren Fersen. Ihre ganze Gruppe hatte die Rüstungen abgelegt und zeigte sich nun in Tunikas und engen Hosen, mit kurzen Schwertern, die am Gürtel hinter den Hüften versteckt waren.

„Wir haben jemanden aufgegriffen, der darauf besteht, mit Euch zu sprechen, Lord Crimson. Die anderen haben wir befragt und dann verjagt. Anscheinend handelt es sich um Söldner und leicht zu beeinflussende Kleingeister, die mit dem Versprechen auf reiche Beute gelockt wurden. Sie kennen allerdings den Namen ihres Herrn nicht. Jemand hat viel Energie darauf verwendet, Euch anzugreifen, ohne seine Identität preiszugeben,“ berichtete die Prinzessin sachlich.

Crimson folgte ihr in den Keller. Dafür, dass sie nur Gast war, kannte sie sich ziemlich gut aus. Die Begleiterin erschuf mehrere Leuchtkugeln, als sie in dunklere Gefilde hinabstiegen. Der Weg endete vor der Tür eines Kellerraumes. Darauf prangte ein magisches Siegel, und die Runen von Sorcs Seelenschrift schimmerten am Türrahmen.

Iquenee sagte ein Passwort, das das Siegel löste, und schob die Tür auf. Genau in der Mitte stand ein Stuhl, und daran war ein Mann gefesselt. Er blickte den Ankömmlingen entgegen und blinzelte in das Licht, das sie mitbrachten. Er zeigte ein paar Verletzungen wie von einer Schlägerei.

„Gorz!“ zischte Crimson.

Der Unterweltler grinste breit. „Oh, er hat sich meinen Namen gemerkt.“

„Du hast beinahe meinen Chaoshexer getötet!“

„Hey, werd mal locker! Das war ein Unfall!“ protestierte Gorz. „Er war gut, ich dachte, er würde den Angriff abwehren. Aber statt dessen drehte er sich plötzlich um.“

Crimson erinnerte sich noch gut an die Szene, denn er hatte Sorc abgelenkt. Er presste kurz die Augenlider zusammen und atmete tief durch. Doch dann fiel ihm ein Detail wieder ein. „Moment. Dein Kollege hat behauptet, dass ihr den Auftrag hattet, mich und Sorc zu töten! Also ist das doch eine Lüge, von wegen Unfall! Und du wusstest auch, wer er ist, er hat sich dir vorgestellt.“

Gorz zuckte mit den Schultern, so gut er es vermochte. „Es war trotzdem ein Unfall in dem Moment. Ich wollte den Kampf noch eine Weile genießen – und ihn nicht von hinten niederstechen!“

Darüber diskutierte Crimson lieber nicht weiter, denn noch stand Iquenee dich hinter ihm. Machte sie ihm Vorwürfe? Würde sie sich an ihm rächen? Aber nein... das würde ihr Bruder niemals zulassen.

„Und was willst du jetzt von mir?“ fragte er den Gefangenen in einem strengen Tonfall.

Jener setzte ein ernstes Gesicht auf. „Ich will bei euch mitmachen.“

„Wie bitte?“

„Ich sagte, ich will bei euch mitmachen.“

„Ja, ja, verstanden habe ich das,“ winkte Crimson ab. „Aber wieso dieser Gesinnungswechsel?“

„Ist doch ganz einfach,“ erläuterte der Mann. „Der Boss versprach, dass wir alle unseren Anteil aus dem Schatz kriegen, den wir jetzt nicht erobert haben, und die Anzahlung hat gerade gereicht, um mir ein paar neue Waffen zu kaufen. Jetzt steh ich ohne Geld da und kann sehen, wie ich rumkomme, weil der Arbeitsvertrag hinfällig ist.“

„Ich zahle auch nicht,“ klärte Crimson ihn sofort auf. „Schließlich habe ich nicht um deine Bewerbung gebeten!“ Zugleich allerdings schien ihm das Schicksal in die Hände zu spielen, denn er wusste ja selbst, dass er ein paar weitere Kämpfer brauchte, die ihr Handwerk verstanden.

„Ich bin schon mit einem warmen Bett im Trockenen und genug Essen zufrieden,“ versichere Gorz. „Ihr könnt mich gebrauchen. Eure Abwehr ist ein Witz.“

Bei dem Spruch wollt eigentlich Cathy erscheinen und den Kerl zusammenstauchen, doch auf der anderen Seite war das unter seiner Würde und Crimson hielt ihn davon ab. Schließlich hatte Gorz ja einerseits schon Recht.

Er verschränkte die Arme und dachte demonstrativ darüber nach. „Wer sagt mir, dass du dich nicht als Spion einschleust? Oder vielleicht bist du nur hinter dem Schatz her, den dein Boss dir versprochen hat? Wer ist das eigentlich, dein Auftraggeber, hm?“

Der Gefangene verdrehte die Augen und seufzte genervt. „Der Schatz interessiert mich nicht, wenn ich hier ein festes Dach über dem Kopf habe und nicht für mein Essen bezahlen muss. Ach ja, wenn ich nicht bezahlt werde, brauch ich gestellte Kleidung und sowas.“

„Mir ist gar nicht aufgefallen, dass wir schon die Arbeitsbedingungen verhandeln,“ bemerkte Crimson. „Du hast die Frage nach deinem Auftraggeber nicht beantwortet.“

„Dann frag nicht so viel auf einmal!“ schnappte Gorz. „Ich weiß nicht, wer der Kerl ist, er kontaktierte mich auch nur über Mittelsmänner. Wenn ich drüber nachdenke, könnte er sogar eine Frau sein, ich habe ihn nie gesehen – jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“

„Wir haben bisher darauf verzichtet, ihn zu foltern, Lord Crimson,“ merkte Iquenee an. „Weil wir dachten, dass er Euch etwas von Bedeutung zu sagen hat. Aber vielleicht braucht er etwas Überredung.“

„Mir kann nichts einfallen, was ich nicht weiß, du blöde Kampfschnepfe!“ motzte Gorz.

Iquenee sprang auf ihn zu und packte ihn am Kragen. „Nimm das sofort zurück, oder ich sorge dafür, dass dir noch ganz andere Sachen einfallen!“

„Jaja, schon gut! Ich nehm's ja zurück,“ lenkte der Unterweltler ein. „Regt euch doch nicht immer alle gleich so auf!“

Crimson ließ indessen Cathy abschätzen, wieviel Energie Gorz liefern konnte, und das Ergebnis fiel gut aus. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre es also sinnvoll gewesen, ihn zu behalten. Schon jetzt füllte sich der Kapalltank sehr zufriedenstellend auf.

[„Ich glaube, der Junge ist einfach gestrickt, der sucht wirklich nur eine Bleibe,“] meldete sich Sorc. [„Vielleicht kann Fire ein Auge auf ihn haben – viel älter als er kann Gorz nicht sein. Und dann haben wir ja noch Meras... probier aus, ob sie ihn mag. Wenn nicht, wird sie gut auf ihn achtgeben, und wenn ja, dann erst recht.“]

[„Bist du sicher, dass du den Kerl im Schloss haben willst, der dich fast getötet hätte?“] hakte Crimson nach.

[„Aber er hat Recht,“] meinte Sorc. [„Ich hab mich ablenken lassen, sonst wäre das nicht passiert.“]

Crimson hatte das Gefühl, dass ihn jemand auf dem Rücken streichelte, und konnte sich dadurch davon abhalten, sich wieder in Selbstvorwürfen zu ergehen. Das Bild von Sorc, aus dessen Brust ein blutiges Schwert ragte, würde ihn wohl noch lange verfolgen.

[„Cathy, was meinst du dazu?“] fragte er sein Schlossherz.

[„Nun... wie dir ja schon selbst aufgefallen ist, liefert der Typ viel Energie. Vielleicht sollten wir es auf einen Versuch ankommen lassen... wo wir ja schon Sorc und Meras haben.“]

[„Jetzt überraschst du mich, aber gut... behalte ihn ein wenig im Auge.“]

„General, bitte lasst den Mann heile,“ sagte Crimson zu Iquenee, die Gorz noch immer gepackt hielt. „Mein Schlossherz möchte ihn als Energiequelle und mein Chaoshexer meint, dass wir ihm eine Chance geben sollten.“

„Pffft.“ Sie lies mit einer so ruppigen Bewegung von dem Gefangenen ab, dass dieser mit dem Stuhl zur Seite umkippte. „Binde ihn los, Milenna.“

Die Soldatin, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, löste die Fesseln mit einer schwungvollen Bewegung ihres Schwertes. Gorz rappelte sich vom Boden auf und rieb sich die Handgelenke sowie andere Stellen, wo die Seile in seiner Haut Abdrücke hinterlassen hatten.

Crimson hatte auf einmal eine Idee. [„Cathy, schick mir Ruin und Demise. Sie können ihn irgendwo in ihrer Nähe einquartieren und fürs erste noch etwas bewachen.“]

[„Sie bewachen gerade den Kellereingang.“]

[„Okay, dann zieh sie von da ab und schick die Ablösung etwas eher hin, ja?“]

[„Wird gemacht.“] Cathy war anscheinend auch der Meinung, dass Sorcs Adoptivkinder sich gut für diese Aufgabe eigneten.

Sie warteten in der behelfsmäßigen Gefängniszelle auf die Ankunft der beiden. In der Zwischenzeit legte Crimson ein paar Regeln fest.

„Ich stelle dich als Krieger ein – gegen Wohnen und Verpflegung und was du sonst noch brauchst. Deine Aufgabe ist es hauptsächlich, das Schloss zu verteidigen, wenn das nächste Mal jemand angreift, und natürlich hast du eine überwachende Funktion. Eventuell setze ich dich noch für andere Aufgaben ein, die deinen Fähigkeiten entsprechen, damit du dich nicht langweilst.“

Gorz neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Naja... klingt akzeptabel. Können wir das später schriftlich festhalten?“

Crimson hob eine Augenbraue. „Zählt das Wort eines Schlossherrn nicht?“

„Das Wort eines Magiers zählt nicht,“ stellte Gorz klar und beeilte sich zu ergänzen: „Unterweltler werden immer für unehrlich gehalten, dabei bescheißen uns gerne mal die anderen. Die denken, sie hätten das Recht dazu, weil wir ja auch schlechte Kreaturen sind. Und bevor du mich fragst, ob du sicher sein kannst, dass ich mich dran halte, lass dir gesagt sein, dass Unterweltler zu ihrem Wort stehen. Wir sind schließlich keine verlogenen Feen.“

„Was ist mit Feen?“ Das kam von der Tür. Ruin betrat hüftschwingend den Raum.

Gorz bekam ganz große Augen und musterte sie auffällig von oben nach unten und zurück. „Woah... sie haben... wenig an und... lügen gerne mal...“

Crimson rechnete damit, dass nun Armageddon in der Zelle ausbrach, aber nein.

„Sicher,“ kommentierte Ruin schulterzuckend. „Weil wir wissen, dass wenig Kleidung Gegner ablenkt und die Wahrheit zu sagen nicht immer schlau ist. Aber du hast Glück. Mein Vater ist Soach, Prinz der Eisigen Inseln. Er hat mir beigebracht, zu meinem Wort zu stehen. Mitkommen.“

„Ich bin direkt hinter dir,“ sabberte Gorz.

Ruin schüttelte den Kopf. „Nein, du bist direkt vor mir. Und hinter meinem Bruder Demise.“

Der ehemalige Gefangene wandte sich an Crimson. „Gehört zu der Vereinbarung auch, dass ich unversehrt bleibe?“

Crimson grinste. „Liegt ganz an dir.“

Zahltag

Crimson übergab noch am Abend seiner Küchenmagd drei Goldstücke, was nach Iquenees Meinung reichte. Tatsächlich nickte das Mädchen und ging zurück an die Arbeit.

Der Schlossherr sah sich in der Küche um und stellte wieder einmal wehmütig fest, dass viele Dinge anders standen und hingen, als er es kannte. Jeder Koch ordnete die Dinge eben so, wie er oder sie es am besten fand. Da er eigentlich auch gar nicht mehr kochte – oder nur noch in Ausnahmefällen – musste er das erlauben.

Er ging nicht mehr bei Sorc vorbei, sondern gleich in sein Büro. Noch eine Abschiedsszene angesichts seines möglichen Todes wollte er vermeiden. Außerdem war Sorc nun mehr denn je in seinen Gedanken, doch der Chaosmagier zog sich derzeit verständnisvoll zurück. Crimson kontrollierte den Trank und setzte sich dann auf einen der maigrünen Sessel. Kurz darauf kam wie verabredet Shiro zu ihm, und gemeinsam gingen sie die Briefe von Olvins Sohn Ujat durch. So viele gab es gar nicht, schließlich hatte der Austausch nur einen knappen Monat gedauert, aber die meisten waren sehr lang. Zum Teil bestanden sie aus privaten Konversationen der beiden Männer, etwa gab es eine Diskussion über den richtigen Anbau von Küchenkräutern, die sich über mehrere Briefe hinzog.

Das Ergebnis stellte sich insgesamt als befriedigend dar. Der Sohn wollte sich bald mit seinem Vater treffen, aber zunächst nicht mit Crimson. Shiro hatte als Treffpunkt das Kristallschloss vorgeschlagen... und dort hielt sich Ujat wohl auch gerade auf. Wenn Olvin ihn sehen wollte, musste er nur dorthin reisen, was er in ein, zwei Tagen gewiss auch tun konnte.

„So, jetzt weißt du Bescheid,“ stellte Shiro schließlich fest und band die Briefe wieder ordentlich zusammen. „Es ist spät geworden, geh noch etwas schlafen.“

„Ich glaube nicht, dass ich das könnte,“ murmelte Crimson. „Außerdem muss ich jetzt gut auf das Gebräu aufpassen.“

Shiro warf einen misstrauischen Blick zum Kessel. „Warum? Läuft es weg? Muss in der Nacht was rein?“

„Ich muss ab und zu umrühren und in den Morgenstunden muss etwas hinzugefügt werden.“

„Dann kannst du zwischendurch schlafen und ein, zweimal die Nacht zum Umrühren aufstehen. Unterschätze dein Elixier nicht, Crimson. Du brauchst viel Kraft, wenn du es durchziehen willst.“

So hatte er das noch gar nicht gesehen. Crimson lenkte ein, allerdings holte er sich mit seines Vaters Hilfe die Matratze und das Bettzeug aus dem vorhin benutzten Bett und errichtete sich damit ein behelfsmäßiges Schlaflager, das er auch leicht wieder aus dem Weg räumen konnte.

„Cathy... weck mich alle drei Stunden...“ wies er sein Schlossherz an, das bei der Nennung seines Namens bei ihm auftauchte. „Und dass du mir nicht auf die Idee kommst, Paps umrühren zu lassen.“

„Ich werde mich hüten,“ versicherte Shiro. „Aber ich bleibe hier sitzen, auf einem der Sessel, und passe auf dich auf. So wie früher, wenn du nicht schlafen konntest.“

Crimson lächelte amüsiert bei der nostalgischen Erinnerung. Aber er fand doch eher Schlaf als vermutet, denn die Erschöpfung steckte ihm noch immer, oder schon wieder, in den Knochen.
 

Früh am Morgen war die Nacht vorbei. Shiro dehnte und reckte sich mühsam, denn er hatte auf einem der Sessel geschlafen, die sich dafür aber nicht eigneten, und deshalb war er ganz verspannt. Dennoch besorgte er Frühstück und scheuchte Crimson umher, damit dieser sich wusch und etwas Frisches anzog.

Crimson wählte für diesen Anlass sein Kartengewand – ohne den Hut und die Schulterpolster, denn beides war mehr Schau als praktisch. Zunächst verabschiedete er dann Iquenee und ihre Leute und ließ sich noch einige Tipps geben, wie er zum Schutz seines Schlosses verfahren sollte. Allerdings sagte sie ihm kaum etwas Neues. Wissen floss zu ihm aus den Datenbanken des Schlosses – oder von der Seele des Schlosses. Sorc musste wohl schon geahnt haben, was seine Schwester vorschlagen würde. Iquenee kündigte an, dass sie sich umhören würde, ob sich nicht jemand für einen Posten im Schloss interessierte. Das redete Crimson ihr gewiss nicht aus.

Den Rest des Vormittages verbrachte er damit, genug zu essen und zu trinken, alle paar Minuten zu schauen, ob auch ja nichts mehr schiefgehen konnte, die vorletzte Zutat einzurühren und nervös umher zu laufen.

Er schob den kleinen, runden Tisch, der zu seiner Sitzgruppe gehörte, in die Mitte des Büros und alle anderen Möbel aus dem Weg. Auf dem Tisch baute er feierlich den Kessel auf, wobei er die Glutsteine ebenfalls dorthin verlagerte, denn sein Gebräu durfte noch nicht abkühlen. Nur eine Zutat fehlte jetzt noch, er war ganz nah am Ziel. Aber Crimson wusste, dass auch jetzt nicht alles in trockenen Tüchern war.

Gegen Mittag legte er sein Athame bereit, jenes Ritualmesser, das seinen Effekt in seinen Rücken geritzt hatte. Er stellte zuletzt noch einen unbenutzten, hölzernen Becher neben den Kessel und wartete auf das Erscheinen seines Gastes. Der war auch schon unterwegs, wie er durch Cathy wusste.

Zwei Minuten später wurde leise die Tür geöffnet. Olvin war feierlich gekleidet, auf eine zeremonielle Art. Diese Sachen trug er auch auf seiner Karte. Crimson hatte, wie immer wenn er im Labor war, die Haare zusammengebunden, damit sie nicht in den Trank hingen. Verstohlen überprüfte er, ob seine Kleidung auch ja keine Flecken bekommen hatte, während er das Gebräu umrührte.

Olvin sah sich schweigend um, da er wusste, dass man einen Alchemisten bei der Arbeit nicht stört. Er wartete, dass man ihn ansprach, und das dauerte nicht lange.

„Mein Monat ist um, und ich habe Ergebnisse vorzuweisen,“ begann Crimson. Er nahm das Messer in die linke Hand und hielt die Klinge über den rechten Handballen. Die Linke trug Cathys Mal, das wollte er nicht beschädigen, auch wenn es vielleicht nichts ausmachte. Er hatte eine gewisse Abneigung gegen Messerschnitte, doch er erlaubte sich kein Zögern. Die Schneide fügte ihm problemlos – fast schon erschreckend einfach – eine ausreichend blutende Wunde zu. Er ließ mehrere Tropfen Blut in das Elixier fallen, rührte erneut um und wickelte dann rasch notdürftig ein sauberes Tuch um seine Hand.

Das Gebräu färbte sich violett und nahm ein unheilvolles Leuchten an. Der Beschreibung nach musste es so sein. Rückblickend war Crimson sicher, dass er alles richtig gemacht hatte, so dass er nun ein perfektes Ergebnis bieten konnte.

„Wie ich sehe, versuchst du dich an einem illegalen Trank,“ bemerkte Olvin.

Der Weißhaarige füllte mit einer Kelle etwas von seinem Werk in den hölzernen Becher. Danach löschte er die Glut unter dem Kessel und warf etwas Ätsch-Bätsch-Kraut in den restlichen Trank, denn es war zu gefährlich, ihn stehen zu lassen. „Du weißt, was es ist?“ Er trat vor ihn hin und reichte dem Älteren den Becher.

Olvin nahm ihn an, und für einen Moment konnte Crimson mit Befriedigung eine gewisse Überraschung auf den faltigen Zügen lesen. Das brachte ihn zum Schmunzeln, doch er unterdrückte es schnell wieder und behielt eine ernste Miene.

„Ich habe all das, was du durch mich verloren hast, zu ersetzen versucht, wie versprochen. Wenn du austrinkst, wird dein Leben an meins gebunden und kann von ihm zehren,“ verkündete Crimson. „Dadurch dürften die Beschwerden, die die Necromantie dir bereitet, gelindert werden oder sogar ganz verschwinden. Du wirst nicht sterben, solange ich lebe. Nimm dies als Ersatz für zehn verlorene Jahre deines Lebens.“

„Hm, sofern du es richtig gemacht hast,“ murmelte Olvin. „Du weißt, dass du dein eigenes Leben dadurch verkürzt?“

Crimson nickte feierlich. „Zumindest wird davor gewarnt, aber wer kann das schon wissen? Trink, ehe es kalt wird.“

Das tat Olvin. Er setzte den Becher erst ab, als er leer war. „Wäh, kannst du nicht was am Geschmack ändern?“

„Das war mir zu gefährlich.“

„Sag bloß! Sehr vernünftig. Berichte mir, was du sonst getan hast. Ich gehe doch davon aus, dass da noch mehr ist? Und du stehst zu deinem Wort, falls ich nicht zufrieden bin?“

Crimson fand eigentlich, dass es schon genug war, dass er von seiner Lebenskraft etwas opferte, aber er nickte erneut. „Ich gebe mein Schicksal in deine Hand, wie versprochen.“ Er nahm ein paar Notizen zur Hand, die ein wenig mit verschiedenfarbigen Spritzern beschmutzt waren. Heimlich versuchte er, eine Veränderung an Olvin zu erkennen.

„Am einfachsten ist es mit deinem Beruf,“ begann er seinen Bericht. „Ich befinde mich in der glücklichen Lage, dir eine Anstellung bieten zu können, inklusive Wohnung und Verpflegung. Somit wirst du auch nicht mehr obdachlos sein. Über die Einzelheiten können wir später reden, solltest du das Angebot annehmen.“

Olvin nickte, es war jedoch eher eine Kenntnisnahme als eine Zustimmung. Er hatte etwas in seiner Tasche dabei, stellte Crimson fest, denn der Necromant packte es aus und breitete es auf der Sitzfläche eines Stuhls aus. Es war eine Ledertasche mit zahlreichen Ösen, in denen Werkzeuge seines Handwerkes steckten: Messer, Skalpelle und dergleichen. Man konnte das Leder vollständig ausrollen und hatte damit Zugriff auf alles.

Crimson wurde etwas nervös, erzählte jedoch weiter: „Ich habe deinen Sohn ausfindig machen lassen und er will sich mit dir treffen, allerdings hat er es abgelehnt, mit mir zu reden, und sich statt dessen mit meinem Vater ausgetauscht. Er ist darüber informiert, dass du damals einem Jungenstreich zum Opfer gefallen bist... und damit komme ich auch gleich zum nächsten Punkt, deinem Ruf. In der Akademie hat sich auf geheimnisvolle Weise ein eigentlich nur an die Direktorin adressierter Brief verbreitet, in dem ich ihr erkläre, wie das damals wirklich war. Inzwischen müsste das ganze Schattenreich wissen, dass ich dich fälschlich beschuldigt habe.“

Olvin hob die Augenbrauen und wandte seine Aufmerksamkeit kurz von einigen kleinen Messern ab, die er aus dem Set herausgesucht hatte. „So? Dann hast du also ganz nebenbei deinen eigenen Ruf ruiniert. Das gefällt mir!“

Was hatte der Alte mit den Messern vor? Crimson fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. War das Angst? Er konnte noch keine Wirkung seines Trankes an Olvin erkennen, hatte er etwa doch versagt? Es sah ganz so aus, als bereitete der Necromant gerade seine Rache vor. Was hatte er angedroht? Er würde ihn zu gerne zu Tode quälen und dann wieder erwecken als Zombie? Aber zählte es denn gar nichts, was er erreicht hatte? Crimson konnte es nicht länger leugnen, als seine Knie zu zittern anfingen. Das war Angst. Und es musste wohl auf seinem Gesicht zu sehen sein, denn um Olvins Mundwinkel spielte ein Lächeln.

„Auf die Knie mit dir, Jungchen,“ forderte der Alte.

Crimsons Körper gehorchte fast von alleine, denn er hatte eine Art Schwächeanfall und fühlte sich ganz zittrig. Ihm war schlecht. Und er fand es peinlich. Er versuchte, so zu tun, als befolgte er einfach nur die Anweisung, die ihm eigentlich gerade recht kam. Aber auf der anderen Seite fragte er sich, ob es wirklich nötig war, dass Olvin ihn so demütigte. Was wollte er denn noch?

Allerdings schien der Trank ja nicht zu wirken, also vielleicht fühlte Olvin sich veralbert angesichts der Tatsache, dass er in letzter Zeit jeden Tag um sein Überleben kämpfte. Trotzdem... er musste doch den Versuch zu würdigen wissen! Schließlich bekam man nicht jeden Tag das Leben eines anderen angeboten. Aber was stimmte nicht mit dem Trank? Lag es vielleicht am Transport in das Büro? Zu wenig Hitze? Crimson dachte angestrengt nach, was schiefgelaufen sein könnte. Er fühlte sich fiebrig und musste sich mit den Händen abstützen. Sein Atem wurde hektisch. Olvin stand dicht neben ihm, aber Crimson konnte nicht erkennen, ob er etwas in der Hand hielt. Der Raum schwankte. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

„Braver Junge. Halt es nicht zurück, das hat keinen Sinn...“

Crimson musste würgen. Olvin tätschelte seinen Rücken und stellte den Papierkorb unter seiner Nase ab. Er gab es auf, sich beherrschen zu wollen, und übergab sich ausführlich, bis er glaubte, seinen Magen mit von sich gegeben zu haben. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm jemals zuvor so übel gewesen war.

„Ich... kann's nochmal versuchen,“ stammelte er mühsam. „Kann mir nicht erklären, was schiefgelaufen ist... Lass es mich nochmal---“

Olvin kicherte. Das Geräusch klang amüsiert, aber auf eine ehrliche Art, nicht spöttisch wie sonst. „Du glaubst, du hast versagt?“ Der Alte reichte ihm ein sauberes Taschentuch.

Crimson wischte sich zitternd den Mund ab. Sein Körper schien von Fieberkrämpfen geschüttelt zu werden, was eigentlich jeder Logik entbehrte. Das konnte nicht nur an seiner Angst liegen. Er war nicht so panisch. Schließlich hatte er doch viel erreicht und konnte bestimmt diplomatisch darüber verhandeln. Es gab keinen Grund, so zu reagieren, ehe er nicht wusste, was Olvin mit ihm zu tun gedachte.

„Denk mal nach, Jungchen,“ hörte er die Stimme des anderen Magiers nahe an seinem Ohr. „Hast du erwartet, dass dein Trank mich von jetzt auf gleich von meinen Gebrechen befreit? Dass du zusehen kannst, wie sich etwas verändert? Ha! Du solltest es doch besser wissen! Und überleg mal... welche Folgen hat es für dich?“

„Folgen? Was sollte es für... urgh!“ Crimson würgte, doch es kam nichts mehr nach.

„Ich fürchte, du musst einfach warten, bis es vorüber geht,“ meinte Olvin. „Bis du dich daran gewöhnt hast, können einige Tage, vielleicht auch Wochen vergehen. Hier, lass mich das behandeln...“ Er griff nach Crimsons rechter Hand und schickte sich an, den Schnitt besser zu verbinden. Nein, doch nicht... er wickelte das Tuch ab und berührte die blutende Stelle vorsichtig mit einem Finger, worauf sich ein fester Schorf bildete, als wäre die Wunde drei Tage alt. Es juckte wie verrückt.

Crimson blickte auf und sah den alten Magier direkt vor sich. In dem runzeligen Gesicht war ein neuer Ausdruck. Eine Art von... Respekt. „Du meinst, das... Es liegt an dem Trank, was mit mir geschieht?“

Olvin nickte ruhig. „Du kannst nicht dein Leben mit einem sterbenden Mann verbinden und nichts davon bemerken.“

„Es hat funktioniert!“ freute Crimson sich, was auch nicht dadurch gemindert wurde, dass er sich schon wieder über den Papierkorb beugen und Galle hochwürgen musste. Er empfand Triumph, wie meistens, wenn er einen sehr komplizierten, langwierigen und möglichst noch verbotenen Trank hingekriegt hatte. Der Erfolg schmeichelte stets seinem Ego und bestätigte ihn in seiner hochmütigen Meinung von seiner eigenen Kunst. Oh ja, er wusste, dass er arrogant war, aber er fand das nur recht und billig, schließlich war er ein Meister seines Faches. Und das sogar ohne Anerkennung von der Akademie, die ein Genie wie ihn verstoßen hatte!

„Das an sich wundert mich nicht,“ sinnierte Olvin. „Ich habe deine Bemühungen beobachtet und meine Schlüsse gezogen, aber ich habe nicht alles mitbekommen und dachte, ich müsse mich irren. Dass du so weit gehen würdest...“

Crimson blieb auf den Knien, denn er traute seinen Beinen noch nicht. Doch er nahm eine aufrechte, kniende Position ein, wie ein Japaner bei formellen Anlässen. „Ich bitte hiermit offiziell um Vergebung für den Streich, den ich dir gespielt habe. Mir war damals nicht klar, was für Folgen er für dich nach sich ziehen würde, und niemals danach habe ich darüber nachgedacht.“ Das zu sagen war schwierig, vor allem, da er es zu dem sagte, den es betraf, und er bemühte sich, ihn dabei anzusehen.

Olvin schien das auch zu überraschen. Er hob eine Augenbraue. „Ich kann mir denken, dass jemand wie du ungern Fehler zugibt, aber anscheinend hat dein Vater dich gut erzogen.“

Crimson legte nachdenklich den Kopf schräg. „Uhm... stimmt wohl beides... Ich mag arrogant, hochmütig und zu stolz sein, aber ich habe auch sowas wie Ehre. Ich begleiche meine Rechnungen.“

Der Necromant rieb sich nachdenklich das Kinn. Täuschte es, oder waren seine Fingernägel weniger bläulich unterlaufen? „Es ist gut, wie es ist,“ meinte er schließlich. „Du weißt, was du kannst, und machst keinen Hehl daraus. Nichts ist schlimmer als ein Angeber, der nichts drauf hat, aber du versprichst nichts, was du nicht halten kannst. Das ist auch eine Form von Ehrlichkeit, und Ehrlichkeit finde ich wichtig. Auch Stolz sollte ein Mann haben. Aber er muss wissen, wann er ihn ablegen muss, und auch das habe ich dich schon tun sehen. Letztendlich muss ich dir hoch anrechnen, dass du zu deinen Fehlern stehst – auch wenn es zehn Jahre gebraucht hat und einen alten Mann, der dich mit der Nase darauf stößt.“

„Ähm...“ Crimson sagte lieber nichts weiter dazu, das war manchmal besser.

„Wann, sagtest du, kann ich meinen Sohn treffen? Oder habe ich etwas falsch verstanden?“ erkundigte der alte Magier sich.

„Oh... ich habe noch kein Datum genannt,“ antwortete Crimson, froh über den Themenwechsel. „Er befindet sich im Kristallschloss. Wenn du willst, zeige ich dir die Briefe, die er meinem Vater geschickt hat. Er berichtet von seiner Familie, den Enkelkindern...“

„Enkelkinder?“ Das hatte Olvin anscheinend gar nicht gewusst. „Ja, das... würde mich sehr interessieren. Und du solltest dich ein bisschen ausruhen.“

Crimson kämpfte sich auf die Beine, holte den Packen Briefe von seinem Schreibtisch und reichte sie ihm. „Was ist mit den Messern?“ fragte er vorsichtig. Die Werkzeuge waren bisher nicht zum Einsatz gekommen.

Olvin grinste. „Ich wollte dir nur etwas Angst machen.“

Crimson starrte ihn sekundenlang nur an, dann fiel ihm ein Stein vom Herzen, und mit ihm schien der Rest seiner Kraft zu schwinden. Er wankte zu seiner Matratze und und setzte sich darauf. Zumindest war das der Plan, aber ihn Wahrheit plumpste er geradezu auf das Laken. Der alte Necromant beachtete ihn nicht weiter, sondern sank auf einen Sessel und entfaltete mit zittrigen Händen den ersten Brief. Nie hatte Crimson ihn so bewegt gesehen.

Doch darauf konnte er nicht mehr lange achten. Sein Körper fühlte sich immer schwerer an, sein Kopf immer müder. Da er jetzt wusste, dass es an dem Trank lag, verspürte er keine Sorge mehr darüber, und er hatte auch keine Bedenken, Olvin in seinem Büro die Briefe lesen zu lassen, während er selbst sich ein wenig schlafen legte. Er wollte sich eigentlich noch entkleiden und sich dann zudecken, gemütlich hinlegen und die Augen schließen, um etwas zu ruhen, aber letzten Endes zog er die Beine an und legte sich auf die Seite, wobei er schlief, sobald sein Kopf in Kontakt mit dem Kissen kam.

Organisatorisches

Crimson schlief lange und fest. Das war im Prinzip auch nicht verwunderlich, denn sein Körper musste sich an die neue Situation anpassen, ebenso wie seine Magie und generell sein ganzes Wesen. Er hatte gewusst, worauf er sich einließ, aber nicht, wie sich das auswirken und anfühlen würde, insofern war er viel weniger vorbereitet als erwartet.

Als er die Augen aufschlug, beugte sich Lily gerade über ihn – mit einer Spritze. „Nein, das tust du nicht!“ brachte er hervor. Seine Stimme klang etwas kratzig, so als könnte er etwas zu trinken gebrauchen. Wenigstens war er nicht auf der Krankenstation, wie er sogleich feststellte.

Die Fee trat einen Schritt zurück. „Oh, du bist wach! Ich wollte dir gerade ein Vitaminpräparat geben, das dich stärken soll.“

„Vergiss es. Du weißt, was ich von dieser neumodischen Medizin halte.“

„Du musst zugeben, dass es Vorteile hat. Ich bin nicht darauf angewiesen, dass der Patient etwas trinken kann und das dann auch bei sich behält.“

„Ich kann jetzt was trinken.“

Lily seufzte und legte die Spritze zur Seite. „Fein. Aber wehe, du kotzt es aus. Dann...!“

„Abgemacht.“ Crimson stützte sich mit einem Ellenbogen ab und ließ sich von ihr einen Becher reichen, in dem wohl auch eine Medizin sein musste, jedenfalls schmeckte es sehr... gesund.

Lily beobachtete genau, ob er stark genug war, den Becher zu halten, und dann, ob er das Mittel vertrug. „Weißt du, ich hab mich mit Vindictus unterhalten...“

„Vindictus?“

„Ja, er sagte, er wolle wieder seinen früheren Namen annehmen, wenn er für dich arbeitet. Ihr habt wohl noch nichts ausgehandelt, aber er will annehmen.“

Sie verstummte. Crimson legte sich wieder hin und gab ihr den leeren Becher zurück. Sie schien besorgt. „Was ist denn?“ fragte er sie. „Gibt es ein Problem mit dem alten Zausel?“

„Sag du es mir!“ fuhr sie ihn an. „Wie konntest du! Es ist ein Risiko, Crimson! Nicht umsonst ist der Trank verboten!“

„Oh... das. Hat er es dir gesagt?“

„Allerdings. Ich musste ja wissen, was dir fehlt! Wirklich, Crimson – der Mann war todkrank! Es hätte dich umbringen können!“

„Ich dachte, genau das soll mit diesem Trank verhindert werden,“ wunderte er sich. „Äh, Moment... mich?“

„Natürlich! Er ist verboten, weil er früher oft dafür missbraucht wurde, Leben zu verlängern, indem ein junges Wesen geopfert wurde. Necromanten haben---“

„Ja, weiß ich,“ unterbrach Crimson seine Ärztin. „Sie haben irgendein passendes Opfer gezwungen, sich auf diese Weise mit ihnen zu verbinden, nur um länger zu leben, ohne zu berücksichtigen, dass sie das Leben desjenigen aufbrauchen, bevor seine Zeit gekommen ist.“

„Genau! Was denkst du dir dabei? Ist dir dein Leben denn gar nichts wert?“

„Ich habe es freiwillig getan. Und ich bin ein mächtiger Magier. Ich kann es besser vertragen als diese hilflosen Opfer. Und selbst wenn nicht, glaube ich, dass es das Richtige war. Besonders jetzt, nachdem ich am eigenen Leib erfahren habe, wie schlecht es Ol... Vindictus wirklich ging. Schließlich war es meine Schuld...“

Lily verdrehte die Augen. „Der Alte kann mir nicht erzählen, dass ein Jungenstreich sein Leben ruiniert hat! Er hätte mehr für seinen Ruf kämpfen müssen! Jedenfalls rechtfertigt das nicht, was du getan hast!“

Crimson war überrascht von dieser Sichtweise. Dabei wusste sie auch von der Sache und hatte sich bisher noch nie so heftig dazu geäußert. Allerdings hatte er ihr das mit dem Elixier bisher verschwiegen und ihr nur gesagt, dass er etwas zusammenbraute, um Olvin zu helfen.

„Vielleicht,“ gestand er ihr zu. „Aber ich habe Verantwortung übernommen und so entschieden. Das Risiko war mir bewusst.“

Sie begegnete seinem Blick und schien noch etwas erwidern zu wollen, doch entweder entschied sie dann, dass sie gegen seinen Starrsinn nicht ankam, oder dass sie seine Meinung akzeptieren musste. Sie seufzte. „Weiß dein Vater davon?“

Er nickte. „Er fand es auch nicht gut, hat mir aber geholfen.“

Lily sah überrascht aus. „Er hat dich in diesem Wahnsinn auch noch unterstützt?“

„Ich habe mich nicht davon abbringen lassen, und er war meine Argumenten zugänglich, auch wenn es ihm nicht gefiel. Es wäre schön, wenn du das auch so halten könntest.“ Crimson setzte einen sehr lieben Blick auf, um seine Ärztin zu überzeugen.

Sie schnaubte schicksalsergeben. „Muss ich ja wohl. Also sieh zu, dass du wieder auf die Beine kommst, sonst...“ Sie deutete auf die Spritze.

„Bleib mir vom Leib mit dem Ding,“ murmelte ihr Patient. „Ich steh bald auf und bin voll fit.“

„Letzteres wage ich zu bezweifeln, aber mach du nur deine eigenen Erfahrungen.“ Lily packte ihre Sachen zusammen. „Ich komme bald wieder nach dir sehen, falls du nicht auftauchst. Lass dir Zeit, aber nicht zu lange. Ich sage deinem Vater, dass du wach bist. Ach übrigens... du hast schon ein paar bekommen. Spritzen, meine ich.“

„Was?“

Sie kicherte, gab aber keine weitere Erklärung ab, sondern verließ den Raum.

Nicht sein Büro, wie er bemerkte. Aber auch keines der provisorischen Krankenzimmer. Er schaute sich im Liegen um, und soweit er das erkennen konnte, befand er sich in einem verhältnismäßig kleinen, zweckmäßigen Raum mit einem Bett, einem Tisch mit einem Stuhl, einem nach keinem ersichtlichem System eingerichteten Regel voller Bücher, Kästchen, Geschirr, Tonbehältern und vielen anderen Sachen sowie einer Kleidertruhe und einer Waschecke. Auf dem Tisch befanden sich ebenfalls mehrere Bücher, die aber gestapelt und an die Wand geschoben worden waren, um für einige Sachen Platz zu machen, die jemand benutzt haben musste, um sich um den Patienten zu kümmern: Eine Kanne, mehrere Trinkbecher, Tücher, Ersatznachthemdchen, eine Bürste.

Crimson schaute an sich herunter und stellte fest, dass er die hiesige Krankenmode trug. Ihm kamen Lilys Worte in den Sinn, dass er schon mehrere dieser Spritzen bekommen hatte. Wie lange lag er schon hier?

An der Wand zwischen Bett und Tisch befand sich ein bogenförmiges Buntglasfenster. Es stellte eine stürmische Meeresszene dar und stand leicht offen, so dass deutlich das Geräusch der Wellen herein drang und der Geruch des Meeres. Das Zimmer musste sich ziemlich nah am Wasser befinden.

Doch Crimson verspürte kein Verlangen danach, alles sofort zu ergründen. Lily wollte seinen Vater benachrichtigen, also konnte er auf ihn warten und sich dann alles erklären lassen. Außerdem fühlte er sich sicher in diesem Raum.

Da er nun sein Ziel erreicht hatte und nicht mehr befürchten musste, Opfer eines Rachefeldzuges zu werden, machte sich große Erleichterung in ihm breit. Endlich konnte er sich wieder richtig entspannen! Und es erleichterte auch sein Gewissen, seinem früheren Lehrer etwas Gutes getan zu haben. Nicht dass er sich sehr gegrämt hatte oder so. Vielleicht doch ein bisschen mehr, als ihm bewusst gewesen war. Aber darüber musste er sich ja jetzt keine Gedanken mehr machen.

Shiro ließ nicht lange auf sich warten. Er öffnete die Tür leise, kam dann aber hastig auf das Bett zu und stürzte davor auf die Knie, um seinen Sohn in seine Arme ziehen zu können. Dabei murmelte er unverständlich vor sich hin. Crimson kam es vor, als wäre er von den Toten auferstanden, so verhielt sich Shiro jedenfalls.

„Paps... ist ja gut, lass mich los!“ Er unternahm einen schwachen Versuch, sich zu befreien.

Sein Vater ließ tatsächlich von ihm ab und kontrollierte sofort, ob seine Attacke ihm etwas angetan hatte. Seine Augen glänzten verdächtig.

„Ist alles in Ordnung, Paps?“ hakte Crimson nach.

„Ich... ich weiß nicht,“ stammelte Shiro. „Fühlst du dich denn gut? Lily sagte zwar, du wärst in Ordnung, aber ich will es von dir hören.“

„Ja... schon,“ bestätigte Crimson. „Aber sag mal, Paps... wie lange hab ich hier gelegen? Du tust so, als wäre ich todkrank gewesen. Dabei ist doch nur der nächste Morgen... oder?“

Sein Vater schüttelte langsam den Kopf. „Wenn es nur so wäre... du hattest bewusste Momente zwischendurch... immer, wenn du mal musstest oder Hunger hattest. Dann konnte ich mit dir in den Waschraum gehen oder dich dazu bringen, etwas Suppe zu essen und Wasser zu trinken. Du hast nichts gesagt, aber auf meine Worte reagiert. Erinnerst du dich nicht? Du bist auch hierher gegangen und hast dich noch selber umgezogen...“

Crimson klappte der Mund auf. „Nein... das weiß ich nicht mehr,“ brachte er schließlich hervor. Er konnte sich auch nicht entsinnen, etwas geträumt zu haben.

„Nun ja... du hast immer so einen halb wachen Eindruck gemacht,“ räumte Shiro ein. „Wenn du fertig warst, hast du dich wieder ins Bett gelegt und weiter geschlafen. Manchmal hat Lily dir mit ihrer neumodischen Medizin etwas verabreicht, damit du nicht zu sehr geschwächt wirst. Olvin meinte zwar, du kämst schon klar, aber sie bestand darauf. Ach... er nennt sich ja jetzt wieder Vindictus. Ab und zu war er auch hier und hat dich untersucht. Naja, es ist ja jetzt auch in seinem Interesse, dass du lebst. Er... sieht viel besser aus. Jünger.“

Ein ungutes Gefühl beschlich Crimson auf einmal. „Aber... ich bin nicht sichtbar gealtert, oder?“ Er fasste sich ins Gesicht und betastete seine Wangen. Schien alles wie immer zu sein.

„Nein, du bist nur sehr schwach. Vindictus meinte, das wäre normal, weil dein Körper eine Umstellung durchmacht. Es ist ziemlich hart für dich, weil er sich nur noch durch necromantische Zauber und Tränke am Leben erhalten hat,“ erklärte Shiro. „Weißt du... all die Leute, die das Elixier von Sil-har'kahn missbrauchten, suchten sich normalerweise wehrlose Opfer aus. Solche, die weder Krieger noch Magier waren. Das ist natürlich etwas ganz anderes, als wenn ein gesunder Magier wie du das Opfer ist. Jedoch gibt es keinen überlieferten Fall, bei dem der Begünstigte so krank war wie Vindictus. Das habe ich nicht bedacht. Ich könnte mich ohrfeigen. Es war unverantwortlich von mir, dir das zu erlauben.“

„Aber du wusstest nicht, dass er praktisch schon zu sterben angefangen hatte. Ich glaube, vor Besuchern hat er das auch nicht gezeigt. Und ich... habe es dir nicht gesagt.“

„Ich hätte wissen müssen, dass ein Necromant allein durch seine widerliche Kunst dem Tod näher ist als dem Leben. In seinem Alter...“

„Er wusste um das Risiko,“ versuchte Crimson seinen Vater zu beruhigen. „Er muss es gewusst haben. Ich glaube nicht, dass er zugelassen hätte, dass ich sterbe. So sehr er mich auch hasst, als Heiler hätte er mich keinem tödlichen Risiko ausgesetzt. Wenn er bezweifelt hätte, dass ich es schaffen kann, hätte er das Elixier nicht getrunken, ganz sicher.“

„Er hätte sich irren können! Oh Crimson, du bist viel zu vertrauensselig.“

„Ich habe... mir nie Gedanken darüber gemacht, was das auf mich für Auswirkungen hat,“ gab Crimson zu. „Jedenfalls dachte ich nicht, dass es so schlimm wird... das stand nicht in dem Buch.“

„Viele Bücher gehen davon aus, dass der Benutzer weiß, was er tut. Oder der Autor hat keinen Fall wie deinen gekannt.“

„Du hast mir noch immer nicht gesagt, wie lange ich schon hier liege.“

„Nun... seit fast einer Woche. Sechs Tage, um genau zu sein.“

„Was?“ Crimson hatte mit vielleicht drei Tagen gerechnet.

Shiro seufzte und strich seinem Sohn übers Haar. „Verstehst du jetzt, warum ich so in Sorge war?“

„Nun, also... tut mir Leid, Paps.“

„Hauptsache, du bist jetzt wieder bei uns. Anfangs hast du kein Essen bei dir behalten. Ich dachte schon, du stirbst mir weg.“

Crimson machte sich bewusst, dass er wohl ziemlich unüberlegt gehandelt hatte, jedoch wusste er keine andere Möglichkeit, die Vindictus geholfen hätte. Außerdem hatte der von ihm gewählte Weg auch eine sehr symbolische Bedeutung, da er von ihm ein Opfer verlangte.

Während er seine Erkenntnis noch als lehrreiche Erfahrung abspeicherte, ging erneut die Tür auf. Meras huschte durch den Spalt, sprang mit einem Satz auf das Bett und legte sich der Länge nach auf Crimsons Körper, um dann mit ihrem Kopf durch sein Gesicht zu streichen.

Der Magier schnappte nach Luft, obwohl Meras für ihre Größe nicht so schwer war, aber dennoch wog sie etliche Kilos. Er kraulte die Katze ausgiebig und schob sie dann zur Seite. Sie blieb zwischen ihm und der Wand liegen und behielt ihn im Auge, als wäre er ihr Junges. Dann erregte ein Geruch Crimsons Aufmerksamkeit.

Sorc stellte gerade ein Tablett auf den Tisch und schenkte ihm ein ehrliches Lächeln. „Willkommen zurück, Crimson. Wir warten alle schon sehnsüchtig darauf, dass du aufwachst, schon allein, damit Gorz aufhört zu nörgeln.“ Er hielt sich im Hintergrund und überließ Shiro das Essen.

Der Lichtmagier zog sich den Stuhl heran und überwachte, ob Crimson sich alleine hinsetzen konnte, und als das gelang, stellte er ihm das Tablett auf den Schoß, hielt es aber vorsichtshalber noch fest und beobachtete genau, ob sein Sohn zurecht kam.

Der Anblick des Essens, vor allem aber der Geruch, weckte ihn Crimson geradezu die Gier. Offenbar hatte er in letzter Zeit nicht allzu viel Nahrung zu sich genommen, also verschlang er eine Schale Suppe, einen Fetzen Brot, etwas Obst und ein kleines Omelett. Das alles spülte er mit einem Becher Tee hinunter, bei dem es sich anscheinend um ein Gemisch gegen Übelkeit handelte. Passte ja. Shiro ermahnte ihn wiederholt, sich etwas zu mäßigen, um seinen Magen nicht gleich zu überfordern.

Erst als Crimson alles verputzt hatte, wandte er sich an seinen Chaoshexer. „Sorc, ist deine Verletzung geheilt?“

„Es genügt. Vindictus hat noch einmal überprüft, ob alles gut verläuft, und ein wenig nachgeholfen. Ich soll mich noch schonen, während der Rest von selber heilt,“ antwortete Sorc. Er setzte sich an das Fußende des Bettes und streichelte Meras an den Hinterpfoten. Die Katze spreizte verzückt die Zehen und kniff die Augen zu.

„Und was hat es mit Gorz auf sich?“ fragte Crimson weiter.

Das brachte Sorc zum Lachen – was ihm offenbar wieder problemlos gelang. „Ich dachte schon, du hättest gar nicht mitgekriegt, dass ich den erwähnt habe! Also, er wollte dich sprechen, aber wir hielten ihn an dem Vormittag, als du das Elixier fertigstellen musstest, davon ab, dich zu stören. Anschließend warst du außer Gefecht. Kuro hat mit ihm einen schriftlichen Vertrag entworfen, doch keiner von uns konnte ihn unterschreiben. Du hast keinen offiziellen Stellvertreter. Kuro und Shiro sind deine nächsten Verwandten, aber Schlossherren eines anderen Schlosses. Lily, die ja hier als Einzige fest angestellt ist, kam noch am ehesten in Frage, doch Gorz weigerte sich, mit einer Fee Geschäfte zu machen. Ich bin zwar die Seele des Schlosses, aber das hat er nicht akzeptiert, denn ich habe keine Unterschriftsvollmachten. Schließlich einigten wir uns darauf, dass Cathy unterschreiben soll. Gorz zeigte sich sehr zufrieden damit, mit dem Schlossherz den Vertrag abzuschließen. Jedoch scheiterte das schlicht und einfach daran, dass Cathy keine Schreibfeder halten kann.“

Nun musste Crimson lachen. „Dann hat er seine Unterschrift also immer noch nicht. Kamt ihr mit ihm klar?“

„Ja doch,“ versicherte Sorc. „Er hat bei den anfallenden Arbeiten geholfen wie jeder andere auch, wenn er darum gebeten wurde. Die meisten hier im Schloss sind noch etwas skeptisch, geben sich aber Mühe mit ihm. Ich bin ja direkt gerührt, dass sie ihm alle ein bisschen misstrauen, weil er mich fast erstochen hat. Inzwischen kann ich sogar mit Neo einigermaßen vernünftig reden.“

„Das freut mich... dieses Gezänk ging mir auf die Nerven,“ kommentierte Crimson.

„Das mit dem Stellvertreter solltest du dir ernsthaft überlegen, mein Junge,“ bemerkte Shiro. „Ich habe auch nicht wirklich einen, aber ich habe vor meiner Abreise jemandem das Kommando übertragen.“

Crimsons Blick huschte unwillkürlich zu Sorc. Dieser schien schon damit gerechnet zu haben. „Nein. Ich bin Rehabilitant. Keine gute Wahl. Viele werden mir nicht vertrauen, zumal ich Chaosmagie benutze.“

„Nimm jemanden von den Leuten, die für dich arbeiten,“ schlug Shiro vor. „Zum Beispiel Mava. Frag ihn, ob er bleiben will. Wenn ich das richtig sehe, ist er im Moment einfach als Helfer da. Du solltest ihn auffordern, sich festzulegen.“

„Und Cross ist ja nur im Auftrag von Endymion hier,“ überlegte Sorc. „Vielleicht eignet sich auch Vindictus. Vor dem Alter haben viele Magier Respekt, aber auch Feen und Unterweltler. Leider konnte auch er nicht Gorz' Vertrag unterschreiben, weil er derzeit offiziell nur Gast ist, obwohl er sich als Heiler betätigt.“

„Ich denke darüber nach,“ nickte Crimson. „Er hat sich ja eh schon ziemlich herrisch benommen da auf der Krankenstation.“

„Ja, nicht wahr?“ Sorc grinste.

Crimson musste Blacky Recht geben – Sorc war in letzter Zeit aufgeblüht. Er gab sich nicht mehr so ernst und verschlossen. Vielleicht vor Fremden, aber nicht unter Freunden. Vielleicht trug auch seine Verbindung mit dem Schlossgeist dazu bei. Auf jeden Fall eine positive Entwicklung.

Shiro stellte das Tablett auf den Tisch zurück. „In der Nähe ist ein kleines Bad, Crimson. Willst du dich kurz frisch machen? Danach kannst du entscheiden, ob du aufstehen möchtest oder dich lieber wieder hinlegst.“

Das brachte ihn wieder zurück zu der Frage, wo er sich befand. Crimson schaute zum Fenster, dann zur Tür. Von einem kleinen Bad wusste er gar nichts, wie konnte das sein?

„Dies ist der Dienstbotenbereich,“ informierte Sorc ihn. „Das Bad war anfangs kaum als solches zu erkennen und auch von Cathys Einflussbereich getrennt, vielleicht ist es dir deshalb nicht aufgefallen. Ich hab's mir hier gemütlich gemacht und die umliegenden Zimmer etwas hergerichtet.“

„Dann... ist das dein Zimmer?“ Darauf hätte er kommen können. Crimson fand im Nachhinein, dass allein das scheinbar ungeordnete Regal quasi den Namen des Bewohners anzeigte. Und nicht zuletzt die Tatsache, dass er sich hier so sicher fühlte. Vermutlich gab es hier überall magische Banne des Bewohners.

„Genau. Ich habe vorgeschlagen, dich hier unterzubringen, weil Gorz immer rumgenervt hat und ich ja auf der Krankenstation das Bett hüten musste. Hier hast du es ruhig und relativ privat.“

„Ja... allerdings. Ich werde mal versuchen, ob ich Gorz beruhigen kann, sobald ich mich gewaschen und umgezogen hab.“

Crimsons erste Schritte aus dem Bett heraus waren unsicher, so als wäre er leicht angetrunken. Aber er fing sich. Insgesamt fühlte er sich gut, was in Anbetracht der Umstände wohl nicht selbstverständlich war. Er ließ sich Zeit und genoss die Tatsache, dass er nicht mehr darauf zu achten brauchte, wann er das nächste Mal zu seinem Kessel musste. Ein bisschen saß ihm noch die Nervosität in den Knochen – er erwischte sich ab und zu dabei, dass er überlegte, was als nächstes zu tun war. Das würde vielleicht auch noch einige Tage andauern.
 

Als Crimson gewaschen, mit noch feuchten Haaren und frisch eingekleidet sein Büro betrat, stellte er fest, dass jemand sehr gewissenhaft aufgeräumt hatte. Sein Kessel blitzte vor Sauberkeit, seine Werkzeuge befanden sich gereinigt darin und die Zutaten ordentlich daneben, alles seitlich aufgereiht. Der Plan für den Trank war nicht mehr da, das Beweismittel für illegale Vorkommnisse beseitigt. Sein Papierkorb sah aus wie neu. Die Möbel standen ordentlich da, wie sonst auch. Die Matratze, die ihm als Schlaflager gedient hatte, befand sich wahrscheinlich wieder in dem dazugehörigen Bett. Auf dem Schreibtisch lagen mehrere Briefe und Notizen mit Hinweisen, um was er sich bald kümmern musste.

Er setzte sich auf seinen gemütlichen Chefsessel und atmete entspannt durch. Da Cathy sich noch gar nicht bei ihm gemeldet hatte, suchte er nun den Kontakt.

Sogleich materialierte sich das Schlussherz auf seiner Seite des Schreibtisches direkt neben ihm. „Ich dachte schon, du hättest mich ganz vergessen vor lauter Erleichterung über deinen gelungenen Trank.“

„Wie sollte ich denn?“ entgegnete Crimson. Er streckte eine Hand aus und berührte Cathys Arm. Seine Finger durchdrangen die durchscheinende Gestalt, doch er merkte, wo Cathy begann, und achtete darauf, nur über die imaginäre Haut zu streicheln. „Jetzt hast du mich schon wieder beinahe verloren. Aber das wird so schnell nicht wieder vorkommen.“

„Das will ich auch stark hoffen!“ Cathy schnaubte nachdrücklich, verschränkte die Arme und schaute nach oben, spielte den Beleidigten.

„Wir sollten einen Stellvertreter bestimmen, falls ich mal wieder ausfalle,“ wechselte Crimson das Thema und sagte bewusst „wir“, denn Cathy musste die Person schließlich auch akzeptieren.

„Warum darfst du Sorc nicht nehmen, nur weil er ein Rehabilitant ist?“ wollte Cathy wissen.

„Ich könnte es trotzdem machen, aber das würde nach außen hin nicht so gut aussehen,“ erklärte Crimson. „Ansonsten wäre er sicherlich nicht die schlechteste Wahl. Schließlich vertrauen wir ihm beide.“

„Warum nimmst du ihn dann nicht?“ beharrte Cathy. „Hast du es nötig, dich nach der Meinung anderer Leute zu richten? Doch wohl nicht, oder? Im Gegenteil, du hast dich immer als der Rebell unter den Magiern verstanden! Wenn das jemandem nicht passt, musst du mit dem Betreffenden gar nicht erst Geschäfte machen.“

„Nun... mir scheint aber, dass Sorc lieber eine Macht im Hintergrund wäre,“ wandte Crimson ein. „Jemand, der dem Schlossherrn und damit auch seinem Stellvertreter helfend zur Seite steht. Außerdem will er sicher nicht, dass es seinetwegen wieder zu internen Streitigkeiten kommt, wenn jemand mit meiner Wahl nicht zufrieden ist.“

„Es gibt hier niemanden mehr, den das stören würde, die hast du ja alle überzeugt. Und wer das nicht kapiert, fliegt halt raus.“

Crimson musterte sein Schlossherz überrascht. „Du meinst das wirklich ernst?“

Cathy verdrehte die Augen. „Nein, ich rede grundsätzlich in Unwahrheiten,“ entgegnete er ironisch. Er runzelte die Stirn, als wäre er selbst von dieser für ihn neuen Ausdrucksweise verwundert.

Die Argumentation des Geistes ging an seinem Herrn nicht spurlos vorbei. „Nun gut... ich werde sehen, wer noch in Frage kommt, und Sorc vorerst in der näheren Wahl behalten.“

„Gut. Und nun mach dich bereit für Gorz, der gerade auf den Weg hierher ist, und zwar ziemlich eilig.“ Cathy schwebte nach oben und verschwand dabei.

Im nächsten Moment platzte Gorz herein.

„Anklopfen wäre nicht schlecht,“ bemerkte Crimson.

Gorz pflätzte sich auf einen der Besucherstühle. „Kann ich wissen, dass hier einer drin ist? Ich wollte halt mal nachsehen!“

„Oh, ich dachte, man hätte dir gesagt, dass ich hier bin.“ Crimson sah die Dokumente durch, die vor ihm lagen. „Ist das der Entwurf von dem Arbeitsvertrag, den du mit Kuro ausgearbeitet hast?“ Das betreffende Schriftstück wirkte schon recht offiziell und war in doppelter Ausführung vorhanden.

„Ich hab den hier liegen gelassen, damit du es endlich unterschreibst, wenn du wieder hier bist. Die anderen haben mir gesagt, du wärst krank.“

„Ja, sozusagen. Ich habe nicht damit gerechnet, tut mir Leid.“

Zu Crimsons Genugtuung wirkte Gorz überrascht. Etwa, weil er sich entschuldigte? Na sowas. Er überflog die einzelnen Punkte. „Also... wie verabredet steht hier, dass du zwar nicht für deine Arbeit bezahlt wirst, aber alles bekommst, was du brauchst. Aha, Onkel Kuro war so schlau zu vermerken, dass du unter meinem Kommando stehst und auch auf das Schlossherz hörst. Nun ja, das versteht sich ja von selbst, nicht wahr? Du bist mein Krieger, übernimmst aber auch andere zumutbare Aufgaben und beteiligst dich an den üblichen Arbeiten, die unter allen Bewohnern aufgeteilt werden... Geschirr wegräumen zum Beispiel.“

Gorz nickte bei jedem Punkt. Er musste den Text ja schon kennen und für gut befunden haben. „Und dann ist da noch geschrieben, dass ich nicht auf Missionen geschickt werden will, wo ich umkomme,“ ergänzte er. „Ich bin Krieger und deshalb Gefahren gewöhnt, aber ich will nicht bei einem Selbstmordkommando mitmachen.“

„Ähm... sowas gibt es bei uns eigentlich auch gar nicht,“ sagte Crimson.

„Nur für den Fall,“ betonte der Unterweltler. „Und wir können den Vertrag kündigen, wenn wir beide damit einverstanden sind oder wenn eine Seite die Regeln verletzt.“

„Genau, ja. Das ist mir auch ganz recht.“

Sie besprachen noch einige Minuten die Einzelheiten, anschließend las Crimson sich noch einmal alles durch, nur zur Vorsicht, und unterschrieb dann. Auch Gorz unterzeichnete die beiden Exemplare des Vertrages und behielt eines.

„Danke sehr,“ sagte der neue Mitarbeiter. „Auf gute Zusammenarbeit.“ Er steckte sein Vertragsexemplar in seine Westentasche und verließ das Büro.

Dabei gab er quasi Olvin gleich die Klinke in die Hand. Oder nein... Vindictus. Der Alte setzte sich auf den Stuhl, den Gorz gerade vorgewärmt hatte. „Ich dachte, wir könnten auch langsam mal vertragliche Einzelheiten ausdiskutieren.“

Crimson starrte den Mann an. „Wow, Ol... Vindictus. Du siehst gut aus... ich meine, für dein Alter. Wie damals auf der Akademie...“

„Hmmmm.“ Vindictus betrachtete seine völlig gewöhnlich aussehenden Fingernägel. „Fühlst du dich ausgeruht, Jungchen?“

„Sollte ich wohl, nach fast einer Woche, oder?“

„Wundere dich nicht, wenn du schneller müde wirst als sonst, aber das normalisiert sich wieder. Komm regelmäßig auf der Krankenstation vorbei und lass dich durchchecken, bis ich was anderes sage. Sagen wir, täglich.“

„Wenn's sein muss.“ Crimson betrachtete es mal als gutes Zeichen, dass der andere sich um seine Gesundheit sorgte. „Na denn... kommen wir mal zum Geschäft. Du möchtest für mich arbeiten, habe ich gehört.“

„Nun, im Prinzip würde sich im Vergleich zu vorher nichts ändern, nehme ich an. Die Arbeit als Heiler gefällt mir,“ sagte Vindictus. „Außerdem brauchst du einen. Nichts gegen Lily, aber ihre magischen Heilerfähigkeiten verblassen gegen meine. Dafür finde ich diese Methode mit den viele Hilfsmitteln interessant. Sie muss viel herumgekommen sein, um das zu lernen. Wir ergänzen uns gut.“

„Schön. Wenn es mit euch klappt, dann machen wir es doch so,“ freute Crimson sich. „Möchtest du auch unterrichten?“

„Bis auf Weiteres könnte ich mir das gut vorstellen, allerdings nur, solange es meine Arbeit auf der Krankenstation zulässt. Wenn du mehr Bewohner bekommst, wird es auch mehr Krankheitsfälle geben, und ich schlage vor, dass wir diese Zimmer, die wir momentan noch als Krankenzimmer nutzen, für diesen Zweck beibehalten. Sie haben sich doch schon hin und wieder als nützlich erwiesen.“

„Ja, dagegen ist nichts einzuwenden. Uhm... hast du deinen Sohn getroffen?“

„Also, diesbezüglich...“ Der alte Magier rieb sich das Kinn. „Ich wollte hier nicht weg, solange du komatös warst, und ich selbst musste auch mit Veränderungen klarkommen, die ich anstrengend fand. Also bat ich ihn, hierher zu kommen. Das Schlossherz von Shiro hat es ihm übermittelt. Er war einverstanden und gerne bereit, sich die Örtlichkeit hier anzusehen, da er dir nicht begegnen konnte. Das wollte er ja nicht, bevor er nicht mit mir ausführlich reden konnte. Wir sind so verblieben, dass ich in einigen Tagen, wenn du und ich alles geklärt haben, zu ihm reise und seine Enkel kennen lerne. Also meine Urenkel, die er in den Briefen erwähnt.“

„Das hört sich doch gut an. Wie lange wirst du weg sein? Lass dir ruhig genug Zeit.“

„Oh... ich weiß nicht so recht...“ Vindictus wirkte unsicher. „Die Kleinen kennen mich nicht und niemand weiß, wie sie reagieren. Und meine Enkel hatten zehn Jahre lang eine schlechte Meinung von mir... sie waren zwar auch schon erwachsen damals, aber Ujat hat ihnen den Umgang mit mir untersagt. Er fürchtete um das Wohl zukünftiger Generationen.“

Crimson fühlte sich schuldig daran, aber Lilys Worte kamen ihm in den Sinn: Vindictus hätte mehr für seinen Ruf kämpfen können. „Warum hat sich Ujat damals von dir abgewandt, statt zu dir zu halten?“ fragte er. „Wenn meinem Vater... also... ich meine ja nur. Nicht dass ich mich rausreden will oder so...“

„Lass nur, du hast ja Recht. Ich habe mich auch darüber gewundert,“ gab der Alte zu. „Ich habe ihn nicht danach gefragt, denn ich will ihm nach all den Jahren keine Vorwürfe machen. Wahrscheinlich spielten da gesellschaftliche Zwänge eine Rolle. In seinen Kreisen ist er ein angesehener Mann, und seine Familie ist sehr geachtet. Das setzt man nicht so einfach aufs Spiel.“

Crimson lag ein Kommentar auf der Zunge, den er sich aber aus Respekt vor dem Älteren verkniff. Statt dessen sagte er: „Nun gut, dann benachrichtige mich einfach, wenn es länger dauert. Ansonsten gehe ich von einer Woche aus.“

„Ja... in Ordnung. Und plane mich vorerst ruhig in den Lehrplan ein, wie du es für richtig hältst. Falls du inzwischen sowas hast wie einen Lehrplan.“

Crimson verzog statt einer Antwort nur vielsagend das Gesicht, und im nächsten Moment mussten beide darüber lachen. Anscheinend kamen sie zu einer recht guten Verständigung, nun da alte Rechnungen zwischen ihnen beglichen waren. Und da die elixierbedingte Hektik der Vergangenheit angehörte, musste der Direktor dieser noch recht unscheinbaren Schule endlich wieder seine Pflicht tun.

„Ich werde mich darum kümmern,“ versprach Crimson. „Und ich glaube, das wird mir tatsächlich Spaß machen...“

Bestandsaufnahme

Am Tag seines Erwachens befasste Crimson sich eine Weile mit Aufgaben in seinem Büro, machte sich dann aber auf den Weg, um seinen Turm zu besichtigen. Oder was davon übrig blieb. Die oberste Etage samt Dach fehlte komplett und das Stockwerk darunter stand noch teilweise – ein Stück der Wand existierte hier und da noch, und der Türbogen zur Hälfte. Hier hatte sich sein Zutatenlager befunden, deshalb konnte er den größten Teil seines Bestandes abschreiben. Die Sachen lagen noch zwischen den Trümmern, jedoch verunreinigt, ausgetrocknet, verwelkt oder schlicht und einfach nicht mehr klar definierbar. Ein paar Substanzen, die in fester Form vorkamen, ließen sich noch zusammensuchen, und das ein oder andere kleine Töpfchen hatte das Unglück wundersamerweise heil überstanden. Aber insgesamt fand er eine alchemistische Katastrophe vor. All seine Kessel, Möbel und Werkzeuge mussten wohl in der Umgebung des Schlosses verstreut liegen.

Er sammelte zusammen, was noch brauchbar war, und machte sich seufzend an den Abstieg. Um diese Baustelle musste er sich auch bald kümmern. Da er gerade bei Baustellen war, begab er sich auch gleich in den Keller, um nachzusehen, ob das große Bad zu benutzen war. Das kleine fand er zwar auch gut, aber er vermisste das große Becken, und ins Meer traute er sich momentan noch nicht. Schon nach mehreren Treppen fühlte er sich erschöpft – das musste Vindictus wohl gemeint haben, als er erklärte, dass er früher ermüden konnte als sonst.

Auf halbem Wege zum Bad begegnete ihm Yugi, der gerade nach oben wollte, aber sein Vorhaben wieder änderte. „Hallo, Crimson! Gut, dich wohlauf zu sehen!“ strahlte der Junge ihn an. „Yami und ich müssen bald wieder nach Hause, da hatten wir schon befürchtet, dich gar nicht mehr zu Gesicht zu bekommen.“

Der Magier blieb am Ende der Stufen stehen und lächelte auf Yugi herab. Ganz so klein wie früher war er nicht mehr. „Ich bin auch froh, dass du noch da bist. Wie kann ich dir nur danken Yugi? Und was mache ich, wenn du meine Angelegenheiten nicht mehr organisierst?“

„Ach, ähm...“ Yugi kratzte sich am Hinterkopf und bekam rote Bäckchen. „Das hat mir Spaß gemacht. Aber ich wüsste was, wie du mir danken könntest.“

„So? Immer raus damit.“

„Kann ich deine alten Schulbücher haben und mit in meine Welt nehmen? Ich hab ja da keinen Lehrer.“

Crimson lachte. „Wenn's weiter nichts ist! Ich müsste die nur aus dem Kristallschloss holen... zumindest hoffe ich, dass sie noch da sind, aber wie ich Paps kenne, hat er sie archiviert.“

„Das wär super. So für den Anfang.“

„Ich glaube, das Anfängerstadium hast du schon hinter dir, aber um das Wissen zu festigen, kann so ein Buch wie 'Grundlagen der magischen Künste' oder sowas nicht schaden. Ich guck mal, ob ich sonst noch was finde, das du gebrauchen könntest.“

„Danke, aber vergiss nicht, dass du auch hier Bücher für Anfänger benötigst.“

„Ach, dann besorge ich mir später eine neue Kopie.“

Sie setzten sich wieder in Bewegung.

„Wolltest du ins Bad?“ fragte Yugi.

„Ja... kommst du von da? Wie sieht es denn da aus?“

„Oh... wir haben versucht, ein bisschen Ordnung rein zu bringen, aber... na gut, siehst du ja dann.“

„Eigentlich hatte ich das ja Sorc und Eria aufgetragen.“

„Die haben auch geholfen.“ Yugi erreichte die Tür als Erster und blieb davor stehen. „Uhm... nicht böse sein, okay? Wir haben uns wirklich Mühe gegeben, aber naja...“

Crimson ahnte Schlimmes. Aber was konnte schlimmer sein als das, was hier nach Sorcs Kampf gegen Eria übrig geblieben war?

Yugi schob die Tür auf und ließ Crimson eintreten. Drinnen herrschte eine so tiefe Dunkelheit, dass selbst ein Finsternismagier nur erahnen konnte, wohin er trat, als erschuf er ein Licht. Seltsam, normalerweise konnte er im Dunkeln sehen.

Die Dunkelheit wich vor seinem Lichtzauber zurück und enthüllte zahlreiche Anwesende. „Überraschung!“ Seine Schüler standen in der Mitte des Raumes versammelt, ebenso Yami, Kuro, Mad, Neo, Mava, Cross und Atria.

Während Crimson starrte, tauchte Cathy auf. „Ich war sehr dafür, dass mal etwas in Gang kommt, also habe ich angeordnet, dass die Schatzkammer einen Nutzen erhält. Sonst staubt das Gold noch ein.“

Der Nutzen bestand offenbar in einer neuen Einrichtung. Staunend nahm Crimson die hellen Farben zur Kenntnis, die allein schon dem Raum das verließartige Aussehen nahmen, das ihn die ganze Zeit gestört hatte, weil er ja bei seinem ersten Bad hier ein Gefangener gewesen war. Alle gingen zur Seite, damit er sich umschauen konnte.

Yami räusperte sich. „Das Design habe ich entworfen. Ich hoffe, es ist dir recht.“

„Unschlagbar,“ murmelte Crimson und drehte sich, um sich einen Überblick zu verschaffen. Erstmal herrschte die Farbe von Sand vor. Alles war mit Fliesen und Kacheln in diesem Ton verkleidet. Und es sah eindeutig ägyptisch aus, mit Malereien und Mustern an den Wänden und einer viertel Ziersäule in jeder Ecke. Becken mit Feuer sorgten dekorativ für Licht, aber das Feuer war magisch und rußte nicht. Es wurde von der Magie des Schlosses gespeist. Die Regale für Handtücher und Bademäntel sowie die Ablagen für Kleidung bestanden aus edel aussehendem, etwas dunklerem Holz, und es gab zwei Wäschekörbe, die einer ägyptischen Vase nachempfunden waren. Yami hatte auch daran gedacht, die Ecke, in der sich Badende erst einmal etwas abseifen sollten, damit sie nicht all ihren Dreck in das Becken trugen, freundlicher gestaltet wurde, so dass sich auch alle wirklich daran hielten. Crimson wusste, dass besonders Rosi und Saambell das Problem noch nicht so richtig verstanden hatten und meistens direkt baden gingen. Andere hielten es manchmal aus Faulheit so, da machte er sich gar keine Illusionen. Aber wenn es mehr Schüler wurden, ging das bald nicht mehr.

An der hinteren Wand, direkt in der Mitte, fiel Crimson eine bestimmte Gestalt neben anderen seitwärts dargestellten Personen und Tieren auf. „Unverkennbar Yamis Handwerk.“ Bei dem dargestellten Individuum handelte es sich nämlich um einen Pharao mit abstehenden, dreifarbigen Haaren. Daneben gab es Darstellungen von verschiedenen Duel Monstern, unter anderem einem Schwarzen Magier, mehreren Drachen und einem Krieger, der Black Luster sein konnte. In dem ägyptischen Stil sahen alle etwas verfremdet aus, zumal der Künstler sich entschieden hatte, keine Farben zu benutzen, sondern lediglich mit verschiedenen Brauntönen zu arbeiten, was gut zum Gesamteindruck passte. So sah man auch nicht, ob der Magier Crimson oder Dark sein sollte.

In den Boden eingearbeitet war etwas, das wie ein Magiesiegel aussah – genau in der Mitte der Bodenfläche und mit etwa zwei Metern Durchmesser. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Crimson, dass sie sein Effektsiegel nachgemacht hatten. Er selbst wusste gar nicht so genau, wie es aussah, weil er es auf dem Rücken trug. Aber die Zeichen stammten aus Ägypten, also passte es hierher. Er staunte, wie dekorativ es wirkte, wenn es so benutzt wurde. Zuerst fragte er sich, wie jemand das genaue Aussehen kennen konnte, aber Cathy musste es natürlich wissen. Und Dark sicherlich auch, aber den hatte er heute noch gar nicht gesehen.

„Dass ihr das in so kurzer Zeit geschafft habt...“ Crimson konnte es kaum glauben.

„Naja, wir hatten schon vor zwei Wochen angefangen, allerdings kam uns dein Ausfall natürlich in gewisser Hinsicht gelegen... wir konnten heimlich die Kacheln und das alles liefern lassen und Leute engagieren, die die groben Arbeiten erledigten,“ erklärte Yugi. „Unser Pharao hatte die Entwürfe bereits fertig und kümmerte sich um die Bilder. Er malt ganz gut auf Stein.“

„Hm, ich konnte mir nur nicht verkneifen, mich da mit zu verewigen,“ gestand Yami.

Die Gruppe lachte ausgelassen. Crimson gefiel das auch ganz gut so, dann konnte er sich noch besser daran erinnern, wem er das neue Aussehen zu verdanken hatte.

„Also, nehmen wir ein Bad, wenn wir schon hier sind?“ fragte Milla eifrig.

„Wird das nicht etwas voll?“ gab Dharc zu bedenken.

„Müssen wir eben rücken,“ meinte Veiler.

An dieser Stelle klinkte Cross sich aus. „Ich habe noch zu tun, später kann ich auch noch baden.“

„Ich gehe mit ihm mit,“ beschloss Atria.

Crimson vermutete, dass sie ihn derzeit überall hin verfolgte.

Auch Kuro verlegte sein Bad auf später. Die restliche Gruppe hingegen fing an, sich der Kleider zu entledigen und sich Wasser überzuschütten. Selbiges floss durch das Bewässerungssystem stetig in eine kleine Steinwanne nach, aus der man mit Eimern schöpfen konnte.

„Ist das Seife von Lord Genesis?“ Crimson wendete das Stück in seiner Hand.

„Wir ham' ihn um 'ne Lieferung gebeten,“ grinste Fire. „Er war extrem hilfreich.“

Crimson nickte und seifte sich großzügig ein. Als er sich abspülte, stellte er fest, dass Yami sich nur zögerlich beteiligte und Yugi einen hochroten Kopf bekommen hatte. „Hey, ist alles in Ordnung?“

„Naja,“ druckte Yugi. „Bei uns daheim ist es nicht üblich, dass Männer und Frauen zusammen baden. Jedenfalls nicht nackt.“

Crimson blinzelte verwirrt. „Das musst du mir erklären. Wir waschen uns doch nur.“

„Nun ja... es gibt öffentliche Bäder, wo man schwimmen kann, oder heiße Quellen, so genannte Onzen. In den Quellen ist man nackt, aber es gibt abgeteilte Bereiche für Männer und Frauen. In den Schwimmbädern zieht man sich getrennt voneinander um, und dann schwimmen alle zusammen, haben aber extra Badekleidung an.“

„Naja... auf lange Sicht können wir hier auch eine Trennung einführen, sobald mehr Schüler da sind. Aber wir kenne uns doch alle,“ sagte Crimson schulterzuckend. „Stört es dich?“

„Naja, nein... nicht wirklich.“

„Wir haben zusammen gegen den ollen Feind da draußen gekämpft, da ist mir das eigentlich alles egal,“ verkündete Eria. Sie stieg auch gleich als Erste in das Becken.

„Ich bin das nur nicht gewöhnt,“ murmelte Yugi.

„Hey, wie lange biste jetz schon hier?“ neckte Fire ihn und kippte ihm einen Eimer Wasser über. „Hier, nimm die Seife. Ich weich mich schonmal ein.“

Im Becken wurde es eng. Es eignete sich für mehrere Personen, aber die Obergrenze für Bequemlichkeit lag ungefähr bei acht. Die Badenden amüsierten sich. Veiler musste seine Flügel so hinbiegen, dass sie über den Rand ragten.

Crimson stellte fest, dass im Becken sandfarbener Marmor eingesetzt worden war, denn der blieb im Wasser unbeschadet und hatte eine glatte Oberfläche, die für die Haut angenehmer war als der Sandstein an den Wänden.

Rosi und Saambell gaben sich besonders klug – sie stiegen kichernd in die Schöpfwanne, wo sie gerade so zu zweit hinein passten. Das war zwar nicht so gedacht, aber niemand beschwerte sich heute – zumal so die übrigen mehr Platz hatten.

Milla und Eria bemerkten Fires Tattoo, was eine Welle von Besichtigungen solcher Körperverzierungen auslöste. Crimson musste sich der Begutachtung seines Rückens stellen, dann auch Yugi.

„Warum haben das alle Männer immer auf dem Rücken?“ wollte Milla wissen.

„Naja, Crimson konnte sich das nicht aussuchen, jemand hat ihn dazu gezwungen, wie ihr wisst,“ erklärte Eria.

„Bei mir ist es auch ohne mein Zutun so gekommen... ich hab lediglich zugestimmt,“ sagte Yugi.

„Auf'm Rücken is einfach viel Platz und die Weiber finden's geil,“ erläuterte Fire.

Eria verdrehte die Augen und wandte sich von ihm ab. „Eingebildeter Schnösel.“

Fire schien zu einer Erwiderung anzusetzen, blieb dann aber doch stumm und lächelte statt dessen nur überheblich.

Cathy hatte sich inzwischen wieder zurückgezogen, aber Crimson spürte noch seine zufriedene Präsenz in dem Raum.
 

Nach der gelungenen Überraschung im Bad und angemessenen Aufräumarbeiten im Anschluss an das große Planschen kehrte Crimson gut gelaunt in das ebenerdige Geschoss seines Schlosses zurück und begab sich erst einmal zur Krankenstation, damit Vindictus seinen Willen bekam.

Der nun offizielle Heiler von Schloss Lotusblüte lotste ihn auf die Behandlungsliege und kletterte auf einen Stuhl, um seinem Patienten eine Standarduntersuchung angedeihen zu lassen. Er betrachtete mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck Crimsons rechte Hand, der man nicht mehr ansah, dass er sich da geschnitten hatte. Danach legte er zwei Finger auf das Handgelenk und schloss konzentriert die Augen.

Es dauerte zu lange, um einfach zur eine Überprüfung des Pulsschlags zu sein. Crimson konnte spüren, wie Magie durch seinen Körper wanderte. Ein erfahrener Heilmagier konnte durch die bloße Berührung der Haut an einer beliebigen Stelle den ganzen Menschen untersuchen. Eigentlich baten sie dafür um Erlaubnis, das zumindest hatte Crimson auf der Akademie gelernt. Dies hatte einen einfachen Grund: Heilmagie konnte ebenso zerstören wie heilen, was aber viele nicht wussten. Jedoch hielt Vindictus es zumindest in seinem Fall offenbar anders, aber es machte Crimson nichts aus.

„Du musst wohl heute schon aufregende Sachen erlebt haben,“ stellte der Alte fest. „Das schadet nicht, aber sei noch etwas vorsichtig.“

Der Schlossherr nickte brav. „Ich habe nur etwas Bestandsaufnahme gemacht, könnte man sagen.“

„Nana... ich weiß von Yugis Plänen,“ teilte Vindictus ihm mit. „Der Junge kann gut organisieren, der wird hier sicherlich eine Lücke hinterlassen, wenn er geht. Aber jetzt hast du ja selber wieder Zeit. Bin schon gespannt, was du erreichst.“

„Uhm... sag mal, Vindictus, würdest du mein Stellvertreter sein wollen?“ fragte Crimson ihn spontan.

„Nun übertreib's mal nicht,“ grummelte der Heiler. „Auf meine alten Tage will ich mich nicht mit unnötig vielen Aufgaben oder zu viel Verantwortung belasten. Ich werde hier als Heiler arbeiten, was ja fast schon ein Hobby für mich ist, ein bisschen unterrichten und mich um meine Familie kümmern.“ Er ließ Crimsons Handgelenk los und starrte für einige Sekunden nachdenklich vor sich hin. „Trotzdem... ich fühle mich geehrt, weil du fragst. Aber ich dachte, dafür würdest du den Chaoshexer wollen.“

„Schon... aber er ist Rehabilitand und lehnt den Job deshalb ab.“

„Der will den Job, da wette ich drauf. Tief im Inneren will er ihn. Als wir angegriffen wurden und du nicht da warst, hat er so gehandelt, als wäre er verantwortlich, und wir alle folgten ihm widerspruchslos. Wenn er will, strahlt er eine Autorität aus, die anderen auch in nachteiligen Situationen Sicherheit gibt. Insofern wäre er nicht die schlechteste Wahl.“

Crimson musste lachen. „Und das von dir, der du ihn für einen Idioten hältst.“

„Ich glaube, es ist besser geworden,“ räumte Vindictus ein. „Zumindest denkt er darüber nach, bevor er idiotische Sachen von fundamentaler Tragweite macht. Idiotisch ist es trotzdem.“

„Mein Stellvertreter zu sein würde ihn zu deinem Vorgesetzten machen.“

„Hier auf der Krankenstation habe immer noch ich das Sagen. Jetzt sogar wirklich.“

„Was sagt Lily dazu?“

„Wir kommen uns nicht in die Quere.“

„Na dann.“ Crimson überließ es Vindictus, sich mit der Fee zu einigen, Anscheinend kamen sie ja schon gut zurecht.

Als er bei seinem Heiler fertig war, teilte Cathy ihm mit, dass er im Büro erwartet wurde, also führte ihn sein nächster Weg dorthin. Und noch eine Überraschung wartete auf ihn.
 

Als Crimson sein Büro betrat, erfasste sein Blick zuerst Sorc, der ihm mit offensichtlicher guter Laune entgegen blickte und dann einen Schritt zur Seite machte, so dass auf einem der Besucherstühle Ray sichtbar wurde.

Der Blonde stand auf und ging ihm entgegen. „Crimson! Lass dich drücken!“ Er schloss den schmaleren Magier in die Arme und drückte ihm regelrecht die Luft ab, aber Crimson ließ es sich gerne gefallen.

Als er endlich wieder atmen konnte, betrachtete er Ray und stellte fest, dass er sehr gesund aussah. „Du hast die Krankheit überstanden, wie mir scheint.“

„Natürlich. Es war nur eine Frage der Zeit,“ lächelte Ray. „Aber ich habe erst kürzlich von dem ganzen Drama erfahren, das sich hier abgespielt hat. Du wolltest dich wirklich für mich opfern? Mach das ja nie wieder.“

„Aber... wegen mir warst du in dieser Situation...“

„Als Prinz der Eisigen Inseln bin ich für jede meiner Situationen selbst verantwortlich.“

Sorc legte ihm von hinten eine Hand auf die Schulter. „Nun erzähl Crimson lieber mal, was du noch erfahren hast.“

Crimson lotste die beiden zu der Sitzecke mit den grünen Sesseln, damit sie nicht im Stehen reden mussten, falls es länger dauerte. Sie gruppierten sich um den kleinen Tisch. Das Möbelstück wies einen Fleck auf, der wohl von einem Kleckser seines Elixiers stammen musste. Jedenfalls war er ihm vorher nie aufgefallen.

„Die Magier des Grauen Gipfels haben mich vor zwei Tagen gehen lassen und mir dafür einen ihrer Felsendrachen geliehen,“ erzählte Ray. „Während meiner Genesung durfte ich auch schon aufstehen und traf die beiden Frauen, die dir die Steine bringen sollten. Sie erzählten mir, was mit ihnen passiert ist. Shazera, die ältere, geriet in die Gefangenschaft einer unbekannten Gruppe von Unterweltlern, die sie als Geisel hielten und ihre Nichte Jazella zwangen, dir diese haarsträubende Geschichte zu erzählen. Jazella sagte, sie hatte gehofft, dass du nicht darauf hereinfallen würdest, aber sie konnte dich nicht deutlicher warnen. Die Geiselnehmer ließen sie ein magisches Artefakt tragen, um zu überwachen, was sie dir sagt. Aber letztendlich dachte sie, dass sich schon alles aufklären würde – sie wusste ja nicht, was du hier für ein Zeitproblem hattest.“

Über diese Sache hatte Crimson sich gar keine Gedanken mehr gemacht. „Die beiden wurden dann aber wieder freigelassen?“

„Ja, aber erst, nachdem du schon längst unterwegs warst, logischerweise. Wir haben uns lange darüber unterhalten und konnten uns das nicht erklären, bis ich hier eintraf und erfuhr, was hier los war. Wahrscheinlich wollte dich jemand von deinem Schloss weglocken.“

„Aber woher wussten die, dass generell niemand zu Hause war?“ wunderte Crimson sich.

„Sie können das Schloss beobachtet haben,“ warf Sorc ein. „Ich glaube jedenfalls nicht an einen Zufall. Jemand hat das genau geplant. Etwas umständlich vielleicht, aber solche Pläne sind manchmal die besten. Vielleicht hat derjenige auch einfach die Gelegenheit ergriffen – wenn man es wusste, bot sie sich ja geradezu an.“

„Das werden wir wohl nie erfahren,“ seufzte Crimson.

„Wir haben Gorz gefragt, und er sagte, dass er schon ein paar Tage auf seinen Einsatz gewartet hat,“ führte Sorc weiter aus. „Wahrscheinlich wäre auf alle Fälle ein Angriff erfolgt, aber wir haben es ihnen besonders leicht gemacht. Was wir noch immer nicht wissen, ist der Grund für den ganzen Aufwand. Offenbar sollten du und ich getötet werden, Crimson. Aber warum? Um das Schloss zu erobern? Niemand weiß es.“

„Auf jeden Fall wurden die Söldner mit einem Schatz gelockt, an dem sie sich hier bedienen sollten, wenn die Eroberung gelungen wäre,“ gab Crimson wieder, was er von Gorz wusste.

„Es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen,“ winkte Sorc ab. „Der Feind hat sein Ziel nicht erreicht. Vielleicht wird er es wieder versuchen. Wir müssen uns einfach besser vorbereiten.“

„Kannst du dich darum kümmern?“ fragte Crimson ihn.

„Natürlich. Du hast mich ja mit der Sicherheit betraut,“ antwortete Sorc sofort. „Habe ich freie Hand?“

„Sicher. Du würdest nichts tun, was dem Schloss oder einem seiner Bewohner schadet.“

„Jetzt bin ich gespannt, was der Chaoshexer hier erreicht,“ neckte Ray sie beide. „Wundere dich nicht, Crimson, wenn dann hier seltsame Dinge vorgehen.“

„Noch seltsamere als sonst?“ Darauf freute Crimson sich direkt schon.

Sorc rieb sich die Hände. „Es gibt noch ein paar Sachen, die ich schon immer mal ausprobieren wollte. Magische Fallen, Schutzbanne...“

Ray warf erst ihm einen zweifelnden Blick zu, dann Crimson. „Bist du sicher, dass du dir das antun willst?“

„Das geht schon,“ meinte der Weißhaarige schulterzuckend. „So muss ich mich jedenfalls nicht damit beschäftigen, sondern kann mich auf die Schulangelegenheiten konzentrieren.“

„Guter Ansatz,“ nickte Sorc. „Aufgaben delegieren. Dazu bist du ja der Schlossherr.“

Zum ersten Mal seit Wochen konnte Crimson sich wieder in diesem Titel und der damit einhergehenden Autorität sonnen. „Ja. Ich muss nicht alles selber können. Wie praktisch!“

Ein kurzes Schweigen entstand, dann fragte Ray: „Gedenkst du eigentlich, Mutter zu erzählen, dass deine Seele an das Schloss gebunden ist, Bruderherz?“

„Nö, das überlasse ich dir. Falls Iquenee es nicht schon mitbekommen hat.“

„Bestimmt nicht, sonst wäre Mutters schon hier. Nicht jeder merkt es. Vielleicht wäre es mir auch nicht aufgefallen, wenn du das Thema nicht selber angesprochen hättest.“

Sorc grinste schief. „Du solltest es schon wissen, schließlich bist du der Nächste in der Rangfolge. Mein Anspruch dürfte sich damit endgültig erledigt haben.“

„Verlass dich nicht drauf. Mutter könnte aus Trotz den Herrschaftssitz hierher verlegen. Dann kannst du sozusagen aus der Ferne herrschen,“ drohte Ray.

„Ach was,“ winkte Sorc ab. „Es gibt genug Alternativen, sie braucht mich nicht.“

„Warte es ab. Bis auf Weiteres lebt sie ja noch, und das wird sicher eine Weile so bleiben.“

„Warum weigerst du dich so beharrlich, die Thronfolge anzutreten?“ fragte Crimson seinen Gefolgsmann.

Sorc seufzte. „Herrschen ist unflexibel. Alle denken immer, das ist das große Los, aber es gibt so viele Regeln... Richtlinien, an die ich mich halten müsste, Termine, Benimmregeln... Ich bin ein Vertreter des Chaos. Das Leben bei Hof wäre nichts für mich, das war es früher schon nicht, obwohl wir ein super Schloss haben auf den Inseln.“

„Aber ich muss das dann mögen oder was?“ klagte Ray. „Naja, ich war schon immer besser geeignet, das stimmt allerdings. Iquenee ist auch keine so gute Kandidatin, sie regelt gerne alles mit Gewalt. Aber das werden wir noch sehen – vielleicht erbt eines deiner Kinder, Sorc.“

„Glaube ich nicht.“

„Wie auch immer... ich glaube, der Direktor hat was mit dir zu besprechen. Entschuldigt mich.“ Ray erhob sich und ging aus dem Raum.

Crimson hätte damit auch noch warten können, aber wenn sich auf diese Weise die Gelegenheit ergab, beschwerte er sich ganz sicher nicht.

Doch Sorc kam ihm zuvor. „Ich weiß, was du willst. Denk gut darüber nach. Los wirst du mich eh nicht mehr.“

„Ja, eben,“ nickte Crimson. „Dann kannst du auch gleich mein Vertreter sein. Cathy will das so, und auch Vindictus hat dich empfohlen... sozusagen. Ich habe sonst niemanden gefragt, aber im Prinzip wäre es auch das, was ich mir wünsche. Bei dem Angriff hast du ja quasi schon so gehandelt, als hättest du den Job.“

„Es gab ja sonst niemanden...“ begann Sorc, dann begriff er wohl selber, dass sich seither nicht viel daran geändert hatte.

„Du hast die nötigen Fähigkeiten und die Erfahrung dafür,“ argumentierte Crimson. „Dein Führungsstil ist auch nicht schlecht. Vindictus erwähnte, dass sie dir alle willig gefolgt sind, als du das Kommando übernommen hast.“

„Aber... ich bin hier nur als Rehabilitand! Sicherlich bin ich für so eine Position nicht geeignet...“

Crimson spürte, dass der andere mit sich rang. „Es steht nicht in den Regeln, dass du sowas nicht darfst. Zwar darfst du keine Waffen benutzen ohne Genehmigung, und wahrscheinlich ist es nicht üblich, an Rehabilitanden verantwortungsvolle Aufgaben zu vergeben, aber das hindert mich nicht daran. Cathy hat Recht, ich sollte nichts auf die Meinung anderer geben, wenn ich mit dieser Entscheidung gut leben kann.“

„Dann... kann ich damit auch gut leben,“ gab Sorc nach und lächelte erleichtert.

„Gib's zu, du hast dir die Position gewünscht,“ grinste Crimson.

Sorc hob beschwichtigend die Hände. „Ja, ja, ich kann es nicht abstreiten. Danke, Crimson.“

„Nicht dafür. Du wirst Arbeit genug haben.“

„Ähm, bezüglich der Waffen... du hast nicht protestiert, als du gesehen hast, dass ich Schwerter bei mir führe. Darf ich das als stillschweigende Erlaubnis deuten?“

„Sicherlich. Wenn sich jemand deswegen beschwert, schick ihn nur zu mir.“

Crimson lehnte sich in seinem Sessel zurück mit dem Gefühl, nun wieder alles unter Kontrolle zu haben oder in kompetenten Händen zu wissen. Kaum zu glauben, was ihm alles in einem Monat passiert war, aber er beschwerte sich nicht, sondern verbuchte die Geschehnisse als lehrreiche Erfahrungen. Mit Sorcs Ernennung zu seinem Stellvertreter kam auch Frieden in seine Gedanken, denn er musste sich nun nicht mehr den Kopf über das Thema zerbrechen und wusste den Älteren als starken Helfer an seiner Seite. Auch Cathy zeigte sich zufrieden mit der Entwicklung, und da sie sich nun alle drei einig waren, stand einer erfolgreichen Zusammenarbeit nichts mehr im Weg. Jedenfalls nichts, das sie nicht überwinden konnten.

Prophezeiung aus dem Tee

Und rückblickend?

Rückblickend bereue ich es nicht, mich mit Vindictus verbunden zu haben. Es mag dumm erscheinen, zumal es vielleicht schlauer gewesen wäre, ihn schlicht und einfach rauszuschmeißen. Das wäre mir schon irgendwie gelungen, nachdem ich wusste, nach wem ich suchen muss. Aber das hätte meine Schuld nicht getilgt und seinen Rachedurst nicht gestillt.

Vielleicht wird mein Leben wirklich verkürzt, weil ich es mit jemandem teile. Aber so wie ich das sehe, sind das alles Gerüchte, in die Welt gesetzt von Leuten, die es nie ausprobiert haben. Was ist denn das Leben? Ein Fluss von Energie, in dem wir uns alle befinden. Kann man einen Fluss, einen Strom oder das Meer vorhersagen? Kann man genau wissen, wie die Gezeiten sich verhalten werden? Eben. Und deshalb werde ich am Ende meines Lebens auch nicht wissen, ob es länger gewesen wäre, wenn ich Vindictus nicht erlaubt hätte, aus ihm zu schöpfen.

Ganz davon abgesehen kommt es ja auch weniger darauf an, wie lange man lebt, sondern nur darauf, wie man seine Zeit nutzt. Jemand kann sein ganzes langes Leben verschwenden oder ein kurzes voll auskosten. Indem ich Verantwortung für meine Fehler als junger Bursche übernahm, hatte ich das Gefühl, etwas richtig zu machen.

Und ich sah mich jeden Tag bestätigt, wenn ich beobachtete, dass es dem alten Mann besser ging und auch er wieder Freude am Leben hatte. Wir wurden so etwas wie Freunde, und das bedeutete mir viel. Es war schon eine seltsame Freundschaft, aber ich möchte sie nicht mehr missen.
 

Zwei Wochen nach der Ernennung meines Stellvertreters ereignete sich die folgende Szene.

Ich grübelte über dem neuen Stundenplan im Zusammenhang mit zwei weiteren Lehrkräften, die eingestellt werden sollten, als es an der Bürotür klopfte und gleich darauf Vindictus eintrat, ohne auf meine Antwort zu warten. Er strahlte mich an, aber ich fand, dass seinem Gesichtsausdruck eine gewisse Ironie innewohnte an diesem Tag.

„Ich möchte dir jemanden vorstellen, Jungchen.“

Hinter ihm trat ein weiterer Mann ein, ebenfalls ein älteres Semester und vielleicht einen Kopf kleiner als ich, aber dazu ziemlich dünn, so dass er groß wirkte. Er trug eine schlichte, rotbraune Robe und einen ordentlichen, grauen Vollbart. Der hohe Haaransatz betonte die dunklen Augen und den strengen Blick. Ich musste mir unwillkürlich vorstellen, dass er ein Mitglied in irgendeinem altehrwürdigen Magierrat war. Ich erhob mich von meinem Stuhl, um ihn angemessen zu begrüßen.

„Das ist mein Sohn Ujat,“ sagte Vindictus.

Oha. Also rang er sich wohl letztendlich doch dazu durch, mit mir zu reden. „Ähm... freut mich.“ Ich reichte ihm nicht die Hand, denn er hielt seine beiden demonstrativ in den weiten Ärmeln seiner Robe zusammen. Auch gut.

Ujat neigte höflich das Haupt. „Ich bewerbe mich auf Empfehlung meines Vaters um eine Anstellung als Lehrer für Wahrsagerei, Siegelmagie und Runenlehre. Er meinte, Ihr bräuchtet noch kompetente Mitarbeiter.

„Oh... Ach so, ja, das stimmt.“ Ich war nicht davon überzeugt, ob ich die Idee mögen sollte, aber die Schule ging vor meine privaten Belange. „Also heißt das, Ihr könnt hellsehen?“

Ujat seufzte, als hätte er diese Frage heute schon oft gehört. „Hellsehen ist so ein primitiver Begriff. Was Ihr meint, Direktor, ist, ob ich Visionen oder Träume habe, ob Gegenstände zu mir sprechen, die vor kurzem jemand berührt hat, oder ob ich einfach Dinge weiß, nur weil ich mit einer Person die gleiche Luft atme. Nicht wahr?“

„Ähm, ja,“ musste ich zugeben, wobei in meinen Gedanken prompt ein Bild von Ray auftauchte, der aber eher eine schwache Gabe besaß. Wollte ich jemanden um mich haben, der in diesen Dingen stark war?

„Visionen und Träume sind zu unzuverlässig und lassen zahlreiche falsche Deutungen zu,“ erklärte Ujat in belehrendem Tonfall. „Auch Handlesen ist... fragwürdig, aber es liefert manchmal gute Antworten. Jedoch verändern sich Handlinien nicht oft, daher kann man aus Händen bestenfalls das grobe Schicksal einer Person lesen. Ich hingegen befasse mich beispielsweise mit Sichtungen in der Kristallkugel, Pendelbefragungen und Kartenlegen – also handfesten Dingen, mit denen ich arbeite, um die gewünschte Information zu erhalten. Auch lese ich aus Teesätzen, aber diese bringen meistens zufällige Dinge ans Licht.“

Ich nickte mal, fand es aber seine Methoden nicht viel glaubhafter als irgendeine Vision, die jemand im Schlaf bekam. „Könnt Ihr mir ein Beispiel vorführen? Hier... oh, meine Tasse ist noch halb voll. Aber die dort hat Sorc vorhin hier stehen lassen.“

Er zögerte, das Gefäß von mir entgegen zu nehmen. „Eigentlich sollte der Betreffende vorher gefragt werden, bevor ich möglicherweise vertrauliche Sachen herausfinde.“

„Das geht schon in Ordnung,“ versicherte ich.

Ujat wirkte nicht überzeugt, vertiefte sich aber in die leere Tasse. Inzwischen trank ich meine aus, dann konnte er sich vielleicht anschließend mit ihr befassen. Neugierig war ich ja schon.

Vindictus arbeitete sich inzwischen auf einen der Besucherstühle. Vielleicht sollte ich extra für ihn an allen Sitzmöbeln eine Sprosse anbringen lassen, die ihm half, aber ich wollte auch nicht, dass er sich veralbert fühlte.

Sein Sohn runzelte die Stirn. Mir schwebten zwei Gründe dafür vor: Erstens, er konnte nicht wirklich etwas in den nassen Teekrümeln erkennen. Zweitens, er sah gerade etwas Besorgniserregendes.

Schließlich stellte er die Tasse zurück auf meinen Schreibtisch und schwieg für einige Sekunden. „Manchmal denke ich, dass ich nicht preisgeben sollte, was ich sehe, obwohl die Person vorbereitet sein sollte... allerdings führt gerade das Wissen um eine Gefahr manchmal dazu, dass etwas geschieht. Das ist das typische Dilemma des Wahrsagers.“ Er seufzte. „Nun denn. Dem Benutzer dieser Tasse steht ein Schicksalsschlag bevor, ein schwerer Einschnitt in sein Leben.“

Oh, wie überraschend. Sagten diese Leute das nicht immer? Dennoch wagte ich es nicht, meine Zweifel offen zu zeigen. „Stirbt jemand aus seiner Familie?“

„Uhm... nun... nein, es betrifft ihn selbst,“ druckste Ujat herum, sagte anscheinend nicht alles. „Darf ich Eure Tasse sehen? Es ist jemand, der Euch nahesteht, nicht wahr, also vielleicht kann ich darin etwas Passendes erkennen.“

Ich schob sie ihm hin und beobachtete, wir er sie in den Händen drehte und wendete.

„Ah... auch auf Euch kommt eine harte Prüfung zu, also hängen beide Ereignisse möglicherweise zusammen,“ stellte Ujat fest.

Ich hob eine Augenbraue. „Welche Art von Prüfung? Ein Kampf zwischen Magiern?“ Das lag ja gerade hinter uns, aber der unbekannte Feind meldete sich vielleicht zurück.

Ujat schüttelte den Kopf. „Nein, nicht diese Art. Ich will das mal mit einer Schmiede vergleichen, in der Schwerter hergestellt werden. Manchmal repariert ein Schmied ein Schwert, das beschädigt wurde, aber nicht immer gelingt es – denkt an eine abgebrochene Klinge. Manchmal kann aus dem Metall etwas Neues werden, und manchmal wird es komplett unbrauchbar. Euer Freund ist das Schwert. Er muss durch ein Feuer gehen, um in anderer Form daraus hervor zu gehen. Ihr, Crimson, müsst ihm dabei helfen, ihn mit Eurer Kraft formen. Ihr seid der Schmied.“

„Das... wird mir ein wenig zu kryptisch,“ rutschte es mir heraus. Ich, aus Sorc etwas Neues schmieden? Eher konnte ich mir die Rollenverteilung anders herum vorstellen.

Der alte Mann lächelte nachsichtig. „Das höre ich oft. Ich hätte mich nicht auf dieses Experiment einlassen sollen, aber ich dachte, es ist ganz harmlos. Naja. Ihr seht: Ich bin Wahrsager, kein Hellseher. Es gibt einen Unterschied.“

„Verstehe.“ Und das war nicht einmal gelogen.

„Nun ja, unterhalten wir uns lieber über die anderen Fächer, die ich anbiete. Meiner Meinung nach gehört eine solide Grundausbildung in Runenlehre, auch bekannt als Runologie, zu jedem Magier, der nicht nur Feuerbälle werfen will. Oder... gerade zu einem, der Feuerbälle werfen will.“ Er lächelte geheimnisvoll und setzte sich auf den freien Besucherstuhl.

Mir fiel auf, dass ich auch noch stand, und nahm wieder auf meinem Chefsessel Platz.

„Die Runologie ist ein weites Feld,“ begann Ujat. „Runen braucht Ihr für wirksame Siegel, welche ich in meinem anderen Fach unterrichte, der Siegelmagie. Beides hängt eng zusammen. Sicherlich kann jeder einfach ein Siegel auswendig lernen und dennoch wirkungsvoll einsetzen, aber ich vermittle ihm das tiefere Verständnis dafür und verbessere seine Flexibilität. Wer die Runen beherrscht, erstellt seine eigenen Siegel oder verändert ein gelerntes nach seine Bedürfnissen. Ich erkläre die Unterschiede zwischen Runen, die scheinbar identische Bedeutungen haben, vermittle Feinheiten in diversen Kombinationsmöglichkeiten, und nicht zuletzt werden viele Zauberbücher auch heute noch in Runen geschrieben, um sie vor neugierigen Augen zu schützen.“

Das leuchtete ein. „Ja, das werden wir sicherlich gebrauchen können. Würdet Ihr mir einen Entwurf machen, wie Ihr Euch die Aufteilung des Unterrichts vorstellt?“

„Aber gern. Ich betrachte mich damit als engagiert.“

„Ähm... ja, sicher. Wollt Ihr einen Arbeitsvertrag?“

„Ach was, für mich zählt noch das Wort eines Mannes.“

„Ah, ja. Bitte schaut Euch im Schloss um und besprecht Eure Unterbringungswünsche mit dem Schlossherz und meinem Vertreter Sorc. Er wird sich darum kümmern, dass Ihr alles Nötige erhaltet.“

Ujat nickte, erhob sich und warf noch einen Blick auf die Teetassen, bevor er ging.
 

Später am Tag besprach ich mit Sorc, wie und wo er Ujat untergebracht hatte, und erzählte ihm dann etwas zögerlich von dessen Wahrsagungen.

Mein Stellvertreter lachte nur. „Wenn er nichts Genaueres verraten will, wird es schon nicht so dramatisch sein, Wahrsager übertreiben ja gerne mal, und davon abgesehen... wenn du der Schmied bist, befinde ich mich ja in guten Händen.“

„Machst du dir gar keine Sorgen?“

„Nein, wozu? Zeitverschwendung. Mir ist klar, dass das Leben nicht immer nur gut ist. Aber jeder weiß doch, dass Prophezeiungen erst recht wahr werden, wenn derjenige dagegen ankämpft.“

„Oh... das hat auch Ujat angedeutet.“

„Na siehst du. Was auch immer passiert, wird gut ausgehen. Daran zweifle ich nicht.“

Und damit schob er auch meine Sorgen zur Seite. So ist er, mein Chaoshexer, und das ist nur einer der Gründe, weshalb ich ihn schätzen gelernt habe. Insgeheim beschloss ich, von jetzt an meine Teetassen immer gleich auszuwaschen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bin jetzt im Flow von FW 2 und versuche verzweifelt, Mal einen Tag nur fürs Schreiben zu haben. Naja. Ich hoffe, ich werde diesen Monat fertig, dann hetze ich zu 4th Wall. :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nacht 28/29 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und damit endet dieses Kapitel mit etwas, das mein Mann als "klassisch" bezeichnet. *lach*
Ist doch aber immer wieder ne Maßnahme. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dies ist das Ende.
Nach dem Epilog kommt eben nichts mehr, außer dem Nachwort vielleicht. Ach ja... und ein neuer Teil der Geschichte. ;)

Danke liebe Leser, besonders an die fleißigen Kommentatoren, und damit meine ich vor allem Hikari-Yumi und jyorie. Ihr motiviert mich immer sehr mit eurer Begeisterung, daher hoffe ich auch für die Zukunft auf gute "Zusammenarbeit". Als Autor bin ich ja ziemlich aufgeschmissen, wenn mir keiner seine Meinung sagt!

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Von:  Hikari-Yumi
2020-08-27T22:54:49+00:00 28.08.2020 00:54

Ah, FW 2, oder wie ich es nenne „Crimson braucht ne verdammte Pause“

Erstmal der Stilwechsel. Irgendwie ist die Story ja weniger eine ygo fanfiktion als eine FW fanfiktion... und es sollte wirklich nicht so gut funktionieren wie es das tut.
Während es immernoch viel Handlung ist (wirklich wirklich viel) hat diese weniger den shonen Anime Charakter als FW1.

Du hast Charaktere genommen denen gegenüber ich eine Einstellung hatte die von „nett aber interessiert mich nicht“ (Crimson) über „eh na ich weiß nicht“ (Sorc) zu „ugh“ (Olvin) hatte... und liest sie mich ins Herz schließen.
Das hatte sogar rückwirkend den Effekt, dass ich beim erneuten lesen von FW1 viele Dinge mehr genossen habe als zuvor...

Die drei Haupt FWs sind so unterscheidlich, dass ich eigentlich keinen Favoriten wählen kann... aber wenn ich es tun müsste, währe es FW2. Denn #1 ist ein nostalgisches Abenteuer und #3 ist ein nervenaufreibendes, trauriges Drama... was ich beides liebe... aber #2... nun.

Crimsons Charakter ist vielleicht einer der interessantesten der ganzen Reihe. Er tritt arrogant und rebellisch auf. Doch tief im inneren hat er viele Zweifel, sorgt sich und... nun... mir den Teil kann ich mich identifizieren. Sehr sogar.
Er hat Ideen und ist schlau... doch er merkt dass er übereilt und viele wissentlücken hat, die er nicht wahr haben wollte. Er ist so... menschlich, dass es fast unangenehm ist.
Die Tatsache, dass er überfordert ist aber aus trotz und Leidenschaft seine Schule nicht aufgeben will... ist so wunderschön als Makel.

Crimson will nicht zurückstehen und er ist definitiv brilliant in deiner Art.. doch seine Fehler sind so viel offensichtlicher als darks. Die Tatsache, dass er diese ganze fanfiktion damit verbringt ein metaphorisches Feuer nach dem nächsten zu löschen, alles während seine Existenz and einem seidenen Faden hängt. Nun... während ich diese Geschichte erneut las hatte ich nicht nur tiefen Respekt sondern auch vollstes Mitgefühl. Denn es kommt mir manchmal so vor als ginge es mir genauso.

Ganz ehrlich, dass Lotusblüte überhaupt läuft ist ein Wunder, dieser eine Monat allein hat schon mehr Unglücke als ein normales Jahr haben sollte. Ich fieberte so mit (obwohl ich wusste wie es ausgeht) und hab ihn die ganze Zeit eine Pause gewünscht...

Nun aber zu seiner Unterstützung. Shiro wurde mir so irre sympathisch in dieser Story... seine Art Crimson zu unterstützen ist einfach... so wünschenswert. Mehr kann ich nciht sagen
Und natürlich Sorc.... der von einem Unbekannten hergebracht wurde... und es irgendwie schafft einen erfahrenen Gegenspieler zu Crimson zu sein... ohne überheblich oder unsympathisch zu wirken. Was ironisch ist wenn man bedenkt das er der Bösewicht der letzten Story war. Er ist ein moralisch grauer Charakter... der sich nicht entschuldigt und dazu steht was er getan hat... und trotzdem möchte man ihn irgendwie in den Arm nehmen.

Ehrlicher fun fact: nach der beseelung, als sorcs und crimsons Gedanken verschmolzen... und sorc Crimson half positiver u sein und weniger zu zweifeln... da hab ich geweint.
Wie Crimson würde ich mir einen sorc an meiner Seite wünschen.

Um es kurz zu machen.. die Bindung der beiden ist noch so viel intensiver als alles was in FW1 war... und das ohne romantischen Aspekt. Ich kann sagen, dass ich mich nicht erinnere je etwas vergleichbares gesehen zu haben. Um ehrlich zu sein habe ich gedacht es würde darauf hinauslaufen. Aber irgendwie enttäuscht es mich nicht... tatsächlich finde ich es gut, dass sie während der Erlebnisse von fw3 kein paar sind.

Sie wirken... wie Brüder aber doch noch enger.... wie platonische seelenverwandte (haha) enger als Familie... ich weiß nicht, mir fehlen die Worte.
Gott jede Szene mit den beiden habe ich genossen...
Und ich wünschte mir es gebe mehr davon wie die mit den drei Printen und Crimson am Strand.
Sorc ist verlässlich.. lässig... und einfach... beruhigend und ich habe keine Ahnung wie du das angestellt hast.

Genauso die Sache mit olvin und Crimson. Ich müsste Crimson viel mehr für deine leichtsinnige Tat und sein anfängliches Denken darüber verurteilen... aber ich tue es nicht.
Ebenso olvin und seine sadistische Ader... er hat Crimson gequält, physisch und psychisch... aber irgendwie konnte ich nicht anders als ihnen zu vergeben.. so wie sie es untereinander gemacht haben.

Nun Kuro, Neo und Eria
Mh.
Ja.
Eria ist die einfachste.. klar sie hat Mist gebaut aber es ist verständlich... auch dass sie bis fw3 immernoch distanziert zu sorc steht... ist klar. (By the way ich frage mich ob Eria noch zusätzlich Unterricht von Crimson bekommt)
Eria hat es übertrieben aber die ist jung und hat sich arrangiert.
Kuro währenddessen... war so aggressiv... wenn man weiß das es aus Hilflosigkeit ist... vllt hätte ich ähnlich reagiert (vor allem mit dem Wissen aus #3 1/2) trotzdem nahm ich ihn übel, dass er crimsons Situation noch weiter verkompliziert...
Aber das ist nichts im Vergleich zu Neo.
Oh je. Er hat sich in etwas reingesteigert. Ich hab ihn in fw1 nie viel Aufmerksamkeit geschenkt, Mava und appi wahren mir wichtiger, daher viel er in meiner Sympathie sehr schnell, sehr tief.
Und er fällt noch weiter während fw3. Oh man gar nciht viel dazu sagen. Außer dass du die Fähigkeit besitzt Emotionen im Leser hervorzurufen... gegenüber fiktiven Personen.. oh je.

Und am Ende ist alles gut.
Mehr oder weniger. Aber nach all den Kapiteln wo man Angst hatte, was als Nächstes schief gehen könnte... nun... es war eine Erleichterung so ein gutes Ende zu haben.
Aber was gut ist währt nie lang, nicht wahr?

~Hikari
Von:  Hikari-Yumi
2014-07-14T21:39:14+00:00 14.07.2014 23:39
Huhu :)
Tut mir schrecklich leid, dass ich erst so spät kommentiere. Ich weiß grade nicht wo mir der Kopf steht...

Die letzten zeit Kapitel sind ein wunderschöner Abschluss....
Er ließt sich wie leicht schmelzendes Vanilleeis in der Sonne. Süß und kühlend.
Es freut mich das sorg Stellvertreter ist, das Macht absprachen auch einfacher...
Sonst müssten ja schlossherz, schlossseele, Schlossherr und Co schlossher alles besprechen. So haben sie ja eh eine mentale Verbindung.

Ölvins Sohn ist für mich noch etwas abseits, er passt noch nicht ganz in die Gruppe, aber das wird sich bestimmt noch ändern...
Übrigens der Epilog ist eine wunderbare Andeutung auf 3, und die Reaktionen sind einsame spitze!
Schade das die "Menschen" wieder zurückkehren! ich hab sie lieb und würde sie gerne noch mal in Teil 3 lesen...

Wie auch immer, ein gelungenes Ende.
Glg Kari
Von:  jyorie
2014-07-14T14:35:51+00:00 14.07.2014 16:35
Hey ⚽ \ ( ˘▽˘)っ♨

XD als Olvins Sohn begonnen hat, zu erzählen, was da noch
auf Sorc zukommt, ist mir auch das eingefallen, was Ray geträumt
hat, war diese Situation schon eingetreten, oder hängt das auch noch
mit dem zusammen, was er jetzt im Tee gelesen hat?

Die Fächer die er anbietet hören sich auch interessant an, vorallem
wie ruhig er das beschreibt. Aber irgendetwas hat er an sich, das ihn
noch nicht so ganz sympatisch macht, auch wüßte ich gern, was er
für ein Problem mit Crimson hat, das er ihm nicht die Hand reicht, oder
das er am Anfang garnicht mit ihm sprechen wollte.

Mir hat FW2 gut gefallen und ich bin begeistert das mit deiner Saga
noch nicht das Ende erreicht ist, sondern es weiter geht. Bin gerne
wieder mit dabei :D

CuCu, Jyorie

Antwort von:  Purple_Moon
14.07.2014 22:10
Hallo mal wieder,

ja, stimmt, das spielt beides darauf an. :)

Naja, was wird Ujat für ein Problem mit Crimson haben? Er macht ihn doch dafür verantwortlich, dass er und sein Vater zehn Jahre lang nicht miteinander gesprochen haben.
Sympatisch muss er demnach auch nicht sein. Warum er Crimson nicht die Hand reicht, musst du dir jetzt selber zusammen reimen. ;) Es könnte ja sein, dass er generell niemandem die Hand reicht, oder er mag halt Crimson nicht... das wird man wohl erst in der Zukunft genau sagen können.

Dann hoffe ich mal, dass dir der nächste Epos auch gefällt.

~PM
Von:  jyorie
2014-07-14T14:35:41+00:00 14.07.2014 16:35
Hey ⚽ \ (´‿´#)旦

das ist ja bitter, ich hätte gedacht, das der Turm und das Gebäude
weniger abbekommen hätten, mit dem Schutzschild, aber der Angriff
war auch heftig. Schade um die ganzen Zutaten die Crimson gesammelt
hatte nun verdorben sind. Aber gut das der Trank es geschafft hat und
auch sonst die Bewohner :D Da wird das wohl zu verschmerzen sein^^°

hi hi ... irgendwie ist das lustig, wenn alle wollen das Sorc der Stellvertreter
von Crimson wird. Sogar Vindiktus. Dann muss es ja richtig sein. Ich fand
auch toll, wie Olvin ihn beschrieben hat bei dem Angriff, das er eigentlich da
schon diese Stellung eingenommen hat und das mit so viel Autorität getan
hat das ihm alle gefolgt sind.

*lacht* sollte es beunruhigend sein, wenn das Chaos freie Hand hat bei
der Verteidigung^^ - Crimson hat sich wirklich verändert, wie gelassen er
ist und das er bei seinen Delegationen sich so ruhig auf die Leute verlassen
kann, denen er Verantwortung überträgt.

CuCu, Jyorie

Antwort von:  Purple_Moon
14.07.2014 17:34
Hallo!

Tja, wirklich schade um den Turm. Ich muss ja zugeben, dass ich es auch nicht mag, wenn wertvolle Sachen vernichtet werden, weil ein Gebäude abbrennt oder einstürzt, aber als Autor mache ich das hin und wieder. Es gibt noch andere Themen, die ich selber gerne bearbeite, aber nicht gerne lese, z.B. wenn es plötzlich um die Kinder von jemandem geht, ich aber gerne den alten Helden wiederhaben würde. (Jetzt kannst du dir denken, dass das sicherlich auch irgendwann kommt. XD) Das war in der zweiten Reihe von Warrior Cats so, da hab ich heute noch nicht den ersten Band fertig.

Zuerst wollte ich ja wen anders als Stellvertreter nehmen, weil es irgendwie Klischee ist, dass es Sorc wird. Aber mir fiel keiner ein und dann fielen meine eigenen Charas mir in den Rücken. hoffentlich wirkt es nicht so, als würde ich meinen eigenen Chara beweihräuchern. ^^

Klar ist das beunruhigend - für den Feind. Und wenn Crimson verändert wirkt, freut es mich, denn das soll so sein - und das hoffentlich glaubhaft. :)

Danke für den Kommi, darauf hab ich ja schon sehnsüchtig gewartet *g*

~PM
Von:  Hikari-Yumi
2014-07-01T21:12:02+00:00 01.07.2014 23:12
Hallo :)
Hach, das Kapitel lädt richtig dazu ein auszuatmen. Nach den ganzen Schwierigkeiten ist es ja beinahe wie Urlaub.
Sie haben einen Krieger, das Schloß ist sicher, Crimson geht es (weiterhin) gut... Olvin lebt... Sorc ist (noch) glücklich...
Nun fehlt ja nicht mehr viel um die Idylle zu vollenden.
Mir gefällt das Kapitel, ich kann es nicht beschreiben, aber ich mag es.
Glg
Antwort von:  Purple_Moon
03.07.2014 20:04
Naja das muss man ja auch nicht immer beschreiben können. Ich könnte eigentlich schon aufhören, aber ich will euch noch ein paar Sachen mitteilen und offene Fragen klären. Naja alle geht nicht, aber ein paar.
:)
Von:  jyorie
2014-07-01T15:11:23+00:00 01.07.2014 17:11
Hey ⚽ \ (´‿´#)旦

noch nicht das letzte Kapitel? hi hi ... da bin ich ja froh
(zumindest steht noch incht abgeschlossen in der Überschrift^^)


Krass – 6 Tage lang ausgeknockt?! Uh ... das hört sich nicht
so dolle an. Aber auch logisch, das Chrimson daran ganzschön
zu knabbern hat. Mir gefällt die Überlegung, das er sich als Stark
genug befindet, diesen Ausgleich mit dem Trank zu bestehen, und
wenn er heranzieht, wer dafür früher benutzt wurde, ist er klar im
Vorteil – allerdings kann ich auch Lily gut verstehen, wie sie argumentiert
und schimpft – bei der Schimpfattake hab ich überlegt, ob Chrimson
eigentlich auch so darauf gekommen wäre, wie es Olvin geht, wenn
er ihn nicht kurz vor seinem eigenen Tod heimgesucht hätte – vielleicht
war es auch das, das er da einen größeren Reue-Ackt liefern musste
oder wollte, als wie wenn es ihm selbst eingefallen wäre.

Die Szene mit Gorz und der Unterschrift hat mir gefallen, hatte was
lustiges, wer unterschreiben könnte den möchte er nicht und wenn
er wollte, der konnte nicht *ggg*

Außerdem fand ich es toll, das Chathy sich auch verändert hat, er
scheint willenststärker zu sein, vorher wollte er keine Entscheidungen
treffen, oder hat sich gescheut und jetzt kann er auf einmal darauf be-
stehen das er Sorc haben will als Stellvertreter und untermauert das
auch noch mit argumenten. :D

Hieß Olvin früher auch schon Vindictus?

CuCu, Jyorie

Antwort von:  Purple_Moon
04.07.2014 20:51
Ich hab noch ein Kapitel angefangen und ein Epilog ist geplan.^^

6 Tage fand ich dann ausreichend, hatte erst 9...

Cathy soll sich auch verändern, so dass er die erste Unsicherheit nach seiner Beseelung überwindet und noch sicherer wird.

Am Anfang wird mal gesagt, dass Olvin früher Professer Vindictus an der Akademie war und sich dann umbenannt hat, weil sein Ruf so schlecht war.
Von:  jyorie
2014-06-29T21:42:09+00:00 29.06.2014 23:42
La⚽la ٩(^ᴗ^)۶

Sorry, stimmt Chary ist männlich, hatte mich in dem Satz vertippt *blush*

Das ist so heftig, wie Chrimson alles noch beendet um nichts mehr offen
zu haben, wie er mit dem schlimmsten rechnet und mit allem abschließt.
Das macht so eine seltsame endgültige Stimmung. *seuftz*

Ich hab mich die ganze Zeit jetzt gefragt, was die letzte Zutat ist, ob mit
Crimsons Blut das alles ist, oder ob er da vielleicht so einen packt eingeht,
wie Sorc es gemacht hat, das es ihm so schwer fällt.

(Was ist Olvins Karte?)

Bei der Stelle wo Olvin die Messer auspackt, hab ich es mir eigentlich schon
gedacht, das er nur spielt und sich über Crimsons entsetzen freut^^ und er ihn
einfach noch mal zappeln lassen möchte.

Damit das er ihrer beide Leben verbindet hab ich in der Form nicht gerechnet.
Heißt das Chrimson und Olvin gleichen sich jetzt aus mit Krankheit/Alter, so
ähnlich wie wenn man 2 Behälter mit mehr und Weniger Wasser auf die gleichen
level bringt? Weil das alles hört sich ja so an, als wenn er Olvins Zipperlein bekommt
und irgendwie auch mit altert, wo kaputt wie er ist.

Aber ich hab mich auch für Olvin gefreut, irgendwie hat man es ihm ansehen können
das es ihm schon besser geht und das er sich auch gefreut hat über die Enkel.

CuCu, Jyorie

Antwort von:  Purple_Moon
29.06.2014 23:58
Hi!
Viele Fragen werden im nächsten Kapitel beantwortet. Aber nein, es ist nicht wie die zwei Behälter. Eher wie wenn Olvin aus Crimsons Behälter was nehmen kann, wenn seiner leer ist. Naja, genaue Untersuchungen gibt es dazu nicht. Aber wie du weißt gab es bei der Sache auch schonmal Opfer. Tja...
Die entgültige Wirkung des Trankes habe ich natürlich absichtlich bisher nicht verraten, sondern es immer so geschrieben, dass der Leser nichts erfuhr. :P

Olvin ist der Alte Rachsüchtige Magier / Old Vindictive Magician. Wenn er aufgedeckt wird, kann man ein Monster des Gegners vernichten.

Hehe, auch schön, wenn man sich mal was denken kann.

Fortsetzung ist fast fertig. ;)
Von:  Hikari-Yumi
2014-06-29T12:55:36+00:00 29.06.2014 14:55
Huhu :)
So habe gerade endlich mal wieder Gelegenheit zu lesen :D
Sehr schön^^ und es war soooo klar, dass nicht alles perfekt ist mit dem Trank.
Obwohl....so ein schwacher Crimson hat schon was...
By the way, merkt Sorc eigentlich von crimsons Problemchen?
Und hat er sich das gedacht? (Ich denke schon)
Und cathy? Merken andere Schlossherren auch, dass es diesem Schlossherren nicht gut geht?
Mhhh~
Sehr niedlich x3
Antwort von:  Purple_Moon
29.06.2014 15:08
Huhu!
*kreisch* *Kommi hab*
Doch, doch, mit dem Trank ist alles OK, nur hat Crimson eben nicht bedacht, was dann passiert. So ganz nach Jungalchemistenmanier hat er nur zugesehen, dass er alles richtig dazumengt, und dann wird Olvin halt mal eben geheilt. *glitzer, glitzer, zauberfunkel* Tja da hat er jetzt mal ne Erfahrung gemacht. XD

Die anderen Schlossherren merken es, wenn Cathy es durchsickern lässt - was sehr wahrscheinlich ist, schließlich sind die ja alle befreundet.
Sorc - ja, der merkt es, aber er wusste auch nicht, dass es so schlimm sein würde. Allerdings hätte er sich besser informiert, wenn er an Crimsons Stelle gewesen wäre.
Von:  Hikari-Yumi
2014-06-25T10:04:33+00:00 25.06.2014 12:04
Huhu :)
Ein sehr lustiges Kapitel :D
Einfach nur wegen der gefangenen Szene. Plötzlich hat niemand mer Bedenken wegen merkwürdiger Charaktere - andererseits, Crimson sammelt die ja bereits....
Sehr schön das blackys "Vater" nochmal erwähnt wird, hab mih schon gefragt was kommt.
Und Sorc ist immernoch so verdammt knuffig X3
Morgen ist der Trank fertig... Irgendwas in mir zweifelt, dass das so einfach wird ^^
Glg
Antwort von:  Purple_Moon
27.06.2014 16:43
Weiß auch nicht, wie das passiert ist... aber irgendwie sieht Gorz auf seiner Karte cool aus. Und wenn ich den nehme, muss ich mir keinen anderen raussuchen.^^

Sorc könnte wahrscheinlich das ganze Schloss verwüsten, und du würdest ihn süß finden. *lach*

Der Trank ist dann fertig, aber wie sich herausgestellt hat, die Geschichte noch nicht. Ich will versuchen, eine sinnvolle Kapitelzahl zu schaffen, etwa 44 oder 45, und einen Epilog, weil es einen Prolog gab.

Und wie schon weiter unten erwähnt... #3 übernimmt dann direkt.^^
Von:  jyorie
2014-06-24T15:24:39+00:00 24.06.2014 17:24
Hallo (^o^)y⚽

Der Gedanke ist nicht schlecht, das Blacky negative erfahrungen mit
der Vater-Figur hat und er deshalb auch Sorc nicht so nennen möchte^^

*seuftz* ein bisschen hat es mir ja den Hals zugeschnürt ... morgen ist
der Trank fertig ... seuftz – dann ist auch bald diese Geschichte zu ende
hm ... also eigentlich mag ich nicht das es zu ende geht, ich lese das dafür
viel zu gern, als das es enden darf *zeitschleife webt und über die FF schmuggelt*
*ggg*

Ich fand es lustig, das jetzt noch ein so „fragwürdiger Charakter“ mit im
Schloss wohnen darf. Langsam glaub ich das Chrimson einen faibel
für schwierige Charas entwickelt *lacht* - und Sorc kommt mit allem
klar – die Stelle bei der er Chrimson den Rücken streichelt hat was^^

Liebe Grüße, Jyorie

Antwort von:  Purple_Moon
26.06.2014 22:23
Na ihr wisst doch alle, dass hier nicht das richtige Ende kommt. XD

Sorc begeistert sich für die Zeitschleifen-Idee. Ich hab ihm gesagt, dass er seinem Schicksal nicht entkommt - wenn #2 ewig läuft, passiert #3 eben da drin.
Wenn hier das letzte Kapi kommt, wird zeitgleich oder kurz darauf Kapitel 1 von #3 hochgeladen. Es ist schon fertig. Also nicht jammern.

Andererseits finde ich es schön, wenn jemand das Ende bedauert. Dann muss ich ja was Gutes geschaffen haben. :)

Ich habe vor, noch ein paar mehr skurile Charas einzustellen. Mal sehen, was da so kommt.^^
Antwort von:  jyorie
26.06.2014 23:19
klingt *lecker* :)

*schnüff* okay, dann hör ich auf das Ende zu bedauern und freu mich das es an anderer Stelle weiter geht^^

*lacht* jaaaahhhh Zeitschleifen haben was interessantes^^
Als ich klein war hat mich der Film mit dem Murmeltier immer fasziniert^^

*knuff*
liebe Grüße
jyorie
Antwort von:  Purple_Moon
27.06.2014 16:36
Crimson ist gegen die Zeitschleife, wenn das bedeutet, dass er Sachen wiederholen muss. XD


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